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Interkulturelle Studien

Herausgegeben von
W.-D. Bukow,
Ch. Butterwegge,
J. Reuter,
H.-J. Roth,
Köln, Deutschland
E. Yildiz, Innsbruck, Österreich
Interkulturelle Kontakte und Konflikte gehören längst zum Alltag einer durch Mo-
bilität und Migration geprägten Gesellschaft. Dabei bedeutet Interkulturalität in
der Regel die Begegnung von Mehrheiten und Minderheiten, was zu einer Ver-
schränkung von kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschieden sowie so-
zialen Ungleichheiten beiträgt. So ist die zunehmende kulturelle Ausdifferenzie-
rung der Gesellschaft weitaus mehr als die Pluralisierung von Lebensformen und
-äußerungen. Sie ist an Anerkennungs- und Verteilungsfragen geknüpft und stellt
somit den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes, die politische Steuerung und
mediale Repräsentation kultureller Vielfalt sowie die unterschiedlichen Felder und
Institutionen der pädagogischen Praxis vor besondere Herausforderungen: Wie be-
dingen sich globale Mobilität und nationale Zuwanderungs- und Minderheitenpo-
litiken, wie geht der Staat mit Rassismus und Rechtsextremismus um, wie werden
Minderheiten in der Öffentlichkeit repräsentiert, was sind Formen politischer Par-
tizipationen von MigrantInnen, wie gelingt oder woran scheitert urbanes Zusam-
menleben in der globalen Stadt, welche Bedeutung besitzen Transnationalität und
Mehrsprachigkeit im familialen, schulischen wie beruflichen Kontext?

Diese und andere Fragen werden in der Reihe „Interkulturelle Studien“ aus gesell-
schafts- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive aufgegriffen. Im Mittelpunkt
der Reihe stehen wegweisende Beiträge, die neben den theoretischen Grundlagen
insbesondere empirische Studien zu ausgewählten Problembereichen interkultu-
reller als sozialer und damit auch politischer Praxis versammelt. Damit grenzt sich
die Reihe ganz bewusst von einem naiven, weil kulturalistisch verengten oder für
die marktförmige Anwendung zurechtgestutzten Interkulturalitätsbegriff ab und
bezieht eine dezidiert kritische Perspektive in der Interkulturalitätsforschung.

Herausgegeben von
Prof. Dr. Wolf-Dietrich Bukow, Prof. Dr. Erol Yildiz
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Universität Innsbruck
Prof. Dr. Julia Reuter, Österreich
Prof. Dr. Hans-Joachim Roth,
Universität zu Köln,
Deutschland
Charis Anastasopoulos

Nationale
Zusammengehörigkeit
und moderne Vielfalt
Eine Auseinandersetzung
mit den Arbeiten Émile Durkheims
Charis Anastasopoulos
Universität zu Köln
Deutschland

Dissertation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln,


Oktober 2013

ISBN 978-3-658-04658-3 ISBN 978-3-658-04659-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-04659-0

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ............................................................................................................ 7

1 Nation .................................................................................................••••••••• 31

l.l Primat der Kultur ................................................................................. 31

1.2 Abseits des Primats der Kultur ............................................................ 43

1.3 Attraktivität nationaler Macht .............................................................. 67

2 Herrschaft................................................................................................... 85

2.1 Akzentuierung des Handelns ............................................................... 85

2.2 Handeln und Verstehen ........................................................................ 95

2.3 Der Nutzen der Herrschaftslehre ....................................................... 10 1

2.4 Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) ....................................................... 108

2.5 Handeln und Herrschaft ..................................................................... 117

3 Emile Durkheims Welt ............................................................................ 137

3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) .................. 137

3.2 Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum ,


(Erziehung, Moral und Gesellschaft) ................................................. 150

3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) ............ 159

3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) .............. 182

3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des


religiösen Lebens) .............................................................................. 220

3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) ................. 255
6 Inhaltsverzeichnis

4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus ....................... 283

4.1 Weber, Ziegler und Durkheim ........................................................... 283

4.2 Die Initiative des Individuums ........................................................... 293

4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeits-


merkmale, Machtprestige und Verwandtschaftsglaube ...................... 300

4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der


moralische Polymorphismus ............................................................... 326

5 Resümee .................................................................................................... 355

6 Literaturverzeichnis ................................................................................ 369


Einleitung

Max Weber interessiert sich nicht für Mode. Der Brauch und die Sitte sind Ty-
pen wiederkehrenden sozialen Handelns mit verständlichem Sinn, wobei sich die
Sitte dadurch vom Brauch unterscheidet, dass sie seit Langem eingelebt ist (vgl.
Weber 2002, S. 15). Aus diesem Grund ordnet Weber die Mode dem Brauch zu,
er bemerkt aber, dass sie nicht zwingend unabhängig von verbindlichen Erwar-
tungen auftritt, was wiederum für eine gewisse Nähe zum Typus der Konvention
spricht. Mode kann die Pflege ständischer Ehre (ebd., S. 535) unterstützen, so
dass diejenigen, die sich in einem ständischen Zusammenhang unmodisch ver-
halten, mit Missbilligung rechnen müssen. Sie gefährden die Selbstbehauptung
dieses besonderen Ansehens. Weber belässt es bei dieser Zuordnung und zieht es
vor, die Mode zugunsten der Auseinandersetzung mit den anderen beiden Typen
fallen zu lassen.
Die Mode bietet sich für eine Annäherung an den Begriff der Moderne an,
aber nicht weil sich eine etymologische Nähe vermuten lässt, sondern weil We-
ber es ablehnt, sie der Sitte unterzuordnen. Sie soll im ersten Schritt für diese
Annäherung genutzt werden, um anschließend von der Moderne zur legitim ge-
wordenen Selbstbestimmung und einem zu ihr gehörenden Spannungsverhältnis
zu gelangen. Vor diesem Hintergrund soll im zweiten Schritt das Vorhaben der
Arbeit konstruiert werden.
Modische Zumutungen, die Weber hinsichtlich der beabsichtigten Erhal-
tung ständischer Ehre erkennt, erfüllen den Zweck, eine besondere Zugehörig-
keit, die mit dem Ansehen eines Standes verbunden ist, gegen andere abzugren-
zen. Man kann also die Mode zur Distinktion nutzen, was wiederum etwas zu
erkennen gibt, das für Mode kennzeichnend ist: Sie bietet keine allgemeine Ori-
entierung für das Handeln an. Georg Simmel, der sich im Gegensatz zu Weber
für Mode interessiert, äußert sich wie folgt dazu:
„Das Wesen der Mode besteht darin, dass immer nur ein Theil der Gruppe sie übt,
die Gesamtheit aber sich auf dem Weg zu ihr befindet. Sie ist nie, sondern wird im-
mer. Sobald sie total durchdrungen ist, d.h. sobald einmal dasjenige, was ursprüng-
lich nur einige thaten, wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, bezeichnet man
es nicht mehr als Mode […]“ (Simmel 1992, S. 108).
Weil es stets nur einige sind, die sich modisch verhalten, hingegen die allmähli-
che Diffusion das Ende einer Mode herbeiführt, ermöglicht sie, so Simmel, eine
menschliche Grunderfahrung: das Streben nach Einzigartigkeit (vgl. Simmel

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
8 Einleitung

1996, S. 188). Die Mode kommt ihr entgegen, da selbst die Tendenz, sich gegen
eine Mode zu richten und sie zu verneinen, Einzigartigkeit zum Ausdruck bringt.
„Es kann sogar in ganzen Kreisen innerhalb einer ausgedehnten Gesellschaft
Mode werden, sich unmodern zu tragen […]“ (ebd., S. 201). Die bewusst Un-
modischen wollen sich entweder unabhängig von einer Mode zeigen, oder sie
wollen ihre Individualität vor einer umgreifenden Mode schützen (ebd., S. 202).
Simmel gibt zwei Konsequenzen der Mode an, die das Streben nach Einzigartig-
keit begünstigen (ebd., S. 188 f.): Weil das Aufkommen einer Mode bedeutet,
dass etwas Neues entstanden ist, und weil deren Unterschied zum Bisherigen
dazu führt, sich dieses als das Vergangene bewusst zu machen, kann man sich
abheben, indem man sich die Neuheit aneignet und sich vom Vergangenem
trennt. Darüber hinaus lässt man Einzigartigkeit durch Distinktion hervortreten,
und zwar dadurch, „[…] dass die Moden der höheren Schicht sich von der der
tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dem diese
letztere sie sich anzueignen beginnt“ (ebd., S. 189).
Eine andere, aber vielmehr unerträgliche Distinktion kommt, so Simmel,
immer dann vor, wenn die vor den Augen anderer zur Schau gestellte Einzigar-
tigkeit als unangemessen empfunden wird. In diesem Fall ruft die Einzigartigkeit
ein Schamgefühl hervor. Ein ungewöhnliches Auftreten aber, mit dem Einzigar-
tigkeit zum Ausdruck gebracht wird, löst genau dann kein Schamgefühl aus,
wenn es sich einer Mode zuordnen lässt. Simmel dazu:
„Die Mode nun bietet wegen ihrer eigentümlichen inneren Struktur ein Sich-
Abheben, das immer als angemessen empfunden wird. Die noch so extravagante Er-
scheinungs- oder Äußerungsart ist, insoweit sie Mode ist, vor jenen peinlichen Re-
flexen geschützt, die das Individuum sonst fühlt, wenn es der Gegenstand der Auf-
merksamkeit anderer ist. Alle Massenaktionen werden durch den Verlust des
Schamgefühls charakterisiert. Als Element einer Masse macht das Individuum Un-
zähliges mit, was ihm, wenn es ihm in der Isolierung zugemutet würde, unüberwind-
liche Widerstände erwecken würde“ (ebd., S. 208).
Dass der Modische relativ immun gegen blamable Verlegenheit1 ist, der man
sich ansonsten, also außerhalb des Rahmens der Mode aussetzt, ist eine Folge
der zweiten menschlichen Grunderfahrung, die Mode ermöglicht. Das ist eine
Form der Entlastung, die sich jedenfalls nicht mit dem Streben nach Einzigartig-
keit verträgt. Die Mode genügt nämlich dem Streben nach beruhigender Gleich-
heit, sie bietet Gelegenheit, sich sinnvoll und angemessen zu verhalten, ohne
eine Entscheidung zu treffen. Sie erlaubt Gleichheit durch: Nachahmung. Wo
man es den anderen gleichtut, da beruft man sich auf Entscheidungen, die andere

1 Wolfgang Müller-Funk macht Simmels Überlegungen wie folgt anschaulich: „Ich muss mich
nicht schämen, weil es alle anderen – auch – tun. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ein
Lacanianer, eine Poststrukturalistin, ein Kulturwissenschaftler zu sein, denn es gibt andere, ich
bin Teil eines Trends einer Mode, die mich schützt“ (Müller-Funk 2006, S. 121).
Einleitung 9

getroffen haben und kann somit die eigene Verantwortung reduzieren (ebd., S.
187).
In der Mode kommen somit zwei gegensätzlichen Grunderfahrungen vor.
Man kann sich von der breiten Masse abgrenzen, weil man zur Kenntnis nimmt,
dass sich nur ein geringer Teil an ihr orientiert und man kann sich gewiss sein,
etwas Partikulares auf seiner Seite zu haben. Wenn diejenigen die Mode über-
nehmen, von denen man sich eigentlich distanzieren will, lässt man von ihr ab.
Zugleich kann man sich der Gleichmäßigkeit sicher sein, die mühevolle Selb-
ständigkeit verringert und einen bestimmten Anlehnungsbedarf erfüllt.
Worin stimmen nun Mode und Moderne überein? Für die Beantwortung
dieser Frage hilft Simmel wie folgt weiter: Zunächst darf man nicht übersehen,
dass sich das Verschwinden einer Mode nicht nur infolge extensiver Nachah-
mung ereignet. Mode wirkt nämlich auch homogenisierend. Das konstatiert
Simmel, indem er das Überwiegen der Gleichartigkeit über die Einzigartigkeit
bemerkt (ebd., S. 194). Das Einnehmen einer modischen Neuheit bedeutet auch,
dass man von dem Vorherigen ablässt, mit welchem man aber zuvor noch eine
gewohnte Behaglichkeit verbinden konnte, indes die Neuheit diese erst sukzessi-
ve ausbilden muss. Diesen Ablauf deutet Simmel als ein Unterliegen der Indivi-
dualität gegen die Neuheit, was schließlich die unweigerliche Homogenität der
Mode vor jene hervortreten lässt. Die Homogenität ist es also, die zusätzlich das
Kommen und Gehen einer Mode bewirkt. „[…] die Prärogative, die das Kleid im
Maße seiner Neuheit über die Individualität seines Trägers besitzt, lässt die
streng modischen Menschen jeweils relativ uniformiert erscheinen“ (ebd.). Zur
Mode gehört also das wiederholte Verschwinden einer Neuheit und hinsichtlich
dessen bemerkt Simmel, dass man sich mehr das Kommen und das Gehen einer
Neuheit bewusst macht als deren Verweilen. Genau darin gleichen sich Mode
und Moderne:
„Dass in der gegenwärtigen Kultur die Mode ungeheuer überhand nimmt – in bisher
fremde Provinzen einbrechend, in altbesessenen sich, d.h. das Tempo ihres Wech-
sels, unaufhörlich steigernd – ist nur die Verdichtung eines zeitpsychologischen Zu-
ges. Unsere Rhythmik fordert immer kürzere Perioden im Wechsel von Eindrücken;
oder, anders ausgedrückt: der Akzent der Reize rückt in steigendem Maß von ihrem
substanziellen Zentrum auf ihren Anfang und ihr Ende“ (ebd., S. 196 f.).
Rechnet man an, dass Mode insbesondere mit derjenigen Regelmäßigkeit unver-
einbar ist, die eine Zweckmäßigkeit aufweist und damit wiederum Beständigkeit
für sich beanspruchen kann, dann ist Mode grundsätzlich unbeständig. Die Mode
widerspricht der Beständigkeit, weil man dann aufhören wird, einen Sachverhalt
der Mode zuzuordnen, wenn eine Zweckmäßigkeit ihre Verstetigung erforderli-
chen machen wird. Für die Moderne ist der Vorgang wesentlich, der sich im Fal-
le der Mode ereignet, nämlich die rasche Ablösung der Inhalte. Sie, die Moder-
ne, beruht darauf, „[…] dass die großen, dauernden, unfraglichen Überzeugun-
10 Einleitung

gen mehr und mehr an Kraft verlieren“ (ebd., 197). Man muss aber berücksichti-
gen, dass, so Simmel, nicht die Beschleunigung des Übergangs zwischen Ver-
gangenem und Neuheit für die moderne Kultur steht, sondern das Erleben von
Anfang und Ende wesentlich für das moderne Zeitbewusstsein ist. Die Flüchtig-
keit markiert die Moderne. Zu ihr gehört der wiederkehrende Bruch mit der Ver-
gangenheit, und wenn man sagt, der moderne Mensch will sich der Gegenwart
bewusst werden, so bedeutet das, in der Moderne muss er sich Auftreten und
Vergehen seiner Erfahrungen bewusst machen (ebd., S. 198). Das ist die Ten-
denz, mit der die Mode mustergültig korrespondiert, denn: „Ihre Frage ist nicht
Sein oder Nichtsein, sondern sie ist zugleich Sein und Nichtsein […]“ (ebd., S.
197). Von jeder Mode weiß man, ihr Ende ist absehbar, und man nennt nicht
zuletzt diejenigen anachronistisch, die genau das nicht registriert haben.
Insofern die Mode zwei menschliche Grunderfahrungen bedient, lässt sich
ihre Universalität erschließen. Simmel schreibt: „Die Lebensbedingungen der
Mode als einer durchgängigen Erscheinung in der Geschichte unserer Gattung
sind hiermit umschrieben“ (ebd., S. 188). Mode und Moderne stimmen in dieser
Hinsicht nicht überein. Jene kommt universell vor, hingegen handelt es sich bei
der Moderne um eine prinzipielle Wende, mit der die Zuversicht auf jedes uner-
schütterliche Fortbestehen beseitigt wird. Die Moderne ist es aber, die günstige
Bedingungen für die Mode bereitstellt und die Mode ist es wiederum, die eine
der wesentlichen Komponenten der Moderne anschaulich macht: die Vergäng-
lichkeit.2
Ein bestimmter Sachverhalt genießt lange vor der Zeit, die man der Moder-
ne zuordnet, das Prädikat modern. Immer dann nämlich, so Habermas, wenn
man in Europa einen epochalen Zeitschritt bemerkte und diese Neuerung zu-
gleich in ein Verhältnis mit der Antike setzte, tauchte das Wort modern auf. Das
ging bis in die Moderne so, von da an aber mühte sich das „radikalisierte Be-
wusstsein der Modernität“ nicht mehr um eine Adaptation der favorisierten An-
tike (vgl. Habermas 2005, S. 8). Diesem Wandel, der eine andere Vergewisse-
rung mit jeder auftretenden Neuerung involviert, soll als nächstes nachgegangen
werden, sodass sich ein Sinnbild der Moderne ergibt.
Für Reinhart Koselleck (1984) ist die Vergänglichkeit durch den Wandel im
Verhältnis zu Zeit und durch die Einsicht über das Vermögen für die Geschichte

2 Einen Unterschied zwischen der Mode und der Moderne sieht Habermas darin, dass die Neue-
rungen jener und dieser in ihrem jeweiligen Ablauf nicht deckungsgleich sind. Eine zum Alt-
modischen gewandelte Neuerung der Mode gleicht nicht einer überholten Neuerung der Mo-
derne, von der man nämlich nicht ablässt und von der man einmal sagen wird, sie gehört zur
klassischen Moderne, von der man aber bereits mit ihrem Auftreten auf ihr baldiges Klassik-
Sein schließen kann (vgl. Habermas 2005, S. 9). Nichtsdestoweniger identifiziert er die Ver-
gänglichkeit als die Komponenten, in der Mode und Moderne zusammenfallen, wozu die Ein-
sicht gehört, dass das Vergehen einer Neuerung bereits nach ihrer Entstehung selbstverständ-
lich ist (vgl. Habermas 1993, S. 18).
Einleitung 11

verschuldet. Zunächst das folgende Beispiel: Im Grunde sollte man die Vergäng-
lichkeit ermessen können, wenn man sich den Aufstieg und Niedergang von
Herrschaftsverbänden vergegenwärtigt. Am Anfang von solchem Kommen und
Gehen können schließlich Empörung und Einwände gegen die verstetigte Macht
stehen und es wird mitunter auf diese Weise erkennbar, wie die Herrschaft an
den Menschen rückgebunden ist. Aber auch die dergestalt gewonnene Einsicht
über die menschliche Verfügbarkeit der Macht musste erst entwickelt werden.
Dazu sagt Helmuth Plessner (1981), dass es bereits in der Antike die Gelegenheit
gab, das eigene Vermögen der Macht durch den Einwand gegen verstetigte
Macht zu erkennen. Sobald man Zeuge von Machtmissbrauch und von der Brü-
chigkeit der Herrschaft wurde, nahm man die Erforschung einer gerechten Ord-
nung auf. Herrschaft wurde aber, bemerkt Plessner, in der Antike weiterhin als
gegeben hingenommen, und ihr Gegebensein stand außer Frage. Einwände gin-
gen nicht so weit, dass man die Vergänglichkeit verstetigter Macht als Folge von
Machtkämpfen unter den Menschen entschlüsseln konnte (vgl. Plessner 1981, S.
262). Das sieht Dilthey ähnlich, der an der Antike eine Bestimmung des eigenen
Standortes in der geschichtlichen Entwicklung der eigenen Kultur bemängelt
(vgl. Dilthey 1962, S. 210). Plessner und Dilthey setzen an der Antike aus, dass
man sich noch davor scheute, den Menschen für das Verschulden von Vergäng-
lichkeit verantwortlich zu machen.
Koselleck liest am Wandel des Verhältnisses zur Zeit die vom Menschen
verursachte Vergänglichkeit ab. Sobald die Zukunft als gestaltbar gedacht wird,
gilt die Zukunft als offen (vgl. Koselleck 1984, S. 315). Diese Offenheit ist, so
Koselleck, das Resultat der Abkehr von der christlichen Enderwartung. Wenn
die Zukunft bereits feststeht, Kommendes daher bereits entschieden ist, wird
man, ihm zufolge, etwas anderes als die Vorherbestimmung nicht als neu erach-
ten, denn nur diese wird das Vorausgegangene abbrechen können. Koselleck
dazu: „Der Schluss von der bisherigen Erfahrung auf die zu erwartende Zukunft
bediente sich strukturell gleich bleibender Faktoren“ (ebd., S. 266). Insofern man
neben der Enderwartung grundsätzlich keine Neuheiten erwartete, war es mög-
lich, die Vergangenheit auch für die Zukunft anzunehmen. Was die Vergäng-
lichkeit bis dahin also verhinderte, war die Gewissheit über die Kontinuität des
Hergebrachten. Indem die Enderwartung ihre Gültigkeit zunehmend einbüßte,
konnte der Lauf der Dinge befreit werden. Die Zeit wurde nicht mehr als etwas
begriffen, das einem Plan folgte und die Menschen nicht mehr nur als dessen
Statisten. Der Wandel vollzog sich nicht zuletzt aufgrund des Weiterkommens
der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Neue Entdeckungen ließen allmählich zu,
das Potential der Wissenschaft aus theologischen Begrenzungen zu lösen. Sie
konnte aus der empirischen Beobachtung profitieren und damit ließ sich erwar-
ten, dass in Zukunft immer mehr Entdeckungen anstehen würden (ebd., S. 315).
Der wissenschaftliche Fortschritt verhalf somit nicht unwesentlich dazu, sich von
einem Plan der Zeit zu verabschieden, was wiederum zuließ, dass man sich von
12 Einleitung

nun an ohne die Vorstellung von einem bevorstehenden und sich abzeichnenden
Ende um immer weitergehende Entdeckungen bemühen konnte (vgl. auch Cassi-
rer 2007, S. 21). Durch das neue Zeitverständnis ist jeder Fortschritt jeweils nur
eine Zwischenetappe. Die Gegenwart ist bloße Übergangszeit. Man registrierte,
dass man sich in einem Rhythmus des Übergangs befand, weil man erstens den
eigenen anstehenden Wandel erfahren konnte und weil man zweitens Notiz von
der Beschleunigung neuer Erfahrungen nahm (vgl. Koselleck 1984, S. 329). Die
Haltbarkeit der Erwartungen verkürzte sich fortan, es vermehrten sich die ver-
gänglichen Erwartungen.
Zur ständigen Erfahrung des Fortschritts trat alsbald die Standortbindung
hinzu. Man nahm Kenntnis davon, dass sich der Fortschritt anderer aufholen
oder überholen ließ, sich aber auch verzögern konnte. Das gleichzeitige Gefälle
des Fortschritt an unterschiedlichen Standorten unterstützte die Vorstellung vom
Voranschreiten: „Diese Grunderfahrung des Fortschritts, wie er um 1800 auf
einen singulären Begriff gebracht worden ist, wurzelt in der Erkenntnis des Un-
gleichzeitigen, das zu chronologisch gleicher Zeit geschieht“ (ebd., S. 324).
Diltheys Untersuchung der Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts legt
ferner Folgendes offen: Für die Erforschung der Entwicklung der Menschheit im
Ganzen, so die Grundannahme damaliger Zeit, lagen damals hervorragende Be-
dingungen vor. Man unterstellte, die Vielfalt der kultivierten Völker auf der Erde
bildete, während sie gleichzeitig nebeneinander existieren, in ihrer jeweiligen
Unterschiedlichkeit die Schritte der menschlichen Phylogenese im Einzelnen ab
(vgl. Dilthey 1962, S. 237). Erst diese Vorstellung, so Dilthey, machte den Be-
griff der fortschreitenden Gattung Mensch denkbar und erst jetzt konnte man
dem Vorhaben Geltung verschaffen, einen Zusammenhang in den Kulturphäno-
menen der Menschheitsgeschichte zu sehen, dessen Entwicklung man als eine
Linie des Fortschritts verfolgen konnte: „Die Zeit der Mythen über den Ursprung
der Menschen ist vorüber“ (ebd., S. 231). Vor dem Hintergrund der Gleichzei-
tigkeit des Ungleichzeitigen konnte es also keinen finalen Fortschritt geben. Wo
sich der Fortschritt einmal ereignete, dort konnte man nicht ausschließen, dass
man anderswo überholt wurde. Fortschritt ohne Abschluss war von nun an Pro-
gramm.
Koselleck rechnet jedoch vorwiegend nicht den Fortschritt an, aus dem man
die Vergänglichkeit hervortreten lassen kann. Für weitaus bedeutsamer erachtet
er das Vermögen, das sich infolge einer neuen Identitätspolitik ausbildet, deren
Referenz die angebrochene Zeit ist, gekennzeichnet als das Bewusstsein der vo-
ranschreitenden Bewegung. Neuzeit nannte man im 18. Jahrhundert die zeitliche
Einheit, zu der man weitaus mehr als die Folge im Anschluss an den Übergang
vom Mittelalter zählte. Um eine Identität der Zeit zu behaupten, gehört nämlich
mehr:
Einleitung 13

„Andererseits kann aber die neue Zeit einen qualitativen Anspruch anmelden, näm-
lich neu zu sein in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vor-
zeit. Dann indiziert die neue Zeit neue Erfahrungen, die so zuvor noch nie gemacht
worden, er gewinnt eine Emphase, die dem Neuen einen epochalen Zeitcharakter
zumisst“ (Koselleck 1984, S. 310).
Neuzeit konnte also bedeuten, die Gegenwart bietet etwas, dem man eine bisher
unbekannte Qualität zuschreiben kann. Schließlich konnte Neuzeit beides bedeu-
ten. Neben der ehrgeizigen Behauptung der Einzigartigkeit konnte man eine be-
wusste Abgrenzung zum Vorherigen erreichen. Aus dem rückblickend evaluati-
ven Kontrast zur Vergangenheit blieb eine einzigartige Qualität übrig. Was hier
entschieden hervortritt, das nennt Wolfgang Welsch (2002) „Pathos des radika-
len Neuanfangs“: Nicht nur die Kenntnisname des Neuen, sondern eigentlich der
Wille, etwas vollkommen Neues zu schaffen, ist das wesentliche Merkmal der
Neuzeit (vgl. Welsch 2002, S. 70). Man tritt nicht an, um Korrekturen am Alten
vorzunehmen, sondern man will das Alte gezielt hinter sich lassen.3
War man für die Neuzeit noch auf einen retrospektiven Blick auf die ver-
gangene Zeit seit dem Ende des Mittelalters angewiesen, so änderte sich das
Zeitbewusstsein mit den Forderungen der Spätaufklärung und ab der Französi-
schen Revolution erneut (vgl. Habermas 1993, S. 15). Ab jetzt ließ man den
Rückblick aus, da man sich auf der bisher höchsten Stufe der Ausbildung wusste
und dieses Jetzt nannte man die Neueste Zeit (vgl. Koselleck 1984, S. 319 f.).
Man bemerkte sie, ohne zuerst einen zeitlichen Verlauf abzuwarten, d.h. mit
dieser Selbstauskunft verkündete man eine neue Epoche als Zeugen des Über-
gangs in diese. Während die Diagnose der Neuzeit noch auf das Verweisen auf
die vergangenen vier Jahrhunderte angewiesen war (ebd., S. 302), scherte sich
das Verkünden der Neuesten Zeit nicht mehr um eine zeitliche Einheit der Ver-
gangenheit. Das lässt, so Koselleck, die Beschleunigung des geschichtlichen
Erfahrungswandels erkennen (ebd., S. 327). Man nahm Notiz von ganz neuen
Erfahrungen, was die eigentümliche Differenz zur Vergangenheit hervortreten

3 Wie zur Mode die Unmodischen gehören, so tritt mit Bezug zur Neuzeit auch eine Gegenten-
denz an (vgl. Ritter 1965, S. 44). Welsch zählt u.a. Rousseaus Absage an die Erwartung der
Emanzipation durch Wissenschaft dazu. Er notiert: „Zur Neuzeit im Sinn des Hauptstroms –
also der Ausbildung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation – gehört auch ein oppositio-
neller Gegenstrom. Die Neuzeit zeigt eine Doppelfigur von Rationalisierungskur einerseits und
Anti-Rationalisierungstherapie andererseits. Zur Neuzeit gehört – formelhaft kurz gesagt –
immer eine Gegen-Neuzeit“ (Welsch 2002, S. 74). Eine Fundamentalopposition will aber, so
Welsch, nicht richtig gelingen. Die Gegentendenz erweist sich zuletzt als hilfreich für das Pro-
gramm der Neuzeit, weil die zur Abwehr orientierte Rezeption der neuzeitlichen Darbietungen
mobilisiert schließlich Teilrevisionen und Erweiterungen (vgl. auch Eisenstadt 2006, S. 141).
Einwände spielen nämlich der in der Neuzeit befürworteten prinzipiellen Endlosigkeit nur zu:
„Fortschritt im nicht bloß quantitativen Sinn der Ausbreitung, sondern im qualitativen Sinn der
Modifikation und Steigerung gehört zur Neuzeit genau kraft solcher Infragestellungen. In ge-
wissen Sinn kann man diese Oppositionen allesamt als Strategien einer Selbststeigerung der
Neuzeit auffassen“ (Welsch 2002, S. 75.).
14 Einleitung

ließ, denn von nun an machte man überhaupt die Erfahrung des vollkommen
Neuen, so dass das neu hinzugekommene Element das Bewusstsein der fort-
schreitenden Bewegung war. „Es kennzeichnet das neue Epochenbewusstsein
seitdem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, dass die eigene Zeit nicht nur als
Ende oder als Anfang erfahren wurde, sondern als Übergangszeit“ (ebd., S.
328).4 Neben der Grenzenlosigkeit des Fortschritts tritt also das neue Zeitbe-
wusstsein hinzu. Es ist das Prestige der Zeit, einer Zeit, die nach der Freigabe der
Zukunft eigenständig eine Referenz zu dieser behaupten kann, die sich gegen-
über der Vergangenheit überlegen und offen für den Wandel zeigt. Was, Haber-
mas zufolge, das moderne Zeitbewusstsein für sich beansprucht, das ist die Ver-
stetigung von derjenigen Abgrenzung, die man einst mit der qualitativen Ab-
grenzung zur Vergangenheit des Hergebrachten ausführte. Somit bedeutet diese
Verstetigung der Moderne eine Kontinuität, nämlich die – ähnlich wie im Falle
der Mode – Wiederkehr von Anfang und Ende (vgl. Habermas 1993, S. 15). Die
Moderne ist also weitaus mehr als eine Etappe in der Chronologie der Geschich-
te, sie steht für ein Bewusstsein für chronische Erneuerung.
Das Selbstverständnis der Moderne stellt sie aber vor eine Herausforderung.
Sofern also jede Neuerung auf der Grundlage der prinzipiellen Zukunftsoffenheit
beruht, bestätigt sich das moderne Selbstverständnis mit jeder Neuerung, wenn
man sodann gewiss sein kann, einen Zeitschritt unternommen zu haben. Der
einstige epochale Zeitschritt der Neuzeit wird iteriert, wenn man das hinter sich
lässt, was vormals als Neuerung verbucht wurde. Die Moderne kann daher we-
gen ihres Zeitbewusstseins, das mithin die Voraussetzung enthält, jeder Neue-
rung einen Bedeutungsverlust zuzufügen, aus nahe liegenden Gründen nicht
mehr auf das Vergangene verweisen, wenn sie aufgefordert ist, Normativität zu
begründen. Habermas fasst das Problem folgendermaßen:
„[…] die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbil-
dern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber
schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst
verwiesen“ (Habermas 1993, S.16).
Ist Geltung durch den Rückbezug auf die Vergangenheit nicht mehr tragfähig, so
bleibt schließlich die selbständig begründete Normativität übrig. Wie die Abkehr
von den Vorherbestimmungen eines Zeitplans das Handeln der Menschen unter-
stützt, so erlaubt das moderne Zeitbewusstsein dem Menschen, die Anforderung,
neue Normativität zu begründen, an sich selbst zu richten. In der Moderne kann
man Normen erschwert durch den Bezug auf das Hergebrachte begründen. Dass
die Menschen auf sich selbst verwiesen sind, wird schließlich durch vermehrt
vorgelegte Zeitdiagnosen ersichtlich (ebd., S. 16). Das zeigt den registrierten

4 Habermas dazu: „Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet,
dass sie sich der Zukunft öffnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit je-
dem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert“ (Habermas 1993, S. 15).
Einleitung 15

Bedarf, die Normativität aus anderen als den Quellen der Vergangenheit herzu-
leiten.
Habermas nennt Hegel, der als erster antritt, sich vor dem Hintergrund der
Ablösung von der hergebrachten Normativität dem nachzugehen, was die mo-
derne Zeit ausmacht (ebd., S. 26; vgl. auch Ritter 1965, S. 16). Aus dessen Be-
obachtung lässt sich folgern, dass das Prinzip der Subjektivität ihr wesentliches
Merkmal ist. In der Moderne ist dieses Prinzip vielfach leitend. In ihm sind das
Hervortreten der Eigentümlichkeit, der Rechtfertigungsanspruch gegen Macht-
betroffenheit, die Verantwortung für das eigene Handeln und die Orientierung
der idealistischen Philosophie enthalten (vgl. Habermas 1993, S. 27). Anhand
der folgenden Beispiele (ebd., S. 27 ff.) wird, so Habermas, erkennbar, wie sich
der Bezug zur Subjektivität durchgesetzt hat: Mit der Reformation wird der reli-
giöse Glaube auf sich selbst verwiesen. Mit den politischen Konsequenzen der
Französischen Revolution lässt sich die Staatsordnung auf die Freiheit des Wil-
lens zurückführen. Zum Protagonisten der modernen Wissenschaft wird das er-
kennende Subjekt. In der Aufklärung kommen die Moralbegriffe nicht mehr oh-
ne die subjektive Freiheit aus und schließlich kommt die expressive Selbstver-
wirklichung in der Kunst zum Zug. Insgesamt gilt: „In der Moderne verwandeln
sich also das religiöse Leben, Staat und Gesellschaft, sowie Wissenschaft, Moral
und Kunst in ebenso viele Verkörperungen des Prinzips der Subjektivität“ (ebd.,
S. 29). Joachim Ritter, der den Einfluss der Französischen Revolution auf Hegel
untersucht hat, kann in dessen Denken das Prinzip der Subjektivität in der mo-
dernen Zeit fassen. Was mit der Französischen Revolution einkehrt, ist eine spe-
zifische Instabilität, denn jene macht nicht nur Schluss mit der regelmäßigen
Wiederkehr des Hergebrachten, deren Hinfälligkeit sie erklärt (vgl. Ritter 1965,
S. 19), sondern es ist auch der politische Terror als die Fortsetzung der Revoluti-
on, an der die Instabilität für Hegel ersichtlich wird (ebd., S. 21). Die Zukunft ist
jetzt offen und sie wird deswegen zum Problem, weil einst änderungsresistente
Ordnungen fragwürdig werden, nachdem mitunter die Revolution die gesell-
schaftliche und politische Ordnung säkularisiert (ebd., S. 16). Die Instabilität der
Moderne beruht vor allem auf der Zukunftsoffenheit, sofern die vormals auf der
Grundlage der garantierten Kontinuität der Vergangenheit basierende Gewissheit
beseitigt ist: „Was mit der neuen Zeit und mit der Revolution heraufkommt, ist
[…] das Ende der Geschichte; die Zukunft ist ohne Beziehung zur Herkunft“
(ebd., S. 43).
Die Französische Revolution bringt aber auch eine besondere Abwehrhal-
tung hervor, und das ist die Restauration. Die Emanzipation von der hergebrach-
ten Ordnung ist für diese der Anlass, sie stellt sich gegen die Tendenz der Zeit,
will das Vergangene wiederherstellen und aufrechterhalten, sie will also das
Hergebrachte wieder zur Geltung bringen (ebd., S. 36). Ritter zeigt nicht nur,
dass für Hegel die Abwehr der Revolution, das affirmative Dafürhalten der Ver-
gangenheit von der Revolution selbst bedingt ist, sie somit ein Zeichen der Zeit
16 Einleitung

ist. Es lässt sich ferner Folgendes entnehmen: Die Tendenz zur Wiederherstel-
lung lässt zugleich genau das hervortreten, für das eigentlich die Revolution ein-
tritt, nämlich das Ende der Geschichte, wie man sie bisher kannte (ebd., S. 44).
Beiden liegt die Einsicht zugrunde, dass die Kontinuität von Vergangenheit und
Zukunft abbricht. Die Restauration muss notwendig auf die Vergangenheit re-
kurrieren. Die Wiederherstellung des Hergebrachten und dessen Überwindung
stehen in Verbindung mit der Entzweiung. Hegel schlägt sich zwar, so Ritter,
weder auf die eine noch auf die andere Seite, denn er erachtet den Widerspruch
der beiden als die Grundverfassung der Zeit (ebd., S. 45), er hält aber an der un-
revidierbaren Transformation fest, die sich mit der Französischen Revolution
durchsetzt. Man kann nämlich die Revolution rechtfertigen, weil sie im Gegen-
satz zum Hergebrachten das Prinzip der Freiheit vorantreibt, wobei ersteres ge-
genüber diesem unwiderruflich an Geltung verliert. Seit der Revolution tritt das
Individuum an die Stelle, die der Grund des Rechts und des Staates ist (ebd., S.
29 f.). Die Revolution hilft somit der Verwirklichung des Prinzips Freiheit, das,
so Ritter, aus der Sicht Hegels mit der antiken Polis seinen Lauf genommen hat.
Die Idee der Freiheit, die mit der Französischen Revolution befördert wird, ver-
knüpft Hegel mit der unvollendeten Freiheit in der Antike. Auf diese Weise wird
die Revolution zu dem Maßstab, an dem sich auch für Koselleck der politische
Fortschritt messen muss (vgl. Koselleck 1984, 325), denn ein Zurücktreten hinter
jenes Prinzip wird nicht mehr möglich sein, haben doch die vorherigen Prinzi-
pien der Institutionen und der Rechte an Geltung verloren. Weil die Revolution
darüber hinaus einen weiteren Schritt hin zur Verwirklichung der Freiheit unter-
nimmt, hält Hegel der Restauration vor, dass sich ihr Engagement nicht an die
Kontinuität der abendländischen Geschichte anschließen lässt. Für die Revoluti-
on gilt das aber aus eben genannten Gründen (vgl. Ritter 1965, S. 36).
Die Subjektivität kommt noch auf eine andere Weise zur Geltung. Weil die
moderne Zeit die Kontinuität des Hergebrachten unterbricht, wird sie auch zur
Belastung. Hegel sieht darin, schreibt Ritter, die Grundverfassung der Zeit. Die
Entzauberung hat, gleichsam wie die Restauration das Hergebrachte wieder zur
Geltung bringen will, den Wunsch zur Folge, die ursprüngliche Unselbständig-
keit rückgängig zu machen. Ritter dazu: „Die Gegenwart lebt in der Entzweiung;
die Sehnsucht sucht die verlorene Einheit“ (ebd., S. 46). Anstatt diese Entwick-
lung als hoffnungslos zu verneinen, kann ihr Hegel, der Deutung Ritters zufolge,
dennoch etwas Gutes abgewinnen: Die Entzauberung gehört auch zur Vorausset-
zung für Subjektivität. So wird es für Hegel möglich, auf die moderne Zeit zu
setzen, in der die Freiheit des Individuums wirklich wird. Die in der Moderne
hervortretende Selbstbestimmung kennzeichnet Dilthey wie folgt:
„Mit der inneren Zersetzung der mittelalterlichen Kirche und ihres metaphysischen
Systems, mit den Fortschritten der geistigen und wirtschaftlichen Kultur und der
Umbildung der sozialen und politischen Verhältnisse, die dadurch hervorgerufen
wurde, erwuchs ein Bewusstsein von dem selbständigen Wert alles diesseitigen Le-
Einleitung 17

bens und Schaffens, welches die Schranken der transzendenten Weltanschauung der
früheren Jahrhunderte überall siegreich durchbrach. Individuum, Staat und Nation
erfassten ihre Souveränität. Sie begannen, ihre Handlungsweise nach ihren natürli-
chen Interessen zu bestimmen, und sie scheuten sich nirgends, sich offen zu ihren
Motiven zu bekennen“ (Dilthey 1962, S. 217).
Auf die legitim gewordene Selbstbestimmung folgt allerdings ein Spannungs-
verhältnis, das nun skizziert wird. Es soll helfen, das Vorhaben der Arbeit näher
zu bringen. Das Spannungsverhältnis liegt wie folgt vor: Auf der einen Seite
wird der Schutz des Individuums zum letzten Zweck des Staates erklärt, während
auf der anderen Seite keine Herrschaftsentscheidung zulässig ist, die im Wider-
spruch zur Nation steht. Dieser Konflikt ist bereits in der französischen Erklä-
rung der Menschen und Bürgerrechte angelegt und er entwickelt sich deswegen,
so Hans Joas, weil er anfangs vernachlässigt wurde. Die Durchsetzung der indi-
viduellen Freiheit als letzten Zweck des Staates eignete sich für die Abschaffung
der Privilegien und die Nation legitimierte die Herrschaft und legalisierte die
Rechtsschöpfung (vgl. Joas 2011, S. 36). „`Das Individuum´ und `die Nation´
erscheinen aber in der Französischen Erklärung als zwei höchste Bezugspunkte
der Wertung, so als sei zwischen diesen Wertungen kein fundamentaler Konflikt
möglich“ (ebd., S. 37).
Hannah Arendt sieht in der Stellung der Nation in Frankreich den wesentli-
chen Unterschied zwischen der Französischen und der Amerikanischen Revolu-
tion.5 In beiden Fällen wird die Quelle für Herrschaft und Recht beseitigt, so dass
sich aus dieser Säkularisierung eine Leerstelle für die Legitimität der Herrschaft
und die Legalität der Rechtsschöpfung ergibt (vgl. Arendt 2000, S. 208). Arendt
untersucht die unterschiedlichen Lösungen für dieses Problem und erkennt fol-
gende Abweichung, die sie in einen Zusammenhang mit der Migrationsgeschich-
te Amerikas stellt: Die Nation verleiht in Amerika wie in Frankreich zwar der
Herrschaft die erforderliche Legitimität, während sich aber in Amerika die Lega-
lität der Rechtsschöpfung von der Verfassung herleitet, verantwortet dies in
Frankreich die Nation. Die Entwicklung in Frankreich geht insofern andere We-
ge, als sie nicht wie in Amerika die Quelle der Rechtsschöpfung ihrerseits posi-
tivem Recht unterordnet. Arendt schreibt:
„Aber entscheidend ist, dass in einer Republik sich dieses Leben [der demokrati-
schen Verfahren; C.A.] mit seinen wechselnden Beschlüssen im Rahmen und im
Einvernehmen mit einer Verfassung abspielt, die ihrerseits von dem Nationalwillen
und den wechselnden Majoritäten so wenig abhängt, wie etwa ein fertiges Gebäude
von dem Willen des Architekten oder dem seiner Bewohner abhängig ist. Darin liegt
ja gerade die Bedeutung der schriftlichen, dokumentarisch festgelegten Verfassun-

5 Georg Jellinek sieht einen Ursprung der Menschenrechte im Recht der Gewissensfreiheit, dass
in den amerikanischen Kolonien aufgrund von religiösen Diskriminierungen in Europa erlassen
wird. Aus der Forderung nach Gewissensfreiheit geht, ihm zufolge, der Schutz des Individu-
ums vor dem Staat hervor (vgl. Jellinek 1904, S. 45).
18 Einleitung

gen, denen man zur Zeit der Revolutionen so großes Gewicht beimaß; da sie fixiert
und gleichsam verdinglicht waren, wurden sie ein objektiver Bestandteil der Welt,
der dem subjektiven Belieben ihrer Bewohner weitgehend entzogen war. In Amerika
war man sich dieser stabilisierenden Funktion der schriftlichen Verfassung durchaus
bewusst; es galt, alles nach menschlichem Ermessen Mögliche zu tun, um zu ver-
hindern, dass die Prozesse der Beschlussfassungen mit dem ihnen inhärenten Majo-
ritätsprinzip in den `elektiven Despotismus´ der Demokratie, der Herrschaft der Ma-
jorität, ausarteten“ (ebd., S. 213 f.).
Die in Frankreich hervorgetretene Nation und der Schutz für das Individuum
sind „nicht voll kompatibel“ (Böckenförde 1999, S. 18). Das Spannungsverhält-
nis zwischen der Kanalisierung des Staates auf den letzten Zweck, der den
Schutz des Individuums vorsieht, und der Souveränität der Nation besteht in der
französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte darin, dass sie die
Legitimität der Herrschaft von der Nation herleitet, denn, so Joas, der verkündete
Schutz für das Individuum sollte nicht mit Zweifeln gegenüber Herrschaft über-
haupt verbunden sein (vgl. Joas 2011, S. 36).
Norbert Elias schreibt, dass sich nicht nur in Frankreich, sondern überall
dort, wo Nationen hervortreten, ein Spannungsverhältnis zwischen dem obligato-
rischen Respekt für das Individuum und der ebenso zugemuteten Hingabebereit-
schaft für die Nation verstetigt. Zu den Gründen für diesen Widerspruch zählt er
die Besetzung von beruflichen Herrschaftsämtern durch bürgerlich sozialisierte
und auf das Individuum an sich bedachter Menschen, die vor allem angesichts
zwischenstaatlicher Beziehungen damit konfrontiert werden, für den Bestand der
Herrschaft sorgen zu müssen (vgl. Elias 1989, S. 200 f.). Die moralischen Kräfte
die sich zum einen auf das Individuum und zum anderen auf die Nation ausrich-
tet, sind, ihm zufolge, innerhalb von Nationen wirksam und sorgen dafür, dass
das Spannungsverhältnis bestehen bleibt. Elias beschreibt das folgendermaßen:
„So erwerben Menschen in Staatsgesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Dispo-
sitionen, die sie dazu bringen, ihr Handeln auf mindestens zwei hauptsächliche
Normenkanons abzustimmen, die in mancher Hinsicht unvereinbar sind. Jedes Indi-
viduum nimmt die Erhaltung, die Integrität, die Interessen seines eigenen, souverä-
nen Kollektivs und dessen, wofür es steht, in seinen persönlichen Habitus auf, als
eine Richtschnur des Handelns, die in bestimmten Situationen vor allen anderen den
Ausschlag geben kann und muss. Zugleich wächst dasselbe Individuum mit einem
humanistischen, egalitären oder [sic] Moralkanon heran, dessen höchster, aus-
schlaggebender Wert der einzelne Mensch als solcher ist. Beide werden, wie es of
heißt, `internalisiert´, oder vielleicht sollte man einfach sagen: `individualisiert´. Sie
werden zu Facetten des eigenen Gewissens der Individuen. Wer einem dieser beiden
Kanons zuwiderhandelt, setzt sich in entsprechenden Situationen der Bestrafung
nicht nur durch andere, sondern auch durch sich selbst, in der Form von Schuldge-
fühlen oder `schlechtem Gewissen´ aus“ (ebd., S. 204).
Im Weiteren schreibt er:
Einleitung 19

„In gegenwärtigen Nationalstaaten kann der mächtigste Kanon ein und derselben
Gesellschaft den Zugehörigen einschärfen, dass der einzelne Mensch, das Individu-
um, als höchster Wert rangiere, und gleichzeitig, dass das souveräne Kollektiv, der
Nationalstaat, der höchste Wert sei, dem alle überindividuellen Ziele und Interessen
– dem selbst das physische Überleben der Individuen untergeordnet werden müsse“
(ebd., S. 207).
Die auf die Nation ausgerichtete moralische Kraft, so Elias, dominiert vor allem
unter außeralltäglichen Umständen, und dazu gehört insbesondere der Konflikt-
fall mit anderen Nationen. Nichtsdestoweniger kommt es abseits außeralltägli-
cher Umstände nicht zum Verschwinden dieses Spannungsverhältnisses. Die
Orientierungen am Individuum und an der Nation sorgen weiterhin für Polarisie-
rung, wobei sich, schreibt er, die jeweiligen Seiten nicht zwingend ausschließen
müssen, sondern durchaus nur ein Übergewicht der Nation gegenüber dem Indi-
viduum und umgekehrt beanspruchen können (ebd., S. 209).
Die Aufmerksamkeit für Phänomene mit globalen Auswirkungen trägt zu
einem Wandel bei, der die Nation betrifft. Martin Albrow macht globale und die
Nation überschreitende Orientierungen für soziales Handeln und die Abhängig-
keit des Staates von übernationalen Ressourcen dafür verantwortlich, dessen
Einfluss auf das alltägliche Handeln zu behindern (vgl. Albrow 1998, S. 169).
Das ist für ihn das wesentliche Merkmal des globalen Zeitalters. Das „Globale“,
das durch die Belanglosigkeit nationaler Interaktionsgrenzen und die Aufmerk-
samkeit auf die an Nationen nicht haltmachenden Naturkräften gekennzeichnet
ist (ebd., S. 132), wird zu einem Hindernis für die Kanalisierung der Orientie-
rung auf die Nation, der sich, so Albrow, „die Verwurzelung des Nationalstaats
im alltäglichen Leben“ verdankt (ebd., S. 65). Er notiert:
„Der eigentliche Bruch mit der Moderne, der Übergang zu einer neuen Epoche,
kommt nicht durch den Sieg des Irrationalen über das Rationale zustande, sondern
dadurch, dass das Soziale eine Bedeutung außerhalb des vom Nationalstaat vorge-
gebenen Bezugsrahmens gewinnt. Dies geschieht, wenn der Staat nicht mehr fähig
ist, neue Formen sozialer Organisation zu kontrollieren“ (ebd., S. 96).
Folgt man Albrow, so sollte das von Elias konstatierte Spannungsverhältnis, das
auch unabhängig von außeralltäglichen Umständen andauert, von den Auswir-
kungen des Globalen betroffen sein. Die von Albrow veranschlagten Handlungs-
orientierungen, die nationale Grenzen überschreiten, wirken sich schließlich
nachteilig auf eine Moral aus, die die Hingabe für die Nation zumutet und die
jenseits nationaler Grenzen nur Indifferenz vorsieht. Die Konsequenz beschreibt
Ulrich Beck wie folgt:
„Diese Architektur des Denkens, Handelns und Lebens in staatsgesellschaftlichen
Räumen und Identitäten zerbricht im Zuge wirtschaftlicher, politischer, ökologi-
scher, kultureller, biographischer Globalisierung. Weltgesellschaft meint: Es entste-
hen Machtchancen, Handlungs-, Lebens- und Wahrnehmungsräume des Sozialen,
20 Einleitung

welche die nationalstaatliche Orthodoxie von Politik und Gesellschaft aufbrechen


und durcheinanderwirbeln“ (Beck 2001, S. 116; Herv. im Orig.).
Die Moral der Nation verschwindet aber nicht. Ludger Pries nimmt zwar eben-
falls davon Notiz, dass globale Orientierungen für soziales Handeln zunehmen.
Dafür macht er die zwingende Berücksichtigung von Umweltbelastungen,
Krankheitserregern und Terrorismus, also insgesamt von solchen Ereignissen
verantwortlich, für die nationale Grenzen keine Hindernisse darstellen (vgl. Pries
2008, S. 22 f.). Globale Orientierungen erkennt er ferner daran, dass Migration
nicht zu einem Abbruch der vorherigen Interaktionen im Herkunftsland führt.
Pries sieht aber auch eine Überbewertung des Globalen (ebd., S. 32). Das be-
gründet er wie folgt (ebd., S. 25 ff.): Ein nennenswerter Anstieg der Migration
und des internationalen Warenhandels lässt sich im globalen Zeitalter nicht fest-
stellen. Ferner nimmt die Anzahl der Nationen insgesamt faktisch zu, als dass sie
in supranationalen Mächten aufgehen. Es macht sich sogar nationaler Wider-
stand gegen solche nationenübergreifende Anstalten bemerkbar. Die Bedeutung
des Lokalen ist ihrerseits nicht verschwunden. Nationalstaaten erweisen dem
Globalen schließlich einen Dienst, indem sie für Regelungen sorgen, die den
globalen Austausch in der Wirtschaft ermöglichen. Darüber hinaus lässt sich die
vom Globalen geförderte Durchsetzung der Anerkennung andersartiger Identitä-
ten nicht registrieren. Pries folgert zwar, dass das Globale die Beschreibung der
„homogen-integrierten nationalen `Container-Gesellschaften´“ (ebd., S. 32) ob-
solet macht. Er stellt aber nach wie vor den „Wunsch nach nationalgesellschaft-
licher Homogenisierung und nach einem klaren und geteilten Wertebezugsrah-
men“ (ebd., S. 39) fest, gleichwohl diese aufgrund von Bestrebungen separatisti-
scher Kollektive konstatierte Aktualität nationaler Moral wiederum durch Be-
strebungen von Seiten ethnischer Minderheiten um Anerkennung relativiert
wird.
Elias selbst äußert sich in einem seiner letzten Texte zu den Auswirkungen
des Globalen auf die Nation. Er konstatiert eine neue Form der auf das Individu-
um kanalisierten Moral. Die Auseinandersetzung des Staates im Hinblick auf
den von ihm zu erfüllenden Zweck, nämlich den Schutz des Individuums an sich
findet auch zwischenstaatlich statt. „Es gibt viele Anzeichen“, schreibt er, „für
die Entwicklung eines neuartigen, globalen Verantwortungsgefühls für das
Schicksal von Individuen in Not unabhängig von ihrer Staats- oder Stammeszu-
gehörigkeit, ihrer Gruppenidentität überhaupt“ (Elias 1996, S. 225). Die gewan-
delte Berücksichtigung des Individuums an sich wird zudem von Erfahrungen
begleitet, die das Unvermögen des Staates hervortreten lassen, seine eigenen
Einwohner beschützen zu können. Elias nennt Naturgewalten und Naturkatastro-
phen, die Menschen ungeachtet der nationalen Grenzen gleichermaßen bedrohen,
ohne dass es den Staaten gelingt, ihre Schutzfunktion auszuüben (ebd., S. 301).
Trotzdem fällt, so Elias, die Begeisterung für übernationale Moral gemessen an
Einleitung 21

der emotionalen Leidenschaft, die sich für nationale Moral mobilisieren lässt,
gering aus.
„Die emotionale Tönung der Wir-Identität wird merklich geringer, wenn es um post-
nationale Integrationsformen geht, also etwa um Zusammenschlüsse afrikanischer,
lateinamerikanischer, asiatischer oder europäischer Staaten. Die Funktion der höchs-
ten Integrationsebene der Menschheit, als Bezugseinheit der Wir-Identität von Men-
schen ist vielleicht im Wachsen. Aber es ist wohl keine Übertreibung, wenn man
sagt, dass für die meisten Menschen die Menschheit als Bezugsrahmen der Wir-
Identität auf der Landkarte der Emotionen ein weißer Fleck ist“ (ebd., S. 270).
Die Widerstandsfähigkeit der Nation gegen die Auswirkungen des Globalen
führt Elias darauf zurück, dass Staaten ihre Schutzfunktion nach wie vor erfolg-
reich behaupten können, und das obwohl sich zeigt, dass sie gegen übernationale
Gefahren nicht viel ausrichten können. Der Grund für die beharrliche Orientie-
rung an ihrer Schutzfunktion liegt, ihm zufolge, an dem damit verbundenen Ap-
pell, sich an der Moral der Nation zu orientieren.
„Die spezifische Doppelzüngigkeit des nationalen Credos beruht nicht zuletzt da-
rauf, dass sich mit der Funktion des Staates als Überlebenseinheit, als Beschützer
und Garant der Sicherheit des einzelnen Staatsangehörigen, zugleich der Anspruch
verbindet, von den Einzelnen die Bereitschaft zur Vernichtung ihres Lebens, die
Verpflichtung zum Tode zu fordern, wenn das den Regierenden für die Sicherheit
der gesamten Nation erforderlich zu sein scheint“ (ebd., S. 278).
Die Wirksamkeit der nationalen Moral äußert sich schließlich im Falle des her-
vortretenden Vorrangs post-nationaler Moral, und das erkennt Elias daran, dass
Orientierungen an partikularen Nationen dazu beitragen, die Konsolidierung
post-nationaler Moral zu verhindern (ebd., S. 295 f.). Was supranationale Anstal-
ten heute herausfordert, das entspricht der Provokation, mit denen sich sonst
Nationen konfrontiert sehen, wenn sie ein Kollektiv beherbergen, das sich einen
eigenen Staat herbeisehnt. Eric Hobsbawm drückt das treffend aus: „Nationalis-
men ohne Verbindung zum Staat waren die gefährlichsten Rivalen […]“ (Hobs-
bawm 2005, S. 108). Die Nation wird also dann moralisch wirksam, wenn sie
mit post-nationaler Moral supranationaler Anstalten konfrontiert wird. Elias da-
zu:
„Es wäre, nach gängiger Ausrucksweise, rational durchaus einleuchtend und mög-
licherweise auch vorteilhaft, wenn die europäischen Nationalstaaten sich zu dem
größeren Verband der Vereinigten Staaten von Europa zusammenschlössen. Die
Schwierigkeit aber beruht in den meisten Fällen darauf, dass die durch Nachdenken
gewonnene Einsicht in die Realitätskongruenz einer umfassenderen Integration dem
zähen Widerstand gefühlsstarker Vorstellungen begegnet, die dieser Integration den
Charakter eines Untergangs geben, eines Verlusts, über den man nie aufhören kann
zu trauern“ (Elias 1996, S. 300).
An anderer Stelle schreibt er dazu Folgendes:
22 Einleitung

„Der Zwang eines auf den Einzelstaat abgestimmten sozialen Habitus erscheint heu-
te vielen Menschen als so überwältigend stark und unabwendbar, dass sie ihn wie
etwas Naturgegebenes, wie Geburt und Tod als etwas Selbstverständliches hinneh-
men. Man reflektiert nicht darüber“ (ebd., S. 303).
Rogers Brubaker fällt auf, dass diese Essenz der Nation, die Elias für die Beharr-
lichkeit der Orientierung an der Nation verantwortlich macht, selbst in der Wis-
senschaft nicht vergeht. Er nennt das den Gruppismus, den er als eine Tendenz
begreift, Kollektive als substanzielle und von Handeln unabhängige Einheiten zu
betrachten (vgl. Brubaker 2007, S. 16 ff.). Dieser Gruppismus erweist sich selbst
gegen „ein Vierteljahrhundert konstruktivistischen Theoretisierens in den Sozi-
alwissenschaften“ (ebd., S. 11) als resistent. Obwohl längst widerlegt ist, dass
Kollektive und insbesondere die Nation an sich bestehen und ein inneres unver-
änderliches Wesen aufweisen, hält sich, so Brubaker, der Gruppismus in der For-
schung (ebd., S. 123).
Elias wendet schließlich ein, dass sich eine Wissenschaft, die Gesellschaft
und Nation zusammenfallen lässt, den Weg versperrt, um Einflüsse untersuchen
zu können, die nationale Grenzen überschreiten. Er registriert, dass angesichts
globaler Orientierungen des sozialen Handelns und der globalen Folgen unge-
planter Ereignisse eine sozialwissenschaftliche Beschreibung von Gesellschaften
ungenügend ist, wenn sie aus einer bloß nationalen, und nicht globalen Perspek-
tive vorgenommen wird (vgl. Elias 1996, S. 218 f.). Insgesamt erkennt Elias, wie
später auch Pries, zwar einen Anstieg globaler Orientierungen, nur führen sie
nicht dazu, die Moral der Nation zu nivellieren. Das ist mit der Disqualifizierung
des Gruppismus und des methodologischen Nationalismus ebenfalls nicht ver-
bunden.
Die Problemstellung ergibt sich wie folgt: Auf der einen Seite sprechen
globale Phänomene dafür, dass globale Orientierungen die Nation für die Orien-
tierung des Handelns in den Hintergrund drängen und damit ihren Vorrang der
Verbindlichkeit beeinträchtigen. Globale und die Nation überschreitende Orien-
tierungen nehmen aufgrund der Erleichterung für Interaktionen jenseits nationa-
ler Grenzen zu. Naturgewalten, die sich nicht von nationalen Grenzen aufhalten
lassen und sich auf gleich mehrere Nationen auswirken können, führen dazu, die
Ohnmacht des Nationalstaates gegenüber der Natur bewusst zu machen. Gegen
die zweckrationale Effizienz supranationaler Anstalten und Kollektive kann eine
isolierte Stellung von Nationalstaaten kaum verteidigt werden. Ferner nimmt der
mit nationaler Moral inkompatible Respekt für das Individuum an sich zuneh-
mend globale Ausmaße an. Auf der anderen Seite zeigt sich aber, dass die Orien-
tierung an der Nation resistent gegen die Auswirkungen globaler Phänomene ist.
Die Beharrlichkeit der Orientierung an der Nation tritt vor allem dann hervor,
wenn sich post-nationale Moral supranationaler Anstalten und Kollektive be-
hauptet, und sie gibt sich an der Verteidigung des Vorrangs nationaler Moral
gegenüber post-nationaler Moral zu erkennen. Zudem machen nach wie vor Kol-
Einleitung 23

lektive den Anspruch geltend, eine Nation zu werden. Insgesamt widerlegt die
Beharrlichkeit der Nation, in den Fokus des sozialen Handelns zu rücken, die auf
das Globale zurückgeführte Beeinträchtigung der Orientierung an der Nation.
Warum ist die Orientierung an der Nation so beharrlich, obwohl globale
Orientierungen für soziales Handeln nationale Begrenzungen überschreiten?
Eine Antwort auf diese Frage soll erlauben, die Beharrlichkeit der Orientierung
an der Nation im Hinblick auf die Wirksamkeit nationaler Moral einzuschätzen,
denn ihre Wirksamkeit entscheidet, in welchem Maße die von Elias festgestellte
Konsequenz, nämlich die „Schuldgefühle“ durch den dualen Normenkanon, der
das Spannungsverhältnis zwischen Nation und Individuum an sich hervorruft,
bestimmend ist.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Nation und dem Individuum an sich
hilft, um eine Erklärung für die Beharrlichkeit der Nation zu erarbeiten. Elias
konstatiert, dass der „duale Normenkanon“ (Elias 1989, S. 204) dort vorkommt,
wo sich die Nation durchsetzt. Auf der einen Seite steht die Zumutung des Res-
pekts für das Individuum und auf der anderen Seite die zugemutete Hingabe zu-
gunsten der Nation. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Nation
besteht insofern, als die Zumutung, sich der Nation hinzugeben, die Indifferenz
gegenüber sich selbst, anderen Angehörigen der Nation als Individuen, Angehö-
rigen anderer Nationen und sonstigen, zu keiner Nation gehörenden Individuen
einschließt. Das widerspricht wiederum dem zugemuteten Respekt für das Indi-
viduum unabhängig von jeglicher Zugehörigkeit. Dieser Widerspruch zur Nation
liegt im Falle des „globalen Verantwortungsgefühls“ (Elias 1996, S. 225) dann
entsprechend vor, wenn man den zugemuteten Respekt für die Natur davon ab-
zieht.
Zu meinem Vorhaben gehört es nicht, eine Begründung dafür zu entwi-
ckeln, warum entweder die Nation oder das Individuum den Vorrang haben soll.
Stattdessen möchte ich Émile Durkheims Studien im Hinblick auf die moralische
Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft in modernen Gesellschaften vor dem
globalen Zeitalter untersuchen. Um der Beharrlichkeit der Orientierung an der
Nation nachzugehen, werde ich Durkheim danach befragen, inwiefern die mora-
lische Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft in modernen Gesellschaften
möglich und erforderlich ist.6 Der zunächst zu erarbeitende Nachweis über den
sozialen Ursprung der Nation ist für mein Vorhaben wesentlich. Mit dem sozia-
len Ursprung der Nation kann ich untersuchen, welche Bedingungen gegeben

6 Die Anregung für das Vorhaben kommt vom Mitbürger aus der Fremde (Bukow/Llaryora
1998). In dieser Arbeit decken Wolf Bukow und Roberto Llaryora auf, dass Ethnizität für die
Integration in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften unerheblich ist. Sie rekon-
struieren ferner mithilfe der Theorie des Labeling Approach, wie sich Ethnizität als abwei-
chendes Verhalten auf Seiten von Menschen mit Migrationshintergrund rekonstruieren lässt.
Einen Impuls für mein Vorhaben hat aber ihre These über die konstitutive Belanglosigkeit der
Ethnizität gegeben.
24 Einleitung

sein müssen, damit die nationale Gemeinschaft moralisch wirksam sein kann und
inwiefern der Bedarf an ihrer moralischen Wirksamkeit in modernen Gesell-
schaften gegeben ist. Ihr sozialer Ursprung erlaubt schließlich, eine Erklärung
für die Beharrlichkeit der Orientierung an der Nation zu konstruieren. Anhand
der Ergebnisse über die Möglichkeit und den Bedarf an nationaler Moral in mo-
dernen Gesellschaften vor dem globalen Zeitalter will ich die Widerstandsfähig-
keit der Nation gegenüber den Auswirkungen des Globalen theoretisch rekon-
struieren. Im Hinblick darauf dem sozialen Ursprung der Nation nachzugehen,
werde ich erarbeiten, welche Voraussetzung gegeben sein muss, damit sich nati-
onale Moral überhaupt entwickeln kann. Daran schließe ich die Berücksichti-
gung von Schwankungen in der Zuordnung von Gemeinsamkeitsmerkmalen
(zum Beispiel: Sprache, politische Erinnerung oder Migrationserinnerung) zu
Nationen an. Dies geschieht im Hinblick darauf, den Ursprung nationaler Ge-
meinschaft in ihren Gemeinsamkeitsmerkmalen zu prüfen. Die Rekonstruktion
des Hergangs derjenigen Gemeinschaft, die der Nation eigentümlich und nur ihr
vorbehalten ist, erlaubt mir als nächstes, die Nation von nicht-nationalen Ge-
meinschaften zu unterscheiden. Ferner macht es die Rekonstruktion des Her-
gangs nationaler Gemeinschaft möglich, die moralische Wirksamkeit der Nation
in modernen Gesellschaften zu untersuchen. Weil in Durkheims Arbeiten der
Fokus auf die Moral in modernen Gesellschaften vor dem globalen Zeitalter ge-
legt ist, kann ich auf deren Grundlage nationale Moral hinsichtlich des Anliegens
meines Vorhabens untersuchen. Auf diese Weise (Kapitel 4) kann ich der natio-
nalen Moral nicht im Hinblick darauf nachgehen, ob das, was sie anrichtet, sein
soll, sondern ob und unter welchen Bedingungen es sein kann. Auf dieser Grund-
lage werde ich abschließend eine Antwort auf die Frage danach herleiten, warum
die Nation trotz der Auswirkungen globaler Orientierungen beharrlich die Auf-
merksamkeit für soziales Handeln auf sich ziehen kann.
Als erstes werde ich berücksichtigen, wie sich nationale Gemeinschaft her-
vorrufen lässt (Kapitel 1). Hierfür rekurriere ich auf Einwände gegen die an sich
gegebene Gemeinschaft der Nation. Mit dem Nachweis über die Unzulänglich-
keit der Aussage, der zufolge nationale Gemeinschaft unabhängig davon ist, be-
wirkt zu werden, kann ich offen legen, worauf sie angewiesen ist. Die Arbeits-
schritte hierfür sehen Folgendes vor: Ich greife anfangs die beiden Nationenty-
pen Kulturnation und Staatsnation auf und illustriere anschließend anhand eini-
ger Auszüge aus einer Studie von Robert Michels das, was für Max Weber aus-
geschlossen ist: Vergemeinschaftung entspringt nicht Gemeinsamkeitsmerkma-
len (vgl. Weber 2002, S. 22). Auf solche, nämlich auf u.a. Sprache, Literatur-
klassiker und Religion beruht insbesondere die Kulturnation, die sich für Fried-
rich Neumann (1888), Alfred Kirchhoff (1905) und Friedrich Meinecke (1919)
dadurch auszeichnet, dass sie unwandelbar ist. An ihren Arbeiten wird sich zei-
gen, dass sie zwar die Zugehörigkeit eines solchen Menschen zu einer Kulturna-
tion vorsehen, der ihr ursprünglich nicht angehörte, sie aber ausschließen, dass
Einleitung 25

die nachträglich durch Annahme der nationalen Kultur herbeigeführte Zugehö-


rigkeit einen Einfluss auf die Kulturnation ausüben kann. Die statische Beschaf-
fenheit der nationalen Kultur wird daran erkennbar, dass sie resistent dagegen
ist, verfälscht zu werden, und das wiederum bedeutet, dass sie nicht von Wirk-
kräften betroffen sein kann. Dieser an den Überlegungen Fichtes, für den sich die
deutsche Nation durch ihre erhalten gebliebene Ursprache kennzeichnet (vgl.
Fichte 2008, S. 74), angelehnte Typus der Nation weist daher einen dauerhaft
gleich bleibenden Kern auf. Eine unveränderliche und auf gemeinsamen Kultur-
gütern gestützte Nation enthält aber eine Leerstelle, die zu erkennen gibt, dass
nationale Gemeinschaft nicht an sich gegeben ist. Das will ich zum einen anhand
eines selektiven Zugriffs auf die Studie von Michels (1929) erarbeiten, in der er
es ihm u.a. darum geht, die Entstehung von Entzweiung innerhalb von solchen
Kollektiven nachzuvollziehen, deren Gemeinschaft man auf Gemeinsamkeits-
merkmale zurückführt. Zum anderen nutze ich Webers Auseinandersetzung in
seinem Manuskript Gemeinschaften (2009). Michels und Weber sind hilfreich,
weil man mit ihnen die Unzulänglichkeit einer aus Gemeinsamkeitsmerkmalen
hergeleiteten Definition der Nation aufdecken kann. Es wird sich ergeben, dass
sich eine solche Definition an der Heterogenität und Inkonsistenz der empirisch
von Nationen beanspruchten Gemeinsamkeitsmerkmale stößt. Für Weber selbst
ist es essenziell, das Zusammenfallen von Rasse und Nation und von Rasse und
Gemeinschaft überhaupt zurückzuweisen, weil ein Nachweis darüber, dass eine
Gemeinschaft in der Gemeinsamkeit des biologischen Erbguts ihren Ursprung
hat, sein gesamtes Werk nur noch Makulatur sein lässt. Sind nämlich körperliche
Gemeinsamkeitsmerkmale die Quelle von Gemeinschaft, so schließt das ein,
dass die Orientierung für das Handeln bedeutungslos ist, nur ist diese wiederum
das „Atom“ für Webers Wissenschaft, in der ausnahmslos alle „Kulturgebilde“
auf verständliches Handeln reduziert sind (vgl. Weber 1951, S. 439). Mit Webers
Auseinandersetzung will ich belegen, dass bloße Gemeinsamkeitsmerkmale für
Gemeinschaft kausal belanglos sind und dass diese sozialen Ursprungs ist. Sie ist
ein Resultat desjenigen sozialen Handelns, das Weber Vergemeinschaftung
nennt. Gemeinschaft ergibt sich erst, wenn sich die Handelnden hinsichtlich ih-
res Handelns miteinander jeweils an gefühlter Zusammengehörigkeit orientieren
(vgl. Weber 2002, S. 21 f.). An seine Schlussfolgerung aus den Einwänden ge-
gen die auf Gemeinsamkeitsmerkmalen beruhende Definitionen der Nation
schließt er zudem das an, was ihr Wesen ausmacht. Soziales Handeln, aus dem
Gemeinschaft entspringt, muss in eine bestimmte Richtung kanalisiert sein, da-
mit sich die Nation von anderen Gemeinschaften abhebt. An dieses Wesen der
Nation knüpfe ich im nächsten Schritt Heinz O. Zieglers Studie Die moderne
Nation (1931) an, die über den Zusammenhang zwischen dem Hervortreten der
Nation und dem Wandel staatlicher Herrschaft informiert. An der Studie lässt
sich ferner ablesen, dass Webers Definition der Nation nicht ausschließlich auf
Vergemeinschaftung beruht, gleichwohl er u.a. die nationale Gemeinschaft
26 Einleitung

nennt, die dem reinen Typus der Vergemeinschaftung am nächsten kommt (vgl.
Weber 2002, S. 22). Er beansprucht insofern nicht die strikte Trennung von Ver-
gemeinschaftung und dem anderen Typus der sozialen Beziehung, der Vergesell-
schaftung, als gefühlte Zusammengehörigkeit auch aus der für die Vergesell-
schaftung (ebd., S. 21) charakteristischen Orientierung an Zwecken und Werten
resultieren kann. Es kann sich auch aus Vergesellschaftung eine Gemeinschaft
ergeben, die Übergänge sind fließend (ebd., S. 22).
Aufgrund des von Weber hergeleiteten Wesens der Nation folgert Ziegler,
dass ihr Vorrang gegenüber anderen Kollektiven notwendig gegeben sein muss.
Das ist für ihn das „Primat der sozialen Verbindlichkeit“ (vgl. Ziegler 1931, S.
69), das nicht aus einer reinen Vergemeinschaftung entsteht. Anhand der Arbeit
Zieglers will ich den Nachweis weiterführen, dass nationale Gemeinschaft be-
wirkt werden muss. Seine Studie ist hierfür hilfreich, weil er zum einen unter-
sucht, was den Vorrang der Nation verschuldet, und weil er zum anderen die
Entstehung des Wesens der Nation vor dem Hintergrund des Wandels der Legi-
timität von Herrschaft erarbeitet.
Das in einem Zusammenhang mit staatlicher Herrschaft gebrachte Wesen
der Nation, will ich im nächsten Schritt um einige Überlegungen Webers zum
Idealtypus der Herrschaft ergänzen (Kapitel 2). Die eigentliche Absicht seiner
Herrschaftslehre ist es, zum einen die Struktur der Herrschaft anhand von Typen
der Legitimitätsgründe und zum anderen die Beziehung der Herrschaft zur Wirt-
schaft zu untersuchen. Für mein Vorhaben ist das nebensächlich. Stattdessen will
ich erarbeiten, dass Herrschaft nicht eine soziale Beziehung ist, in der die Über-
geordneten vollkommen unabhängig agieren, sondern auch auf das Handeln der
Untergeordneten angewiesen sind. Mir geht es somit lediglich darum, die soziale
Wechselseitigkeit der Herrschaft verständlich zu machen. Hierfür berücksichtige
ich zunächst, wie Weber begründet, dass er das Handeln zur Grundlage seiner
Wissenschaft macht. Bevor ich schließlich zu seinem Idealtypus der Herrschaft
komme, will ich den Hintergrund seiner Herrschaftslehre transparent machen
und in einem Exkurs auf die Überlegungen Heinrich Popitz zurückgreifen, die
für den von Weber vorgenommenen Kontrast zwischen Macht und Herrschaft
behilflich sind. Im Ganzen soll sich mit dem Schritt erklären, warum das von
Ziegler für die Nation veranschlagte Primat der sozialen Verbindlichkeit im Falle
der Nation gegeben sein muss.
Im vorletzten Schritt werde ich die zentralen Studien Durkheims im Hin-
blick auf das Anliegen meines Vorhabens rekonstruieren. 7 Die Eignung Durk-

7 Zu meinem Vorhaben gehört es nicht, eine weitere Exegese der Schriften Durkheims vorzule-
gen, gleichwohl sich die Rekonstruktion seiner Überlegungen nicht vermeiden lässt. Mir geht
es nicht darum, Zwecke und Grenzen der theoretischen und methodologischen Auseinander-
setzungen Durkheims zu erarbeiten. Ich will auch nicht einen weiteren Vergleich zwischen ihm
und Weber durchführen. Stattdessen will ich die Arbeiten eines Klassikers, nicht eines Säulen-
heiligen, für eine gegenwartsbezogene Fragestellung fruchtbar machen. Dabei ist es nicht mei-
Einleitung 27

heims dafür, der nationalen Moral in modernen Gesellschaften nachzugehen,


begründet sich folgendermaßen: Seine Arbeiten geben nicht nur darüber Aus-
kunft, worauf sich die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit zurück-
führen lässt, denn er berücksichtigt auch, welche Nebenfolgen ihre Faktoren
nach sich ziehen und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit sich ihr
Anstieg nicht nachteilig auf das Individuum und die Moral überhaupt auswirkt.
In der Studie zur Arbeitsteilung ([1893] 2008a) macht er eine zentrale Voraus-
setzung für die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit ausfindig, und
das ist die Schwächung kollektiver Homogenitätszumutungen. Haben sie Gel-
tung, so halten sie Individualität gering. Also geht er den Ursachen nach, die ihre
Geltungskraft mindern, allerdings legt er zugrunde, dass in diesem Zusammen-
hang nichts gezielt herbeigeführt wird. Weder sind kollektive Homogenitätszu-
mutungen angelegt, um Regungen nach Individualität zu vereiteln, noch liegt die
Aspiration vor, sich von ihnen zu emanzipieren. Das Bewusstsein für unter-
drückte Individualität ist nicht vorhanden. Angesichts dessen sucht er nach Be-
dingungen, die individuelle Entscheidungsfreiheit begünstigen. Sie ist somit kein
Wert, von dessen Richtigkeit Durkheim überzeugen will. Hingegen macht er sie
sich so zum Gegenstand, dass er ihre Zwangsläufigkeit offen legen kann. Das
Individuum erobert sich nicht die Entscheidungsfreiheit, sondern sie ist aufgrund
bestimmter Gegebenheiten unumgänglich. Wichtig ist, dass Individualität zu-
stande kommt, ohne die im Falle von Abweichungen von Homogenitätszumu-
tungen üblichen Repressionen zu mobilisieren. Hieraus ergibt sich die Durkheim
interessierende Problemstellung: Die sich herausbildenden Persönlichkeiten er-
regen insofern seine Aufmerksamkeit, als er in Erfahrung bringen will, inwieweit
jene, Individualität verhindernde Verbindlichkeiten der Kollektive geschwächt
werden können, ohne dass daraus eine Gefahr für die Handlungsfähigkeit des
Individuums und für Moral überhaupt entstehen kann. Weil er nämlich anhand
der analysierten Vergehen gegen moralische Zwecke eines Kollektivs konstatie-
ren kann, dass es zwischen den zu erzielenden Zwecken einerseits und ihren mo-
ralischen Funktionen andererseits keinerlei Einmütigkeit bedarf, registriert er die
mit den geschwächten Homogenitätszumutungen verbundene Beschneidung ih-
rer moralischen Funktionen. Um diese Nebenfolgen untersuchen zu können, in-
strumentalisiert er in origineller Weise die Selbstmordraten. Nimmt die Gel-
tungskraft kollektiver Homogenitätszumutungen ab, so macht das zwar Indivi-
dualität möglich, dem wohnt aber auch ein Makel inne. Die Verbindlichkeiten
gegenüber Kollektiven sind eine Quelle für Sinnvorgaben, so dass sich im Falle
ihres beträchtlichen Verschwindens auch Schattenseiten zeigen. In der Suizid-

ne Absicht, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass sich nur Durkheim eignet, um eine Ant-
wort zu entwickeln, denn das Ziel der Arbeit ist primär, eine Antwort für die beharrliche Ori-
entierung an der Nation zu erarbeiten. Freilich ohne den Anspruch zu erheben, eine letzte Ant-
wort zu finden.
28 Einleitung

Studie ([1897] 1973) stellt er fest, dass die entstehende Orientierungsnot auf der
einen Seite zu aussichtsloser Sinnsuche an Stellen führt, wo an sich keine Sub-
stanz angelegt ist, im Individuum selbst. Die Suche bleibt vergeblich und das
Individuum hat eine verfahrene Passivität zu verkraften. Auf der anderen Seite
wirkt sich die Orientierungsnot derart aus, dass man von der Wirksamkeit des
eigenen Handelns nicht mehr Notiz nehmen kann. Die Erfahrung wird rar, ein
Ergebnis auf das eigene Handeln zurückzuführen, weil der eigenen Geschäf-
tigkeit zunehmend die Grenzen abhanden kommen. Mit den Typen des egoisti-
schen und anomischen Selbstmords kann Durkheim den Nebenfolgen der
schwindenden Homogenitätszumutungen nachgehen, die sich auf Seiten des In-
dividuums und der Moral bemerkbar machen. Insbesondere Der Selbstmord lässt
sein Bewusstsein für die Risiken erkennen, die mit den Faktoren für die Zunah-
me der individuellen Entscheidungsfreiheit verbunden sind. Hierzu gehört daher
nicht nur all das, was kausale Bedeutung für die Individualität hat, sondern
Durkheim erfasst auch dasjenige Maß ihrer Faktoren, das soweit geht, dass das
Individuum und auch Moral einer Gefahr ausgesetzt sind. Die Zunahme der in-
dividuellen Entscheidungsfreiheit wird zur Gefahr für das Individuum, wenn es
sich immer weniger Sinnvorgaben hingeben kann, wobei die davon betroffenen
Individuen zu einer zusätzlichen Belastung für die Geltung von Sinnvorgaben
werden.
Ein zentrales Anliegen Durkheims offenbart sich nun, und das ist die ge-
sunde Mitte zwischen Disziplin und Entscheidungsfreiheit. Frei ist das Individu-
um im Denken Durkheims nicht, wenn es, ohne Sanktionen fürchten zu müssen,
von den Homogenitätszumutungen abweicht, sondern wenn es die gewonnene
Entscheidungsfreiheit zu nutzen weiß. Beherrscht das Individuum das nicht, so
hat das Auswirkungen auf die Moral, von denen es schließlich auch nicht ver-
schont bleibt, da es zu ihren Funktionen gehört, Orientierungsangebote bereitzu-
halten. Durkheims Morallehre in der Vorlesung Erziehung, Moral und Gesell-
schaft ([1934] 2006) verrät, dass es sich ohne Disziplin erübrigt, von individuel-
ler Entscheidungsfreiheit zu sprechen. Das mit den geschwächten Homogenitäts-
zumutungen verbundene Mehr an individueller Entscheidungsfreiheit identifi-
ziert er also nicht mit Emanzipation von jeglicher Unterordnung, denn ausblei-
bende Orientierungs- und Ziellosigkeit ist für die Handlungsfähigkeit des Indivi-
duums elementar. Nur das kann antizipieren, dass mit der Freiheit das Individu-
um postwendend verschwindet. Für die Stellung der Entscheidungsfreiheit in den
Arbeiten Durkheims muss man berücksichtigen, dass sich Moral dem Individu-
um nicht allmächtig aufdrängt. Die Initiative des Individuums ist unter keinen
Umständen restlos getilgt. Das unfreie Individuum kommt in den Überlegungen
Durkheims nicht vor. Das freie Individuum kann seine Kräfte lenken, wofür aber
äußere Sinnvorgaben unentbehrlich sind. Sich ihnen vollkommen zu entledigen,
schließt Durkheim aber aus, weil es mit dem Orientierungsverlust auch um die
Freiheit geschehen ist. Erfolglosigkeit und Unzufriedenheit sind in diesem Fall
Einleitung 29

unausweichlich. Das Individuum ist zwar dazu begabt, eigene Sinnvorgaben zu


kreieren, nur ist es auf sich allein gestellt nicht vermögend, den Sinnvorgaben
auch Geltung zu verleihen. Folglich: Ist das Handeln nicht an geltenden Sinn-
vorgaben orientiert, so fehlt jede Chance, Anerkennung für das Handeln zu er-
halten. Die Eigenleistung des Handelns besteht nicht darin, sich selbst Sinn zu
geben, sondern in der individuellen Komposition äußerer Sinnvorgaben. Durk-
heim dazu:
„Und wie wir in unserem materiellen Leben auf die Ressourcen angewiesen sind,
die wir der kosmischen Umwelt entnehmen, so zehrt unser geistiges Leben von den
Ideen und Empfindungen, die wir der sozialen Umwelt entnehmen. Von nichts
kommt nichts, und der Einzelne, der sich selbst überlassen wäre, könnte sich gar
nicht über sich selbst erheben“ (Durkheim 1991, S. 130).
Weil Durkheim also nicht vorsieht, dass das Individuum äußere Sinnvorgaben
ablegt, erkennt er Freiheit neben der individuellen Gestaltung der Handlungsori-
entierung auch darin, über Zielbewusstsein zu verfügen und dafür qualifiziert zu
sein, sich über den Ursprung der Ziele bewusst zu werden. Das beschreibt er wie
folgt:
„Die Autonomie des Individuums besteht also nicht darin, sich gegen die Natur zu
stellen; ein solcher Widerstand wäre absurd und fruchtlos, ganz gleich, ob er sich
gegen die Kräfte der materiellen oder gegen die der sozialen Welt richtete. Autonom
sein heißt für den Menschen, die Notwendigkeiten zu erkennen, denen er sich beu-
gen muss, und sie in Kenntnis der Gründe zu akzeptieren. Wir können die Gesetze
der Dinge nicht anders machen, als sie sind; aber wir befreien uns von ihnen, indem
wir sie denken, das heißt, indem wir sie uns durch das Denken aneignen“ (ebd., S.
131).
Wie die Entscheidungsfreiheit sich beherrschen lässt, ist eine Frage, die sich ihm
nicht nur überhaupt stellt, sondern mit der er sich insbesondere vor dem Hinter-
grund des Anstiegs der Freiheit auseinandersetzt. Ihn interessiert das relativ
Normale des Individuums, wobei er sich hierbei nicht von subjektiven Vorstel-
lungen über das normale Individuum leiten lässt, sondern den Bedingungen
nachgeht, die das Individuum erhalten, und zwar angesichts der zunehmenden
Entscheidungsfreiheit und ihren Nebenfolgen.
Auf der einen Seite erkennt er, dass das Individuum auf Disziplin und Ori-
entierung stiftende Sinnvorgaben unmöglich verzichten kann, und auf der ande-
ren Seite stellt er fest, dass sich der Motor der individuellen Entscheidungsfrei-
heit in der Beeinträchtigung jener beiden äußert. Ein zentrales Anliegen seiner
Arbeiten gibt sich vor diesem Hintergrund zu erkennen, und dieses Anliegen
begründet die Eignung Durkheims für mein Vorhaben: Er untersucht die Voraus-
setzungen und die Wirksamkeit von Moral(en), die dem von ihm festgestellten
Bedarf an Individualität genügen, für die er anrechnet, dass sie kein gezielt, son-
dern ein zwangsläufig herbeigeführtes Resultat ist. In der Arbeitsteilung geht er
30 Einleitung

dem Typus der organischen Solidarität nach, der jedoch in seinen späteren
Schriften nicht mehr auftaucht. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit auf
das moralische Milieu der Berufsgruppen, die Sakralität des Individuums und
den an die Herrschaftskonzentration des Staates zweckmäßig gebundenen Schutz
des Individuums. In allen Fällen zeigt sich, dass er sich den Anforderungen für
eine Moral der modernen Gesellschaft annähert, ohne darauf ausgerichtet zu
sein, die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit abzuwehren. Daran
wird erkennbar, dass er dem Individuum nichts zur Last legt.
Die Rekonstruktion der Studien Durkheims (Kapitel 3) ist daher darauf aus-
gerichtet, die für sein zentrales Anliegen signifikanten Ergebnisse zu erarbeiten.
Als erstes werde ich in seinen Regeln ([1895] 1984) berücksichtigen, wie er Mo-
ral abseits von Geltungsgründen untersuchen will. Seiner Vorlesung Erziehung,
Moral und Gesellschaft (2006) will ich anschließend den notwendigen Zusam-
menhang von Disziplin und Handlungsfähigkeit entnehmen. Im dritten Schritt
greife ich auf die Arbeitsteilung (2008a) zurück, weil sie über die Faktoren für
den Anstieg von Freiheit und Vielfalt informiert. Danach rekonstruiere ich dieje-
nigen Ergebnisse der Studie Der Selbstmord (1973), die ich im Hinblick auf die
Untersuchung der moralischen Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft nutzen
kann. Der fünfte Schritt dient zur Erarbeitung der Symboltheorie in Die elemen-
taren Formen des religiösen Lebens ([1912] 2010a). Abschließend sammle ich
in der Vorlesung Physik der Sitten und des Rechts ([1896] 1991) und in Durk-
heims Wortmeldung ([1898] 1986b) zur Dreyfus-Affäre weitere Erkenntnisse
zum moralischen Polymorphismus und zur Sakralität des Individuums.

Diese Studie wurde als Dissertation von der Humanwissenschaftlichen Fakultät


der Universität zu Köln im Oktober 2013 angenommen. Mein Dank gilt:
Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Roth, Herrn Prof. Dr. Wolf D. Bukow und
Frau Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou. Darüber hinaus danke ich meinen
Eltern, Athena Anastasopoulou, Susann Peters, Gerda Heck, Rainer Marin
und Wolli Brennnesselhaar.
1 Nation

1.1 Primat der Kultur

Friedrich Meinecke schließt aus, dass es ein allgemeines Entwicklungsgesetz für


das Hervortreten von Nationalstaaten gibt. Das Anliegen seiner Studie Weltbür-
gertum und Nationalstaat (1919) ist es daher, die partikulare Entstehung der Idee
des Nationalstaats im Falle Deutschlands zu untersuchen. Für die Zurückweisung
eines universellen Ablaufs der Nationenbildung sprechen, ihm zufolge, die un-
terschiedlichen Entwicklungen einzelner Nationen, und dazu gehört nicht zuletzt
der in Relation zu England und Frankreich ungleiche Ablauf in Deutschland
(vgl. Meinecke 1919, S. 6). Meinecke argumentiert, dass ein allgemeines Gesetz
der Nationenbildung an den Variationen der einzelnen Nationen scheitert, denn
während Frankreich und England bereits Nationen mit Staat sind, kommen zwei
andere Nationen, nämlich Deutschland und Italien ohne Staat aus. Hingegen
nennt er Preußen eine politische Nation, die unter dem Dach einer größeren un-
politischen Nation stand (ebd., S. 8). Es zeigt sich ebenfalls an Merkmalen, die
er für Nationen geltend macht, dass sich eine allgemeine Entwicklung nicht an-
nehmen lässt. Zu Nationen gehören, so Meinecke, gemeinsames Territorium,
gemeinsame Abstammung, gemeinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben
und ein Staat oder eine Staatenföderation (ebd., S. 1). Die Merkmale müssen
nicht im Falle jeder Nation zutreffen, denn stattdessen zeigt sich vielmehr die
Heterogenität dieser Merkmale. Zwei weitere Gründe dafür, ein Entwicklungs-
gesetz abzulehnen, sind die Folgenden: Auf der einen Seite beeinflussen sich
Nationen untereinander, so dass es zu insgesamt heterogenen Folgen dieser Aus-
einandersetzungen kommt (ebd., S. 16). Auf der anderen Seite steht die Bildung
des Nationalstaats unter dem Einfluss kosmopolitischer Ideen, so dass jede Nati-
on aufgrund der singulären Auslegung dieser Ideen eine partikulare Gestalt an-
nimmt. Für die Geschichtswissenschaft ist diese Zurückweisung eines universel-
len Hergangs der Nation schließlich deswegen essentiell, weil es ihre Aufgabe
ist, die Partikularitäten der Nationen zu untersuchen. Meinecke schreibt:
„Wie aber diese höhere Gemeinschaft entsteht und welcher Art ihre Inhalte sind,
darüber belehrt uns kein allgemeines Entwicklungsgesetz, sondern nur die Untersu-
chung des konkreten Einzelfalls. Wenn allgemeine Gesetze hier walten sollten, so
sind sie doch unserer Erfahrung nicht zugänglich. Hier und da glaubt man wohl ein
Stück, wenn nicht von allgemeinen Gesetzen, so doch von allgemeinen Tendenzen

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
32 1 Nation

zu erhaschen und ähnliche Grundzüge und Entwicklungsstufen aller oder doch vie-
ler Nationen wahrzunehmen, aber bei strenger Prüfung hat jede Nation wieder eine
ganz individuelle und eigene Seite“ (ebd., S. 2).
Er stellt fest, dass sich im Falle der deutschen Nation als erstes Intellektuelle und
Staatsmänner über ihre objektiven Merkmale bewusst werden. Sie lassen sich
von der Französischen Revolution inspirieren, dank derer sie Überlegungen über
einen Wandel der Herrschaft anstellen (vgl. hierzu auch Francis 1965, S. 107).
Infolgedessen kann die Nation neben ihrer Kultur auch einen Bezug zur Herr-
schaft verbuchen (vgl. Meinecke 1919, S. 31). Das Anliegen der Studie Meinec-
kes ist es, unter der Voraussetzung, dass jede Nation ihren partikularen Weg
geht, die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die
Eigentümlichkeit der deutschen Nation zu untersuchen, die sich aus dem Ver-
hältnis von universellen und nationalen Ideen hinsichtlich des Nationalstaats
ergibt.
Für das eigene Vorhaben sind die Ergebnisse dieser Studie nicht hilfreich.
Meineckes Vorbemerkungen im Kapitel Allgemeines über Nation, Nationalstaat
und Weltbürgertum ermöglichen aber, die Auseinandersetzung über den sozialen
Ursprung der Nation aufzunehmen. Das betrifft vor allem die von ihm genutzte
Typologie. Sie soll sich insbesondere dann im Einsatz bewähren, wenn man die
nationalstaatliche Entwicklung solcher Nationen untersuchen will, die ohne ei-
nen Bezug zu einem Staat bestehen. Das trifft für den von ihm ausgewählten
Einzelfall zu, bei dem anfangs nicht einer, sondern mehrere heterogene Staaten-
gebilde nebeneinander existieren. Somit muss eine für Meinecke brauchbare
Typologie zweierlei8 bereitstellen. Das ist ein Begriff der Nation mit dauerhafter
politischer Macht und einer für die Nation, der ein Staat abgeht. Dieser Trennung
entsprechen, so Meinecke, die Überlegungen Fichtes, aus dessen Stellungnah-
men zur Nation9 hervorgeht, dass die deutsche Nation für diesen einzig auf der
Grundlage kultureller und geistiger Güter besteht, wohingegen andere Nationen
auf einen Staat angewiesen sind, um sich überhaupt zu halten (ebd., S. 121). Die
Unterscheidung Fichtes kommt der von Meinecke getroffenen entgegen, nur
beabsichtigt letzterer nicht, dass sich der Typ Nation mit Staat und der Typ Nati-
on ohne Staat isoliert von einander und jeweils deckungsgleich in der empirische
Wirklichkeit abbilden lassen. Stattdessen legt er die Typen so aus, dass man sie
in der Wirklichkeit vermengt wieder findet. Meinecke dazu: „Wir haben uns
dabei immer zugleich klar gemacht, dass in der geschichtlichen Wirklichkeit
diese verschiedenen Typen ineinander übergehen“ (ebd., S. 15). Was aber der

8 Eine Skizze der Nationalstaatsbildung auf der Grundlage der Typologie von Meinecke fertigt
Böckenförde an. Er rekonstruiert das Drängen der Intellektuellen zur Überführung der staaten-
losen Nation zur politischen Nation der Deutschen (vgl. Böckenförde 1999, S. 47 ff.).
9 Zu Fichtes Überlegung zur Nation, die ohne den Anspruch auf den eigenen Staat auskommt
vgl. Heller 1963, S. 17.
1.1 Primat der Kultur 33

Nation unabhängig von diesen Typen nicht abgehen darf, ist zum einen das Ter-
ritorium (ebd., S. 3) und zum anderen die ursprüngliche Abstammung. Dazu
schreibt er: „Unbedingt vorhanden muss in ihr wohl ein naturhafter Kern, der
durch Blutsverwandtschaft entstanden ist“ (ebd., S. 2).10 Die Typologie stellt
aber keinen Zugang bereit, um Nationen in ihrem ursprünglichen Zustand, son-
dern im „entwickelten Stadium“ (Meinecke 1919, S. 2) zu untersuchen. Fest
steht für ihn aber, dass die Nation durch den hinzukommenden Bezug zum Staat
einen Wandel erlebt:
„Wir können eine frühere Periode unterscheiden, in denen die Nationen im ganzen
ein mehr pflanzenhaftes und unpersönliches Dasein und Wachstum hatten, und eine
spätere, in denen der bewusste Wille der Nation erwacht, in der sie sich selbst – und
sei es auch nur durch das Organ ihrer Führer – als große Persönlichkeit, als große
geschichtliche Einheit fühlt und das Kennzeichen und Recht der entwickelten Per-
sönlichkeit, die Selbstbestimmung beansprucht“ (ebd., S. 6).
Seinen Überlegungen lässt sich bislang entnehmen, dass eine Nation abseits der
beiden unentbehrlichen Merkmale nicht zwingend in einem Verhältnis mit einem
Staat stehen muss. Zweitens legen die oben genannten Beispiele nahe, dass die
staatenlose Nation einerseits und die Nation mit einem Staat andererseits nicht
ausschließlich dichotom vorkommen. Der Bezug zur eigenen Herrschaft führt, so
Meinecke, nicht dazu, dass der Nationentypus ohne Staat vom anderen Typus
abgelöst wird. Die beiden Typen nennt er die Kulturnation und die Staatsnation:

10 Für Otto Bauer ist das die Etappe der Nation, in der sie sich im Zustand des „Sippschaftskom-
munismus“ befand, ohne einen Verlust ihres „Keimplasmas“ erlitten zu haben (vgl. Bauer
1971, S. 27). Natur und Kultur einer Nation lassen sich im Denken Bauers nur im Zeitalter des
Sippschaftskommunismus nachweisen. Es ist dann nicht ausreichend, bloß ein Ahnenverhältnis
der Angehörigen einer Nation festzustellen. Vielmehr braucht es neben der faktischen Ab-
stammung die Entwicklung eines Nationalcharakters, der als Konsequenz aus der Auseinan-
dersetzung mit den natürlichen Lebensbedingungen entsteht. Konkret: Um gegen diese beste-
hen zu können, unterliegt eine Auswahl körperlicher Merkmale den Züchtungsanstrengungen,
die an nachfolgende Generationen der Nation übertragen werden. Darüber hinaus entwickelt
die Nation in dieser frühesten Zeit kulturelle Antworten auf die äußeren Bedingungen, die
ebenfalls zum Transfer vorgesehen sind. Am Anfang ist der Nationalcharakter also ein Ergeb-
nis der Betroffenheit von einem gemeinsamen Schicksal. Bauer veranschaulicht sein Modell an
den Germanen: „Wie die Germanen jener Zeit eine Naturgemeinschaft sind, in deren Charakter
sich das Schicksal des Stammvolkes in allen Völkerschaften spiegelt kraft der erhaltenden
Macht des Keimes, der von Vater und Mutter übergeht auf die Kinder, so sind sie auch eine
Kulturgemeinschaft, da in der Kultur aller dieser Völkerschaften die Kultur des Stammvolkes
noch lebendig war und darum alle diese Völker eingeschlossen waren in gleichartiges Recht,
gleichartige religiöse Vorstellungen, gleichartige Sprache, gleichartige Lebenssitten. Gemein-
same Abstammung und von gleichem Stamm überlieferte und darum gemeinsame Kultur er-
zeugte in ihnen alle jene Gemeinschaft des Charakters, die sie zu einer Nation machte“ (ebd.,
S. 29; Herv. im Orig.). Zu Einwänden gegen Bauers Vorstellung über die Nation vgl. Hertz
1927, S. 50-54.
34 1 Nation

„Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen
können in Kulturnation und Staatsnation, in solche, die vorzugsweise auf einem ir-
gendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugs-
weise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und
Verfassung beruhen“ (ebd., S. 3).
Die reine Kulturnation verfügt zunächst über keinen Staat. Zu ihren Merkmalen
zählt er Sprache, Literatur und Religion. Ohne diese objektiven Merkmale liegt
eine Kulturnation nicht vor. Selbst eindeutige Grenzen ihres Territoriums sind
weniger bedeutsam. Zur Staatsnation gehört hingegen ausdrücklich das „politi-
sche Gemeingefühl“ (ebd., S. 4), welches das Hervortreten dieses Nationentypus
bewirkt. Er kommt zunächst infolge der Französischen Revolution auf, an deren
„Geiste“ sich zeigt, was der Staatsnation wesentlich ist: der Bezug zur staatli-
chen Herrschaft von Seiten der Nation (ebd., S. 5). Eines kann also der Staatsna-
tion nicht fehlen, nämlich der Wille zur dauerhaften politischen Selbstbestim-
mung. Das schließt die Konzentration der Herrschaft auf dem Territorium der
Nation ein (ebd., S. 10). Damit man sich zur Staatsnation zählen kann, muss man
in erster Linie weder einer Sprachgruppe angehören, noch sich gemeinsamer
Abstammung gewiss sein, sondern man muss entschlossen sein, sich einem Staat
anzuschließen. Die Staatsnation, schreibt Francis, kennzeichnet allerdings weni-
ger die empirische Wirklichkeit, als vielmehr eine politische Idee, da sich ein
kollektiver politischer Wille erfahrungswissenschaftlich nicht feststellen lässt.
Erfassen lässt sich die Staatsnation, wenn man das Prinzip in Rechnung stellt,
wonach die politische Herrschaft in einem modernen Staat, seitens der von ihr
Betroffenen mitbestimmt wird, die sich zu den Angehörigen der Nation zählen
dürfen (vgl. Francis 1965, S. 77). Sie kann vorsätzlich geschaffen werden, sie
kann aber auch, so Emerich Meinecke, in einer Kulturnation unbeabsichtigt auf-
gehen und mit ihr bestehen. Es kann darüber hinaus vorkommen, dass einer
Staatsnation die Herrschaft abhanden kommt, so dass sie als Kulturnation weiter
besteht. Ferner: Nimmt eine Staatsnation die Angehörigen einer anderen Nation
auf, die eine Kulturnation ist, so ist es für Meinecke nicht möglich, die kulturna-
tionale Zugehörigkeit aufzugeben (vgl. Meinecke 1919, S. 5). Daran zeigt sich
das Primat der Kultur in seinem Begriff der Nation. Der Staat ist gegenüber der
Kultur unwesentlich. Zur Nation, die ohne Staat auskommt, äußert er sich wie
folgt:
„Was aber die Kulturnation dieser älteren Zeit betrifft, so zeigt sich ihr vegetativer
Charakter eben schon darin, dass sie nicht von sich aus den Drang hat, Staatsnation
zu werden und einen sie umfassenden Nationalstaat zu schaffen. Sie konnte sich mit
ihrem Dasein als bloßer Kulturnation eher zufrieden geben als die Zeit, die nach
möglichst kräftigen Formen und Wirkungsweisen für die Persönlichkeit der Nation
suchte“ (ebd., S. 8).
1.1 Primat der Kultur 35

Für die beiden Typen der Nation beruft sich Meinecke auf Friedrich Neumanns
Studie Volk und Nation (1888) und Alfred Kirchhoffs Arbeit Zur Verständigung
über die Begriffe Nation und Nationalität (1905). Diese Studien sind ihm von
Nutzen, weil auch Neumann und Kirchhoff neben der Nation, zu der ein Staat
gehört, auch auf die „eigentliche“ (Neumann), auf Kultur beruhende Nation ver-
weisen. Neumann und Kirchhoff gehen dem Hervortreten der Staatsnation nach,
weil sie seit der Französischen Nation mit der Nation überhaupt in eins gesetzt
wird, so dass das entschlossene Pflichtbekenntnis und die Opferbereitschaft die
Sprache und Abstammung als wesentliche Merkmale der Nation verdrängen.
Kirchhoffs Anliegen ist es, der Berechtigung dieser Identifikation nachzugehen,
die Nation nur Staatsnation sein lässt, um mit einer bisweilen staatenlosen, aber
auf dem ständigen Weg zur Vervollkommnung schreitenden Nation zu kontern
(vgl. Kirchhoff 1905, S. 9).
Das ist auch Neumanns Vorhaben, der festlegt, dass die Nation ausschließ-
lich eine „Kultureinheit“ darstellt (vgl. Neumann 1888, S. 51). Er stellt das in
den Vordergrund, was Meinecke nur nebensächlich behandelt. Kultur alleine
nämlich reicht nicht aus, um von einer Nation zu sprechen. Vielmehr muss die
Kulturleistung eine die Nation konstituierende Wirkung offenbaren. Die Nation
muss etwas aufweisen, was erstens Unterschiede zwischen Nationen möglich
macht und was zweitens ihre Ausdehnung in der Bevölkerung zulässt. Um die-
sen Begriff der Nation zu entwickeln, unterzieht er ihr einen Vergleich mit einer
anderen Menschengruppe, der zwar die für die Nation wesentliche Wirkung ab-
geht, sich nämlich partikular und aufnahmebereit zu zeigen, sie ihr aber ansons-
ten gleicht und ebenfalls nicht zwingend eine Verbindung zu einem Staat auf-
weist. Diese staatenlose Nation entspricht, so Neumann, in vielfacher Hinsicht
dem Stamm (ebd., S. 104 f.): Die Angehörigen der Nation und des Stamms teilen
allesamt Gemeinsamkeiten, die sich in verschiedenen Generationen auffinden
lassen. In beiden Fällen ist mindestens die Sprache auf Seiten von Vor- und
Nachfahren geteilt. Stamm wie Nation bestehen auf der Grundlage eines über-
tragbaren Kulturprodukts. Hinzu kommt eine gefühlte und gewollte Zusammen-
gehörigkeit. Schließlich kann man in beiden Fällen auf die Abstammung verwei-
sen, allerdings liegt, so Neumann, die Erblichkeit der Nation nur noch rudimen-
tär vor (ebd., S. 97).11

11 Anders Bruno Bauch (1916), den Meinecke ebenfalls als eine Referenz nennt. Für jenen steht
das Kriterium des gemeinsamen Erbes der Angehörigen einer Nation nach wie vor im Vorder-
grund. Es ist nicht im Ermessen des Einzelnen, welcher Nation er angehört. Weder steht die
Zugehörigkeit zur Disposition, noch ist ein Willensakt erforderlich. Die Nation beruht auf einer
körperlichen und seelischen Gemeinschaft, die sich auf die Abstammung zurückführen lässt
(vgl. Bauch 1916, S. 7).
36 1 Nation

Neumann insistiert aber darauf, erstens die Trennschärfe im Vergleich zwi-


schen Stamm und Nation hinsichtlich des Grads der Kultur 12 einzuhalten. Ledig-
lich „Kulturanfänge“ (ebd., S. 45) gesteht er dem Stamm zu, wohingegen es die
Nation sogar zu „Kulturleistungen“ (ebd., S. 74) schafft. Zweitens macht es, ihm
zufolge, wenig Sinn, die Nation auf ein oder mehrere geteilte Produkte ihrer Kul-
tur abzustellen. Die zuletzt genannte Schwierigkeit lässt sich nicht beseitigen,
weil es weder die eine Kulturleistung gibt, die eine Nation von der anderen
trennt, noch wird ein kulturelles Erzeugnis für das Bestehen einer Nation unent-
behrlich sein (ebd., S. 61). Man kann nicht festlegen, dass die Sprache das we-
sentliche Kriterium ist, das eine Nation ausmacht, weil es vorkommt, dass eine
Sprache zugleich von mehreren Nationen gesprochen wird. Außerdem lässt sich
nicht festlegen, dass einer Nation die gemeinsame Sprache nicht fehlen darf, da
man in diesem Fall in Schwierigkeiten kommt, wenn man Nationen berücksich-
tigt, deren Angehörige mehr als eine Sprache sprechen. Letzteres trifft für das
von Neumann berücksichtigte und diskutierte Beispiel der Schweiz zu. Indes
sind es aber nach wie vor Kulturleistungen, ohne die es nicht zulässig ist, von
einer Nation zu sprechen, und daher hält er trotz der genannten Schwierigkeiten
an der Kultur festhält. Mit dem Gegensatz zum Stamm kann er das Wesentliche
der Nation aufdecken:
„Ob eine Bevölkerung Stamm oder Nation sei, darüber soll nach jener Definition
zwar die Höhe der Kultur entscheiden, aber nicht sie allein, sondern zugleich die
durch hervorragende Leistungen gewonnene Kraft sich weite Gebiete unterthan zu
machen, und die tatsächliche Bewährung dieser Kraft“ (ebd., S. 75).
Es braucht also nicht bloß kulturelle Erzeugnisse gewöhnlicher Art, damit eine
Nation vorliegt, sondern es ist eine besondere geistige Kultur erforderlich.
Neumann zählt primär die Kultursprache dazu, und zwar die in der Geschichte
der Nation seitens derjenigen ihrer Angehörigen ausgebildete Sprache, die sich
mit ihrem hohen Bildungsgrad und ihrer individuellen Kulturleistung profilieren.
Ferner zählt er die Kulturleistungen auf dem Gebiet der poetischen Literatur,
Kunst und Wissenschaft dazu (ebd., S. 93). Die Einzigartigkeit einer Nation be-
ruht zwar auf der Kultursprache, nur ist es nicht Neumanns Absicht sie als deren
wesentliches Merkmal zu begreifen. Hierfür macht er aber geltend, dass die Kul-
tursprache die Nation das ihr eigene und notwendige Vermögen zur eigenen
Vergrößerung bedingt, somit besitzt sie nämlich „jene assimilierende, fremde
Elemente in sich aufnehmende und verschmelzende Kraft, die großen Nationen

12 Wenn, so Bauer, die früheste Nation von Differenzierung betroffen ist, dann erleidet sie die
Folgen der Vermischung von Stammverwandtschaften (vgl. Bauer 1971, S. 34). Wenn die
Wechselheiraten zunehmend abnehmen, dann tritt die Kultur als diejenige Transferkomponente
zwischen den Generationen einer Nation in den Vordergrund, und zwar ist das zunächst nur die
Kultur der herrschenden Klasse. Vor diesem Hintergrund teilen Bauer und Neumann den Ak-
zent der Nation, den sie auf Kultur setzen.
1.1 Primat der Kultur 37

eigen ist“ (ebd., S. 89). Assimilation findet nur auf Seiten der Nation statt. Man
kann sich einer Nation zurechnen, ohne in sie hineingeboren zu sein, indem man
ihre Sprache übernimmt:
„Wer sich fremder Sprache fügt, fügt sich leicht auch fremden Wesen. Denn er ent-
zieht sich eben in mancher Beziehung bisherigen Kultureinflüssen und übergibt sich
anderen. Er lässt Geister und Geisteswerke auf sich wirken, die anderer Art als die
bisher ihn bestimmenden sind“ (ebd., S. 93).
Dass die Assimilation wesentlich für die Nation ist, bemerkt auch Kirchhoff.
Weil zu viele Nationen aus „Völkerbruchstücken“ bestehen, kann man nicht aus-
schließen, dass sich Menschen anderer Abstammung nicht einfügen lassen (vgl.
Kirchhoff 1905, S. 18). Seine Beispiele sind die amerikanische Nation, die
Schweiz, Belgien, Polen und das deutsche Reich, für das er auf die mehrsprachi-
gen Ostgebiete verweist. Darüber hinaus nennt er Spanien und Portugal als zwei
Beispiele, die zeigen, dass sich zwei Nationen aus einem Volk bilden können.
Diese beiden Beispiele konterkarieren ebenfalls eine im Wesentlichen auf Er-
blichkeit gegründete Nation, da er den beiden Nationen unterstellt, eine Ab-
stammung zu teilen.
Die Assimilationskraft soll sich insbesondere auf die wirtschaftlich niedrig
Stehenden auswirken. Neumann verweist zunächst auf die „unteren Klassen“,
die mittels Kultur in die Nation eingeführt werden. Bauer nennt sie die „Hin-
tersassen der Nation“, weil sie zwar von der nationalen Kultur weitestgehend
unberührt bleiben, deren Bewahrung durch ihre Arbeit aber mitfinanzieren (vgl.
Bauer 1971, S. 51). Das zweifache Vermögen der Nation veranschaulicht
Neumann folgendermaßen. Bei einem Vergleich der Bildungsfernen verschiede-
ner Länder wird man es nicht schwer haben, Gemeinsamkeiten aufzudecken,
wohingegen eine Konfrontation von Bildungsbürgern verschiedener Länder vor
allem Gegensätze hervortreten lässt (vgl. Neumann 1888, S. 94). Die Einheit in
der Bevölkerung einer Nation lässt sich allerdings mithilfe ihrer Kultur bewerk-
stelligen. Nur die „Sonderkultur“ (ebd., S. 76) einer Nation kann sich ausbreiten.
Dementsprechend werden kulturell abweichende Menschen sich dann entnatio-
nalisieren, wenn sie die eigene Sprache ablegen.13
„Eine Nation“, notiert Kirchhoff, „lässt ein gut Teil ihres Geistes in ihre Sprache
überströmen, so dass diese zum getreuen Spiegel ihres Genius, ihres Temperaments,
ihrer ganzen Lebensrichtung wird. Sicherlich ist nichts geeigneter in den geistigen
Bann einer Nation einzutreten, als wenn ein Fremder, der in ihrem Wohnraum sich

13 Bauers Überlegungen lassen sich daran anschließen. Er bemerkt: „Je stärker der Kultureinfluss
ist, je mehr der Einzelne den ganzen Reichtum der Kultur eines Volkes in sich aufnimmt und
in seiner Eigenart durch ihn bestimmt wird, desto eher kann er zum Glied der Nation werden,
am Nationalcharakter Anteil gewinnen, obwohl er nicht kraft der Naturgemeinschaft zu ihr ge-
hört. So ist selbst bewusste Wahl der Zugehörigkeit zu einer anderen Nation als der Nation un-
serer Geburt möglich“ (Bauer 1971, S. 116).
38 1 Nation

angesiedelt hat, deren Sprache annimmt. Sprachentausch führt unweigerlich zur


Entnationalisierung“ (Kirchhoff 1905, S. 22).
Obwohl Kirchhoff und Neumann der Nation die sprachliche Assimilationskraft
als besonderes Merkmal zuschreiben, lassen sie von der Abstammung als einem
weiteren Merkmal nicht ab. Assimilation führt ausdrücklich nicht zu einem hyb-
riden Ganzen, denn ihr Resultat ist die Angleichung an die Kultur der Nation
(ebd., S. 46).
Betreibt der Staat im Falle der politischen Kulturnation die Assimilation, so
wird es besagte Sonderkultur sein, die er anderen aufdrängt. Was schließlich die
Schulbildung weitergibt, ist nicht die Kultur der unteren Schichten, sondern die
der „geistigen Zentren“ (Neumann 1888, S. 95), denn der Staat macht sich, so
Neumann, die Expansionsfähigkeit der nationalen Sonderkultur eigen. Nur die
auf der Grundlage der nationalen Sonderkultur erfolgende Assimilation lässt es
zu, dass auch bislang Außenstehende in die Nation aufgenommen werden.
„Denn die Kultur, die von diesen Staatsgebilden ausgeht, vermag auch die ur-
sprünglich anderer Kultur, anderer Nation (in diesem Sinne) Angehörigen zu
assimilieren“ (ebd., S. 131).
In diesem Fall liegt die Staatsnation vor. Der zu ihr gehörende Staat entsteht
in Neumanns Denken dort, wo ihm „kulturgeeinte Nationen zum Fundamente
dienen“, d.h. die Nation weist für ihn nicht zwingend einen Bezug zu einem
Staat auf (ebd., S. 130). Das gilt für auch Kirchhoff, und zwar insbesondere des-
wegen, weil eine Nation sogar den Untergang eines Staates überleben kann,
nämlich wenn die Kulturleistung einer Nation nicht ebenfalls von dem Verfall
des Staates betroffen ist. Zur Veranschaulichung verweist er u.a. auf die polni-
sche Nation, der ihr Staat abhanden gekommen ist, ihr aber nach wie vor die
Kultur übrig geblieben ist (vgl. Kirchhoff 1905, S. 56). Das lässt ihn schlussfol-
gern: Wenn die Nation den Staat überlebt, dann ist sie nicht auf ihn angewiesen.
In der Regel geschieht, ihm zufolge, zudem das Umgekehrte. Nicht mit dem
Verlust des Staates ist eine Nation konfrontiert, sondern dessen Hervorbringung
ist vorerst ein Höhepunkt ihrer Entwicklung. Diesen Etappenwechsel kennzeich-
nen für ihn die kulturelle und die Staatsnation:
„Wollen wir schlicht und klar den Offenbarungen der Geschichte Ausdruck verlei-
hen, so müssen wir sagen: es gibt Nationen, deren Verband außer in einem gewissen
Grad von Blutsverwandtschaft nur im Gemeinbesitz einer eigenartigen Kultur be-
ruht, und andere, bei denen hierzu noch die wirkungsvolle Einheitssteigerung durch
den Staat tritt. Es bietet sich für die meines Wissens noch nirgends systematisch
hervorgebrachte Unterscheidung dieser beiden Phasen nationaler Ausbildung füglich
die terminologische Trennung in kulturelle und in Staatsnationen“ (ebd., S. 54).
Insgesamt leisten Neumann und Kirchhoff die Vorarbeit, um für Meineckes Kul-
tur- und Staatsnation, insbesondere aber für seine Überlegungen zur Kulturnation
eine anschlussfähige Referenz zu sein. Aus dem Vergleich von Stamm und Nati-
1.1 Primat der Kultur 39

on bleibt auf Seiten der Letzteren der generationenübergreifende Kulturtransfer


übrig, der zwar auch auf Seiten des Stamms vorliegt, nur zeichnet es die Nation
aus, sich mittels Kultur zu vergrößern. Im Gegensatz zum Stamm verfügt die
Nation über die Assimilationskraft, anderen ihre Sonderkultur aufzudrängen, die
sich schließlich der Staat zu Eigen macht. Auf diesen aber ist in Neumanns und
Kirchhoffs Denken die Nation nicht angewiesen. Anders als später bei Meinecke
erweisen Kultur- und Staatsnation nicht den Nutzen, sie als Idealtypen einzuset-
zen. Vielmehr werden sie als Stadien der Entwicklung einer Nation begriffen,
die unter Umständen sogar einen Entwicklungsrückschritt erleben kann.
Zurück zu Meinecke: Die „graduelle Wandlung“ (Meinecke 1919, S. 6) der
Nation zur Staatsnation kann sich zum einen durch die expansive Arbeit eines
Herrschaftsverbands vollziehen, die sich mit der modernen Tendenz zur Selbst-
bestimmung14 ergänzt. Zum anderen kann ein Nationalstaat ein unvermeidbares
Produkt einer Kulturnation sein, so wie es Sprache, Literatur und Religion sind.
Für den zweiten Fall macht Meinecke geltend, dass sich die Wandlung zum Na-
tionalstaat gänzlich ohne den bekundeten Willen zur Nation ereignet. Die Kul-
turnation schafft den Staat, wie sie ansonsten auch anderes hervorbringt. In die-
sem Fall erübrigt sich sogar das „politische Gemeingefühl“ der (kul-
tur)nationalen Angehörigen, da es zwangsläufig nicht in ihrem Ermessen liegt,
sich für oder gegen die Kulturnation zu entscheiden (vgl. hierzu auch Alter 1990,
S. 20). Das trifft speziell für Stadtstaaten und Territorialstaaten zu, die es bereits
vor dem Nationalstaat gab (vgl. Meinecke 1919, S. 15). Im ersten Fall ist das
anders. Der Wille zur Staatsnation wird für ihr Hervortreten nicht ausreichen. Es
braucht die Initiative zur Zentralisierung der Herrschaft. Meinecke erklärt, dass
sich ohne diesen Vorgang die willentliche Nation nicht realisieren lässt. Ande-
rerseits unterstützt der Wille zur Selbstbestimmung die Entmachtung partikularer
Gewalten (ebd., S. 8).
Die Staatsnation ist insbesondere vom Anstieg der individuellen Entschei-
dungsfreiheit begünstigt. Das Individuum muss frei und „kühn“ sein, damit es
sich an solche Kollektive bindet, die traditionelle Kollektive überschreiten. Kann
es sich diesbezüglich frei entscheiden, so lässt es sich auf das Individuum zu-
rückführen, welchen Pflichten gegenüber Kollektiven es sich aussetzt und für
welche es sich einsetzt. Dieser Sachverhalt, so Meinecke, wirkt sich stärkend auf
das Dasein der Staatsnation aus, denn das freigesetzte Individuum kann sich für
sie entscheiden (ebd., S. 10).
„Es ist kein Zufall, dass der Ära des modernen Nationalgedankens eine Ära indivi-
dualistischer Freiheitsregungen unmittelbar vorangeht. Die Nation trank gleichsam
das Blut der freien Persönlichkeit, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben“
(ebd., S. 9).

14 Hermann Heller dazu: „Die Politisierung dieser weltbürgerlichen Idee von der Kulturnation
vollzog sich immer und überall unter dem Drucke der Fremdherrschaft“ (Heller 1971, S. 450).
40 1 Nation

Außerdem hat es auch für das Individuum einen Vorteil, wenn es sich der Nation
freiwillig unterordnet. Die Orientierung an der Nation ermöglicht eine leiden-
schaftliche Initiative, die sich mit keiner anderen ihresgleichen messen lässt. Das
bestärkt das Individuum wie die Nation. Mehr noch:
„Und von allen den größeren Lebenskreisen, in die er sich hineinstellen kann, gibt es
wohl keinen, der so unmittelbar zum ganzen Menschen spricht, so stark ihn trägt, so
getreu seine ganze natürlich-geistige Wesenheit wiedergibt, so sehr Makroanthropos
und potenziertes Individuum selbst ist oder werden kann wie die Nation“ (ebd.).
Die Nation ermöglicht demnach wie kein anderes Kollektiv, das individuelle
Machtbewusstsein zu versorgen. Meinecke bringt gezielt die allgöttliche Vorstel-
lung ins Spiel, um auf die Wirkung des Ineinandergreifens von universalen und
nationalen Bedeutungen zu verweisen. Mit der Vorstellung von der Nation, die
sich auf der ganzen Welt erstreckt und welche die Welt überhaupt hat entstehen
lassen, kann man auslegen, dass die Nation mit der Menschheit zusammenfällt.
Wer im Sinne der Nation handelt, leistet ein Beitrag zur Vervollständigung der
Menschheit, und das begreift das Individuum, das sich der Nation hingibt, in der
Weise, dass es im Vergleich zu den Angehörigen anderer Nationen die höchsten
menschlichen Zwecke ausführt (ebd., S. 81). Diesem Denken zufolge ist die ei-
gene Nation universell und somit ist jeder Angehörige der Nation ein Prototyp
des Menschen (ebd., S. 71). Um die Nation zu behaupten, die mit der Mensch-
heit zusammenfällt, kommt nicht selten auch der Rekurs auf die Antike vor
(ebd., S. 79). Die Konsequenz dieser herrlich vorgestellten Deckungsgleichheit
zwischen der Nation und der Menschheit ist der Führungsanspruch dieser Nati-
on15 in der Welt der Nationen. Es ist die nicht seltene Tendenz der die Nation
betreffenden Geistesgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, die Meinecke an-
spricht, nämlich die Anpassung universeller an nationale Ideen und umgekehrt.
Folglich entsteht eine in dieser Welt nicht zu überbietende Machtreferenz. Die
Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit ist demnach eine Vorausset-
zung für die Staatsnation, die wiederum dem Individuum ein Maximum an
Machtbewusstsein beschafft.
Für Meinecke unterstützt die individuelle Entscheidungsfreiheit ferner des-
wegen die Staatsnation, weil sie dessen als rechtens reklamierte Herrschaft be-
stärkt. Er schreibt:

15 Gegen Meineckes Analyse der deutschen Nationalstaatsbildung mithilfe des Typus Kulturnati-
on hat man den Vorwurf gerichtet, er unterstelle die Überlegenheit der deutschen Kultur über
die westliche Zivilisation (vgl. Jansen/Borggräfe 2007, S. 14; Dann 1996, S. 49; Alter 1997, S.
42). Dass sich diese Auffassung den Reden Fichtes entnehmen lässt, legt Paul Barth offen. Ihm
zufolge legt Fichte die Reinheit der deutschen Sprache aus, denn nur diese sei unabhängig vom
Lateinischen. Hingegen beruhen andere romanische Sprachen auf dieser. Aus der Reinheit des
Deutschen schließe Fichte auf die geistige Besonderheit der Deutschen (vgl. Barth 1913, S. 40
f.).
1.1 Primat der Kultur 41

„Der größeren Aktivität der Individuen entsprach genau die größere Aktivität der
Nation, und die aktivste Form des modernen Nationalgedankens wurde der moderne
Nationalstaatsgedanke“ (ebd., S. 10).
Darin sieht er aber auch bisher nicht gekannte Schwierigkeiten. Da nämlich die
Staatsnation von den freigesetzten Individuen begünstigt wird, ist sie auch von
einer Nebenwirkung dieser neuen Autonomie betroffen. „Gleichzeitig indem die
Nation erstarkt, erstarken auch alle Lebenskreise innerhalb der Nation“ (ebd., S.
11). Was es den Individuen möglich macht, sich für die Nation einzusetzen, das
erlaubt ihnen auch, sich für Kollektive zu entscheiden, die zwar der Nation un-
tergeordnet bleiben, sich aber gegen andere ihresgleichen als die repräsentative
Kraft der Nation durchsetzen wollen. Die Folge der Gruppenvielfalt ist Rivalität
um die Führung der Nation. Die Zunahme der individuellen Entscheidungsfrei-
heit des Individuums fördert zwar die Staatsnation, sie fordert aber ebenfalls
ihren Zusammenhalt heraus. Folglich, so Meinecke, ist es hinsichtlich der Erhal-
tung der Staatsnation eine Anforderung für den Nationalstaat nicht einen umfas-
senden, sondern einen spezifischen Konsens, einen „Gottesfrieden“ und „gegen-
seitige Duldung“ zwischen den rivalisierenden Kontrahenten zu schaffen (ebd.,
S. 12). Er betont, dass es die zwischenzeitlich entstandene Verschiedenheit in-
nerhalb der Kultur der Nation zu erhalten gilt.
Meinecke, Neumann und Kirchhoff stimmen insofern überein, als ihnen der
Staat für die Nation entbehrlich ist, denn sie sprechen sich dafür aus, sie auf Kul-
tur abzustellen, wobei sie auch die geteilte Abstammung veranschlagen, auf wel-
che sie die Nation im Ursprung zurückführen. Aufgrund der von ihnen in den
Vordergrund gestellten Kultur, die ihren Arbeiten als etwas Dauerhaftes behan-
delt wird, das sich von Einflüssen unabhängig zeigt, lassen sich diese drei Ver-
fasser den Wissenschaftlern und Intellektuellen zuordnen, die mit dazu beigetra-
gen haben, den Begriffen Kultur und Zivilisation ihre jeweils universelle und
prozesshafte Eigenart zu nehmen, an deren Stelle zunehmend partikulare und
änderungsresistente Kollektivzuordnung treten. Genau das erarbeitet Elias. Er
bemerkt, es
„[…] verloren auch Begriffe wie `Zivilisation´ und `Kultur´ ihren Bezug auf Prozes-
se, auf fortschreitende Entwicklungen und wurden zu Begriffen, die auf unveränder-
liche Zustände verwiesen. Während sie anfangs, jeder auf seine Weise, als Symbole
des Wir-Bildes vorwärtsschauender Gruppen dienten, die eine emotional befriedi-
gende Grundlage für ihre Selbstachtung und ihren Stolz vor allem in allgemein hu-
manistischen und moralischen Werten und ihrem Beitrag zum kontinuierlichen Fort-
schritt der Menschheit fanden, dienten sie nun mehr und mehr als Symbole des Wir-
Bildes von Gruppen, die eine emotional befriedigende Grundlage für ihre Selbstach-
tung vor allem in den Leistungen ihrer kollektiven Ahnen fanden, um unwandelba-
ren Erbe und der Überlieferung ihrer Nation“ (Elias 1989, S. 176).
42 1 Nation

Die Änderungsresistenz dieses Typus der Nation schließt ein, dass sie nicht von
Kräften betroffen sein kann. Vor allem die Erarbeitung der beiden Typen in der
Studie Meineckes lässt erkennen, dass die Kulturnation gegenüber der Staatsna-
tion kausal unabhängig ist. Während es für letztere die Zunahme der individuel-
len Entscheidungsfreiheit, die Auswirkung der Idee der Selbstbestimmung, die
für die Durchsetzung eines Herrschaftsverbands notwendige Beseitigung der
Zwischengewalten und die von Seiten des Staates betriebene Pflege des Zusam-
menhalts braucht, setzt Meinecke im Falle der Kulturnation auf die Abstam-
mung. Daneben zeigt sich anhand seiner Bemerkungen über den Fall Elsass, dass
der Typus der Kulturnation von Einflüssen unbetroffen bleibt. Für ihn ist näm-
lich der Anschluss seitens Angehöriger einer Kulturnation an eine andere Nation,
die sich zur Staatsnation wandelt, aufgrund der ursprünglichen kulturnationalen
Herkunft ausgeschlossen. Die subjektiv entschlossene Zugehörigkeit zur franzö-
sischen Staatsnation von Seiten der Elsässer wird, so Meinecke, durch ihre Zu-
gehörigkeit zur deutschen Kulturnation verhindert (vgl. Meinecke 1919, S. 5).
Alle drei sind sich trotzdem der Inkonsistenz einer bloß auf gemeinsamer
Abstammung beruhenden Nation bewusst, die sich sodann mit der heterogenen
Wirklichkeit der Nationen als inkompatibel erweist. Die nachträgliche Assimila-
tion ist, ihnen zufolge, möglich16 und zumindest ist sie für Neumann explizit
wesentlich. Weil alle unterstellen, dass sich „Reste sog. Rassen- und Stammes-
unterschiede“ (Neumann 1888, S. 97), die „Stimme des Blutes“ (Kirchhoff 1905,
S. 46) oder ein „naturhafter Kern, der durch Blutsverwandtschaft entstanden ist“
(Meinecke 1919, S. 1), aus einer Nation nicht aussondern lassen, wird die Assi-
milation jener, die anfangs nicht einer Nation angehören, die Erbanlage der Na-
tion nicht vertilgen. Schließlich beruht die Assimilation, wenn sich neu Hinzu-
kommenden die nationale Sprache aufdrängt, auf der Dominanz der (Sonder-)
Kultur der Nation und somit ist ihre Expansion möglich, die ihre Macht begrün-
det und dies vor allem dann, wenn die Kultur die Ausweitung der staatlichen
Herrschaft unterstützt. Die Kulturnation kann also trotz der Aufnahmefähigkeit
ihre Einzigartigkeit bewahren und sie leistet der Entwicklung des Staates einen
Dienst.17 Für letzteres erweist sich die Zunahme der individuellen Entschei-
dungsfreiheit als nützlich. Während sie nämlich für Meinecke zwar auch die He-
terogenität der kollektiven Bindungen erhöht, trägt sie dazu bei, dass sich die

16 Daran schließt auch Heller an, für den Kultur nicht nur die Partikularität einer Nation be-
stimmt, sondern auch die Assimilation ermöglicht: „Es ist ein Schatz eigenständiger, in ihrem
inneren Geist einheitlicher Kulturgüter vorhanden, ein Kulturgut, dessen tieferes Erleben die
Kraft hat, nicht nur den Mitgeborenen, sondern auch den Fremdgeborenen in die nationale
Gemeinschaft einzugliedern“ (Heller 1971, S. 456).
17 Insbesondere hierfür kommt die Akzentuierung der Kultur dann zum Einsatz, wenn die Staats-
nationenbildung mehrere einzelne Herrschaftsverbände betreffen soll, denen man kulturelle
Eintracht unterstellt. Im Fall der deutschen Länder wird die Kulturnation, so Heinrich Winkler,
ins Spiel gebracht, weil die „partikularstaatliche Zersplitterung Deutschlands“ als ein „feudales
Relikt“ erachtet wurde (vgl. Winkler 1993, S. 13).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 43

Angehörigen der Nation vorsätzlich hinter diese stellen und sich für ihre Belange
einsetzen.

1.2 Abseits des Primats der Kultur

Wo der Vorsprung bereits konsolidierter Nationalstaaten zur Belastung wird, da


hilft ein „Ersatz für die versagte staatliche Einigung der Sprachverwandten“
(Hertz 1927, S. 23). Mit der kulturellen Nation lässt sich der Tendenz etwas ent-
gegensetzen, die besagt, die Nation kommt mit dem modernen Staat auf. Hinge-
gen ist der Staat für die Kulturnation anfangs unnötig, er wird zur „Krönung“
(Kirchhof 1905, S. 30) ihrer Entwicklung. Der Staat ist im Denken der Protago-
nisten der Kulturnation ihre Schöpfung, wie es Literatur und Kunst sind. Die
Kulturnation ist somit eine auf gemeinsamen Kulturgütern zurückgeführte Ein-
heit (vgl. auch Dann 1992, S. 68), für die vorgesehen ist, ihr Außenstehenden
dadurch die biographisch nachträgliche Zugehörigkeit zu ermöglichen, dass sie
sich der Kultur unterwerfen, indem sie sich als erstes die Kultursprache aneig-
nen. Die drei Autoren äußern sich aber nicht dazu, inwieweit Kultur es bewerk-
stelligen kann, für Zusammengehörigkeit unter den Angehörigen der Kulturnati-
on zu sorgen. Bloß Meinecke bemerkt, dass die zur Kulturnation hinzugetretene
Staatsnation, nicht nur einen Nutzen aus der gestiegenen Entscheidungsfreiheit
der Individuen herausschlägt, denn diese wirkt sich auch belastend für die natio-
nale Gemeinschaft aus. Kann man aber auf die Zusammengehörigkeit einer Na-
tion vertrauen, dessen Quelle ist, dass ihre Angehörigen in der Lage sind, die
Kulturgüter dieser Nation zu dekodieren, um sich miteinander verständigen zu
können? Reicht die Assimilationskraft der Kultursprache dafür aus, dass die An-
gehörigen der Nation solidarisch miteinander handeln?
Als erstes ein Hinweis von Bauer, der etwas über die Zusammengehörigkeit
der nationalen Gemeinschaft verrät:
„Wenn ich immer nur mit Deutschen verkehre, immer nur von Deutschen höre, so
habe ich überhaupt keine Gelegenheit, mir dessen bewusst zu werden, dass die Men-
schen, die ich kenne, mir doch in einem gleich sind, nämlich in ihrem Deutschtum,
sondern ich sehe immer nur die Verschiedenheiten: er ist ein Schwabe, ich bin ein
Bayer; er ist Bourgeois, ich bin Arbeiter; er ist blond, ich bin schwarz; er ist gries-
grämig, ich bin heiter“ (Bauer 1971, S. 138).
In Bauers Darstellung kommt die Veranlassung nicht vor, sich die bestimmten
Qualitäten zu vergegenwärtigen, die Angehörige einer Nation untereinander tei-
len. Bauer zählt auf, was man stattdessen zur Kenntnis nimmt, nämlich vorwie-
gend solche Qualitäten, die keine Gemeinschaft dokumentieren. In modernen
Gesellschaften ist es, ihm zufolge, ausgeschlossen, dass Angehörige einer Nation
nicht veranlasst sein werden, sich Angehörige anderer Nationen zu vergegenwär-
44 1 Nation

tigen. Zur „kapitalistischen Zeit“ gehört die internationale Mobilität der Men-
schen, so dass es unweigerlich zu Interaktionen zwischen Angehörigen unter-
schiedlicher Nationen kommt. Ferner werden selbst diejenigen, die es immerfort
versäumen, Angehörige anderer Nationen zu begegnen, nicht deren Kenntnis-
nahme entkommen, weil man sich der zunehmenden Verfügbarkeit der Medien
und der medialen Thematisierung nationaler Qualitäten nicht entziehen kann
(ebd., S. 141). Für die Orientierung an Gemeinsamkeitsmerkmalen zwischen
Angehörigen einer Nation ist, ihm zufolge, eine Erfahrung unentbehrlich, und
das ist: nationale Differenz.
Inwieweit man für die Gemeinschaft einer Nation abseits von der Wirksam-
keit der Orientierung an Verschiedenheit bloß auf Kultur und vorwiegend auf
Sprache zählen kann, soll im Folgenden nachgegangen werden. Zwei, die eine
vordergründig auf Kulturgütern beruhende Nation nicht als zufrieden stellend
erachten und für die es hinsichtlich der nationalen Gemeinschaft nicht aus-
reicht,18 wenn sich die Angehörigen einer Nation bloß untereinander verständi-
gen können, sind Robert Michels und Max Weber.19 Anhand der Einwände ge-
gen die Rückführung der nationalen Gemeinschaft auf Gemeinsamkeitsmerkma-
le soll darüber hinaus der für das Vorhaben relevante Begriff der Nation 20 erar-
beitet werden.

18 Zweifel daran, dass nationaler Zusammenhalt auf Kultur beruht, meldet auch Francis an. Für
ihn kommt die Kulturnation zum Einsatz, weil sich mir ihr die Forderung aufstellen lässt, dass
eine Bevölkerung eine Einheit bilden soll, weil man ihr ein gemeinsames kulturelles Erbe
nachsagt (vgl. Francis 1965, S. 112).
19 Zum Verhältnis von Michels und Weber vgl. Genett 2008, S. 538 ff.
20 Für die Forschung zur Nation sind die folgenden Autoren relevant: Hans Kohn (1962) stellt das
Hervortreten der Nation in einen Zusammenhang mit der Französischen Revolution, er sieht
aber auch Ursprünge, die in der Antike liegen. Daher untersucht er nationale Merkmale auf
Seiten der Griechen und Juden in der Antike (vgl. Kohn 1962, S. 32). Karl W. Deutsch (1953)
untersucht, welche Funktion die Nation für die Herausbildung der modernen Gesellschaft übt.
Er stellt die Nation in einen Zusammenhang mit der Urbanisierung und der Modernisierung
von Wirtschaft und Bildung, die eine Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten bewir-
ken. Er stellt heraus, dass es für die Angehörigen einer Nation wesentlich ist, untereinander
kommunizieren zu können: „It consists in the ability to communicate more effectively, and o-
ver a wider range of subjects, with members of one large group than with outsiders“ (Deutsch
1953, S. 97). Diese Kommunikation begleitet die Herausbildung moderner Gesellschaften. Er-
nest Gellner (1983) sieht einen Zusammenhang zwischen dem Hervortreten der Nation und der
Industrialisierung. In seiner Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen Industrialisierung
und einer homogenen Nationalkultur. Die Nation ist für ihn ein modernes Phänomen. Für
Anthony D. Smith (1991) sind die folgenden fünf Elemente konstitutiv für die Nation: ein his-
torisches Territorium, historische Erinnerungen und gemeinsame Mythen, eine gemeinsame
Massenkultur, gemeinsame Rechte und Pflichten und eine gemeinsame Wirtschaft (vgl. Smith
1991, S. 14). Benedict Anderson (2005) weist in seiner Arbeit darauf hin, dass sich die Ange-
hörigen einer Nation nicht allesamt kennen können, daher besteht die Nation nur als vorgestell-
te Gemeinschaft. „In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit
ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 2005, S. 16). Miroslav
Hroch (2005) legt ein Phasenmodell für die Nationenbildung vor. In Phase A trifft dominiert
1.2 Abseits des Primats der Kultur 45

Michels, der für Meinecke, einer Fußnote in seiner Studie zufolge, auf dem
zum Thema Nation stattfindenden Zweiten Deutschen Soziologentag von 1912
das einzige Referat „von größerem Werte“ gehalten hat (vgl. Meinecke 1919, S.
7), skizziert in seiner Studie Der Patriotismus (1929) im berühmten Kapitel Der
Fremde im Kriege einige Fälle der nationalen Regression von Assimilierten ei-
nerseits und der unaufgeforderten Assimilation an eine Nation andererseits. Auf
der Grundlage eines reichhaltigen Quellenapparats schildert er, wie sich Natura-
lisierte bei Ausbruch von Kriegen, an denen ihre Herkunftsländer beteiligt sind,
schlagartig ihrer vormaligen Zugehörigkeit bewusst werden, während es aus
gleichem Anlass auch dazu kommt, dass sich auf Seiten von Angehörigen einer
Nation, die sich im Ausland aufhalten, ein Nationalismus offenbart, der sogar
zum Bruch mit der eigenen Nation führt.
Michels berichtet als erstes von den so genannten Bindestrich-Amerikanern,
deren Einbürgerung nach ihrer Einwanderung in die Vereinigten Staaten erfolg-
te, ohne dass sich eine angemessene Überzeugung von den Rechten und Pflich-
ten oder ein entsprechendes Gefühl für die Bindung an die Nation entwickeln
konnte. Die Folge war: „Als gar der [Erste; C.A.] Weltkrieg ausbrach, schien
die ganze amerikanische Nation sich in ihre ursprüngliche Bestandteile aufzulö-
sen, das heißt in die Brüche zu gehen“ (Michels 1929, S. 168). Zu den aufgezähl-
ten Beispiele gehören u.a. die Folgenden: Unabhängig von konfessionellen und
regionalen Differenzen standen deutsche Einwanderer hinter Deutschland, iri-
sche Einwanderer positionierten sich gegen England und französische und italie-
nische Einwanderer nahmen Partei für ihre Herkunftsländer. Bereits zuvor mobi-
lisierte der Balkankrieg von 1912 die Eingewanderten aus Südosteuropa dazu,
die Remigration aus Amerika anzutreten, um in den Krieg in Europa zu ziehen.
Solche Vorgänge offenbarten der amerikanischen Nation „[…] das Schauspiel
der Desintegration ihres Neubürgerbestandes, der ihnen immer wieder von neu-
em das Bild besonderer Gruppenbildung im Gesamtvolk bot“ (ebd., S. 167).
Auf der anderen Seite richtet Michels die Aufmerksamkeit auf diejenigen
Angehörigen einer Nation, die sich in Kriegszeiten entweder im feindlichen Aus-
land oder in einem mit dem Kriegsfeind befreundeten Land aufhalten. Von der
„Treibhausatmosphäre des Krieges“ (ebd., S. 172) angesteckt, lassen sie sich
dazu hinreißen, entweder Partei gegen die eigene Nation zu ergreifen, oder sich
je nach Aufenthaltsort renitent zu positionieren. Michels verweist auf in
Deutschland lebende Schweizer, die sich während des Ersten Weltkriegs auf die
Seite der Deutschen stellten, hingegen unterstützten Schweizer, die sich in
Frankreich und England aufhielten, die Entente. Über eine englischen Gouver-
nante berichtet er, dass sie sich ebenfalls während des Ersten Weltkriegs freiwil-

die Orientierung an der Nation auf Seiten von Gelehrten; in Phase B beginnen die Gelehrten
die Orientierung an der Nation zu propagieren; in Phase C weitet sich die Orientierung an der
Nation in den Massen aus (vgl. Hroch 2005, S. 46).
46 1 Nation

lig auf die Seite Deutschlands schlagen wollte, aber von den deutschen Behörden
aufgrund von vaterlandslosem Benehmen abgelehnt wurde (ebd., S. 176). Sie
selbst hatte ihre Bereitschaft damit begründet, dass die Bindung an Deutschland
statt an ihre Heimat durch ihren langen Aufenthalt in Deutschland und die
freundschaftlichen Kontakte zu Deutschen zustande käme. Für die italienischen
Befreiungskriege gegen Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert verwendet Mi-
chels Quellen, in denen von denjenigen österreichischen und ungarischen Offi-
zieren, die in den Gebieten des heutigen Italien stationiert waren, berichtet wird,
dass sie sich nicht nur der italienischen Sache zugeneigt zeigten, sondern auch
Verrat übten (ebd., S. 175).
In den skizzierten Fällen treten Angehörige einer Nation ungeachtet der ei-
genen sprachlichen und kulturellen Herkunft sowie abseits der Abstammungs-
vermutung ihrer Nation in verfehdete Verhältnisse ein. Die Feindseligkeit gegen
die Kontrahenten seitens der nationalen Angehörigen ihres Aufnahmelandes
braucht sie nicht zu betreffen, trotzdem schließen sie sich der Auseinanderset-
zung an. Michels beschreibt das wie folgt:
„Der Einfluss des Milieus in Kriegszeiten wird durch die ansteckende Aufregung
der Massen, die beharrliche Energie der Presse über Gebühr gesteigert. Er erstreckt
sich auf die Fremden und sogar zum Teil auf die im Milieu lebenden Feinde selbst.
Bei in kriegführenden Ländern ansässigen feindlichen Ausländern, welche in neutra-
len, aber von ihrem Heimatlande ungünstig gesinnter Bevölkerung bewohnten Län-
dern ansässig sind, drängt der sie umgebende Hass gegen ihr altes Vaterland schwa-
che Naturen häufig zur Aufgabe ihres Volkstums“ (ebd., S. 171 f.).
Man kann im ersten Fall gegenüber den Eingebürgerten unterstellen, dass
sie aufgrund ihres gebürtigen Hintergrunds die Geltung ihrer neuen Zugehörig-
keit nicht vollkommen anerkennen werden, d.h. die Assimilation wird eine nati-
onale Ursprünglichkeit nicht endgültig eliminieren können. Im zweiten Fall zeigt
sich aber, dass sich die Einsatzbereitschaft für die Nation, die auf jener Ur-
sprünglichkeit beruhen kann, durchaus konterkarieren lässt, denn diese erweist
sich als unzuverlässig, weil nicht ausgeschlossen ist, dass die Angehörigen einer
Nation abtrünnig werden. Für beide Fälle gilt aber: Es sind Abgrenzungen bzw.
Oppositionen, die entschlossene Positionierungen mobilisieren.
Max Webers Überlegungen zur Nation lassen sich an Michels Auseinander-
setzug anschließen. Auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag nimmt er nur
mit Diskussionsbeiträgen teil, die sich allesamt wie folgt überschneiden: Ein
bestimmter Kausalzusammenhang, aus dem in allen empirisch vorliegenden Fäl-
len die Nation resultiert, ist nicht feststellbar. In der empirischen Wirklichkeit ist,
sagt Weber, der Hergang, also der Prozess des sozialen Handelns, aus dem Ge-
meinschaft resultiert, für die nationale Gemeinschaft grundverschieden.21 Dass

21 Dass die Wirklichkeit der Nation variabel ist, weil deren Bildung in den einzelnen Fällen auf
heterogenen Ursachen zurückgeht, ist ein Hinweis, den bereits Dilthey gegeben hat, für den
1.2 Abseits des Primats der Kultur 47

Nation im Wesentlichen entweder mit Rasse-, Sprach-, Kultur- oder ethnischer


Gemeinschaft eins ist, schließt er aus. Weder ein noch die Menge der genannten
Momente genügt, um als unentbehrlich für die Nation bestimmt zu werden. Eine
Aufgabe der Nationenforschung ist, ihm zufolge, die Nation im Einzelfall zu
untersuchen, konkret: Ursachen der jeweils spezifischen Qualitäten und deren
Wirksamkeiten hinsichtlich der „Gemeinsamkeits- und Solidaritäts-
Empfindungen“ nachzugehen (vgl. Weber 2009, S. 77).
Auf der Tagung wehrt er mehrfach Beiträge ab, in denen Nation von der
Rassenidee hergeleitet wird. Die Nation auf den Überlegungen der „Rassenfana-
tiker“ zu stützen und sie als Gemeinschaft auf der Grundlage vererbter Qualitä-
ten zu begreifen, kommt für ihn nicht infrage. Bereits die empirische Wirklich-
keit konterkariert eine Identifikation von Nation und Rasse. Es lässt sich, so We-
ber, jene kausal nicht auf diese zurückführen. Zur Existenz der Rasse äußert er
sich wie folgt: An Rasse kann das soziale Handeln orientiert werden und das hat
folgendes Resultat: Der subjektive Glauben an die Existenz einer Rasse kann
dazu führen, dass man sich gegenüber den eigenen Rassenangehörigen so ver-
hält, dass sich an den Interaktionen dieser vermeintlichen Rassenangehörigen
eine gefühlte Zusammengehörigkeit ablesen lässt, weil diese im Gegensatz zur
Zusammengehörigkeit auf der Grundlage biologischen Erbes faktisch vorkom-
men kann (ebd., S. 41). Dass biologisches Erbe soziales Handeln veranlasst, ist
für Weber ausgeschlossen.22 Menschliches Handeln kann sinnhaft an Zwecken
und Werten orientiert sein und abseits davon kann der Mensch emotional bewegt
werden und sich gewohnheitsmäßig verhalten (vgl. Weber 2002, S. 12). In der
Wirklichkeit kommen die Typen des Handelns und Sich-Verhaltens vermengt
vor. Ein Handeln, das die vermeintliche Erbanlage einer bestimmten Menschen-
gruppe veranlasst, lässt sich, so Weber, den Typen nicht zuordnen. 23 Jene anhand

„[…] die Begriffe [Volk und Nation; C.A.] selbst und ihre Abgrenzung historisch-relativ sind“
(Dilthey 1974, S. 352; Herv. im Orig.). Zu Dilthey und Weber vgl. Kaschuba 1993, S. 68.
22 Weber stellt die Rassenidee bereits auf dem Ersten Deutschen Soziologentag von 1910 in
Abrede: „Aber dass es heutzutage auch nur eine einzige Tatsache gibt, die für die Soziologie
relevant wäre, auch nur eine exakte konkrete Tatsache, die eine bestimmte Gattung von sozio-
logischen Vorgängen wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei zurückführte
auf angeborene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt und eine andere definitiv
– wohlgemerkt: definitiv! – nicht, das bestreite ich mit aller Bestimmtheit und werde ich so
lange bestreiten, bis mir diese eine Tatsache genau bezeichnet ist“ (Weber 1924, S. 459).
23 Anders Bauer, für den aus Partikularitäten des Körpers ein spezifisches Handeln resultiert. Er
notiert: „Erfahrungsgemäß ist Verschiedenheit des körperlichen Baus begleitet entweder un-
mittelbar von einer Verschiedenheit der Entschließung unter gleichen Umständen oder von ei-
ner Verschiedenheit der Erkenntnisfähigkeit und der Erkenntnisart, die dann ihrerseits wieder
eine Verschiedenheit der Entschließung, des Wollens erzeugt“ (Bauer 1971, S. 111). Zwar ge-
steht er, dass sich der Kausalzusammenhang nicht auflösen lässt, für seinen Begriff der Nation
beruft er sich aber trotzdem darauf. Diese lässt sich nicht aus dem Ganzen der Körpermerkma-
le von Angehörigen einer Nation herleiten, aber sie ist das Ergebnis der ihnen eigentümlichen
Reaktion, die sich ihrerseits abspielt, wenn sie bestimmten äußeren Bedingungen ausgesetzt
48 1 Nation

der Orientierung am Rasseglauben bestehende Gemeinschaft ist daher kein bio-


logisches Resultat. Eine so entstandene Rassegemeinschaft kann sich, ihm zufol-
ge, entweder daraus ergeben, dass Menschen lokal beisammen sind und sich zu
einer Opposition formieren, oder sie teilen ein Schicksalsereignis, an das sich
zusätzlich die Abgrenzung von „auffällig Andersgearteten“ heftet (vgl. Weber
2009, S. 42). Wo augenscheinliche Gemeinsamkeit unter Menschen vorliegt, da
reicht das nicht aus, um den Rassenglauben zu mobilisieren, was nämlich nicht
fehlen darf, das ist ein äußerlicher Kontrast, dem sich gefühlte Zusammengehö-
rigkeit verdankt, weil jener die diese unterstützende Abgrenzung weckt (ebd., S.
180). Wenn sich das Zustandekommen der Rassegemeinschaft nicht biologisch,
sondern sozial erklären lässt, dann ergeben sich Rassenreinheit und -mischung
nicht natürlich, sondern sie sind unbeständig. Weber nennt die Nation der Verei-
nigten Staaten als Beispiel. Für sie trifft zu, dass der Rasseglauben nicht das we-
sentliche Moment der Nation ist. Bildung und Abgrenzung einer Gemeinschaft
verdanken sich nicht biologischen Rassemerkmalen: Seitens der Weißen in der
amerikanischen Bevölkerung bereitet die Berücksichtigung von „zivilisierten
Viertels- oder Achtelsindianern als Nationalitätsgenossen“ keine Schwierigkei-
ten, dahingegen stößt die Einbürgerung der Schwarzen auf keine Akzeptanz (vgl.
Weber 1913, S. 50). Die Abgrenzung gegen Schwarzen lässt sich, so Weber,
nicht auf biologische Merkmale zurückführen, denn sie wird durch das Ansehen
dieser Gruppe verschuldet. Ausschlaggebend ist, dass sie einmal als Sklaven
gearbeitet haben und es sich somit in ihrem Fall um
„[…] eine ständisch disqualifizierte Gruppe handelt. Ständische, also anerzogene
Unterschiede und namentlich Unterschiede der `Bildung´ (im weitesten Sinn des
Wortes) sind ein weit stärkeres Hemmnis […] als Unterschiede des anthropologi-
schen Typus“ (Weber 2001, S. 171).
Nicht körperliche Abweichung an sich, sondern das minderwertige Prestige des
Körpers veranlasst somit eine Trennung der subjektiv geglaubten Rassen, die im
Fall der Vereinigten Staaten für die nationale Gemeinschaft als untragbar erach-
tet wird. Hingegen fällt nationale Rassenmischung dann nicht auf, wenn die
mutmaßliche Rasse in Relation zur minderwertigen Rasse ein geschätztes Anse-
hen aufweist. Weber verweist hierfür auf die Autochthonen in Nordamerika (vgl.
Weber 1913, S. 50).
Unterstellte Rassenzugehörigkeit oktroyiert also kein spezifisches Rasse-
handeln und augenscheinlich körperliche Merkmale führen nicht zwangsläufig
ein Gefühl der Zusammengehörigkeit herbei. Weber fasst das wie folgt zusam-
men:

sind. Die Angehörigen anderer Nation gehen, ihm zufolge, mit identischen Bedingungen auf
andere Weise um, und zwar liegt das daran, dass jede Nation eine jeweils eigene Antwort im
„Daseinskampfe“ entwickelt hat und als in Form einer „angezüchteten körperlichen Eigenart“
an nachfolgende Generationen gibt (ebd.).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 49

„Keineswegs jede Gemeinsamkeit der Qualitäten, der Situation oder des Verhaltens
ist eine Vergemeinschaftung. Z.B. bedeutet die Gemeinsamkeit von solchem biolo-
gischem Erbgut, welches als `Rassen´-Merkmal angesehen wird, an sich natürlich
noch keinerlei Vergemeinschaftung der dadurch Ausgezeichneten“ (Weber 2002, S.
22; Herv. im Orig.).
Stattdessen kann es dort zu Vergemeinschaftung auf der Grundlage von körperli-
chen Gemeinsamkeitsmerkmalen kommen, wo sich die miteinander handelnden
Menschen an der gemeinsamen Rassezugehörigkeit und an der gefühlten Zu-
sammengehörigkeit aufgrund dieser geglaubten rassischen Gemeinsamkeit orien-
tieren. Für die Wirksamkeit der augenscheinlichen Verschiedenheit ist es, so
Weber, belanglos, ob die Abgrenzung der angenommenen Rassenanderen auf-
grund körperlicher oder prestigespezifischer Komponenten erfolgt (vgl. Weber
2009, S. 42). Hinsichtlich des Verhältnisses von Nation und Rasse lässt sich für
ihn am skizzierten Einzelfall ablesen, dass die Einheit der amerikanischen Nati-
on unterstellte Rassengrenzen mal überschreitet und mal an ihnen haltmacht.
Somit kann er nachweisen: Die amerikanische Nation ist nicht deckungsgleich
mit Rasse. Das wesentliche Moment der Nation ist daher ebenfalls nicht Rasse.
Nichtsdestoweniger kann, erwähnt er, der Rasseglauben eine Wirkung für das
Bestehen einer Nation ausüben, nämlich insoweit er Gemeinschaft und das daran
orientierte Handeln stiftet, nur ist der Rasseglaube nicht unentbehrlich für Nati-
on. „Und vollends ist Gemeinsamkeit eines spezifischen anthropologischen Ty-
pus zwar nicht einfach gleichgültig, aber weder ausreichend zur Begründung
einer `Nation´, noch auch dazu erforderlich“ (Weber 2009, S. 74). Was für den
Handlungshergang einer Vergemeinschaftung bedeutsam ist, macht nicht das
Wesen der Nation aus.
Neben der Rasse ist es die Sprachgemeinschaft, deren Zusammenfallen mit
Nation Weber zurückweist. Er nennt die Elsässer, an denen sich zeigt, dass „[…]
auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können“ (Weber
1913, S. 50). Es ist für ihn kein Anlass zur Irritation, dass sich die deutschspra-
chigen Elsässer nicht für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich entscheiden
und sich stattdessen zur Französischen Nation zählen. Das Moment der nationa-
len Zugehörigkeit, das im Deutschen Reich zum Tragen kommt, bleibt im Fall
der Elsass-Deutschen wirkungslos, hingegen zeigt sich die Anziehungskraft als
wirksam, die in Frankreich für die nationale Vergemeinschaftung dominiert. An
anderer Stelle erwähnt er die oberschlesischen Polen, um an ihnen diejenigen
Angehörigen des Deutschen Reiches zu veranschaulichen, die, ihm zufolge, bloß
„passive `Preußen´“ sind, sich also gegenüber dem preußischen Herrschaftsver-
band indifferent zeigen, ohne aber ein Streben nach einem eigenen Nationalstaat
aufzuweisen und ohne sich aufgrund der Sprachverschiedenheit zu den Deut-
schen gegen sie abgrenzen zu wollen (vgl. Weber 2009, S. 51). Anders als die
oberschlesischen Polen verhalten sich die baltischen Deutschen, auf die Weber
als nächstes hinweist. Sie machen ebenfalls keine nationale Differenz auf der
50 1 Nation

Grundlage der Sprache oder einen Anspruch auf Vereinigung mit dem Deut-
schen Reich geltend, beharren aber auf ständische Abgrenzung „von der slavi-
schen Umwelt“ (ebd., S. 51). Zudem stehen sie stärker als „irgendein `National-
russe´“ hinter dem politischen Verband, und das nicht zuletzt deswegen, weil sie
vielfach Beamtenstellen besetzen. „Hier fehlt also ebenfalls alles, was man im
modernen, sprachlich oder kulturell orientierten Sinn `Nationalgefühl´ nennen
könnte“ (ebd.). Was für Elsass-Deutsche, oberschlesische Polen und baltische
Deutschen zutrifft, das ist auch im Falle von Amerikanern, Iren und Engländern
erkennbar, die er als nächstes skizziert. Obwohl sie, so Weber, einer einzigen
Sprachgruppe angehören, bilden sie mehr als nur eine Nation. Mit anderen Wor-
ten: In den zuletzt genannten Fällen kann also eine Nation für sich eine einheitli-
che Sprache reklamieren, nur ist diese mit der Sprache einer anderen Nation
identisch.
Obwohl vielfach Nationen die eigene Besonderheit durch das „Massenkul-
turgut“ der Sprache erklären, lehnt es Weber dessen ungeachtet ab, den Begriff
der Nation auf Sprache abzustellen (ebd., S. 75). Zum einen zeigt die Aufteilung
in der Wirklichkeit der Nationen, dass es solche gibt, in denen unterschiedliche
Sprachgruppen eine Einheit bilden. Es kann sogar vorkommen, dass eine dieser
Sprachgruppen die Sprache der Nachbarnation spricht oder dass sie sich von
derjenigen Nation absondert, deren Amtssprache die eigene ist. Zum anderen
lassen sich unterschiedliche Nationen einer einzigen Sprachgruppe zuordnen,
d.h.: Es gibt unterschiedliche Nationen, die allesamt die gleiche Sprache spre-
chen. Wenn also Sprache das wesentliche Kriterium der Nation sein soll, dann
zeigt sich vorwiegend die Heterogenität der Nationen, als dass sich deren Zu-
sammenfallen mit Sprachgemeinschaft ergibt. So wie ein Sprachunterschied für
die Bildung einer Nation kein Hindernis sein muss, kann nationale Abgrenzung
ungeachtet der Spracheinheitlichkeit bestehen. Auf gemeinsame Sprache folgt
nicht unmittelbar die gefühlte Zusammengehörigkeit, denn zunächst trägt die
Sprache lediglich zur Erleichterung von Interaktionen bei. Nur wenn die Verge-
genwärtigung der gemeinsamen Sprache zur Abgrenzung dient, wirkt sie als
Moment der Vergemeinschaftung:
„Erst die Entstehung bewusster Gegensätze gegen Dritte kann für die an der Sprach-
gemeinsamkeit Beteiligten eine gleichartige Situation, Gemeinschaftsgefühl und
Vergesellschaftungen, deren bewusster Existenzgrund die gemeinsame Sprache ist,
stiften“ (Weber 2002, S. 23).
Nation ist für Weber demnach nichts, was aus einer Sprachgemeinschaft hervor-
geht (vgl. auch Hertz 1927, S. 33 f.; Francis 1965, S. 81). Nichtsdestoweniger
konstatiert er, dass es meist monolinguale Nationalstaaten gibt, und wenn nicht,
dann kommt für die nationalstaatliche Verwaltung in der Regel nur eine Sprache
vor:
1.2 Abseits des Primats der Kultur 51

„In der Tat ist heute der `Nationalstaat´ mit `Staat´ auf der Basis der Spracheinheit-
lichkeit begrifflich identisch geworden. In der Realität stehen neben politischen
Verbänden, und zwar solchen modernen Gepräges auf `nationaler´ Basis in diesem
sprachlichen Sinn, in erheblicher Zahl solche, die mehrere Sprachgemeinschaften
umschließen und meist, aber nicht immer, für den politischen Verkehr eine Sprache
bevorzugen“ (Weber 2009, S. 50).
Außerdem bemerkt er, dass gemeinsame Sprache für Nationen besonders wirk-
sam ist, um innerhalb ihrer Angehörigen soziales Handeln beruhend auf gefühl-
ter Zusammengehörigkeiten zu ermöglichen, nur schränkt er für den Begriff Na-
tion ein: „Auch sie [die Sprache; C.A.] ist weder ganz unentbehrlich noch allein
ausreichend“ (Weber 1913, S. 51).
Dass die Angehörigen einer Nation eine einheitliche Sprache sprechen, ist
somit weniger selbstverständlich, als es diese für die Verwaltung eines modernen
Nationalstaates ist. Eine einheitliche „Literatursprachgemeinschaft“ wie z.B. die
Deutschlands, sagt Weber, erhält die entscheidende Note ihrer Entwicklung, in-
dem ein „Dialekt“ herrschaftlich zur Sprache der amtlichen Schriftsätze einer
staatlichen Bürokratie durchgesetzt wird (vgl. Weber 2002, S. 541). Warum eine
einheitliche Sprache für sie unerlässlich ist, ergibt sich wie folgt: Was die Über-
legenheit der modernen Bürokratie des Staates, aber auch der Wirtschaftsunter-
nehmen auszeichnet, das ist für Weber deren spezifischer Mechanismus, der sich
analog zum Mechanismus einer Maschine im Vergleich zur nicht-mechanischen
Produktion von Gütern verhält. Konkret:
„Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Dis-
kretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen
und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer
Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren-
amtlichen und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert“ (ebd., S. 561
f.).
Die konsequente und möglichst beschleunigte Durchführung von Amtgeschäften
beruht im Wesentlichen auf den genannten Charakteristika der modernen Büro-
kratie, und sie sind im Besonderen, akzentuiert Weber, der zentralisierten Herr-
schaft und dem Kapitalismus willkommen. Wo aber Verwaltungsstellen primär
auf der Grundlage von feudalen und patrimonialen Vorrechten besetzt werden,
da liegen jene Charakteristika in ihrer Gesamtheit nicht vor und da wird die Bü-
rokratie nicht das mögliche Optimum erreichen. Zu ihren Bedingungen zählt
schließlich eine „mindestens relative, Nivellierung der ökonomischen und sozia-
len Unterschiede“ (ebd., S. 567). Mit anderen Worten: Die sachlichen Betriebs-
mittel haben nicht in der Hand der Verwaltenden zu sein und das setzt sich im
modernen Staat durch (vgl. Weber 1994, S. 40). Zu den wichtigen Instrumenten
für die „Enteignung“ des persönlichen Verwaltungseigentums zählt Weber das
Bildungswesen. Die zunehmende Dominanz der fachspezifischen Bildungsgänge
52 1 Nation

verdankt sich dem Bedarf der modernen Bürokratie, für deren Zwecke der An-
satz alles zu lehren, eine hinfällige Aufstellung der Bildung darstellt. Zum Out-
put der modernen Kultur von Erziehung und Bildung gehört nicht der Universal-
gelehrte, sondern das „Berufs- und Fachmenschentum“ (vgl. Weber 2002, S.
576). Moderne Bürokratie ist ausschließlich auf spezifische Qualifikationen an-
gewiesen, sie funktioniert als „geronnener Geist“ (Weber 1924, S. 151). Ermitt-
lung und Dokumentation der Fachbildung ist Sache der Fachprüfung und des
Fachzeugnisses. Schließlich garantiert diese Verfahrensweise die „[…] `Auslese´
der Qualifizierten aus allen sozialen Schichten an Stelle der Honoratiorenherr-
schaft“ (Weber 2002, S. 576). Wo also Bildung als Kriterium für die Besetzung
von Verwaltungsstellen ausschlaggebend wird, da werden die „Abkömmlichen“
als Stelleninhaber verdrängt. Somit kann ein Amt nicht mehr ohne Entgelt, also
von denjenigen ausgeführt werden, deren Tätigkeit für ihre eigentliche Einkom-
mensquelle belanglos und daher disponibel ist (vgl. Weber 2002, S. 170). Kehr-
seite der Verdrängung der Abkömmlichen ist die Konzentration der Betriebsmit-
tel der Verwaltung in der Hand des Staates, der sie – „ein Machtmittel allerersten
Ranges“ (ebd., S. 570) – finanziert und auf diese Weise kontrolliert.
Daran lässt sich Michels anschließen: Eine sprachlich heterogene Wohnbe-
völkerung wird, ihm zufolge, von der Zumutung betroffen sein, sich sprachlich
anzupassen, weil es für den Staat unerlässlich ist, dass die bürokratische Kom-
munikation bis an seine territorialen Grenzen in einer Sprache abläuft (vgl. Mi-
chels 1913, S. 166).24 Die Durchsetzung einer einzigen Schriftsprache zur Kon-
zentration moderner Herrschaft erfolgt, so Francis, als eine Nivellierung der Be-
völkerung beruhend auf dem demokratischen Prinzip, damit jenseits der ständi-
schen Privilegien mehr Offenheit für anzubietende Leistungen erreicht werden
kann (vgl. Francis 1965, S. 95).25 Insofern also der störungsfreie und eindeutige
Ablauf der Verwaltungsaufgaben auf Einsprachigkeit angewiesen ist und Bil-
dungspatente die Konzentration der Verwaltung unterstützen, ist Spracheinheit-
lichkeit ebenso modern wie der auf Bürokratie gestützte Staat.26 Die Monolingu-
alität einer Nation ist daher weder überhistorisch noch naturwüchsig, sondern
steht in Verbindung mit dem zweckrational erzielten Optimum der Verwaltung.
Die Homogenität einer nationalen Sprache innerhalb der Angehörigen einer Na-

24 Ein Problem, das sich hierbei ergibt, betrifft, so Hobsbawm, die Auswahl der des Dialekts, aus
dem die einheitliche Nationalsprache gemacht wird (vgl. Hobsbawm 2005, S. 68).
25 Ferner muss gewährleistet werden, dass die Wohnbevölkerung eines Staates nicht nur von den
Gesetzen, von denen sie betroffen ist, Notiz nimmt, sondern dass sie die Regelungen auch ver-
steht. Zum Problem wurde dieser Umstand in der Folge der Französischen Revolution, als ge-
währleistet werden musste, dass die Verfassung und die administrativen Neuregelungen für al-
le Sprachgruppen der neuen Republik verständlich sein mussten (vgl. Francis 1965, S. 117 f.).
26 Vgl. auch Bauer 1971, S. 89.
1.2 Abseits des Primats der Kultur 53

tion ist daher jüngeren Datums, da sie als Instrument zur Durchsetzung und Aus-
dehnung der legalen Bürokratie zum Einsatz kommt. 27
Für Weber ist die Nation keine notwendige Entwicklungsetappe von
Sprachgemeinschaften, er bemerkt aber, dass die Sprache von allen Kulturgütern
dasjenige ist, das für den Hergang der Gemeinschaft einer Nation am wirksams-
ten ist. Gegenüber der Kunst erfordert sie nämlich weitaus weniger Schulung, sie
ist zugänglicher. Weil aber die Gesamtheit der Kulturgüter einer Nation seitens
ihrer Angehörigen nicht unisono mit dem gleichen Ansehen besetzt werden, lässt
sich Nation kaum auf Kultur abstellen.28 Webers Hinweis in einem Diskussions-
beitrag auf dem Soziologentag dazu lautet:
„Gemeinsame `Kulturgüter´ können also ein einigendes nationales Band abgeben.
Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter kommt es dabei aber gar nicht an und
deshalb darf man `Nation´ nicht als `Kulturgemeinschaft´ fassen“ (Weber 1913, S.
50).
Die Orientierung an Kulturgütern reicht, ihm zufolge, nicht aus, um nationale
Zusammengehörigkeiten zu bewirken.29 Die Existenz eines Kulturguts, auf des-
sen Grundlage unterschiedliche Menschen mit abweichender Bildungsherkunft
zueinander finden können, stellt Weber infrage (ebd., S. 73;). Die Kultur einer
Nation wird allerdings meist von denen in den Vordergrund gestellt und somit
als das wesentliche Kriterium der Nation bestimmt, die sich als die berufsmäßi-

27 Auch Dilthey zweifelt an der Sprachhomogenität. Er schreibt: „Wann bildete sich die deutsche
Volkseinheit, die dann politisch unter Ludwig dem Deutschen konstituiert wurde? Im Mittelal-
ter dann ist die Spracheinheit doch infolge der Verschiedenheit der Mundarten in den Stämmen
nur relativ“ (Dilthey 1974, S. 353). Benedict Anderson wiederum sieht in der kapitalistischen
Ausrichtung des Buchmarkts einen Grund für die Ausweitung der Nationalsprachen; die Nut-
zung gleicher Schriftmedien unterstützt die „anonyme Gemeinschaft (vgl. Anderson 2005, S.
52 ff.). Anderson Arbeit veranlasst Beck zur folgenden Charakterisierung: „Nationen sind also
Zeitungsleser-Nationen“ (Beck 1994, S. 116; Herv. im Orig.).
28 Ludo Moritz Hartmann nimmt, was die Bedeutung der Kulturgüter für die Nation angeht, in
seinem Vortrag auf der Tagung kein Blatt vor dem Mund: „Man darf nicht vergessen, dass in
jedem Lande, insbesondere in Österreich, dem klassischen Lande des nationalen Kampfes,
noch Millionen – um mit Bauer zu sprechen – Hintersassen der Nation, Analphabeten und
schwerbelastete Kulis, die niemals die Namen Goethe und Kant gehört haben, existieren“
(Hartmann 1913, S. 90). Michels verweist in seinem Redebeitrag sogar darauf, dass Kultur ein
Ausschlusskriterium für Nation ist: „Dennoch ist das Unterfangen, die Zugehörigkeit zur Nati-
on an der Teilnahme des einzelnen an ihren Kulturgütern bemessen zu wollen, wohl eine Ver-
ringerung des Begriffes der Nation selbst. Als unumgängliche Vorbedingung der Zugehörig-
keit zur Nation wäre das Kriterium des Besitztums an nationaler Kultur einer Guillotine ver-
gleichbar, welche der Nation die Mehrzahl ihrer Köpfe abschneidet“ (Michels 1929, S. 52).
Hertz lehnt die Identifikation von Kultur und Nation ab, weil sie mit den inneren Gegensätzen
einer Nation kollidiert. Ihm zufolge beruht die Identifikation auf dem „Kulturhochmut“ ihrer
Protagonisten, so dass ein solcher Begriff der Nation wissenschaftlich wenig tauglich ist (vgl.
Hertz 1927, S. 54).
29 Zu Webers ablehnender Haltung gegenüber der Identifikation von Kultur und Nation vgl.
Breuer 1994, S. 136.
54 1 Nation

gen Repräsentanten der nationalen Kultur begreifen, und das sind die Intellektu-
ellen. Sie machen die alle anderen Kulturen übertreffende Vortrefflichkeit der
eigenen Kulturgüter explizit und das ermöglicht das Machtprestige der nationa-
len Kultur und nicht zuletzt ihr eigenes individuelles Machtprestige (vgl. Weber
2009, S. 76). Wo sich Machtprestige bereits durch den Bezug auf einen Staat
speist und somit die Pflege der Staatsidee zur Pflege des Machtprestiges beiträgt,
da tritt, so Weber, wenn die Intellektuellen das Machtprestige der Kultur ergän-
zen, die „Idee der `Nation´“ hinzu. Auf den letzten Seiten vor Abbruch des Ma-
nuskripts Gemeinschaften sind einige wichtige Überlegungen Webers überliefert,
die über den spezifischen Beitrag der Intellektuellen hinsichtlich des Hervortre-
tens der Nation informieren: Dem Wirken der Intellektuellen30 verdankt sich die
spezifische Equipierung der Nation, mit der sich ihre Vortrefflichkeit nicht nur
rechtfertigen lässt, sondern mit der sie sich besonders dafür anbietet, sich an ih-
rer Überlegenheit zu orientieren, um sich das schließlich selbst zu unterstellen.
Weber notiert hierzu, „[…] dass die Idee der `Nation´ bei ihren Trägern in sehr
intimen Beziehungen zu `Prestige´-Interessen steht“ (ebd., S. 77). Von Vorteil ist
es für die Intellektuellen, ein Sendungsbewusstsein zu vertreten, an das die Be-
stimmung geknüpft ist, die kulturelle Partikularität der Nation zu pflegen und zu
erhalten. Weil, so Weber, jede Mission, die für eine Nation einzutreten behaup-
tet, um deren Eigenart willen antritt, kann sie „nur als eine spezifische `Kultur´-
Mission vorgestellt werden (ebd.). Wird die Mission in die Tat umgesetzt, dann
geschieht das auf dem Weg des Werbens für die Bewahrung der kulturellen Par-
tikularität, deren Vortrefflichkeit sich mit keiner anderen ihresgleichen messen
lässt. Heißt die Aufgabe der Mission, die nationale Sonderkultur bis in die Ewig-
keit zu bewahren, dann wird das damit begründet, dass die Nation gegenüber
anderen Nationen etwas voraus hat, nämlich die „Erstgebürtigkeit“ (vgl. Michels
1929, S. 10). Das erlaubt schließlich, die Einzigartigkeit der Nation auszuweisen.
Man kann somit behaupten, die Nation ist anderen Nationen ein Vorbild.
Dass die Intellektuellen es sich zur Pflicht machen, die unerreichbare Vor-
bildlichkeit ihrer eigenen nationalen Kultur missionarisch zu behüten, erweist
sich für sie deswegen von Nutzen, weil sie sich als die vorwiegenden Schöpfer
der Kultur einzig als geeignet für diese Aufgabe erachten und weil sie somit die
Führung der zur Kulturgemeinschaft erklärten Nation übernehmen können (vgl.
Weber 2009, S. 77). Insofern die Intellektuellen die Nation auf eine Kultur-
Mission abstellen und sie diese zwar motiviert, bloß ihretwegen Sorge für die
Kultur zu tragen, ihnen das aber ein Machtprestige ermöglicht, weil in ihrem
Denken nur sie die standesgemäßen Vertreter der Kultur sind, überwinden sie
jene durch die Orientierung an der Mission hergestellte Einheit der Nation. Sie
sind, wenn die Mission die Nation zur Elite unter den Nationen macht, das, was
Michels ein „Eliten-Superlativ“ innerhalb der Eliten-Nation nennt (vgl. Michels

30 Vgl. dazu exemplarisch Speth 1999.


1.2 Abseits des Primats der Kultur 55

1929, S. 51; 1927, S. 197) und was Hertz veranlasst, die Kulturnation aufgrund
ihrer inneren Kulturgradunterschiede einen „Gradbegriff“ zu nennen (vgl. Hertz
1927, S. 59). Die beruflich zweckmäßige Intention der Intellektuellen, die Nation
auf Kultur abzustellen, konterkariert somit die Nation, weil sie sich von den üb-
rigen Angehörigen der Nation absondern.
Weber und Michels rechnen den Beitrag der Intellektuellen für die Veran-
lassung zum Handeln zugunsten der Nation an, da der Hinweis ihrerseits auf die
Orientierung an der nationalen Sonderkultur überhaupt das Eintreten für die Na-
tion unterstützt. Michels bemisst die Agitation und das Lancieren der Mission
der Nation sogar für das Voranschreiten der Zivilisation, weil sie kollektive
Emanzipation bewirkt (vgl. Michels 1929, S. 11). Er schlägt aber vor, die Agita-
tion seitens der Intellektuellen zu differenzieren. Ihre nationalistische Aufforde-
rung kann tatsächlich ein „Kulturbedürfnis“ verfolgen oder sie ist ein Ausdruck
nationaler „Megalomanie“. Nichtsdestoweniger reicht die Kultur-Mission dem
Begriff der Nation nicht aus, denn schließlich trägt die Anmaßung der Intellektu-
ellen dazu bei, dass sie sich innerhalb der Nation abheben. Für die Kultur-
Mission gilt das, was Weber ebenfalls an Rasse, Sprache und Kultur reklamiert:
Sie alle können zwar Momente der Gemeinschaft der Nation sein, für deren
Existenz sind sie aber nicht unentbehrlich.
Was die Menschen bewegen kann, auf der Grundlage gefühlter Zusammen-
gehörigkeit miteinander zu handeln, ist hinsichtlich der Nation wie für einen
anderen Sachverhalt grundverschieden, und das ist: die ethnische Gruppe. Wie
im Fall der Orientierung an Rasse beruht die Vergemeinschaftung als Typus des
Handelns beim Handlungshergang der ethnischen Gruppe nicht ausschließlich
auf Gemeinsamkeitsmerkmalen der Handelnden. Die Existenz einer partikularen
biologischen, also rassischen Erbkomponente, die Handeln überhaupt und im
Speziellen solches Handeln mobilisiert, aus dem sich eine Gemeinschaft bildet,
ist, so Weber, nicht nachweisbar. Rasse besteht demnach nur als Orientierung.
Eine Übereinstimmung zwischen der Orientierung an Rasse und an ethnischen
Komponenten lässt sich einem der Untersuchungsanliegen entnehmen, auf denen
sein Manuskript Gemeinschaften beruht: Weber geht den gemeinschaftsbilden-
den Faktoren nach, auf die sich abseits der Unterstellung über die Gemeinschaft
an sich eine Gemeinschaft auf der Basis des Handelns zurückführen lässt (vgl.
Weber 2009, S. 16). Eine unabhängig vom Handeln bestehende Gemeinschaft
sieht Weber nicht vor. Zur Klassifikation der „Gemeinschaftsarten“ gehört u.a.
die Trennung zwischen erstens der faktischen Blutsverwandtschaft, die in den
Fällen der Hausgemeinschaft oder der Sippe vorliegt und zweitens der vermeint-
lichen Blutsverwandtschaft, dem der bisher aufgedeckte Rassenglaube zugeord-
net wird. Diese Blutverwandtschaft kann allerdings ungeachtet der fehlenden
Tatsächlichkeit eine enorme Wirksamkeit schaffen. Um als nächstes auf die eth-
nische Gruppe stoßen zu können, ist es hilfreich, zunächst Webers Überlegungen
zur gemeinschaftsbildenden Kraft der Sippe nachzugehen.
56 1 Nation

Die Blutsverwandtschaft der Sippe stimmt nicht mit der Beziehung zwi-
schen Mutter und Kind überein, da die Sippe deren Gemeinschaft überschreitet
(ebd., S. 23). Die Vergemeinschaftung zwischen Mutter und Kind ist eine Ver-
sorgungsgemeinschaft und erfolgt daher, so Weber, „urwüchsig“. Die Sippe geht
aus der Kernfamilie hervor, nämlich aus denen, „[…] die aus der Hausgemein-
schaft durch Teilung und Ausheirat ausgeschieden sind, und deren Nachfahren“
(ebd., S. 24). Die tatsächliche Verwandtschaft an sich reicht allerdings nicht aus,
damit sich das soziale Handeln, das einer Vergemeinschaftung entspricht, inner-
halb einer Sippe wie eine Reflexbewegung abspielt. Schließlich kann man zum
einen verschiedenen Sippen angehören und zum anderen können Sippenangehö-
rige in verschiedenen Herrschaftsverbänden und ebenfalls in verschiedenen
Sprachgruppen integriert sein (ebd., S. 30), so dass insbesondere das nicht aus-
geschlossen sein kann, was der „radikalste Gegensatz“ zur Vergemeinschaftung
ist (vgl. Weber 2002, S. 22), nämlich die Opposition innerhalb einer Sippe.
Zu den Momenten der Interaktion der Sippenangehörigen gehört u.a. das
Folgende: „Sie [die Sippe; C.A.] schafft vermittelst der Blutrachepflicht eine
persönliche Solidarität ihrer Angehörigen gegen Dritte […]“ (Weber 2009, S.
24). In diesem Fall tritt man einer Opposition, an der die Sippe beteiligt ist, um
der Sippenzugehörigkeit willen unterstützend bei. An die Blutrachepflicht knüpft
sich frühzeitig die Vorstellung, dass der gemeinsame Einsatz von Gewalt recht-
mäßig ist (ebd., S. 61), d.h. gewaltsames Handeln erfolgt nicht im Hinblick da-
rauf, einen Gewinn auf der Grundlage der Kalkulation von Kosten und Nutzen
zu erzielen oder schlicht aus Gefallen an der Gewalt, sondern die Sippenangehö-
rigen glauben an die Richtigkeit der Zumutung, für das Ansehen der Sippe gege-
benenfalls gewaltsam einzutreten. Wenn die Pflicht abverlangt, im Falle des ver-
letzten Ansehens füreinander Unterstützung zu leisten, dann ist das eine Zumu-
tung, die erfordert, gemeinsam in einer Opposition zu bestehen und schließlich
führt das, im Denken Webers, dazu, dass sich die Sippenangehörigen aufgrund
gefühlter Zusammengehörigkeit aneinander orientieren. Weber nennt die Sippe
aus diesem Grund eine „Schutzgemeinschaft“ (ebd., S. 24). Von den Sippenan-
gehörigen wird erwartet, dass sie sich Solidarität nach außen zum Grundsatz
machen. Sippe allein ist also nicht hinlänglich dafür, dass das Handeln der Sip-
penangehörigen gemäß dessen erfolgt, was dem Typus der Vergemeinschaftung
genügt, sie also das jeweilige Handeln ihrerseits aufgrund einer gefühlten Zu-
sammengehörigkeit aneinander orientieren. Wer allerdings von der Sippe einge-
schlossen ist, das ist durch die tatsächliche Verwandtschaft bestimmt, welche die
verschwägerten Nichtblutsverwandten einschließt. Mit der Verwandtschaft ist
daher geregelt, wer zur Sippe gehört, nur bringt selbst in ihrem Fall die Ver-
wandtschaft nicht die Vergemeinschaftung innerhalb der Sippe hervor.
Im Fall der ethnischen Gruppe liegt etwas anderes vor. Während die tat-
sächliche Verwandtschaft auf der Grundlage von Abstammung und Verschwäge-
rung für die Vergemeinschaftung innerhalb der Sippe als Orientierung für das
1.2 Abseits des Primats der Kultur 57

Handeln bedeutsam ist, kann dieser Typus des Handelns innerhalb einer Gruppe
erfolgen, wenn die Orientierung an einer Gemeinsamkeit vorliegt, von der man
glaubt, sie gehe auf eine Stammverwandtschaft zurück, nur ist es gleich, ob diese
faktisch besteht oder nicht. Weil bereits vom Glauben daran, dass eine Gruppe
eine gemeinsame Abstammung beruhend auf spezifischen Qualitäten besitzt,
eine Vergemeinschaftung unterstützt, erweist sich der ethnische Gemeinsam-
keitsglaube spezifisch begünstigend für Vergemeinschaftung (ebd., S. 44). Ge-
meinsame ethnische Qualitäten reichen dieser Vergemeinschaftung allerdings
nicht aus, denn: „Die Abstoßung ist dabei das Primäre und das Normale“ (ebd.,
S. 41).31 Wenn die Angehörigen einer Gruppe die von ihnen geteilte Qualität zur
Kenntnis nehmen, fördert der an gemeinsame Qualitäten anknüpfende Stamm-
verwandtschaftsglaube die Vergemeinschaftung, sobald sich die Angehörigen
veranlasst sehen, sich insgesamt von denjenigen abzugrenzen, die an der ethni-
schen Gemeinsamkeit nicht teilhaben.32 Damit sich Vergemeinschaftung ereig-
net, erweist sich die Abgrenzung in einem spezifischen Fall als wirksam, und
zwar wenn diejenigen, die ethnische Qualitäten teilen, angewiesen sind, eine
Aggression von außen abzuwehren oder aggressiv nach außen zu handeln. Zu
diesen gelegentlich auftretenden Verteidigungs- und Angriffsanlässen gehört
ferner, dass in der ethnischen Gruppe eine Solidaritätspflicht gilt (ebd., S. 49).
Wenn man, betont Weber, eine gemeinsame Opposition zu bestreiten hat, tritt
eine außerordentlich stabile Vergemeinschaftung ein, an der auch der Stamm-
verwandtschaftsglaube erkennbar wird. Zudem wirkt sich die Missbilligung des-
jenigen, der sich der Solidaritätspflicht entzieht, auf die Orientierung an der ge-
fühlten Zusammengehörigkeit der Übrigen aus.

31 Michels dazu: „Ohne das soziale Band ist die Stimme des Blutes für die Herausbildung von
Solidaritäten völlig bedeutungslos“ (Michels 1929, S. 133). Und Elias Canetti: „Die sicherste
und oft einzige Möglichkeit für die Masse, sich zu erhalten, ist das Vorhandensein einer zwei-
ten Masse, auf die sie sich bezieht. Sei es, dass sie im Spiel einander gegenübertreten und sich
messen, sei es, dass sie einander ernsthaft bedrohen, der Anblick oder die starke Vorstellung
einer zweiten Masse erlaubt der ersten nicht zu zerfallen“ (Canetti, 2006, S. 71; Herv. im O-
rig.)
32 Darauf insistiert auch Francis: Es reicht nicht aus, dass spezifische Qualitäten einer ethnischen
Gruppe seitens ihrer Angehörigen als Gemeinsamkeit zur Kenntnis genommen werden. Die
Qualitäten an sich werden die Gruppenbildung nicht veranlassen, sondern sie eignen sich dazu,
eine ethnische Gruppe von anderen zu unterscheiden. Ferner bemerkt er, dass aus diesem
Grund die Qualitäten flexibel zum Einsatz kommen, so dass sie dem jeweiligen Unterschei-
dungsbedarf genügen: „Dazu kommt noch, dass die in einer Situation herangezogenen Kenn-
zeichen verschieden sein können von den Kennzeichen, die sich in einer anderen Situation be-
währen. Denn die Auswahl von Kennzeichen ist völlig von dem Bezugsrahmen abhängig. So
kann etwa zur Kennzeichnung ein und desselben Volkes bzw. seiner Angehörigen einmal seine
Sprache oder Geschichte, das andere Mal aber seine Religion herangezogen werden, wenn die
ursprünglich verwendeten Unterscheidungsmerkmale in einer z.B. infolge von Wanderung
veränderten Situation sich nicht mehr für diese Funktion eignen“ (Francis 1965, S. 37; Herv.
im Orig.).
58 1 Nation

Wesentlich ist somit für Weber der Gegensatz zur subjektiv gefühlten Zu-
sammengehörigkeit, nämlich die „Abstoßung“.33 Er nennt zunächst auffällige

33 Daran lassen sich Georg Simmels Überlegungen zur Opposition anknüpfen, mit denen er an-
tritt, um zu zeigen, dass sich ein sozialer Handlungshergang nicht nur an ihren Folgen erken-
nen läst, sondern sie sich selbst bereits dazu zählen lässt (vgl. Simmel 2006, S. 284). Die Op-
position ist nicht mit einer durch unbeschränkte Willkür angetriebenen Auseinandersetzung
identisch, in welcher der „Kampf schlechthin auf Vernichtung geht“ (ebd., S. 295; vgl. auch
Vierkandt 1916, S. 14). Der soziale Handlungshergang tritt daran hervor, dass die Handelnden
während der Opposition das Handlungsvermögen des jeweils anderen besonders intensiv zur
Kenntnis nehmen (vgl. hierzu auch Tyrell 1976, S. 258). Simmel insistiert, dass die Opposition
als nicht-wechselseitiger Vorgang undenkbar ist, denn es ist ausgeschlossen, dass sich die
Handelnden gleichgültig zueinander verhalten (vgl. Simmel 2006, S. 284). Sein Anliegen ist es
schließlich, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass die nicht auf Vernichtung angelegte Op-
position schöpfend Gesellschaft befruchtet. Er schreibt: „Eine Gruppe, die schlechthin zentri-
petal und harmonisch, bloß `Vereinigung´ wäre, ist nicht nur empirisch unwirklich, sondern sie
würde auch keinen eigentlichen Lebensprozess aufweisen […]“ (ebd., S. 285). Für seinen be-
absichtigten Nachweis verweist Simmel auf einen wesentlichen Impuls der Opposition, näm-
lich die integrierende Wirkung der Abgrenzung gegen die Gefahr der kollektiven Identitäts-
minderung. Wo es an Feindseligkeiten fehlt, da steigt nicht die Lebensqualität, sondern da sind
Kooperation, Zuneigung und Interessenharmonie schwach entwickelt (ebd., 289). Die Opposi-
tion verlegt die inneren Widersprüche einer Gruppe in den Hintergrund. Simmel notiert, „[…]
dass durch ihn [den Kampf, C.A.] nicht nur eine bestehende Einheit sich in sich energischer
konzentriert, und alle Elemente, die die Schärfe ihrer Grenzen gegen den Feind verwischen
könnten, radikal ausscheidet – sondern dass er Personen und Gruppen, die sonst nichts mitei-
nander zu tun hatten, überhaupt zu einem Zusammenschluss bringt“ (ebd., 360). Daran an-
knüpfend erklärt Arnold Gehlen den Lohn der Opposition gerade wegen ihrer Wirksamkeit ge-
gen die Abwehr von Gruppenzersetzung als „unwünschbar“ (vgl. Gehlen 1978, S. 94). Simmel
nennt fünf Gründe für oppositionell begünstigte Kohäsion, wobei er bemerkt, dass sich der auf
diese Weise mobilisierte Zusammenhalt derer auszeichnet, die sich eigentlich indifferent zuei-
nander verhalten und von sich aus keine Kohäsion initiiert hätten (vgl. Simmel 2006, S. 367):
Erstens ist man anlässlich einer Opposition zeitnah auf Kooperationspartner angewiesen, ohne
dabei wählerisch zu sein. Oppositionelle Interessen sind von den sonstigen Interessen der An-
tagonisten unabhängig, so dass sich die ursprüngliche Indifferenz untereinander anschließend
wieder herstellen lässt. Während der Opposition sind viertens persönliche Attribute unbedeu-
tend, so dass dort Kohäsion besteht, wo sonst Heterogenität ist. Ferner liegt es an der Oppositi-
on, dass sie ansonsten unterdrückte Abwehrhaltungen gegen einen Gegner manifest werden.
Die Feindseligkeit dynamisiert sich somit fünftens von selbst. Schließlich erwähnt Simmel die
in modernen Gesellschaften hochgradig präsente und am weitesten von der Eliminierung des
Gegners entfernte Opposition: die Konkurrenz. „Wer den Gegner unmittelbar beschädigt oder
aus dem Weg räumt, konkurriert insofern nicht mehr mit ihm“ (ebd., S. 323). Die Auflösung
ständischer Privilegien bewirkt ein Mehr an Chancen und die Konkurrenz bei der Vergabe von
Posten. Infolgedessen nimmt, so Simmel, die soziale Nähe zu. In dieser Opposition ist es nicht
entscheidend, den Gegner zu besiegen, über den Erfolg entscheidet ein Dritter. Ziel der Kon-
kurrenz ist dessen Anerkennung und daher suchen die Konkurrenten dessen Nähe. Er bemerkt,
„[…] dass die Konkurrenz in der Gesellschaft doch Konkurrenz um den Menschen ist, ein
Ringen der Wenigen um die Vielen wie der Vielen um die Wenigen; kurz ein Verweben von
tausend soziologischen Fäden durch die Konzentrierung des Bewusstseins auf das Wollen und
Fühlen und Denken der Mitmenschen, durch die Adaptierung der Anbietenden an die Nachfra-
genden, durch die raffiniert vervielfältigten Möglichkeiten, Verbindung und Gunst zu gewin-
nen (ebd., S. 328).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 59

Qualitäten, an denen sich Gemeinsamkeit zeigt und die entschlossene Abgren-


zung unterstützen:
„Unterschiede der Bart- und Haartracht, Kleidung, Ernährungsweise, der gewohnten
Arbeitsteilung der Geschlechter und alle überhaupt ins Auge fallenden Differenzen,
[…] können im Einzelfall Anlass zur Abstoßung und Verachtung der Andersgearte-
ten und, als positive Kehrseite, zum Gemeinsamkeitsbewusstsein der Gleichgearte-
ten geben, welches dann ganz ebenso leicht Träger einer Vergemeinschaftung wer-
den kann, […]“ (ebd., S. 43).
Zum einen sind es die auffälligen, Gemeinsamkeit schöpfenden Qualitäten und
zum anderen ist es die Abgrenzung von denen, die nicht zur ethnischen Gruppe
gehören. Ob es äußerliche oder körperliche Merkmale oder überlieferte Regel-
mäßigkeiten des Sich-Verhaltens sind, an die sich die Vergemeinschaftung der
ethnischen Gruppe knüpft, ist zunächst belanglos (ebd., S. 42). Nimmt man No-
tiz von einer unbekannten Sitte, so kann bereits das Nicht-Verstehen von deren
Sinnhaftigkeit zur Vergegenwärtigung der Gegensätzlichkeit führen. Man steht
in diesem Fall abseits einer „Verständnis-Gemeinschaft“ (ebd.). Worauf sich
andererseits aus der eigenen partikularen Sitte ein ethnisches Ehrgefühl speist.
Schließlich ist das Verstehen der Sinnhaftigkeit des eigenen Alltagslebens mög-
lich und aus dessen als vortrefflich erachteten Ansehen schöpft sich eine spezifi-
sche Herrlichkeit der eigenen Verständnis-Gemeinschaft gegenüber anderen ih-
resgleichen (ebd., S. 46). Insbesondere der scharfe Kontrast des überlieferten
regelmäßigen Sich-Verhaltens eignet sich, so Weber, um wechselseitige Ab-
stammungsfremdheit zu unterstellen. Wo der ethnische Gemeinsamkeitsglaube
auf geteilter Sitte beruht, da treibt er zudem deren Aufrechterhaltung und die
Orientierung an ihr an. Weber fasst zusammen:
„Fast jede Art von Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit des Habitus und der Ge-
flogenheiten kann Anlass zu dem subjektiven Glauben werden, dass zwischen den
sich anziehenden oder abstoßenden Gruppen Stammverwandtschaft oder Stamm-
fremdheit bestehe“ (ebd., S. 44).34
Neben auffälligen Qualitäten lösen insbesondere geteilte Erinnerungen den eth-
nischen Gemeinsamkeitsglauben aus. Vor allem aus der Erinnerung an Migrati-
on, an Unterordnung unter eine Fremdherrschaft oder an einen in der Vergan-
genheit untergegangenen Herrschaftsverband speist sich der Stammverwandt-
schaftsglaube (ebd., S. 49). In diesen Fällen ist es die in der Vergangenheit erleb-
te Betroffenheit von einem politischen Schicksal, welche die Gemeinsamkeit

34 Anthony D. Smith geht vor diesem Hintergrund der Dauerhaftigkeit der Orientierung an ethni-
scher Gemeinsamkeit nach, erhebt aber den Anspruch, ethnische Gruppen nicht überhistorisch
zu betrachten. Ethnische Gemeinsamkeit gibt es insbesondere deswegen zu allen Zeiten, weil
sie sich sowohl wandeln kann, als auch trotz veränderter Bedingungen standhaft bleiben kann.
„The paradox of ethnicity is its mutability in persistence, and its persistence through change“
(Smith 2010, S. 28).
60 1 Nation

bestimmt und einen ethnischen Gemeinsamkeitsglauben von besonderer Stabili-


tät hervorgehen lässt. Gemeinsam kann man eine Erinnerung für sich beanspru-
chen, einmal selbst oder als Nachfahre der faktisch Betroffenen einer Fremdent-
scheidung ausgesetzt gewesen zu sein, an die der Verlust der Gemeinschaft folg-
te.
Insgesamt insistiert Weber nicht darauf, am Begriff „ethnisch“ für Vorgän-
ge festzuhalten, die sich dadurch auszeichnen, dass Menschen daran glauben, die
Abstammung gemeinsam zu haben und sich durch ein damit verbundenes Gefühl
der Zusammengehörigkeit veranlasst sehen, sich aneinander zu orientieren. Es
kann aber vorkommen, dass die zu einer Kategorie gehörenden Gemeinsam-
keitsmerkmale, die für eine ethnische Gruppe bedeutsam sind, auch im Falle
einer anderen ethnischen Gruppe vorkommen, jedoch vollkommen belanglos
sind. Darüber hinaus wirkt sich die Orientierung an Gemeinsamkeitsmerkmalen
innerhalb einer ethnischen Gruppe unterschiedlich stark aus. Die gemeinsamen
Qualitäten, auf denen ein ethnischer Gemeinsamkeitsglaube beruht, sind für ihn
im Ganzen so heterogen, dass eigentlich Untersuchungen erforderlich sind, die
den Schwankungen des Glaubens innerhalb der ethnischen Gruppe nachgehen.35
„Dabei würde der Sammelbegriff `ethnisch´ sicherlich ganz über Bord geworfen
werden“ (ebd., S. 50). Das Problem, das Weber am ethnischen Gemeinsamkeits-
glauben erkennt, stellt sich nicht anders im Fall der Nation (vgl. Weber 1913, S.
50).
Rasse, Sprache, Kultur und Kultur-Mission können zwar als die bestim-
menden Qualitäten eine Vergemeinschaftung herbeiführen, an denen sich die
nationale „Gemeinschaft“ ablesen lässt, ein ausschlaggebendes und wesentliches
Gemeinsamkeitsmerkmal, der sich die Nation verdankt, lässt sich aber nicht aus-
findig machen. Weber notiert: „Die `Nation´ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt
eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der
ihr Zugerechneten definiert werden kann“ (Weber 2009, S. 74). Was also die
ethnische Gemeinschaft und die Nation gemeinsam haben, das ist die Heteroge-
nität der Qualitäten, an denen sich die Handelnden der Vergemeinschaftung ori-
entieren (vgl. auch Mommsen 1959, S. 53 f.). „Die realen Gründe des Glaubens
an den Bestand einer `nationalen´ Gemeinsamkeit und des darauf sich aufbauen-
den Gemeinschaftshandelns sind sehr verschieden“ (Weber 2009, S. 50). Jedwe-
de qualitative Gemeinsamkeit, auf die man den Begriff der Nation abstellte,
würde sich somit für die empirische Realität als inkonsistent erweisen und an ihr
scheitern. Die Heterogenität bildet sich an den nationalen Einzelfällen ab, die
Weber [oben] aufzählt, allerdings gehört zu ihnen der Hergang der Vergemein-

35 Francis führt das notwendige Scheitern jedes Versuchs, bei dem man mittels induktiver Ver-
fahren auf eine wesentliche Qualität der ethnischen Gruppe stoßen will, darauf zurück, dass der
Gemeinsamkeitsglaube von Wandel betroffen ist. Eine gemeinsame Qualität, der sich Verge-
meinschaftung verdankt, kann ihre Bedeutung verlieren und durch eine andere ersetzt werden
(vgl. Francis 1965, S. 32).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 61

schaftung, einerlei welche spezifische Qualität für diese berücksichtigt wird.


Qualitäten, die eine Vergemeinschaftung und deren Wirkung ermöglichen, kön-
nen wiederum durch eine andere Vergemeinschaftung durchkreuzt werden, die
auf anderen Qualitäten beruht. Für diesen Sachverhalt richtet Weber immer wie-
der die Aufmerksamkeit auf die Deutsch-Elsässer: Wenn woanders die deutsche
Sprache ein Nationalgefühl hervorruft, dann wird dieses von der politischen Er-
innerung an die Befreiung vom Feudalismus als ein stärkeres Moment der natio-
nalen Gemeinschaft überholt (ebd., S. 51).
„Die Kasuistik ließe sich leicht vermehren und müsste von jeder exakten soziologi-
schen Untersuchung weiter vermehrt werden. Sie zeigt, dass die mit dem Sammel-
namen `national´ bezeichneten Gemeinsamkeitsgefühle nichts Eindeutiges sind,
sondern aus sehr verschiedenen Quellen gespeist werden können: Unterschiede der
sozialen und ökonomischen Gliederung und der inneren Herrschaftsstruktur mit ih-
ren Einflüssen auf die `Sitten´ können eine Rolle spielen, müssen es aber nicht –
denn innerhalb des Deutschen Reichs sind sie so verschieden wie nur möglich – ge-
meinsame politische Erinnerungen, Konfession und endlich Sprachgemeinschaft
können als Quellen wirken und endlich natürlich auch der rassenmäßig bedingte
Habitus“ (ebd., S. 52 f.).
Einem entsprechenden Vorhaben also, das den Momenten der Gemeinschaft
aller auf dem Planeten vertretenen Nationen nachgeht, würde es nicht gelingen,
das notwendige Moment ausfindig zu machen. Stattdessen ist, so Weber, der
eigene Staat das Wesentliche der Nation:
„Immer wieder finden wir uns mit dem Begriff `Nation´ auf die Beziehung zur poli-
tischen `Macht´ hingewiesen und offenbar ist also `national´ – wenn überhaupt et-
was Einheitliches – dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer
durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen
Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von
ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet […]“ (ebd., S. 52).36

36 Hinter dem Staat als „politischer Machtgebildeorganisation“ steht für Weber ein Hergang
sozialen Handelns besonderer Art. Auf diese Weise kann den Idealtypus des Staates konstruie-
ren, der sich von substanziellen Begriffen des Staates abhebt. Der Staat ist zunächst ein Herr-
schaftsverband, der die Geltung einer Ordnung garantiert, die soziales Handeln innerhalb eines
bestimmten geographischen Gebiets regelt, und der Staat ist eine Anstalt, weil die von ihm ga-
rantierten Ordnungen rational gesatzt sind (vgl. Weber 2002, 29). Er kann Ordnungen erfolg-
reich und rechtmäßig oktroyieren und übt somit Herrschaft auf der Grundlage von legalen
Ordnungen aus. Ferner berücksichtigt Weber für den Idealtypus des Staates, dass man ihn nicht
auf der Grundlage eines Staatszweckes herleiten kann, das lässt nämlich die Fülle der von ei-
nem Staat zu erfüllenden Zwecke nicht zu: „Es ist nicht möglich, einen politischen Verband –
auch nicht den `Staat´ –, durch Angeben des Zweckes seines Verbandshandelns zu definieren.
Von der Nahrungsfürsorge bis zur Kunstproduktion hat es keinen Zweck gegeben, den politi-
sche Verbände nicht gelegentlich, von der persönlichen Sicherheitsgarantie bis zur Rechtsspre-
chung keinen, den alle politischen Verbände verfolgt hätten“ (ebd., S. 30; Herv. im Orig.).
Weber unterlässt es deswegen, den Staat von einem Zweck her zu definieren. Stattdessen
62 1 Nation

Eine Gemeinschaft beruhend auf einerlei welcher Qualität, wird für Weber dann
eine Nation, wenn die Richtung der Vergemeinschaftung auf den eigenen Staat
verweist.37 Erst auf diese Weise kann Weber der Heterogenität und Inkonsistenz
der tatsächlichen Nationen gerecht werden, indem er nämlich offen legt, was der
Bildung einer Nation nicht fehlen darf. Das ist die Ausrichtung der nationalen
Gemeinschaft auf den eigenen Herrschaftsverband (ebd., S. 50). Die Handlungs-
orientierung an Gemeinsamkeitsmerkmalen ist Weber deswegen von Nutzen,
weil nur dieser Zugang der heterogenen Wirklichkeit der Nationen angemessen
ist. Immerhin sind weder die gemeinsamen und gegensätzlichen Qualitäten rigi-
de eingeschränkt, von denen ausgehend man Stammverwandtschaft und Stamm-
fremdheit für wahr hält38, noch gibt es eine negative Qualität, in deren Folge eine
Abstoßung aussetzt. Als Zeuge hierfür hält sich der Fremde im Kriege bereit.
Obwohl aber nicht die eine wesentliche Qualität erkennbar ist, aus der sich
nationale Vergemeinschaftung speist, gehört es notwendig zur Nation, dass Ver-
gemeinschaftung erfolgt.39 Es ist nicht zuletzt ein Herrschaftsverband, der gezielt
einen ethnischen Gemeinsamkeitsglauben mobilisiert (ebd., S. 49), denn schließ-

macht er ein Mittel geltend, das nur dem Staat wesentlich ist, und das ist das legitime Gewalt-
monopol (ebd.). Wichtig ist für Weber, dass nur der Staat die Geltung einer Ordnung notfalls
aufgrund seines Monopols über den legitimen physischen Zwang durchsetzen kann (ebd., S.
29). Dieses Monopol ist durch eine legale Ordnung gewährleistet.
37 In dieser Hinsicht stimmt Hertz mit Weber überein: Damit eine Nation vorliegt, ist es gleich,
ob sich die Gemeinschaft objektiven oder subjektiven Momenten verdankt, denn nur das Gel-
tungsstreben nach Macht darf nicht abgehen. „Der Gemeinschaftswille erhält durch Assoziati-
on mit gewissen objektiven oder subjektiven Faktoren seine volle Festigung. Es sind dies Staat
und Staatsform, Sprache, Dialekt, Kultur, Heimat, wirkliche oder vermeintliche Blutsver-
wandtschaft, Religion, historische Erinnerungen, besonders an Staatsgründer, Heroen, Gesetz-
geber, natürliche Grenzen, heilige oder besonders teure Orte, wirtschaftlich und soziale Inte-
ressen, Gesetze, Sitten, Trachten, Speisen, Feste, Symbole, Legenden u. dgl. Mit den histori-
schen Erinnerungen verbinden sich dann Ideologien, d.h. mythologische oder theoretische
Umkleidungen bestimmter Hoffnungen und Tendenzen, z.B. die messianische Ideologie der
Juden, die Idee der besonderen göttlichen Mission und der besonders wertvollen Eigenart der
Nation, Rassentheorien, das Nationalitätenprinzip. Keines dieser Momente ist absolut unent-
behrlich, um eine Nation zu bilden, aber stets bilden sich Kombinationen von mehreren, in de-
nen der Gemeinschaftswille sich verwurzelt, wodurch er erst seine volle Kraft und Weihe emp-
fängt“ (Hertz 1927, S. 62). Wolfgang Mommsen schreibt Folgendes über Webers Begriff der
Nation: „Die subjektive Überzeugung ethnischer, sprachlicher, konfessioneller oder kultureller
Homogenität ist demgegenüber von sekundärer Bedeutung. Entscheidend für die Entwicklung
des Nationalbewusstseins ist die bewusste Anteilnahme am machpolitischen Schicksal des ei-
genen Staates. Es ist der Machtgedanke, der – in den Nationsbegriff eingeschmolzen – diesem
bei Weber erst die charakteristische Eigenart verleiht“ (Mommsen 1975, S. 55).
38 Die an Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit orientierte Abstoßung kennt, so Claus Leggewie,
keine Einschränkung der Qualitäten, „[…] denn die Anknüpfungspunkte solcher Konstrukte
sind unbegrenzt“ (Leggewie 1994, S. 53; vgl. auch Heinemann 2001, S. 113).
39 Schließlich kann beiden idealtypischen Konstrukten, namentlich die Kulturnation und die
Staatsnation nicht abgehen, dass sich ihre Angehörigen an einer oder mehreren von ihnen ge-
teilten Gemeinsamkeiten, einerlei ob faktische oder kontrafaktische Qualitäten, orientieren
(vgl. dazu Kallscheuer/Leggewie 1994).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 63

lich ist insbesondere er auf dessen spezifische Wirksamkeit angewiesen, nämlich


die zur inneren Opposition verkehrte Kohäsion der an Gemeinsamkeit 40 orientie-
ren Beteiligten (vgl. Bielefeldt 2003, S. 242). Die besondere Gemeinsamkeit,
welche alle ansonsten für die nationale Gemeinschaft einschlägigen Qualitäten
übertrifft, ist die Erfahrung gemeinsamer Lage, genauer: der Umstand in einer
gemeinsam erlebten Gefahrenlage bestehen zu müssen und die Erinnerung daran
(vgl. auch Bauer 1971, S. 145).
„Gemeinsame politische Schicksale, d.h. in erster Linie gemeinsame politische
Kämpfe auf Leben und Tod knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker
wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es,
welche […] dem `Nationalbewusstsein´ erst die letzte entscheidende Note geben“
(Weber 2009, S. 59).41
Dieses Pathos, dem Weber vielfach Achtung erweist, kann auftreten, wenn das
Ziel einer Vergemeinschaftung die notfalls gewaltsame Verteidigung „der ge-
ordneten Beherrschung“ eines Gebiets ist.42 In diesem Fall liegt eine „politische
Gemeinschaft“ vor (ebd., S. 60). Abseits des Verteidigungsfalles wird die leiden-
schaftliche Einsatzbereitschaft kraft einer spezifischen Machtdynamik des Staa-
tes besorgt. Insoweit der moderne Staat die zweifelsfrei größte Macht auf seiner
Seite zu haben beansprucht, verfügt er ebenfalls über das Ansehen, mit erheblich
großer Macht ausgestattet zu sein. Das Machtprestige des Staates taugt daher, so
Weber, für das seiner Untergeordneten (ebd., S. 65). Die Macht des Staates
macht die Gewissheit über individuelles Machtprestige möglich. Solches Macht-
prestige braucht nicht eins zu sein mit Nationalstolz, denn es kommt dort vor, wo
die Nation noch nicht bekannt ist. Es genügt, dass ein Herrschaftsverband auch
außerhalb seines Gebiets für seine Macht bekannt ist. Die Bereitschaft, das
Machtprestige des Staates zu wahren, findet sich vor allem bei dessen politischen

40 Ulrich Bielefeld dazu: „Als politische Gemeinschaften sind sie Zwangsgemeinschaften. Sie
müssen daher immer mit Verrat rechnen und ihre Anstrengungen um so mehr erhöhen, die abs-
trakte Gemeinschaft erfahrbar zu machen“ (Bielefeld 2001, S. 132).
41 Dass vom Schicksal eine besondere Kraft ausgeht, die nicht die Nation verursacht, sondern zu
sozialen Beziehungen zwischen den Angehörigen einer Nation führt, die sogar innere Diffe-
renzen überwölben, sieht auch Bauer. „Denn Schicksalsgemeinschaft bedeutet nicht Unterwer-
fung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetem
Verkehr, fortwährender Wechselwirkung miteinander“ (Bauer 1971, S. 112). Schließlich lässt
die Verstärkung der Beziehungen den Bedarf einer Einheitssprache hervortreten (ebd., S. 115).
42 Elias bemerkt, dass nationales Pathos, dem integralen Nationalismus Lembergs entsprechend,
in Zeiten der Krise gezielt von Seiten des Herrschaftsverbands mobilisiert werden kann. Er
schreibt: „Der nationale Glaube schafft in der Masse der betreffenden Individuen Persönlich-
keitsdispositionen, die den Grund für ihre Bereitschaft legen, in Situationen, in denen sie die
Interessen oder das Überleben ihrer Gesellschaft bedroht sehen, alle Kraft einzusetzen, zu
kämpfen und notfalls zu sterben. An diese Dispositionen können aktuelle und potentielle Herr-
schaftseliten solcher großen, souveränen Kollektive mit Hilfe geeigneter Auslösersymbole ap-
pellieren, wenn ihnen die Integrität ihres Kollektives gefährdet erscheint“ (Elias 1989, S. 204).
64 1 Nation

Repräsentanten.43 Neben ihrer ökonomischen Absicherung nennt Weber einen


weiteren Grund, dem sich das Engagement für die Bewahrung des staatlichen
Machtprestiges verdankt:44 Das ist auf Seiten der hauptamtlichen Politiker (ebd.,
S. 73), aber auch auf Seiten der Untergeordneten insgesamt das Interesse an der
Macht des Staates oder an der Macht an sich oder anders ausgedrückt: „Denn
Macht des eigenen politischen Gebildes bedeutet für sie eigene Macht und eige-
nes machtbedingtes Prestigegefühl […]“ (ebd., S. 65).45 Die Verwechslung der
Ansehen ereignet sich auch auf andere Weise, nämlich wenn sich das Machtge-
fühl nicht bloß an das Machtprestige des Staates knüpft, sondern auch an die
Schicksale, mit denen die nationalen Vorfahren konfrontiert waren. Daraus
speist sich das individuelle Prestige der Macht, wenn man beansprucht, in der

43 Weber warnt hauptamtliche Politiker davor, bloß das Machtprestige als solches zu genießen,
ohne sich um die Macht des Herrschaftsverbands zu sorgen (vgl. Weber 1994, S. 74). Ein sol-
cher Fall liegt bei dem von Elias skizzierte Ludwig XIV. vor, in dessen Handeln nicht die Sor-
ge um die Macht seines Herrschaftsverbands, sondern um die eigene Außendarstellung als
Herrschender im Vordergrund steht. Elias schreibt: „Der `Staat´ als Selbstwert, das ist hier
durchaus eine Oppositionsidee. Ihr gegenüber steht als Motivation Ludwigs XIV. und damit als
entscheidende Triebkraft der Politik und der Aktionen Frankreichs unter seiner Herrschaft der
Prestigeanspruch des Königs selbst, das Verlangen, nicht nur Macht über andere zu besitzen
und auszuüben, sondern sie auch ständig durch Worte und Gebaren aller anderen öffentlich an-
erkannt und derart doppelt gesichert zu sehen“ (Elias 2007, S. 230).
44 Webers Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1993)
vom 13. Mai 1895, in der er anlässlich der Zuwanderung und Beschäftigung polnischer Bauern
in den ostelbischen Reichsgebieten den von ihm vertretenen Wert der Wirtschaftspolitik (vgl.
Hennis 1987, S. 46 f.; Keuth 1989, S. 13 ff.) bestimmt, nämlich die Macht des Staates, ist ein
Beispiel für seine Vorgabe, das Machtprestige des Staates nicht nur zu genießen, sondern es
auch zum Anlass zu nehmen, die Macht des Staates zu verteidigen. Aufgrund seiner radikalen
Forderungen, die zugunsten der staatlichen Macht die Schließung der Ostgrenzen, die Koloni-
sation deutscher Bauern in den von den polnischen Einwanderern besiedelten Gebieten und
selbst die Enteignung von Großbetrieben mit polnischern Beschäftigten vorsehen (vgl. Weber
1993, S. 10), kann die Rede durchaus als ein Zeugnis für ein Auftreten Webers begreifen, bei
dem er „tut, was sein Gott und Dämon ihn heißt“ (Weber 1951, S. 479). Die Rede kommt vor
dem Hintergrund des Anlasses Eugen Lembergs Typus des integralen Nationalismus sehr nahe
(vgl. Lemberg 1965, S. 198). Das steht zwar im Widerspruch zur später von ihm vertretenen
Regel der Hochschuldidaktik über die Aussonderung subjektiver Standpunkte aus einer Lehr-
veranstaltung, erscheint ihm aber aufgrund des außergewöhnlichen Rahmens der Antrittsvorle-
sung als angemessen. Wolfgang Mommsen dazu: „In der Tat konnte man sich fragen, ob hier
nicht der Gelehrte auf dem Katheder durch das Temperament des politischen Kämpfers allzu
sehr verdrängt worden sei“ (Mommsen 1974, S. 39). Und Kay Ludwig Ay schreibt: „In seiner
Freiburger Antrittsrede fand vor allem die Heftigkeit seiner Empfindungen für die Nation ihren
Ausdruck“ (Ay 2003, S.83; vgl. hierzu auch Sukale 2002, S. 375 f.).
45 Siegfried Weichlein folgert, dass der besondere Zweck des nationalstaatlichen Machtprestiges
auf dessen Erfolg beruht. Die für Nation und Staat erforderliche Unterordnung schöpft, anders
als die religiöse Unterordnung, die Rechtmäßigkeit aus ihrem Erfolg und dieser ist die Macht
(vgl. Weichlein 2007, S. 109). Für Isaiah Berlin bietet sich vor allem der Nationalstaat für das
Machtprestige an. Er schreibt: „Doch der machtvollste Aufruf zu Hingabe und Selbstidentifika-
tion ist historisch vom Nationalstaat ausgegangen“ (Berlin 1990, S. 57).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 65

Tradition der siegreichen Erfolge und Errungenschaften der Vergangenheit zu


stehen (vgl. Bauer 1971, S. 145).46
Das Machtprestige fördert außerdem die Einsicht über die Rechtmäßigkeit
der Unterordnung und Opferbereitschaft, was schließlich dort einen sicheren
Anlass für Vergemeinschaftung schafft, wo Gemeinsamkeit über Differenzen
hinweg erlebt werden muss.47 Genau das trifft nämlich im Fall der Nation zu, da:
„Er [der Begriff Nation; C.A.] besagt im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen,
zunächst unzweifelhaft: dass gewissen Menschengruppen ein spezifisches Soli-
daritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“ (ebd., S. 74).
Hermann Heller nennt das die nationale Machtethik, die er im Denken He-
gels ausfindig macht. Erst im modernen Staat ist nicht ausgeschlossen, dass so-
gar das Machtverlangen der Untergeordneten erfüllt wird und schließlich beruht
die Verbindung von Nation und Staat auf dieser Aussöhnung zwischen den Un-
tergeordneten und der Unterordnung (vgl. Heller 1963, S. 68). Die individuelle
Einsatzbereitschaft für den Staat verdankt sich dem individuellen Ziel, die Macht
des Staates zu wollen, was wiederum den Untergeordneten ein gewisses Maß an
Freiheit verschafft. Schließlich ist die Richtung der Machtziele der Untergeord-
neten und des Staates identisch. Das geteilte Streben nach Macht bietet sich als
Gemeinsamkeit zur Orientierung an und wirkt sich somit unterstützend auf die
Vergemeinschaftung aus. Originell ist Hegels Denken deswegen, weil er die Na-
tion auf Macht abstellt und diese als sittliches Sollen verteidigt, damit sich das
individuelle Machtstreben mit der Macht des Staates vereinigt (ebd., S. 94). Hel-
ler, der sich in der Untersuchung auf Meineckes Typen beruft, bemerkt, dass
selbst eine kulturnationale Gemeinschaft, der das Streben nach Macht abgeht, in
ihrer Existenz bedroht ist (ebd., S. 72). Weil Macht für Nation wesentlich ist,
können sich Nationen mit ansonsten gemeinsamen Gemeinsamkeitsmerkmalen

46 Elias lehnt es ab, von Identifizierung zu sprechen, wenn die Orientierung am Machtprestige
des nationalen Staates die Werte betrifft, die im speziellen zur Nation gehören. In diesem Fall
sind die Werte auf Seiten des Individuums, der sich am Machtprestige orientiert internalisiert,
so dass das, worin sich die nationalen Werte symbolisieren, nicht losgelöst vom Individuum
ist. Er schreibt: „Wenn ein Angehöriger eines differenzierten industriellen Nationalstaats im
20. Jahrhundert eine Aussage macht, in der er sich selbst durch ein Derivat seines Landesna-
mens charakterisiert […], dann bringt er in der Regel sehr viel mehr zum Ausdruck […]. Für
das Gros der Individuen, die in einer entsprechenden Staatsgesellschaft aufgewachsen sind,
verweist eine solche Aussage gleichzeitig auf ihre Nation und auf persönliche Eigentümlich-
keiten und Werte. Sie betrifft sowohl den einzelnen, wahrgenommen als ein `Ich´ gegenüber
anderen, auf die er sich im Reden und Denken als `Du´, `Er´ oder `Sie´ bezieht, als auch den
einzelnen, wahrgenommenen als konstituierender Teil eines der Kollektive, auf die er sich im
Reden und Denken als `Wir´ gegenüber `Ihr´ oder `Sie´-Gruppen bezieht“ (Elias 1989, S. 197
f.). Im Weiteren schreibt er: „Ein Bild dieses `Wir´ geht unlöslich in die Persönlichkeitsorgani-
sation des Individuums ein, das in solchen Fälle die Pronomen `Ich´ und `Wir´ in Bezug auf
sich selbst gebraucht“ (ebd., S. 198).
47 vgl. auch Elwert 1989, S. 451.
66 1 Nation

nicht überschneiden und die machtbedingte Verschiedenheit der Nation tritt


zwingend hervor.
Alles in allem: Ein Begriff der Nation weist eine Leerstelle auf, wenn mit
ihm vorausgesetzt wird, dass nationale Gemeinschaft an sich gegeben ist, ohne
bewirkt werden zu müssen. Für Weber geht Gemeinschaft aus sozialem Handeln
hervor und daher sind die Handelnden, deren Zusammengehörigkeit besteht,
nicht unabhängig davon, von Kräften betroffen zu sein, die sie in einem sozialen
Handlungshergang selbst hervorrufen. Michels und Weber stellen für diesen
Handlungshergang die Opposition in den Vordergrund, aus der sich die soziale
Handlungsorientierung hinsichtlich der Gemeinsamkeitsmerkmale ergibt. Damit
zeigt sich, dass selbst die Vergegenwärtigung der Gemeinsamkeitsmerkmale
bewirkt werden muss, denn sie sind weder von sich aus in der Lage, für Zusam-
mengehörigkeit zu sorgen, noch können sie von sich aus die Aufmerksamkeit der
Handelnden auf sich ziehen. Im Falle der von Weber besprochenen Sippe ist
zudem erkennbar, dass Zusammengehörigkeit selbst der faktischen Verwandt-
schaft nicht entspringen kann.
Webers Ablehnung der Gemeinsamkeitsmerkmale als Agens der Gemein-
schaft lässt sich darüber hinaus entnehmen, warum die Nation im Wesentlichen
nicht auf solchen beruhen kann. Stützt man die Nation auf Gemeinsamkeits-
merkmalen, so nivelliert sich der Unterschied zwischen Nationen und nicht-
nationalen Kollektiven, deren Gemeinsamkeitsmerkmalen sonst von einer Nation
in Anspruch genommen werden. Die Nation geht daher nicht aus bloßer Verge-
meinschaftung hervor, sondern beruht auf dem Ziel der Vergemeinschaftung,
nämlich dem Staat. Demnach ist es zwar belanglos, welche spezifischen Ge-
meinsamkeitsmerkmale zum Gegenstand der Besinnung für die nationale Ver-
gemeinschaftung werden, sie sind aber in jedem Fall unentbehrlich. Folglich:
Weil das besondere Ziel der Vergemeinschaftung für Nation notwendig ist,
kommt sie, im Denken Webers, ohne Staat nicht vor. 48 Im Hinblick auf die Defi-
nition der Nation sind die Qualitäten der nationalen Gemeinschaft gegenüber der
staatlichen Herrschaft bloß sekundär.

48 Für Wolfgang Mommsen stehen Webers Überlegungen dem Typus der Staatsnation nahe, weil
er auf den Staat als die Richtung des Gemeinschaftsbewusstseins verweist, ohne objektive
Merkmale für den Begriff der Nation in Rechnung zu stellen. Mehr als die bewusste Anteil-
nahme an der Nation macht für Weber, so Mommsen, das Moment der politischen Macht aus
und somit weicht er vom „innenpolitisch orientierten demokratischen Nationsbegriff“ ab (vgl.
Mommsen 1974, S. 54). Ähnlich sieht es Breuer, dem zufolge, Weber einen subjektiven Nati-
onsbegriff vorlegt: „Mit seiner Zurückweisung aller organizistischen und emanatistischen
Konzeptionen sowie seiner Weigerung, die Nation aus objektiv-empirischen Voraussetzungen
abzuleiten, steht Weber Constant und Renan näher als Herder, wie er auch jede Aufladung des
Nationsbegriff mit religiösen Konnotationen vermeidet“ (Breuer 1994, S. 137). Breuer erinnert
aber auch daran, dass der abseits der Wissenschaft und in der politischen Arena tätige Weber
sich weniger an seinen wissenschaftlichen Überlegungen zur Nation orientiert.
1.3 Attraktivität nationaler Macht 67

1.3 Attraktivität nationaler Macht

Weber rechnet für die Gemeinschaft der Nation mit gemeinsamen Qualitäten.
Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die darauf beruht, dass ihre Angehörigen
eine Qualität teilen, reicht nicht aus, um auf das Wesen der Nation zu stoßen.
Eine bloß auf gemeinsame Qualitäten abgestellte Definition der Nation kann sich
gegen die heterogene Wirklichkeit der Nationen nicht behaupten. Die auf den
eigenen Staat kanalisierte „gefühlsmäßige Gemeinschaft“ hebt sich wegen dieser
Ausrichtung von anderen Gemeinschaften ab, die ihrerseits über die ansonsten
von Nationen beanspruchten Gemeinsamkeitsmerkmale verfügen. Der Nation ist
ferner die Opposition willkommen, die sich insofern auswirkt, als gemeinsame
Qualitäten kein ausschlaggebender Anlass sind, um ein aneinander orientiertes
Handeln herbeizuführen, das an gefühlter Zusammengehörigkeit orientiert ist
und aus dem Gemeinschaft resultiert.
Wichtig ist, dass in Webers Überlegungen die Nation, die an sich besteht,
ohne hervorgerufen zu werden, nicht vorkommt. Insbesondere seine Wortmel-
dungen auf dem Soziologentag, in denen er es entschieden zurückweist, die Na-
tion mit Rasse gleichzusetzen, lassen erkennen, dass eine das Handeln entbeh-
rende Konstitution von Gruppen, für ihn nicht infrage kommt. Seinen Schriften
lässt sich entnehmen, dass eine Gemeinschaft im Ursprung auf soziales Handeln
zurückgeht, dessen Wirksamkeit es folglich auch für die Nation braucht, denn
der für sie essentielle Anspruch auf den eigenen Staat ist abseits des sozialen
Handelns in der aus diesem hervorgehenden Gemeinschaft bedeutungslos. We-
bers programmatische Äußerung hierzu lautet:
„Wenn sie [die Soziologie; C.A.] von `Staat´ oder von `Nation´ oder von `Aktienge-
sellschaft´ oder von `Armeekorps´ oder von ähnlichen Gebilden spricht, so meint sie
damit vielmehr lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als
möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner […]“ (Weber 2002, S. 7; Herv.
im Orig.).
Der Nachweis darüber, dass sich die an sich bestehende, Ursachen entbehrende
Nation widerlegen lässt, ist ferner wie folgt möglich: Aus der Vergemeinschaf-
tung, deren Richtung der eigene Staat ist, ergibt sich die notwendige Folge, dass
innere Gegensätze, die Vergemeinschaftung konterkarieren, verhütet werden
müssen. Diese Voraussetzung für den nationalen Anspruch auf den eigenen Staat
muss ihrerseits bewirkt werden. Damit sich die nationale Selbstbestimmung rea-
lisieren lässt, die durch den Anspruch auf den eigenen Staat zum Ausdruck ge-
bracht wird, muss gewährleistet sein, dass sich das soziale Handeln an der ge-
fühlten Zusammengehörigkeit der Handelnden orientiert, was wiederum Streit
ausschließt. „Vergemeinschaftung ist dem gemeinten Sinn nach normalerweise
der radikalste Gegensatz gegen `Kampf´“ (ebd., S. 22; Herv. im Orig.). Die Ver-
68 1 Nation

hütung innerer Gegensätze braucht Ursachen, so dass das, worauf sie sich zu-
rückführen lässt, den Hergang der Nation erkennen lässt.
Mit der Zumutung der Höherrangigkeit der Nation gegenüber anderen Ge-
meinschaften lässt sich diese notwendige Verhütung gewährleisten. Worauf sich
die nationale Höherrangigkeit zurückführen lässt, soll im nächsten Schritt erar-
beitet werden. Die Zwangsläufigkeit der nationalen Höherrangigkeit steht jedoch
im Zusammenhang mit dem Wesen der Nation, nämlich ihrer Ausrichtung auf
den eigenen Staat. Rainer Lepsius schreibt:
„Der Anspruch auf Höherrangigkeit der Nation setzt sich erst dann durch, wenn sich
die politische Herrschaftsordnung über die Idee der Nation konstituiert, der Solidari-
tätsverband der Nation in einer staatlichen Verbandsorganisation auftritt“ (Lepsius
1990, S. 233).
Er bemerkt auch die Ambivalenz der nationalen Höherrangigkeit, denn auf der
einen Seite leistet sie es, innere Gegensätze zu verhindern. Auf der anderen Seite
kann die in Anspruch genommene Höherrangigkeit bestehende Auseinanderset-
zungen vorantreiben. Nichtsdestoweniger ist sie unausweichlich, so dass sich,
weil sie nicht aus dem Nichts kommt, verfolgen lässt, was sie hervorruft. Das hat
sich Heinz O. Ziegler zur Aufgabe gemacht. Dessen Arbeiten und insbesondere
die Studie Die moderne Nation (1931), die für Wilhelm Hennis der „weithin
unbekannte Klassiker“ (Hennis 2000, S. 255) der Nationenforschung ist, liefern
Antworten im Hinblick darauf, was die nationale Höherrangigkeit möglich
macht. Darüber hinaus untersucht er, wie die nationale Ausrichtung auf den ei-
genen Staat entstanden ist und welche Auswirkungen dies hat. Diese Ergebnisse
lassen sich ebenfalls dafür nutzen, um zu zeigen, dass die Nation bewirkt wird.
Neben der Voraussetzung dafür, dass die eigentümliche Ausrichtung der nationa-
len Vergemeinschaftung gelingt, richtet sich das Folgende auch auf die Herkunft
dieser Ausrichtung.
Die Nation steht in Zieglers Studie in einen Zusammenhang mit der Moder-
nisierung der Herrschaft. Er untersucht, wie die Nation zu einer Legitimitätsidee
wird und welche Folgen damit verbunden sind. Entscheidend für diese „Kollek-
tivierung der Herrschaft“ (Ziegler 1931, S. 54) ist, dass aus dem Objekt der
Herrschaft ihr Subjekt wird (ebd., S. 232). Indem sich die Unabhängigkeit des
politischen Handelns von denen, die davon betroffen sind, allmählich auflöst,
vollzieht sich die Verschiebung des Subjekts der Herrschaft als Emanzipation
der bürgerlichen Gesellschaft.49 „Der Kern moderner staatlicher Legitimität muss

49 Für Habermas übernimmt die Nation die „Rolle des Katalysators“ (Habermas 1999, S. 135).
Das bedeutet: Der säkularisierte Staat ist vom Geltungsverlust der Legitimität seiner Herrschaft
betroffen, der vom „neuen Legitimitätsmodus“ der Nation aufgefangen wird. Habermas be-
zeichnet, das mit der Nation verbundene Mobilisierungspotential als notwendige „Lebenskraft“
der demokratischen Republiken (ebd., S. 136), denn: Durch die Orientierung daran, dass Nati-
on auf gemeinsamen Qualitäten beruht, können Angehörige von der eingeführten Gleichheit
1.3 Attraktivität nationaler Macht 69

vor allem darin gesehen werden, dass hier Herrschaft als Mittel der Selbstver-
wirklichung der Nation erscheint“ (Ziegler 1937, S. 89 f.).
An anderer Stelle schreibt er:
„Nation tritt uns vor allem gegenüber als Legitimitätsidee. Und zwar garantiert sie
[...] die Legitimität der neuzeitlichen Herrschaftsorganisation. Sie trägt die Zustim-
mung der Massen zum neuen Staate, ist einer der wesentlichen Faktoren in dem
Prozess des Zusammenschlusses der Massen zur politischen Geschehenseinheit“
(Ziegler 1931, S. 64).
Angesichts dieses Wandels der staatlichen Herrschaft muss, so Ziegler, die
Chance bestehen, dass sich die Verbindlichkeiten gegenüber der Nation gegen
die Verbindlichkeiten, die andere Kollektive innerhalb einer Nation betreffen,
behaupten können. Die Nation muss gegenüber anderen Kollektiven einen
Schritt voraus sein können:
„Um im politischen Entscheidungsfall tatsächlich die Geschehenseinheit, die soziale
Mobilisierungsgrenze darzustellen, muss daher die nationale Verbindlichkeit einen
Vorzugswert vor anderen Verbindlichkeiten besitzen. Die Orientierung an ihr muss
andere Orientierungsweisen überwiegen“ (ebd., S. 69).
Folgende Absichten sind mit seiner Studie verbunden (ebd., S. 54): Zum einen
will er die Ursachen für die Rangerhöhung der Nation innerhalb des heterogenen
sozialen Pluralismus der Kollektive innerhalb einer Nation untersuchen. Das
nennt er das Primat der sozialen Verbindlichkeit. Zum anderen will er wissen,
worauf sich die Durchsetzung der Nation als letztes Ziel der Herrschaftsaus-
übung, also die Kollektivierung der Herrschaft zurückführen lässt.
Die Beteiligung der Untergeordneten an der Herrschaft schließt nicht aus,
dass nach wie vor der Bedarf an innerer Bereitschaft zur Unterordnung bestehen
bleibt. Ziegler interessiert sich dafür, inwiefern diese Bereitschaft durch irratio-
nale Orientierungen unterstützt wird. Hierfür bemerkt er, dass es zwei Richtun-
gen für die Untersuchung moderner Herrschaft gibt: Man kann ihrem organisato-
rischen Aufbau nachgehen. In diesem Fall geht man den Funktionen und Struk-
turen der Herrschaftsorganisation wie beispielsweise der Verwaltung und Regie-
rung nach (ebd., S. 11). Zum anderen lässt sich eine Untersuchung vornehmen,
indem man die innere Bereitschaft hinsichtlich der Legitimität der Herrschaft des
Staates zum Gegenstand macht. Er selbst leistet für letzteres einen Beitrag. Sein

der Rechte erst Notiz nehmen. Er schreibt: „Erst das nationale Bewusstsein, das sich um die
Perzeption einer gemeinsamen Abstammung, Sprache und Geschichte kristallisiert, erst das
Bewusstsein der Zugehörigkeit zu `demselben´ Volk macht die Untertanen zu Bürgern eines
einzigen politischen Gemeinwesens – zu Mitgliedern, die sich füreinander verantwortlich füh-
len“ (ebd., S. 136 f.; Herv. im Orig.). Habermas nennt das die „doppelte Codierung der Staats-
bürgerschaft“ (ebd., S. 137), wobei die Besinnung auf die Gemeinsamkeitsmerkmale der Nati-
on „stärker als Volkssouveränität und Menschenrechte an Herz und Gemüt appelliert“ (ebd., S.
136).
70 1 Nation

Vorhaben begründet er wie folgt: Weil die dauerhafte Etablierung von Macht
nicht ausschließlich auf physischen Zwang beruhen kann, braucht es eine Akzep-
tanz für Verhaltensvorgaben auf Seiten der Untergeordneten, d.h. damit die von
einer Herrschaft Betroffenen in einer bestimmten Richtung, also einer Fremd-
vorgabe gemäß handeln, müssen sie sie als rechtmäßig erachten (ebd., S. 63).
„Anders ausgedrückt: Damit eine politische Herrschaft bestehe, muss das Han-
deln ihrer Apparatur als legitim erscheinen“ (ebd., S. 13). Zieglers Absicht ist es,
die Nation als Legitimitätsidee im Hinblick auf die Beschaffung der inneren Be-
reitschaft zur Unterordnung zu untersuchen. Diese Legitimitätsidee kann man
zum einen hinsichtlich ihrer „theoretischen Sanktionierung“ berücksichtigen,
und das bedeutet: Die Nation wird im Hinblick auf ihren Wert berücksichtigt.
Man fragt, wie die Begründung für die Legitimitätsidee geleistet wird. Im Falle
der „ideellen Legitimierung“ nimmt man eine Rechtfertigung vor, mit der die
Richtigkeit der mit der Nation verbundenen Orientierungsmaximen hervortritt
(ebd., S. 60). Allerdings ist dieser Sachverhalt für Zieglers Untersuchung uner-
heblich, denn ihn interessiert nicht, aus welchen Gründen sich die Orientierung
des Handelns auf die Nation richten soll, sondern warum dies tatsächlich ge-
schieht. Ferner fragt er sich, welche Folgen sich auf die tatsächliche Wirksam-
werdung zurückführen lassen. Hat sich die Geltung der modernen Nation einmal
durchgesetzt, so ist es angebracht, bemerkt er, auch diejenigen Wirkungen zu
untersuchen, die sich der Argumentation für ihre Geltung weder entnehmen las-
sen, noch in ihr berücksichtigt werden.
Insgesamt geht es ihm um die „soziale Konkretion der Idee“ (Ziegler 1930,
S. 247), und genau hierfür will er irrationale Orientierungen ausfindig machen,
weil er nachweisen will, dass die Rationalisierung der Herrschaft auch von irra-
tionalen Komponenten begleitet wird. Darüber hinaus liest er die Kollektivierung
der Herrschaft an der Entwicklung der Französischen Revolution ab. Er zeigt,
welchen Voraussetzungen sich die moderne Legitimitätsidee verdankt und was
dazu beiträgt, dass sie sich konsolidiert.
Zum Primat der sozialen Verbindlichkeit. Ziegler setzt Folgendes voraus:
Will man untersuchen, was für die Nation verantwortlich ist und was durch sie
bewirkt wird, so muss man ausschließen, dass sie unabhängig davon ist, selbst
bewirkt zu werden. Obwohl er es ablehnt, die Nation als eine Kraft zu betrach-
ten, von der bloß Wirkungen ausgehen, ohne dass sie vorab ein Resultat ist, das
sich ursächlich nachstellen lässt, erklärt er aber die Orientierung an dieser voll-
kommenen und von Ursachen unabhängigen Nation für gültig. Die Ursachen
entbehrende Nation ist kein Irrtum im Denken der Handelnden, so dass man die-
se Orientierung berücksichtigen muss. Ziegler streitet also die Schlussfolgerung
ab, der zufolge sich objektive Tatsachen in Geschichte und Gesellschaft auf die
Nation zurückführen lassen, die ihrerseits aufgrund dieser Schlussfolgerung so
besteht, dass sie nicht hervorgebracht werden braucht. Der Glaube daran ist al-
lerdings kein Irrtum, weil er soziale Wirkungen hervorruft, die der Nation nicht
1.3 Attraktivität nationaler Macht 71

nur willkommen, sondern für sie notwendig sind. Während sich Wissenschaft
der Untersuchung derjenigen Ursachen, die zur Nation führen, nicht entziehen
kann, lässt sich die empirische Orientierung an der Nation als kausale Quelle
gesellschaftlichen und geschichtlichen Geschehens nicht abstreiten. Für die wis-
senschaftliche Auseinandersetzung lehnt er also Folgendes ab:
„An Stelle einer Erklärung und Ableitung des Nationalen tritt seine Metaphysizie-
rung […]. Sie verdinglicht und vergottet die Kategorie, substanzialisiert das zu Er-
klärende, statt es zu klären. Sie setzt Nation als oberste Gemeinschaft voraus und
bekleidet sie mit aller ideellen Weihe und Kraft der Verpflichtung, leitet sie aber
nicht ab“ (ebd., S. 32).
Solange Forschung die „Plastizität“ von Geschichte und Gesellschaft unter-
schlägt, stattdessen aber von deren „naturhaften Dinglichkeit“ ausgeht, wird sie
sich nicht so entmythologisieren, wie es, schreibt er, der naturwissenschaftlichen
Forschung gelungen ist (ebd., S. 57). Hingegen tritt Ziegler an, um die Nation
nicht anders als ein Artefakt menschlichen Handelns zu untersuchen. Das Her-
vortreten der Nation lässt sich also verfolgen, wenn man Nation nicht als „sinn-
fremde Naturtatsache“, sondern als etwas begreift, an das Handeln orientiert
wird (ebd., S. 56). Die Indifferenz gegenüber den Faktoren der Nation erweist
sich demnach als unzulänglich, weil auf diese Weise die mit ihr verbundene
Sinnhaftigkeit ausgeschlossen wird.
Für eine Untersuchung der Nation verschafft es daher keinen Nutzen, die
Nation als letzten Grund vorauszusetzen, da sich in diesem Fall nicht rekonstru-
ieren ließe, wie sich die Geltung der allem überlegenen Verbindlichkeit durch-
setzen konnte, sie erscheint dann nämlich als vorgängig gegeben. Indes setzt
Ziegler eine Menge von heterogenen Verbindlichkeiten voraus, so dass er das
Hervortreten der Nation anhand der Behauptung ihrer Verbindlichkeit gegenüber
der Menge der Verbindlichkeiten aufgrund ihres überragenden Ansehens unter-
sucht. Entscheidend ist, ihm zufolge, der soziale Pluralismus, und das bedeutet:
Das Individuum ist vielfältigen Verhaltensregeln ausgesetzt, die einander ent-
sprechen, aber auch miteinander konkurrieren können, so dass es ein „innerhalb
dieser Vielfalt entscheiden Könnendes und Müssendes“ ist (vgl. Ziegler 1937, S.
80). Das Hervortreten der Nation muss, schreibt er, daher unter Berücksichti-
gung der sozialen Pluralität untersucht werden.
„Und nur durch die empirische Analyse dieses Prozesses der Rangerhöhung der Na-
tion, in dem sich über die anderen Gruppierungsmöglichkeiten emporzusteigen be-
ginnt, können wir das Wesen der modernen Nation bestimmen“ (ebd., S. 69).
Die Nation muss in dieser Vielfalt überwiegen, sie muss einen Vorzugswert er-
folgreich beanspruchen und verfügt somit über: das Primat der sozialen Verbind-
lichkeit.50 Rainer Lepsius äußert sich dazu wie folgt:

50 Zur erforderlichen Vorrangstellung der Nation vgl. auch Hobsbawm 2005, S. 101 ff.
72 1 Nation

„Die Ordnungsvorstellung der Nation enthält Solidaritätsverbänden gegenüber den


Anspruch, höherrangige und allgemeinere Bedeutung zu haben, so etwa gegenüber
Klassen, Konfessionen, ethnischen oder soziokulturellen Gruppen, Verwandtschafts-
und Sippengebilden“ (Lepsius 1990, S. 232).
Dieser Anspruch auf das Primat der sozialen Verbindlichkeit verursacht, so Lep-
sius, Konflikte mit den genannten Gruppen, wobei die Qualität des Konflikts
dann zunimmt, wenn die Nation von Gruppen herausgefordert werden, die ihrer-
seits einen nationalen Anspruch vertreten (ebd., S. 234). Ziegler Interesse richtet
sich vor diesem Hintergrund auf das, was ursprünglich dazu beiträgt, dass die
Nation das Primat der sozialen Verbindlichkeit erfolgreich für sich beanspruchen
kann.
Weil er abstreitet, dass die Nation seit jeher die treibende Kraft allen Ge-
schehens ist, ohne ihrerseits verursacht zu sein, richtet er sein Vorhaben danach
aus, der zu einer bestimmten Zeit eintretenden Wirkung nachzugehen, die sich
darauf zurückführen lässt, dass man das geschichtliche und gesellschaftliche
Geschehen kausal der Nation zurechnet. Der Geltung der außerordentlichen Ver-
bindlichkeit der Nation kommt die veränderte Auslegung der Geschichte zugute.
Indem der Lauf der Geschichte kausal auf eine Instanz eingeschränkt wird, die
sich nicht weiter ableiten lässt, fällt dieser Träger der Geschichte als souverän
ins Gewicht. In der Moderne, so Ziegler, nehmen zunehmend „Gemeinschafts-
begriffe“ diesen Platz ein. Während Kollektive zu den Akteuren des Geschehens
in Geschichte und Gesellschaft werden, ist die individuelle Beteiligung daran
bloß der Ausdruck eines Kollektivs, das im politischen Geschehen eigentlich
waltet. Ziegler dazu:
„Nicht mehr das Individuum und seine bewusste, rationale, kalkulierbare Aktion er-
scheinen als Grundelement der Geschichte, sondern das Werden und Vergehen die-
ser transpersonalen Gemeinschaftseinheiten, deren Sein und Macht den Bereich ei-
ner begrenzten, individuellen Rationalität prinzipiell transzendieren“ (Ziegler 1931,
S. 211).
Ziegler konstatiert, dass das Individuum im historischen Geschehen in den Hin-
tergrund rückt und sein Handeln somit nicht mehr als Offenbarung eines Kollek-
tivs gilt. Seine Absicht ist es, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass die Neu-
bewertung der Geschichte das Primat der sozialen Verbindlichkeit der Nation
unterstützt. Das deckt er folgendermaßen auf: Indem er das philosophische Den-
ken untersucht, das darauf zielt, vor dem Hintergrund eines sinngebenden Prin-
zips die Geschichte in ihrer Vollständigkeit zu erfassen, kann er ermitteln, wel-
che Wirkung von diesem Geschichtsbild in einer Verbindung mit der Orientie-
rung an der Nation steht, deren Richtigkeit schließlich als unwiderlegbar und
unvergleichlich erscheint. Durch das neue Geschichtsbild, so Ziegler, registriert
das Individuum die Notwendigkeit seines Handelns für die Nation.
1.3 Attraktivität nationaler Macht 73

Er macht vor allem die Arbeiten Hegels dafür verantwortlich, dass die em-
pirische Wirklichkeit der Geschichte einzig auf eine absolute und kausal nicht
weiter ableitbare Instanz zurückgeführt wird. An der Nation kann man sich als
Repräsentantin jener Instanz orientieren, wenn man in Sinne Hegels die Diffe-
renzierung der geschichtlichen Weltgeschehens nach Kollektiven verfolgt (ebd.,
S. 158). Gegenüber der überzeitlichen Instanz sind die heterogenen und unendli-
chen Kausalzusammenhänge der Wirklichkeit belanglos, denn für sie wird nur
erstere verantwortlich gemacht. Die Zufälligkeit der Wirklichkeit ist aufgehoben.
Auf der einen Seite wird das historische Geschehen säkularisiert, es wird nicht
mehr durch Gott erklärt. Auf der anderen Seite gelten Kollektive als überzeitli-
che Instanzen und als „Demiurgen der Wirklichkeit“ (ebd., S. 155; vgl. auch
Ziegler 1974, S. 341). Ziegler verweist auf die in diesem Geschichtsbild vorge-
nommene Differenzierung der absoluten Instanz in exklusive und partikulare
Kollektive, die der Aufteilung der Welt in Nationen nicht nur entspricht, sondern
dafür die ideellen Voraussetzungen schafft, nämlich: In diesem Denken hat das,
was der Träger des Absoluten ist, aus sich selbst Geltung, weil das von ihm be-
wegte Geschichtsgeschehen nur der absoluten Instanz zugerechnet werden kann,
die sich deswegen wiederum nicht weiter ableiten lässt. Die somit geschaffene
Geltung des Absoluten zählt auch für dessen Träger und wird nicht weiter infra-
ge gestellt (ebd., S. 151).
„Als eine der wesentlichen ideellen Grundlagen der Nationidee ist diese prinzipielle
Individualisierung der geschichtlichen Welt zu erkennen, in der alle generellen Best-
immungen aufgelöst werden in individuelle, historisch einmalige Totalitäten, die
sich der empirischen Kausalität dialektisch entziehen“ (ebd., S. 153).
Setzt man also die Nation an die Stelle des Trägers der absoluten Instanz, von
der aus das Geschehen in der Geschichte vorangetrieben wird, so ergibt sich die
Richtigkeit der obersten Verbindlichkeit, welche die Nation für sich beansprucht.
Es gibt keine weitere Verbindlichkeit, die den grenzenlosen Geltungsanspruch
der Nation gefährden kann, die somit souverän ist. Ferner ist, so Ziegler, für Ge-
schichts- und Gesellschaftstheorien der Moderne eine Zurückweisung charakte-
ristisch, die er „Herrschaftsblindheit“ nennt, d.h.: Es wird zunehmend ein auto-
nomes Wesensgesetz sozialer Ordnungen gesucht, während man ausblendet, dass
sich Ordnungen heterogenen Ursachen verdanken; „[…] dann sind jeweils auch
Ordnung und Einheit als autonomer Besitz dem Menschen und seiner geschicht-
lich-sozialen Welt vorgegeben, sind ihr in irgendeiner Form als `natürliche´ Ge-
stalt immanent“ (Ziegler 1937, S. 71 f.). Die Rechtmäßigkeit der Herrschaft ist
demnach frei davon, von Ursachen betroffen zu sein, Herrschaft wird auf einen
einseitigen Hergang reduziert. Damit ist schließlich die Aufhebung von indivi-
dueller Verantwortung und Entscheidungsvermögen verbunden. Wo Ordnungen
74 1 Nation

auf Auswirkungen beruhen, für die das individuelle Handeln belanglos ist, da ist
das Individuum nur Vollzugsorgan einer unpersönlichen Kraft. 51
„Auch diese Theorien, ob sie nun von der Gemeinschaftsvorstellung des Volkes, der
Nation, der Rasse, der klassenlosen Gesellschaft des Marxismus oder einem genos-
senschaftlichen Idealzustand ausgehen, setzen mit ihrem Gemeinschaftsbegriff Ord-
nung und Einheit des Sozialen als außerherrschaftlich bereits gegebene oder mögli-
che Wirklichkeit, sehen das Wesentliche, eigentlich Bestimmende und Wirkliche
des Geschichtlichen in diesen außerherrschaftlichen Gebilden und Mächten und lei-
ten Herrschaft erst aus ihnen ab (ebd., S. 73).
Das ist der Nation willkommen. Wenn nämlich Ordnungen nicht nach ihrem
sachlichen Zweck befragt, sondern als Ausdruck der absoluten Instanz begriffen
werden, dann gilt deren Richtigkeit als unbestritten. Darüber hinaus ist innerhalb
des Kollektivs, das die Instanz repräsentiert, eine Interessendisharmonie undenk-
bar, denn vielmehr herrscht ein naturwüchsiger Konsens (vgl. Ziegler 1931, S.
173). Führt man also empirische Tatbestände der Geschichte und Gesellschaft
auf eine absolute Instanz zurück, so dass ausgeschlossen ist, sie als Ausschnitt
aus einer endlosen Kette von Kausalzusammenhängen zu untersuchen, so
schreibt man ihnen eine „ideelles Prestige“ zu (ebd., S. 179). Für die Angehöri-
gen desjenigen Kollektivs, das der Träger der Instanz ist, bedeutet das, die Ver-
bindlichkeit ihm gegenüber aufgrund der Anteilnahme an seinem Ansehen zu
befolgen. Das erweist derjenigen Unterordnung einen wichtigen Dienst, die, ihm
zufolge, auf einen Gehorsam angewiesen ist, den die Untergeordneten mit einer
affirmativen Sinnhaftigkeit verbinden (ebd., S. 180). Wo sich einst die Herr-
schaft religiös legitimierte, da steht, so Ziegler, mit dem gewandelten Ge-
schichtsbild ein Kollektiv an der Stelle der religiösen Weihung.
Der auf diese Weise konstatierte Wandel des Geschichtsbildes interessiert
ihn nicht hinsichtlich dessen Richtigkeit, sondern es ist die soziale Wirkung, die
sich aus der als tatsächlich und richtig erachteten Rückführung des Laufs der
Geschichte auf ein Kollektiv ergibt. Mit der Orientierung an einer letzten Kraft
von Geschichte ist schließlich eine Gemeinschaft möglich, die mit der generatio-
nenübergreifenden Dauer der Nation korrespondiert (vgl. Ziegler 1932, S. 3).
Darüber hinaus verhindert die Rückführung von Herrschaft auf eine absolute
Kraft, sie als einen Handlungshergang zu untersuchen, während sich auf diese
Weise ihre Legitimität herleiten lässt, und zwar wenn sie darauf abgestellt ist,
auf einer dem Handeln vorgänglichen Kraft zu beruhen (vgl. Ziegler 1937, S.
73).
Zur Kollektivierung der Herrschaft. Gemäß Webers Vorgabe ist es für die
Nation unabdingbar, dass dasjenige Handeln, bei dem Vergemeinschaftung er-

51 Hannah Arendt dazu: Gegenüber den historischen Ereignissen ist die Funktion der Handelnden
bloß sekundär, sie treten als Betrachter auf, so dass der Schritt nicht weit ist, sich „als Vollstre-
cker der Geschichte und Agenten der Notwendigkeit“ zu begreifen (vgl. Arendt 2000, S. 65).
1.3 Attraktivität nationaler Macht 75

folgt, in Richtung des eigenen Staates oder des noch zu schaffenden Staates ver-
läuft (vgl. Weber 1913, S. 50). Der Staat zieht aus der Bereitschaft einen bis da-
hin unbekannten Nutzen. Sobald sich der nationale Anspruch auf den eigenen
Staat durchsetzt, wiederholt sich das Streben nach dem eigenen Staat. Das Her-
vortreten der Nation geht aber nicht auf einen Plan zurück. Ursprünglich steht
hinter dem, was der Nation wesentlich ist, kein Vorsatz. Das lässt sich nachwei-
sen, wenn man Zieglers Rekonstruktion dessen verfolgt, an deren Ende die Voll-
endung der Nation steht. Das geschieht im nächsten Schritt. Was sie nämlich
anfangs herbeiführt, das ist schließlich für deren Wesen abkömmlich, welches
sie wiederum so fesselnd macht.
Ihr Hervortreten untersucht er am Beispiel der französischen Nation (vgl.
Ziegler 1931, S. 87). Zwei Voraussetzungen nennt er, die anfangs der Nation den
Weg bereiteten. Zum einen die Zentralisierung der Herrschaft (ebd., S. 75): In
diesem Prozess bilden sich in Europa territorialstaatliche Machteinheiten, indem
sie sich nach außen von der päpstlichen Bevormundung lösen, während im Inne-
ren die Unterwerfung intermediärer Gewalten erfolgt, für das insbesondere der
Einsatz der zentral an die Krone gebundenen Bürokratie nutzt. Durch Reduzie-
rung der vielfältigen Herrschaften nimmt die Macht der konzentrierten Herr-
schaft zu. Weil nichts weiter als der so entstehende Staat als letzter Zurech-
nungspunkt der Herrschaft gilt, erweist sich diese zunächst nicht anschlussfähig
an die später hervortretende Idee der Nation (ebd., S. 76). Der zentrale Grund,
der für die Ausübung der Herrschaft geltend gemacht wird, ist der Staat selbst
und somit erfolgt jede Berechnung der Macht, also die Berechnung zum Zweck
der Machterhaltung ungeachtet der Interessen der Untergeordneten bloß im Hin-
blick auf ihn. Weil sich mit der Zentralisierung mehr als zuvor kundtut, dass
Macht der rationalen Planung unterliegt, braucht sich sogar die kollektive Zuge-
hörigkeit derer, die Herrschaft ausüben, nicht mit derjenigen der Untergeordne-
ten zu decken, insofern sie sich für die Herrschaft als nützlich erweisen. Indes
hat der Entmachtungsprozess zur Folge, dass all diejenigen, die von der zentra-
len Herrschaft betroffen sind, hinsichtlich ihrer Unterordnung gleich sind (ebd.,
S. 81). Die zentral gesteuerte Verwaltung erleichtert nicht bloß, die Herrschaft
zum Vorteil des Staates zu verrichten, sondern verschafft ferner die Möglichkeit,
dass die von ihr Betroffenen einem uniformen Regelwerk unterstehen.
Freiheit und Demokratie sind, so Ziegler, die zweite Voraussetzung für die
Nation. Gegen den Machtzuwachs der Zentralisierung, die für Ziegler insbeson-
dere in Frankreich exemplarisch erfolgt, richten sich zunehmend Erwiderungen.
Der französische Absolutismus wird durch die Tendenz herausgefordert, die sich
an dessen unumschränkten Macht stößt. Vorläufer der Französischen Revolution
sind Bestrebungen, mit denen man Begrenzung und Kontrolle der staatlichen
Souveränität durchsetzen will. Das sind Forderungen nach individuellen Frei-
heitsrechten, die dem wirtschaftlich tätigen Bürgertum willkommen sind, das
sind aber auch Forderungen nach rechtlichen Regelungen für das Verhältnis zwi-
76 1 Nation

schen Krone und Bevölkerung (ebd., S. 93). Zunächst lassen sich, ihm zufolge,
dort, wo sich die Opposition gegen dynastisch-absolutistische Herrschaft richtet,
zum einen Forderungen nach dem Wandel der Souveränität im Hinblick auf eine
Ausbalancierung der Herrschaft und zum anderen nach Menschenrechten, sozia-
ler Gerechtigkeit und Gleichheit vereinbaren (ebd., S. 3).
Im Anschluss an die Französische Revolution stehen nicht nur Rechte zum
Schutz des Individuums im Vordergrund. Es erfolgt, so Ziegler, nicht deren
Durchsetzung als die höchste Orientierungsmaxime der staatlichen Herrschaft.
Ferner verdrängt die Revolution in Frankreich die für die Machtkonzentration
günstige Begründung der Herrschaft, deren Ausübung um der Sicherung des
Staates willen erfolgt. Der Demokratisierungsschub der Revolution wandelt die
Begründung der Herrschaft. Über den wesentlich mit ihr herbeigeführten Wandel
schreibt er Folgendes:
„Denn wird die bestehende politische Einheit und ihre Legitimität negiert, wird
nicht nur die Beschränkung einer Verfassung, sondern deren Neukonstituierung ge-
fordert, dann muss ein neues Zeichen, ein verpflichtendes Symbol, ein neuer Ein-
heits- und Gemeinschaftswert gesetzt werden, in dessen Namen die Herrschaftskon-
stituierung vorgenommen werden kann“ (ebd., S. 96).
Im Weiteren notiert er:
„Das Schwergewicht muss jetzt, da man die Grundlage für eine neue Herrschaftsbe-
gründung braucht, bei dem Einheitsbegriff liegen, der die verfassungsgebende, sou-
veräne Gewalt legitimiert. Im Augenblick, wo das demokratische Volkssouveräni-
tätsprinzip den liberalistischen Konstitutionalismus ablöst, wird die `Nation´ der re-
alpolitische Träger der demokratischen Souveränität, zum politischen Schicksal“
(ebd.).
Die Stelle der letzten Zurechnung für die Legitimität der Staatlichkeit füllt nach
der Revolution nicht mehr der Staat selbst aus. Stattdessen hat sich Herrschaft
auf das von ihr betroffene Kollektiv zu berufen, wenn sie als rechtmäßig gelten
will. Das Los der Politik ist der Verlust ihres isolierten Entscheidungsbereichs.
Die unbeschränkte Macht, die einst durch die Herrschaftskonzentration vorange-
trieben wurde, nimmt im Anschluss an die Revolution dieses Kollektiv in An-
spruch. Es vollzieht sich die „nationale Kollektivierung des Staates“, die für die
Demokratisierung wesentlich ist (vgl. Ziegler 1932, S. 10). Als souverän gilt das
Kollektiv insofern, als es einzig Herrschaft befugt, ohne selbst angewiesen zu
sein, einen Rechtfertigungsbedarf zu berücksichtigen.
„Eine Gemeinschaft, und nicht die Summe gleicher Staatsbürger, wird Träger der
Souveränität, und der Staat erscheint dadurch legitimiert, dass er mit dieser Gemein-
schaft identifiziert wird“ (Ziegler 1930, S. 250).
Als Trägerin der neuen Legitimität wird die Nation schließlich deswegen be-
stimmt, weil jenem Kollektiv nur dann unumschränkte Macht zufallen kann,
1.3 Attraktivität nationaler Macht 77

sobald unter dessen Angehörigen keine inneren Antagonismen bestehen. Souve-


rän kann ein Kollektiv nur dann sein, wenn es nicht von inneren Spaltungen be-
troffen ist. Aus diesem Grund, so Ziegler, wird in Frankreich die Nation gegen
die Sonderrechte der Privilegienträger in Stellung gebracht, so dass deren Besei-
tigung das souveräne Kollektiv ermöglicht (vgl. Ziegler 1931, S. 100). Wird die
Geltung der Privilegien mit der Idee der Nation konfrontiert, so erweist sich die-
se für die Zentralisierung der Herrschaft als hilfreich. Somit wird ein Kollektiv
aus Gleichen die Machtinstanz, die von keiner anderen Macht begrenzt und über-
ragt werden kann. Organisation und Ausübung der Herrschaft muss von nun an
nicht mehr sich selbst gewährleisten, sondern der Idee der Nation Rechung tra-
gen, muss also Sorge um deren Verwirklichung tragen, damit die Herrschaft
rechtmäßig sein kann. Der Wandel tut also der bereits betriebenen Zentralisie-
rung der Herrschaft keinen Abbruch, sondern es ereignet sich die Übertragung
der Souveränität. Nunmehr ist die Nation die nicht weiter abhängige Macht (vgl.
Ziegler 1932, S. 12). Eine andere als die nationale Macht, kann es aufgrund der
Durchsetzung des Demokratisierungsschubes nicht geben und daher korrespon-
diert die Nationenbildung mit der Zentralisierung der Herrschaft. Weil die Macht
der Nation unübertroffen sein muss, ist auch die Macht des Staates unerreichbar,
was schließlich dem Vorhaben der Herrschaftskonzentration einen Dienst er-
weist.
Resultat der Revolution in Frankreich im Hinblick auf den Wandel der
Staatlichkeit ist die neue Legitimität, die hiernach mit der Nation steht und fällt.
„Damit sind auch das Eigenrecht und die Legitimität des Staates als solchem
aufgehoben und ihm das Prinzip der Nation übergeordnet“ (ebd., S. 102). Weil
die Nation an die einstige Stelle der Zurechnung für die Staatlichkeit tritt, ist sie
davon entlastet, sich gegenüber einer weiteren Macht zu rechtfertigen. Ziegler
hebt Folgendes hervor: Während man zuvor die unbeschränkte Macht des Abso-
lutismus mit Forderungen nach rechtlichem Schutz für das Individuum und Tei-
lung der Macht konfrontierte, schafft die Französische Revolution, in deren
Schatten jene Forderungen stehen, eine neue souveräne Instanz, so dass die
Macht des Staates nicht, wie zuvor von Seiten der Protagonisten der Revolution
beabsichtigt, gehemmt ist, sondern einem Rechtfertigungszwang unterstellt wird.
Hierzu schreibt er:
„Aus dem Objekt eines Volks von Untertanen, dem erst die Aktion der Regierung
Ordnung, Einheit und Bedeutung verleiht, ist das Subjekt der alle Herrschaft ema-
nierenden Nation geworden“ (ebd., S. 105).
Ziegler konstatiert das Hervortreten der Nation als Folge der Revolution, weil
sich die Zurechnung der neuen Herrschaft zu dem Kollektiv, an das sie sich rich-
tet, ohne die Gewährleistung von dessen Gleichheit und Einheit nicht durchfüh-
ren lässt. Die Rangerhöhung der Nation kann also ohne die Abschaffung der
Privilegien nicht erfolgen, weil man Herrschaft nicht vor einem Kollektiv recht-
78 1 Nation

fertigen kann, dessen Angehörigen ungleich sein. Nation ist also die Trägerin der
Legitimitätsidee moderner Staatlichkeit und sie kann nicht souverän sein, ohne
dass die übrigen intermediären Mächte entmachtet werden. Mit der Revolution
wird nicht das Individuum frei, so Ziegler, sondern das Kollektiv. Gleich sind
die Individuen insofern, als sie Angehörige derselben Nation sind (vgl. Ziegler
1931, S. 243). Mit der Gleichheit des Kollektivs lässt sich dafür sorgen, dass
keine Gruppe innerhalb der Nation die Macht übernimmt. Somit begünstigt die
Nation das Vorhaben, die Herrschaft zu konzentrieren. „Praktisch wird das zent-
ralisierende und vereinheitlichende Werk des französischen Königtums fortge-
setzt und durch die nationale Kollektivierung der Souveränität radikal vollendet“
(Ziegler 1932, S. 12). Nach wie vor sind nämlich zum einen Souveränität und
zum anderen mit Eigenrecht ausgestattete intermediäre Gewalten unvereinbar.
Gleich sind die Angehörigen der Nation aber nicht nur deswegen, weil sich unter
ihnen niemand mit Vorrechten befindet, sondern weil die Verbindlichkeit der
Nation mit keiner anderen Verbindlichkeit konkurrieren muss.
Während sich noch die revolutionäre Avantgarde die Aufhebung der unum-
schränkten Macht des Absolutismus auf die Fahnen schreibt, also mit der Aspira-
tion antritt, etablierte Macht anders, nämlich verringert zu gestalten, bringt die
Revolution eine neue Macht hervor, die von keiner anderen Macht überragt wer-
den kann, und das ist die Nation. Dass sie souverän sein muss, ist, Ziegler zufol-
ge, eine notwendige Konsequenz der Demokratisierung und Kollektivierung der
Herrschaft, was wiederum zur Folge hat, dass denen, welche die nationale Herr-
schaft rechtmäßig ausüben, eine souveräne Macht zur Verfügung steht (vgl.
Ziegler 1931, S. 104). Weil also zur Nation die Souveränität gehört, nutzt insbe-
sondere die zuvor vollzogene Zentralisierung der Herrschaft der neuen Legitimi-
tätsidee. Schließlich kann keine andere Macht auf dem staatlichen Territorium
die Nation herausfordern, sobald man ihr die Staatlichkeit zurechnet.
Was aber dem Demokratisierungsschub der Revolution notwendig Rech-
nung trägt und zur Überlegenheit der Nation führt, das weist Ziegler schließlich
als ausreichend für die Nation aus, ohne dass die Tendenz zur Demokratie gege-
ben sein muss. Damit sich die Nation in Wirklichkeit tatsächlich als souverän
behaupten kann, reicht, ihm zufolge, die Aufhebung der Ungleichheit in demje-
nigen Kollektiv nicht aus, an dem sich die Rechtmäßigkeit der Staatlichkeit
misst. Die abstrakte Gleichheit der Nation, auf die sie unbedingt besteht, bildet
sich in der empirischen Wirklichkeit nicht identisch ab. Aber es muss nicht nur
die Gleichheit gewährleistet sein, sondern das Kollektiv muss auch von Gegens-
ätzen befreit sein. Weil die Nation die alleinige Trägerin der Souveränität ist,
kann es im Kollektiv nicht nur keine aus Ungleichheit hervorgehenden Machtun-
terschiede geben, sondern auch keine Opposition. Schließlich kann sich der Wil-
le, so Arendt dazu, nicht anders als entschlossen vollziehen, denn ebenso wie ein
geteilter Wille ist auch eine Einheit zwischen Menschen unvorstellbar, die ver-
schiedenes wollen (vgl. Arendt 2000, S. 96). Dass ein von innerer Opposition
1.3 Attraktivität nationaler Macht 79

bedrohtes Kollektiv es nicht bewerkstelligen kann, einen eigenen Staat in An-


spruch zu nehmen, ist die Crux der Nation, so dass sie notwendig unvollendet
bleibt, wenn man das außer Acht lässt, was für den Machtanspruch unerlässlich
ist, nämlich der innere Frieden. Um die Erklärung für das Hervortreten der Nati-
on zu erweitern, rekonstruiert er daher die erste Zeit der französischen Nation. Er
kann zeigen: Was der Nation inhärent ist, ermöglicht ihr, den inneren Konflikt zu
ersparen.
Das zeigt sich an der außenpolitischen Behauptung der Nation. Die innere
Kohäsion der französischen Nation wird durch die Aggression nach Außen wäh-
rend der Revolutionskriege vorangetrieben, denn sie erlauben, die Orientierung
am Ruhm und an der Mission der Nation (vgl. Ziegler 1931, S. 112). Die Ange-
hörigen des Kollektivs, in dessen Namen die Herrschaft ausgeübt wird, bilden
zunehmend eine Einheit, wenn ihnen der Verteidigungsbedarf nach außen der als
eigen und ehrenwert erachteten Herrschaft entgegentritt. Der Schutz dessen, was
die Nation in Frankreich auszeichnet, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung,
für die man nicht einmal vor der Missachtung der europäischen Gleichgewichts-
politik zurückschreckt, schafft Verbundenheit und verhindert, dass Gegensätze
im Innern hervorragen. Erklärt sich die Nation als selbstbestimmt, so ist das Ein-
treten für die erzielte Selbstbestimmung nach Außen die Konsequenz davon.
Ziegler dazu:
„Könnten die starken innenpolitischen Gegensätze die nationale Einheit, in deren
Namen man spricht, immer wieder problematisch machen, ihre Verbindlichkeit ge-
fährden, so setzt hier die außenpolitische Mobilisierung ein und gibt der `Nation´ ei-
ne neue Einheit und Realität. Diese Grenze, dieser Gegensatz nach außen hin, den
die Radikalen mit größter Energie in den Vordergrund stellen, kann das Einheitsbe-
wusstsein schaffen, das alle innenpolitischen Differenzen überdeckt und die gesell-
schaftliche Vielfältigkeit in der außenpolitisch abgegrenzten Nation zur politischen
Geschehenseinheit zusammenschließt“ (ebd., S. 115).
Die Angehörigen des souveränen Kollektivs lassen sich, ihm zufolge, im Hin-
blick darauf vereinigen, die eigene Macht gegen fremde Mächte zu verfechten.
Die Identifikation mit dem als eigen empfundenen Staat, also der integrative
Effekt der gemeinsamen Unterordnung52 eignet sich zur Mobilisierung, wohin-
gegen die Sendung darüber, die erkämpften Freiheitsrechte in die Welt zu tragen,
zwar im Vordergrund steht, das kriegerische Aufbegehren aber durch die Hinge-
bung für die nationalisierte Herrschaft veranlasst wird (vgl. Ziegler 1931, S.
114). Zum Hergang der Gemeinschaft bemerkt Ziegler, dass er nicht nur auf der
Vergegenwärtigung des Gegensatzes seitens der zur Nation gehörenden Han-
delnden nach außen beruht, sondern überdies die Zusammengehörigkeit daraus
resultiert, dass zum Sinn des für sie erforderlichen sozialen Handelns notwendig

52 Vgl. hierzu auch Lemberg 1964, S. 87.


80 1 Nation

die entschiedene Abgrenzung gehört (vgl. Ziegler 1937, S. 76).53 Die Gemein-
schaft der Nation erfolgt somit nicht für die Mission der Freiheit, sondern ist ein
Resultat oppositioneller Orientierung zugunsten der Ehre der eigenen Herrschaft.
Es zeigt sich, dass es weniger ideelle Freiheiten sind, die, wenn sie einmal errun-
gen sind, pflichtbewusst zu einem Transfer in andere Länder motivieren, sondern
vom nationalen Machtprestige eine mobilisierende Kraft ausgeht, wenn es sich
die Angehörigen der Nation selbst zurechnen.54
Ziegler weist auf einen weiteren Sachverhalt hin, der für die Gemeinschaft
der Nation hilfreich ist: Nach der Revolution haben Abgeordnete nicht mehr die
Aufgabe, für die Interessen bestimmter Gruppen gegenüber der Herrschaft des
Königs einzutreten, sondern sie treten als Repräsentanten der Nation auf (vgl.
Ziegler 1931, S. 104). Mit der Nation ist somit die plebiszitäre Rechtfertigung
verbunden, um die sich die Politik aktiv bemühen muss (vgl. Ziegler 1932, S.
15), was wiederum dazu führt, dass die Mobilisierung der Angehörigen der Na-
tion entscheidend wird. Die öffentliche Meinung tritt zunehmend hervor und das
bedeutet, eine neuartige Argumentation wird erforderlich, damit die Begründung
für eine politische Handlung erfolgreich Einverständnis erzielen kann. Für die
Politik wird die Zustimmung seitens der Angehörigen der Nation unentbehrlich,
die sich insbesondere mittels Oppositionen nach außen aufbringen lässt. Anstelle
für die nationale Einheit mithilfe des Hinweises auf die Richtigkeit der Staatsrä-
son zu werben, die meist bloß von Sachkundigen verstanden wird (vgl. Ziegler
1937, S. 95), beruht die nationale Mobilisierung auf anderer Grundlage: „Mobi-
lisierung durch ideelle und emotionale Argumentation wird zu einem notwendi-
gen Faktor alles politischen Handelns“ (Ziegler 1931, S. 116). Die Abhängigkeit
von den Untergeordneten bedeutet, dass die Rechtfertigung zunehmend durch
Mobilisierung von ideeller Leidenschaft und Hingebung für die Ehre und das
Interesse der Nation besorgt wird, die, so Ziegler, ein bis dahin ungekanntes
Machtmittel bietet. Weil die Nation aus Gleichen besteht, hat jedes Individuum
gleichen Anteil an der Macht der Nation (vgl. Ziegler 1932, S. 33), was wiede-
rum erlaubt, die Gleichen mit einer Argumentation zu mobilisieren, die sie alle-
samt ansprechen kann. Unvermeidlich benötigte Einheit und Rechtfertigungsbe-
darf verschaffen eine auf die mobilisierbaren Untergeordneten gegründete

53 In ihrer Interpretation der Überlegungen Rousseaus verweist Arendt auf zwei Formen der
Opposition, auf die er den einmütigen Willen einer „vielköpfigen Einheit“ zurückführt. Als
erstes der außenpolitische Feind: „Nur unter der Voraussetzung unmittelbarer außenpolitischer
Gefährdung kann es überhaupt so etwas wie `la nation une et indivisible´, das Ideal des franzö-
sischen und allen sonstigen Nationalismus, geben“ (Arendt 2000, S. 98). Neben der Eintracht
aus der Opposition gegen einen Dritten, sieht Rousseau ferner die Opposition gegen den indi-
viduellen Eigennutz vor, die wie der Gegensatz zu einer kollektiven Einheit zu behandeln ist.
Dem einmütigen Widerspruch des Individuums gegen seinen Eigennutz entstammt die Einsicht
über dessen Zurückstellung, was für die kollektive Einheit ein zu überwindendes Hindernis
darstellt (ebd., S. 99).
54 Vgl. hierzu auch Lemberg 1964, S. 93.
1.3 Attraktivität nationaler Macht 81

Macht, die der Nation die Macht zurückwirft, die sie ist. Der moderne Legitimi-
tätszwang unterstützt daher die einst vom Absolutismus vertretene Maxime der
Staatsräson, denn schließlich kann der Nation unmöglich das Machtinteresse des
Staates abgehen. „Die neue Form der Legitimität kann also, gleichsam von der
Regierungsseite her gesehen, als Mittel der Herrschaft verwandt werden“ (Zieg-
ler 1931, S. 117). Sobald die Demokratisierung einsetzt, steht man also auf der
einen Seite unter Druck, Sorge um Rechtfertigung zu tragen. Auf der anderen
Seite bietet der Rechtfertigungsdruck ein neues Machtpotential, wenn die Recht-
fertigung auf der Grundlage der Massenmobilisierung besorgt wird.
Der weiteren Geschichte der Ersten Republik entnimmt Ziegler anschlie-
ßend, dass der Nation die plebiszitäre Rechtfertigung abkömmlich ist. Weil näm-
lich die Idee der nationalen Selbstbestimmung für die napoleonischen Feldzüge
belanglos wird, ohne dass die Mobilisierung der Nation abbricht, zieht er folgen-
den Schluss: Es ist nicht die Demokratie, auf welche die Nation unbedingt an-
gewiesen ist, sondern die Identifikation mit der Machtkonzentration des Staates
ist ihr wesentlich, welche die Bereitschaft auslöst, von der Nation unabhängige
Belange zu ihrem Gunsten zurückzustellen.
„Die Nation, die durch die Revolution“, schreibt er, „zu einem sozial wirksamen und
tatsächlich verbindlichen Bewusstsein von ihrer Identität mit der staatlichen Herr-
schaftsorganisation gekommen war, rechnet sich nun alle Siege des Kaisers selbst
zu, kann die Erfolge seiner Politik als eigenen Prestige- und Machtzuwachs empfin-
den und wird daher zu den größten Opfern bereit“ (ebd., S. 120).
Das Primat der sozialen Verbindlichkeit kann die Nation also für sich veran-
schlagen, weil sich ihre überragende Macht für die Untergeordneten dazu eignet,
sich mit ihr zu identifizieren, sie somit als zu sich gehörend zu begreifen. Daher
schließt Ziegler, dass sich die Idee Nation auch mit nicht-demokratischen Staa-
ten vereinbaren lässt (vgl. Ziegler 1930, S. 247). Nationalisierung der Herrschaft
kann, ihm zufolge, Demokratie entbehren, 55 sofern Identifikation mit ihrem un-
übertroffenen Machtanspruch und Machtprestige möglich ist, was das hervortre-
ten lässt, das für die Nation nicht entbehrlich ist: verstetigte Macht. Die Gemein-
schaft, die in einem Zusammenhang mit der Macht des eigenen Staates steht, ist
auch für Elias nicht auf einen demokratischen Staat eingeschränkt. Die gegen-

55 Dass der Nation die Demokratie abgehen kann, steht ebenfalls für Arendt außer Zweifel: „Das
Einzige, was die auf der volenté générale gegründeten Nationalstaaten immer wieder vor dem
unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phantastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust
auf die Last und Glorie der Diktatur hat, diesen so genannten Nationalwillen manipulieren und
sich unterwerfen kann. Die Diktatur ist die Regierungsform, die dem Nationalstaat gleichsam
auf den Leib geschrieben ist, und Napoleon Bonaparte war nur der erste und ist immer noch
einer der größten unter den nationalen Diktatoren […]“ (Arendt 2000, S. 212; Herv. im Orig.).
Im Hinblick darauf, die „Loyalität zum Verfassungsstaat“ auf Seiten ihrer Angehörigen voran-
zutreiben, ist die Nation auch für Habermas weniger von Nutzen, weil sie eine Einsatzbereit-
schaft für anderweitige als demokratische Ziele mobilisiert (vgl. Habermas 1999, S. 142).
82 1 Nation

über der Demokratie im Vordergrund stehende Verehrung der Macht als solcher
beschreibt er wie folgt:
„Es ist ein Kennzeichen von Demokratieprozessen, das vielleicht noch nicht die
Aufmerksamkeit gefunden hat, die es verdient, dass Menschen im Zuge dieses Pro-
zesses, ob sie auf einen Mehrparteien- oder Einparteienstaat, eine parlamentarische
oder diktatorische Regierungsform hinauslaufen, solche numinosen Qualitäten und
die entsprechenden Emotionen an die Gesellschaft heften, die sie selbst miteinander
bilden“ (Elias 1989, S. 190).
Wenn also die sinnhafte Orientierung der nationalen Vergemeinschaftung der
eigene Staat ist56, dann liegt eine Mobilisierungsmöglichkeit vor, mit der sich
eine Gemeinschaft erzielen lässt, die ansonsten vor den inneren Gegensätzen
haltmacht. Der Nationalstaat ist deswegen mächtiger als andere und vorherige
Herrschaftsverbände, weil sich die Angehörigen der Nation mobilisieren lassen,
was die Orientierung an der Richtigkeit der Unterordnung unterstützt. Während
also das Volk aufgrund der sozialen Heterogenität keine Einheit aufweist, ist die
Gemeinschaft im Falle der Nation deswegen möglich, weil sie nach innen ge-
meinsam die Kollektivierung der Herrschaft beansprucht, während sie sich nach
außen aus der Opposition formiert (vgl. Ziegler 1931, S. 243). Für die Angehöri-
gen einer Nation gilt aber, dass sie an sich keine harmonische Homogenität auf-
weisen. Ziegler dazu:
„Dabei handelt es sich immer um den gleichzeitigen Prozess eines inneren Zusam-
menschlusses und eines Abschlusses nach außen. Die innenpolitische Integrierung
hat den Pluralismus und Antagonismus des Gesellschaftlichen zur Voraussetzung.
Alles gesellschaftliche Sein, alle gesellschaftliche Entwicklung steht unter der täg-
lich neu beginnenden Auseinandersetzung zwischen dieser Vielfalt gleichzeitig ne-
beneinander existierender oder konkurrierender Kräfteausrichtungen“ (ebd., S. 245).
Der Gemeinschaft stehen also stets die Differenzen gegenüber. Sie ist relativ zu
diesen, was wiederum bedeutet, dass Gemeinschaft nicht an sich gegeben ist.
Ziegler bemerkt ferner, dass die Souveränität der Nation nicht bloß eine
emotionale Mobilisierung auf der Grundlage des nationalen Machtprestiges er-
möglicht, sondern als unbeschränkter Machtanspruch eines Kollektivs dem Indi-
vidualismus, der am prinzipiellen Schutz des Individuums als zentraler Maxime
festhält, gegenüber überlegen ist. Wo sich nämlich die nationale Souveränität
durchsetzt, da ist das Individuum nur als Angehöriger der Nation frei und gleich
(ebd., S. 236). Überdies tritt eine weitere Unstimmigkeit auf, wenn die Nation
das letzte Machtziel ist, denn infolgedessen braucht sie nicht vor dem Recht
haltzumachen: „Souveränität des Rechts oder Souveränität des politischen Kol-

56 Die politische Modernisierung ist, Ziegler zufolge, durch die „Herrschaftskollektivierung“


gekennzeichnet, bei der die Untergeordneten zum Subjekt der Herrschaft werden (vgl. Ziegler
1931, S. 233). Inkonsistent wird die Nationalisierung der Herrschaft, wenn sich mehr als ein
Kollektiv auf einem Territorium das Handlungsziel Staat setzt (vgl. dazu Ziegler 1936; 1938).
1.3 Attraktivität nationaler Macht 83

lektivums ist die eigentliche Alternative“ (ebd., S. 239). Wenn Rechtfertigung


für die Nation unnötig ist, dann gilt jede national fundierte Entscheidung, einer-
lei was das Recht besagt, d.h. jede nationale Entscheidung ist durch sich recht-
mäßig. Hingegen kann der unumschränkten Macht der Nation Einhalt geboten
werden, wenn eine Rechtsordnung zur letzten Orientierungsmaxime wird, gegen
die sich eine politische Willenseinheit nicht widersetzen kann.
Das sieht Ziegler in der amerikanischen Verfassung verwirklicht (ebd., S.
236), und genau das ist der Grund, warum sich Arendt an der allmächtigen Nati-
on in ihrem Vergleich zwischen der Französischen und Amerikanischen Revolu-
tion stößt. Weil man in Frankreich die Nation an die Stelle des absoluten Monar-
chen gesetzt hat, dessen Wille die Quelle der Herrschaft wie der Gesetze war,
lassen sich, ihr zufolge, die jeweils neuen Ordnungen in Amerika und Frankreich
unterscheiden, denn nur in einem der beiden Fälle lassen sich die Gesetze auf die
Verfassung zurückführen (vgl. Arendt 2000, S. 204 f.). Können nationale Mehr-
heitsentscheidungen die Verfassung übergehen, so gilt: Die Legitimität der Herr-
schaft und die Legalität der Gesetze beruhen auf der Nation. Im Falle Amerikas
ist das deswegen anders, weil die Verfassung von den wechselnden Richtungen
der nationalen Mehrheit nicht betroffen sein kann. Arendt führt das auf den Be-
darf zurück, der nach der Revolution in Amerika fehlte: Während nämlich
Frankreich mit der Beendigung des Absolutismus auch die gesetzgebende Kraft
erneuert werden musste, blieb von der Amerikanischen Revolution die Geltung
derjenigen bürgerlich-politischen Körperschaften unberührt, die man eigenstän-
dig während der Migration in die Gebiete des Kontinents einrichtete, in denen
bürgerliches Gesetz wirkungslos war (ebd., S. 251). Die Macht der Nation kann,
so Arendt, dem Nimbus dieser ursprünglichen Ordnungen nichts anhaben.
Im Ganzen: Das Hervortreten der Nation ist nicht das Ergebnis eines Plans,
denn was ihr unabkömmlich ist, das ist einst nicht bewusst herbeigeführt wor-
den. Das widerlegt die an sich bestehende Nation. Was zunächst gegen den Staat
gerichtet war, nämlich die Begrenzung seiner uneingeschränkten Macht, das
entwickelt sich anschließend zu seinem Gunsten, nämlich einerseits ein Grund,
der die Entmachtung anderer verantwortet und andererseits eine Mobilisierungs-
ressource, auf die der Staat zählen kann. Ziegler rekonstruiert, wie aus dem Stre-
ben nach Schutz vor dem allmächtigen Staat die Nation entsteht, wie sich also
die überragende Macht der Nation gegenüber der Initiative für die individuellen
Freiheitsrechte als attraktiver erweist.57 Nation kann ohne Macht nicht sein, so
dass sie eine Leidenschaft ihretwegen möglicht macht. Darüber hinaus kann man
die Nation nicht bloß auf Macht abstellen, ohne zu berücksichtigen, wie sich die

57 Die später sich ergebende Höherwertigkeit nationaler gegenüber humanistischer Ideale analy-
siert Elias. Die Ablösung ist dadurch gekennzeichnet, dass die einstigen Vertreter der humanis-
tischen Ideale sich weniger an erreichbarem Fortschritt und mehr an die mystische Vergangen-
heit der Nation orientieren (vgl. Elias 1989, S. 175).
84 1 Nation

erforderliche Eintracht der Nation ergeben kann. Weil die unübertreffbare Macht
von Seiten eines Kollektivs ausgeübt wird, das keine Einheit an sich, sondern
vielfältige Differenzen aufweist, ist ein Begriff der Nation ohne Berücksichti-
gung des Hergangs der Gemeinschaft unvollständig. Wenn also Macht das We-
sen der Nation ist, dann lässt sich konsequenterweise die Eintracht der neuen
Mächtigen nicht ausblenden, und zwar ist das eine Eintracht, die sich nicht als
naturwüchsig unterstellen lässt. Schließlich ermöglicht die Übertragung der Sou-
veränität vom absoluten Staat auf ein Kollektiv, alle seiner Angehörigen anzu-
sprechen und zu verpflichten. Der Appell kann aber durchaus auf eine an sich
bestehende Gemeinschaft verweisen, und zwar lässt sich eine solche Orientie-
rung daran lancieren, dass sich das historische und soziale Geschehen der Nation
verschuldet, wobei es ihr selbst abgeht, von weiteren Kausalzusammenhängen
betroffen zu sein. Diese irrationale Unterstützung der Legitimität moderner
Staatlichkeit ist das eigentliche Untersuchungsanliegen Zieglers. Die moderne
Rationalisierung der Herrschaft führt zwar zur Aufhebung ihres vormals überir-
dischen Fundaments, wird aber von einer irrationalen Veranlassung zur Unter-
ordnung, „einem nicht säkularisierten Rest von Transzendenz“ (Habermas 1999,
S. 138) begleitet. Konnte sich dynastische Herrschaft einst durch den Bezug auf
eine göttliche Ordnungslehre gegen weltliche Rivalen absichern, so macht es die
Legitimitätsidee Nation möglich, weiterhin mit irrationalen Orientierungen für
die Beschaffung von Legitimität zu sorgen. Ziegler schreibt:
„Gegenüber Lehren, die immer wieder von einem Rationalisierungsprozess als ei-
gentlichem Merkmal der modernen Entwicklung sprechen, ist festzustellen, dass
gleichzeitig sich ein Irrationalisierungsprozess abgespielt hat und weiter abspielt.
Eines seiner wesentlichsten Resultate ist eben die Nationalisierung des Bewusst-
seins, die universelle Geltung der Nationidee“ (ebd., S. 231).
Wer die Rationalisierung der Herrschaft untersucht, darf also, ihm zufolge, den
irrationalen Kollektivismus nicht übersehen, mit dem sich Massenmobilisierung
und Einsicht in die Unterordnung erzielen lassen. An einer Herrschaft, die insge-
samt eine heilige Sanktionierung entbehrt, zweifelt auch Arendt, für die eine
bloß irdisch fundierte Herrschaft gegenüber einer der freiwilligen Unterordnung
willkommenen Geltungskraft göttlicher Gebote nicht ebenbürtig sein kann, so
dass sie schließlich folgert: Das Minus an weltlicher Macht, das Säkularisierung
herbeiführt, kann die Kirche besser bewältigen, als der säkularisierte Staat die
Einbuße religiöser Weihung verkraften kann (vgl. Arendt 2000, S. 209).
2 Herrschaft

2.1 Akzentuierung des Handelns

Weber entwickelt eine Typologie der Herrschaft und geht hierfür nicht davon
aus, dass die Legitimität von Herrschaft ihr selbst unterliegt, d.h. er begreift sie
als kulturelles Artefakt, und das bedeutet, dass sie hervorgerufen wird. Dafür
macht er insbesondere den Beitrag der Untergeordneten geltend. Er konstruiert
die Typologie der Herrschaft anhand der von den Handelnden reklamierten Legi-
timität (vgl. Weber 2002, S. 16; 1951, S. 469 f.).
Um das Wirken der Untergeordneten, das für die Legitimität von Herrschaft
konstitutiv bedeutsam ist, erklären zu können, wird zunächst berücksichtigt, in-
wiefern Weber das Handeln für seine Wissenschaft akzentuiert. Das lässt sich
anhand seines Rückgriffs auf das Handeln hinsichtlich der Konstitution des kul-
turwissenschaftlichen Paradigmas bewerkstelligen. Daher wird nun die Integrati-
on des menschlichen Handlungsvermögens in seinen methodologischen Überle-
gungen offen gelegt. Zur Beantwortung der Frage, wie Weber die primäre Stel-
lung des Handelns in seinem Denken über Prozesse von Gesellschaft und Ge-
schichte begründet, werden nun seine Beiträge hinsichtlich der Zulässigkeit von
Werten in der wissenschaftlichen Lehre und im Hinblick auf die Möglichkeit
hergeleitet, die Geltung von Werten wissenschaftlich zu festzulegen. Folgende
Arbeitsschritte sind vorgesehen: Zunächst wird Webers Haltung rekonstruiert,
die er gegenüber professoralen Stellungnahmen zu praktischen Sachverhalten
formuliert. Als zweites werden die wissenschaftlich hervorgebrachten Hindernis-
se vorgeführt, die das selbstverschuldete Scheitern jedes wissenschaftlichen Ver-
suchs zur Begründung der Geltung von Werten verursachen. Am Ende wird ver-
ständlich gemacht, dass es der handelnde Mensch ist, der über die Orientierung
bietende Geltung von Werten entscheidet.
Weber befürwortet ein Postulat, und das lautet: „Politik gehört nicht in den
Hörsaal“ (Weber 1994, S. 14). Die Bemerkung bietet sich als Zugang zu seinen
hochschuldidaktischen Überlegungen über das Vertreten eines Werts während
einer universitären Lehrveranstaltung an. Die Auseinandersetzung über das Für
und Wider der Werte im Beruf des Wissenschaftlers kann man, ihm zufolge,
differenzieren: Die Zulässigkeit der Vermittlung von Werten in der Lehre ist
eine Frage, die unabhängig von der Frage über die Zulässigkeit von Werten in
der Forschung entschieden werden muss, d.h. der Grund, warum sich die Hoch-

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
86 2 Herrschaft

schullehre nicht als Schauplatz für die Entrüstung über oder das Werben für ei-
nen Wert instrumentalisieren lässt, unterscheidet sich von den Gründen, die We-
ber nennt, wenn er über die Orientierung an Werten im Prozess der Erkenntnis-
gewinnung räsoniert (vgl. Weber 1951, S. 475).
Zu seinem didaktischen Postulat: Die politische Stellungnahme, die der
nicht von der Politik lebende Berufswissenschaftler im Lehrvortrag u.a. als sen-
dungsbewussten Aufruf oder als Empörung über das Abweichen von einem fa-
vorisierten Wert artikuliert, verlangt Weber, von der Lehre zu sondern. Die Auf-
forderung lässt zunächst erkennen, dass Werte in der Vorlesung gänzlich unter-
sagt seien. Das aber lediglich als Zugang zu seiner Methodologie gewählte Pos-
tulat soll weder beansprucht werden, um eine Zensuranleitung in Webers Auf-
fassung über Hochschuldidaktik zu erkennen, noch um seine Wissenschaftslehre
zugunsten völliger Wertfreiheit zu kennzeichnen. Er spricht sich nämlich nicht
dafür aus, Werte für sich zu behalten. Die Aufforderung, es zu unterlassen, Wer-
te in der Hochschullehre geltend zu machen, ist ebenso wenig umfassend wie die
Ausgrenzung von Werten aus einem Forschungsvorhaben. In der Lehre wie in
der Forschung lässt er die Option zu bzw. für Letztere integriert er die Orientie-
rung an Werten bei der Annäherung eines Forschenden an ein Forschungsvorha-
ben in die wissenschaftstheoretischen Vorgaben.
Seine hochschuldidaktische Auffassung hält die Option für ein Redeverhal-
ten bereit, das er intellektuelle Rechtschaffenheit nennt (ebd., S. 476 f.). Er favo-
risiert nicht die vollständige Ausgrenzung von Werten aus der Lehre, denn statt-
dessen verlangt er, dass sich die Lehrenden der intellektuellen Rechtschaffenheit
verpflichten, konkret: Er plädiert für die Ankündigung eines praktisch-wertenden
Kommentar seitens der Lehrenden während eines wissenschaftlichen Vortrags.
Weber befürwortet also nicht, Wertungen aus dem Lehrvortrag vollständig zu
isolieren, sondern er spricht sich dafür aus, diese als solche in der Rede kenntlich
zu machen, d.h. Hochschullehrer sollen Studierende darauf aufmerksam machen,
dass sie die Vermittlung von und Auseinandersetzung mit Wissen unterbrechen,
um eine subjektive Vorstellungen über einen praktischen Sachverhalt kundzutun.
Aus folgendem Grund fordert Weber von seinen Berufskollegen, sich an seinem
hochschuldidaktischen Vorschlag zu orientieren: Sofern die Redeanteile der Leh-
renden im Hörsaal dominieren, soll die Redesituation in der Lehrveranstaltung
nicht zugunsten ihrer Rhetorik ausfallen:
„Im Hörsaal, wo man seinen Zuhörern gegenübersitzt, haben sie zu schweigen und
der Lehrer zu reden, und ich halte es für unverantwortlich, diesen Umstand, daß die
Studenten um ihres Fortkommens willen das Kolleg eines Lehrers besuchen müssen,
und daß dort niemand zugegen ist, der diesem mit Kritik entgegentritt, auszunützen,
um den Hörern, nicht wie es seine Aufgabe ist, mit seinen Kenntnissen und wissen-
schaftlichen Erfahrungen nützlich zu sein, sondern sie zu stempeln nach seiner per-
sönlichen politischen Anschauung“ (Weber 1994, S. 14).
2.1 Akzentuierung des Handelns 87

Anhand seiner Idee über den Bildungsauftrag der Universität begründet er die
Auffassung: Die Hochschullehre soll, ihm zufolge, weniger für den Transfer von
Werten dienen, als vielmehr Sorge um die Disziplinierung für den fachgeschul-
ten und akademischen Beruf zu tragen, um die Berufsausbildung nicht von den
an Werten orientierten Affekten zu stören (vgl. Weber 1951, S. 480). Hingegen
wirkt Professoren-Prophetie kulturhemmend, wo sie keine Widerrede duldet und
somit den Wertantinomie blockiert (vgl. Weber 1994, S. 15 ff.). Insofern also die
Markierung von Werten im Lehrvortrag zu leisten ist, sieht intellektuelle Recht-
schaffenheit die vollständige Wertfreiheit in der Lehre nicht vor. Wenn der
Hochschullehrer u.a. über Wege zur Ermittlung empirischer Tatsachen referiert,
so äußert er nur darüber hinaus und nur nach expliziter Signalisierung subjektive
Auffassungen gegenüber Werten. Die sittliche Bildung der Studierenden gehört
zwar auch zum Auftrag der Universität, im Hinblick auf die wissenschaftliche
Forschungsleistung gilt für Weber aber, […] „dass es niemals Aufgabe einer
Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln,
um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“ (Weber 1951, S. 149).
Vorerst lässt sich also notieren: Weber setzt sich für eine eingeschränkte Aus-
sonderung von Werten in der Lehre ein. Zu den Zwecken der Wissenschaft zählt
er nicht die Analyse von Werten im Hinblick darauf, eine unerschütterliche Be-
gründung in Form eines empirisch erwiesenen Befunds vorzulegen, der eine fi-
nale Glaubensvorgabe zur Verfügung stellt.
Während der Wissenschaftler im universitären Lehrbetrieb die sittliche Bil-
dung der Studierenden nicht durch imperative Verkündigung von Werten besor-
gen kann, stößt die Wissenschaft auf bestimmte Hindernisse, die sie davon ab-
halten, die Geltung von Werten zu bestimmen. Zu den Hindernissen:
(1) Grundsätzlich unabschließbare Erkenntnisvorgänge: Konstitutiv für die
wissenschaftliche Arbeit ist, dass die entzauberte Forschung – und das ist die
Disqualifizierung der Auffassung, dass die Erkenntnis der Dinge an unerreichba-
ren Kräften halt macht – nur zeitlich begrenzt über ihren Gegenstand informieren
kann. Auf diese Weise wirkt sie als Motor dafür, die Begrenzung der Forschung
von der Annahme zeitresistenten Wissens zu emanzipieren (vgl. Weber 1994, S.
12). Das Schicksal wissenschaftlicher Arbeit beschreibt er folgendermaßen:
„[…] jede wissenschaftliche `Erfüllung´ bedeutet neue `Fragen´ und will `überboten´
werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen
will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiss dauernd, als `Genussmittel´ ihrer
künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig
bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur
unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu
hoffen, dass andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fort-
schritt ins Unendliche“ (ebd., S. 8; Herv. im Orig.).
88 2 Herrschaft

Diese Schicksal trägt aber zum eigentümlichen Sinnproblem wissenschaftlicher


Arbeit bei, denn durch den Abschied von finalen Erkenntniszielen kann sie sich
aufgrund der unabschließbaren Weite der Forschungserkenntnisse auch nicht auf
einen letzten Sinn über ihre eigene Arbeit einigen (ebd., S. 13; vgl. auch Weber
1951, S. 60). Die Einigung über diesen kann Wissenschaft vor allem nicht mit
ihren eigenen Mitteln herbeiführen, da die moderne Fortschrittsdynamik jedes
Einvernehmen chronisch berichtigt. Ein Hindernis für die wissenschaftlich ge-
stützte und unwiderlegbare Geltung von Werten ist also die Auslegung der mo-
dernen Forschung, die die Option bereithält, Wissen zu aktualisieren oder zu
verwerfen.
(2) Instabile Bedingungen für den Kampf 58 zwischen Werten: Interaktionen,
an dem sich, Weber zufolge, Wertantinomie manifestiert, kommen vor, sobald
Menschen bestimmte Antworten auf praktische Fragen vorlegen und, sofern sie
voneinander abweichen, um Durchsetzung rivalisieren (vgl. Weber 2002, S. 20
f.). Denn:
„[…] gerade jene innersten Elemente der `Persönlichkeit´, die höchsten und letzten
Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung
geben, werden von uns als etwas objektiv Wertvolles empfunden“ (Weber 1951, S.
152; Herv. im Orig.).
In diesem oppositionellen Aufeinandertreffen von Werthaltungen erkennt er die
Dynamik von Kultur. Aber nicht erst aus der Auseinandersetzung um Werthal-
tungen schöpft sich diese, sondern bereits die vorgelagerte Sinnsetzung der
Handlung konstituiert Kultur, d.h.: Kulturell ist schon das innere Aushandeln der
Bedeutung des Handelns und dies erklärt Weber wie folgt. Das menschliche Re-
flexionsvermögen ist ausgestattet „[…] mit der Fähigkeit und dem Willen, be-
wußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber
1951, S. 180). Die einsame Entscheidung für einen handlungsweisenden Sinn
kann sich jedoch für das Individuum bereits vor der Sinnsetzung antagonistisch
ereignen, wenn es sich ambivalente Richtungen der Sinnhaftigkeiten so verge-
genwärtigt, dass es ergebnisorientierte Überlegungen über gegensätzliche Bedeu-
tungen einer möglichen Handlung anstellt (ebd., S. 503). Weber schreibt:
„Die aller menschlichen Bequemlichkeit willkommene, aber unvermeidliche Frucht
vom Baum der Erkenntnis ist gar keine als eben die: um jene Gegensätze wissen und
also sehen zu müssen, dass jede einzelne wichtige Handlung und dass vollends das
Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern be-
wusst geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche

58 Die Kennzeichnung dieses Sachverhalts kommt in Webers Schriften nicht selten in metaphori-
scher Weise vor: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer
wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwi-
schen `Gott´ und `Teufel´“ (Weber 1951, S. 493).
2.1 Akzentuierung des Handelns 89

die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins
heißt das – wählt“ (ebd., S. 493; Herv. im Orig.).
Beim Handeln erfolgt demnach kulturelle Dynamik als eigenes Ermessen, das
der Sinnsetzung voraus ist und darüber hinaus in der Interaktion als Sinnsetzung
auf die Sinnsetzung anderer. Wichtig ist, dass die Wissenschaft statt ihrer sonst
üblicherweise angebotenen Hilfestellungen, die das Handeln unter bestimmten
Umständen erleichtern, nun jene Auseinandersetzung torpediert.
„Wenn“, so Weber über den Beitrag der modernen Wissenschaft im Hinblick auf
Wertfragen, „irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas
wie einen `Sinn´ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen“ (Weber 1994, S.
12; Herv. im Orig.).
Die Wissenschaft ist also daran beteiligt, die Wertantinomien besiegelnde Aus-
tragungsmöglichkeiten so zu transformieren, dass diese, indem der unendliche
Wissenschaftsbetrieb die Verfügbarkeit letzter Werte nivelliert, aufgrund ihrer
grundsätzlichen Unabschließbarkeit eine enorme Last für den Menschen bedeu-
ten (ebd., S. 17). Konsequenz der wissenschaftlichen Fortschrittsdynamik hin-
sichtlich der Umstände für Kämpfe zwischen Werten ist also, Instabilität für die
endlichen Entscheidungen zu hervorzubringen, die, um Ambivalenz endgültig
aufzulösen, darauf angewiesen sind, jede alternative Entscheidung abzustoßen.
(3) Überstrapazierung der Beobachtungsmöglichkeiten: Zu Webers Anlie-
gen gehört es, einen Beitrag zur Begründung der akademischen Identität der Kul-
turwissenschaft zu leisten, nur liegt dem nicht die Absicht zugrunde, methodolo-
gische Vorgaben für die Wissenschaft vom menschlichen Handeln einzig auf der
Abgrenzung von der Naturwissenschaft zu konstruieren. Primär geht es ihm
nicht darum, die Erkenntnisse der Erscheinungen, die bedingungslos Abseits der
menschlichen Handlung, von den Erkenntnissen der Erscheinung zu trennen, die
als menschliche Handlung beobachtbar sind (vgl. Weber 1951, S. 12). In den
wissenschaftstheoretischen Schriften erschließt er die Konstitution kulturwissen-
schaftlicher Erkenntnisgewinnung gegen die Ansätze, bei denen die Ermittlung
von Erkenntnissen über Gesellschaft und Geschichte das Ziel verfolgen, allge-
meine und von Zeit und Raum unabhängige Gesetze und Gattungsbegriffe auf-
zustellen (ebd., S. 17, 51, 134, 171 f., 178 ff., 185 f., 300 ff., 368, 400 f.). Weber
nimmt Stellung zur Erforschung von Gesellschaft und Geschichte, indem er vor-
führt, warum es nicht ausreicht, allgemeine Gesetze zu ermitteln. Dass es nicht
Aufgabe der Wissenschaft ist, jene infolge beobachteter Wiederkehr der Er-
scheinungen zu entdecken, begründet er wie folgt: In einer Gegenüberstellung,
die er in den wissenschaftstheoretischen Schriften zwischen Gesetzes- und Wirk-
lichkeitswissenschaft explizit vornimmt, identifiziert er Erstere anhand der nach-
stehenden Kennzeichen: Mithilfe von berechenbaren Korrelationen soll das in
90 2 Herrschaft

Gesellschaft und Geschichte beobachtete Geschehen gänzlich so erklärbar sein59,


dass kontingent entstandene Vorgänge ausgeschlossen sind und Unterschiedlich-
keit begründende Eigenarten als unwesentlich erachtet werden können (ebd., S.
4). Die an einer zu untersuchenden Erscheinung involvierten Menschen erschei-
nen „[…] in letzter Konsequenz bis zur Schaffung von absolut qualitätslos, daher
absolut unwirklich, gedachten Trägern rein quantitativ differenzierter Bewe-
gungsvorgänge, deren Gesetze sich in Kausalgleichungen ausdrücken lassen“
(ebd., S. 5). In Abgrenzung davon identifiziert Weber die Wirklichkeitswissen-
schaft:
„Auf der anderen Seite Wissenschaften, welche sich diejenige Aufgabe stellen, die
nach der logischen Natur jener gesetzeswissenschaftlichen Betrachtungsweise durch
sie notwendig ungelöst bleiben muß: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer ausnahms-
los und überall vorhandenen qualitativ-charakteristischen Besonderung und Einma-
ligkeit: das heißt aber – bei der prinzipiellen Unmöglichkeit der erschöpfenden Wie-
dergabe irgendeines noch so begrenzten Teils der Wirklichkeit in seiner (stets min-
destens intensiv) unendlichen Differenziertheit gegen alle übrigen – Erkenntnis der-
jenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart der
Wirklichkeit und um derenwillen die wesentlichen sind“ (ebd., S. 5; Herv. im Orig.).
Er begründet unter Berücksichtigung der grundsätzlich unüberschaubar weiten
und diffusen Kausalzusammenhänge von Kulturerscheinungen die Eignung der
Wirklichkeitswissenschaft, die zwar in gleicher Weise ungenügend ausgestattet
ist, das gesellschaftliche und geschichtliche Geschehen in seiner Vollständigkeit
zu erklären, sich aber zumindest über die Beeinträchtigung der empirischen Be-
obachtungs- und Erklärungsmöglichkeiten aufgrund und zugleich der unendli-
chen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit60 bewusst ist. Jedes wirkliche Gesche-

59 Das Erkenntnisinteresse des Forschers, das sich auf die Qualität des zu untersuchenden Gegen-
stands richtet, tritt beim naturwissenschaftlichen Vorgehen hinter die beobachtete Regelmäßig-
keit zurück: „Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kul-
turwissenschaften in letzter Linie in der `gesetzmäßigen´ Wiederkehr bestimmter ursächlicher
Verknüpfung finden zu können“ (ebd., S. 171). Wenn Wissenschaft das Gesetz hinter der er-
scheinenden Regelmäßigkeit ermitteln will, ist die Qualität des Gegenstands nebensächlich und
wird folgendermaßen behandelt: „Was nach dieser Heraushebung des `Gesetzmäßigen´ jeweils
von der individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich
noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des `Gesetzes´-
Systems in dies hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als `zufällig´ und eben deshalb wis-
senschaftlich unwesentlich beiseite, eben weil es nicht `gesetzlich begreifbar´ ist […]“ (ebd.).
Weber leugnet nicht, dass Regelmäßigkeiten von Handlungsweisen vorhanden sind, er wehrt
sich aber dagegen, dass die Sinnhaftigkeit der individuellen Handlung der strengen Gesetzmä-
ßigkeit untergeordnet wird (ebd., S. 173). Er leugnet auch nicht die Brauchbarkeit von Geset-
zen in der Kulturwissenschaft; mehr dazu unten.
60 Wenn gesellschaftliche und geschichtliche Geschehen sinnhaft überfrachtet vorliegen, dann
erklärt Weber damit den Umstand, dass eine durch menschliches Handeln hervorgerufene Er-
scheinung in ihrem Hergang aus einer heterogenen Verzweigung vielfältiger Kausalitätszu-
sammenhänge besteht. Die schrittweise Rekonstruktion der an einer Erscheinung beteiligten
Gründe ist grundsätzlich sinnlos, da dies das Rückwärtsschreiten einer unendlichen Kausalket-
2.1 Akzentuierung des Handelns 91

hen, das dem forschenden Beobachter sinnlos und kausal indifferent gegenüber-
tritt, liegt als einzigartig-partikulare Wirklichkeit vor, die als solche nur dann aus
der unüberschaubaren Menge der Kausalkontexte des zu beobachtenden Gesche-
hens hervortritt, wenn jener anhand der Gesichtspunkte, mit denen er den For-
schungsgegenstand konfrontiert61, die interessengeleitete Erforschung und sinn-
hafte Einzigartigkeit des Geschehens konstituiert. Wenn also jede Kulturerschei-
nung einzigartig ist und die kulturwissenschaftliche Erforschung eines Gegen-
standes notwendig unvollständig bleibt, dann erkennt Wirklichkeitswissenschaft,
indem sie sich nur die begrenzte Beobachtung eines sinnhaften Teils des Ge-

te erfordert (ebd., S. 171). Weber erteilt eine Absage an die Wissenschaft, die eine Erscheinung
im Hinblick auf ein nomologisches Erkenntnisziel untersucht.
61 Die kulturwissenschaftliche Forschung beansprucht nicht die erschöpfende Analyse des ganzen
Gegenstands, sie geht aber in schöpferisch-selektiver Weise vor. „Denn der Begriff des
`Schöpferischen´ ist, wenn er nicht einfach mit dem der `Neuheit´ bei qualitativen Verände-
rungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Erfahrungsbegriff, sondern
hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit
betrachten“ (ebd., S. 49). Die Kulturwissenschaft schöpft also das Wissenswerte aus der uner-
schöpflich weiten Wirklichkeit, indem sie dieser mit einem besonderen Interesse gegenüber-
tritt. Wenn der Forscher die Selektion der sie interessierenden Bestandteile einer zu untersu-
chenden Erscheinung vornimmt, geht er bedeutungsorientiert vor. Diese Wertbeziehung er-
möglicht einen endlichen Eingriff in die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, denn
die Forschung antreibenden Wertideen erlauben, bestimmte kulturbedeutsame Kausalzusam-
menhänge einer Erscheinung zu filtern (ebd., S. 175 ff.). Die interessengeleitete Selektion kon-
stituiert ein historisches Individuum: „Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen,
d.h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist:
nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen
allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen
überhaupt logisch sinnvoll“ (ebd., S. 177; Herv. i. Orig.). Bei der Stiftung der Wertbeziehung
muss der Forscher sensibel genug sein, um die epochal bedeutsamen Kulturwerte zu erkennen
und diese für die Wirkungszusammenhänge festzulegen, durch die eine Erscheinung zu Tage
tritt, denn es ist nicht der empirische Stoff, der die Gesichtspunkte vorgibt (ebd., S. 182). Für
die Analyse des historischen Individuums legt Weber ein Programm vor, in dem die ausge-
wählten Kausalitätszusammenhänge einem Vergleich mit nomologischen Hilfsmitteln unterzo-
gen werden, aus dem das Verstehen der besonderen Kulturbedeutung resultiert und der die
Verquickung einzelner an der Erscheinung beteiligter Bestandteile ursächlich zu erklären er-
möglicht (ebd., S. 174 f.). Die zum Einsatz kommende nomologische Hilfe soll, so Weber,
durch die rationale und widerspruchsfreie Steigerung der Wirkungszusammenhänge als un-
wirkliche Vergleichsfolie geschaffen werden (ebd., S. 190 ff.). Der so konstruierte Idealtypus
kann aus gesetz- oder gattungsmäßigen Terminologien bestehen, und soll weder Wirklichkeit
abbilden, denn die eingegrenzte Sinnhaftigkeit dieser soll erst durch die Differenz aus dem
nomologischen Vergleich verstehbar werden, noch soll er das Forschungsziel sein. „[…]
Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern
umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen“ (ebd., S.
202). Weber schöpft die Identität der Kulturwissenschaft nicht durch die Abgrenzung von der
Naturwissenschaft, statt dessen schafft er die Konstruktion des methodologischen Programms
jener durch die Integration von nomologischen Mitteln, betont aber, dass Gesetze und Gat-
tungsbegriffe nicht das kulturwissenschaftliche Erkenntnisziel bestimmen.
92 2 Herrschaft

schehens eingesteht, die unbeschränkte Vielfältigkeit der kulturellen Wirklich-


keit an.
Die Ermittlung von Gesetzen der regelmäßigen Handlung rechnet darüber
hinaus nicht mit dem für die Beobachtung unzugänglichen Bereich der Motivati-
on (ebd., S. 35). Der Vollzug des menschlichen Handelns ereignet sich, so We-
ber, nicht als Konsequenz einer wohlkalkulierten Überlegung, die besonnen mit
klar benennbaren Motiven umgeht und zwanghafte Affekte ausschließt. Die
Wirklichkeitswissenschaft beachtet die für die Irrationalität der Wirklichkeit
kennzeichnende Kausalitätsstreuung, die auslegt:
„Dass das Handeln des Menschen nicht so rein rational deutbar ist, daß nicht nur ir-
rationale `Vorurteile´, Denkfehler und Irrtümer über Tatsachen, sondern auch `Tem-
perament´, `Stimmungen´ und `Affekte´ seine `Freiheit´ trüben, daß also auch sein
Handeln – in sehr verschiedenem Maße – an der empirischen `Sinnlosigkeit´ des
`Naturgeschehens´ teilhat […]“ (ebd., S. 227).
Irrational soll eine Handlungsmobilisierung nicht heißen, wenn sie sich für den
Anderen als vollkommen unberechenbar erweist. Wenn die Sinnhaftigkeit der
Handlung auch durch unverständliche, also für den Beobachtenden nicht zugäng-
liche, Antriebe zustande kommt, wenn also beim Entwurf des handlungsweisen-
den Sinns nicht einzig die kalkulierten Motive präsent sind, dann bezeichnet Irra-
tionalität der Wirklichkeit die unbedachten62 Bestandteile der Handlung. Insge-
samt setzt Weber an der nomologischen Wissenschaft aus, dass sie über ungenü-
gende Methoden verfügt, um Gesetze für entdeckte Regelmäßigkeiten einer zu
untersuchenden Kulturerscheinung aufzustellen. Sofern diese nämlich Resultat
einer grundsätzlich unendlichen Kette kausaler Momente ist, lässt die beobachte-
te Wiederkehr eines Geschehens nicht zu, auf seinen gesamten Gehalt zu schlie-
ßen. Für den forschenden Beobachter gibt es zudem nicht genügende Zugänge
für die irrationalen Ursachen einer menschlichen Handlung. Zum einen lässt also
die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit nicht die Entscheidung zu,
wann eine Erforschung hinreichend ist. Zum anderen verhindern die unverständ-
lichen Handlungsantriebe, das regelmäßige Handeln einem Gesetz unterzuord-
nen. Die Beobachtungsmöglichkeiten der Wirklichkeit sind deswegen überstra-
paziert, weil handlungsweisende Wertsetzungen nicht auf ein einziges Moment
zurückgeführt werden können und hinzukommend flexibel und transformierbar
sind. Gegen die unendlichen Kausalzusammenhänge der Wirklichkeit lässt sich
dann von der Position der Wissenschaft auch nicht die Geltung von Werten

62 Dazu schreibt Simmel: „Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses
durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolierung und Selbständigkeit, die sein
sprachlicher Ausdruck anzeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des ersteren;
vielmehr gehört der ganze übrige bewusste und unbewusste Seeleninhalt dazu, um im Verein
mit der neu eingetretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen“ (Simmel
1989, S. 121).
2.1 Akzentuierung des Handelns 93

durchsetzen. Vielmehr muss sich Wissenschaft der Unüberschaubarkeit stellen


und eine interessengeleitete Selektion hinsichtlich des Zugangs zum For-
schungsgegenstand treffen, um das Verstehen und Erklären zu ermöglichen
(ebd., S. 177 f.). Die Überstrapazierung der Beobachtungsmöglichkeiten ist das
dritte Hindernis für wissenschaftliche Vorgaben, die Werte betreffen.
Während sich erstens bei der Fortschrittsdynamik, in der sich die Aktuali-
sierung des Wissens als Motor der Entzauberung erweist, und zweitens bei der
Destabilisierung unbedingter Werte die Wissenschaft selbst das Hindernis für die
Geltendmachung von Werten ist, wird sie drittens von der Beschaffenheit der
unermesslichen Wirklichkeit überwältigt. Die Hindernisse, die es undurchführ-
bar machen, die Geltung von Werten wissenschaftlich festzulegen, sind weder so
vorhanden, noch werden sie so ausgelegt, dass Wissenschaft dagegen vorzuge-
hen hat, d.h. die wissenschaftliche Arbeit hat nicht mit dem Anspruch anzutre-
ten, sich mit dem Potential für die Geltendmachung von Werten auszustatten.
Ganz im Gegenteil sollen die durch den Rekurs auf die wissenschaftstheoreti-
schen Überlegungen Webers skizzierten Hindernisse deutlich machen, warum
sich dieser erstens für die Zurückweisung von solchen Aufgabenbeschreibung
der Wissenschaft vom menschlichen Handeln einsetzt, die einzig das Erkennt-
nisziel vorsieht, den Menschen als Resultat einer gesetzmäßigen Mechanik zu
untersuchen. Zweitens zeigen die Hindernisse, dass Wissenschaft nicht mit dem
Potential ausgestattet ist, das sie autorisiert, über die Geltung von Werten zu ent-
scheiden.
Für Weber ist die Wissenschaft keine Rezeptfabrik für Werte. Es nicht die
Wissenschaft, die über die Geltung von Werten richtet. Stattdessen akzentuiert er
eine bestimmte Instanz, die über das Monopol verfügt, über die Richtigkeit eines
Werts zu entscheiden: Manifest und verstehbar wird ein Wert durch den Vollzug
einer Handlung, die sich an ihm orientiert, da „[…] alles Handeln, und natürlich
auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine
Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet […]“ (ebd., S. 150). Um das
Handeln zu fassen, stellt Weber folgenden Begriff zur Verfügung:
„`Handeln´ aber (mit Einschluss des gewollten Unterlassens und Duldens) heißt uns
stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder
minder unbemerkt, `gehabten´ oder `gemeinten´ (subjektiven) Sinn spezifiziertes
Sichverhalten zu `Objekten´“ (ebd., S. 429; Herv. i. Orig.).
Der Sinn, der den Vollzug des Handelns bewegt, ist für die Konstitution dieses
Idealtypus bedeutsam. Über die Gültigkeit des Sinns entscheidet der Handelnde.
Die zu treffenden Entscheidungen sind Resultate der Abwägung über den zu
erreichenden Zweck und (auch) Resultate der Abwägung über den Einsatz von
vorhandenen und verfügbaren Mitteln, denn der Preis für beanspruchte Mittel
und gewünschte Zwecke macht Abwägen erforderlich (ebd., S. 149). Die kogni-
94 2 Herrschaft

tive Auseinandersetzung mit einem handlungsweisenden Wert legt Weber aber


in folgender Weise aus:
„Denn im Gegensatz zum bloßen `Gefühlsinhalt´ bezeichnen wir als `Wert´ ja eben
gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-
bewußten positiven und negativen `Urteils´ zu werden, etwas, was `Geltung hei-
schend´ an uns herantritt, und dessen `Geltung´ als `Wert´ `für´ uns demgemäß nun
`von´ uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen `wer-
tend beurteilt´ wird (ebd., S. 123).
Ein Wert konkretisiert sich in der Bedeutung des Wollens oder Nicht-Wollens,
dabei ist es unumgänglich, die Entscheidung darüber, was als wertvoll oder
nicht-wertvoll zu gelten hat, in einer der Handlungsausführung zeitlich vorgela-
gerten Abwägung zu bedenken. Wenn ein Wert zur Orientierung einer hand-
lungsweisenden Sinnsetzung beansprucht wird, so ist es in letzter Instanz der
Handelnde, das ihn zum Gegenstand des Glaubens macht. „Denn – um nur eins
zu erwähnen – hinter der `Handlung´ steht: der Mensch“ (ebd., 516). Insbesonde-
re die Geltung von Werten, für die der Handelnde in einer von naturhaften An-
trieben freien Weise die Stellung unbedingten Sollens reklamiert, gründet die
menschliche Würde (ebd., S. 132, 150).
Weber stellt das menschliche Handlungsvermögen in den Vordergrund, um
einen Beitrag für die Begründung des besonderen Erkenntnisziels der Kulturwis-
senschaft zu leisten, wobei er bestimmen will, inwiefern sie sich von der Natur-
wissenschaft unterscheidet. Hierfür ist das Handeln wesentlich, denn Weber ex-
poniert den Glauben an Werte und die Abwägung von (durchaus ambivalenten)
Mitteln und Zwecken für die Sinnsetzung des Handelns, um ein Erkenntnisziel
festzulegen. Für dieses ist es grundlegend, eine Kulturerscheinung insofern als
eine Einzigartigkeit zu behandeln, als sie vom individuellen Erkenntnisinteresse
des Wissenschaftlers abhängt und somit als eine von vielen Möglichkeiten zu-
stande kommt. Weber distanziert sich mittels des historischen Individuums63 von

63 Weber veranschaulicht am historischen Individuum und am Idealtypus das menschliche Hand-


lungsvermögen. Die von einem Wissenschaftler gestiftete Wertbeziehung wird durch den be-
wusst kalkulierten und epochensensiblen Einsatz von Wertideen ein historisches Individuum.
Bei der Konstruktion des Idealtypus ordnet er an, das Ideal als Analyseinstrument zu verstehen
und es nicht als einen Wert zu begreifen. Er schreibt: „[…] es ist aber eine elementare Pflicht
der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur Verhütung von Erschlei-
chungen, die logisch vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf Idealtypen im logischen
Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus scharf zu scheiden.
Ein `Idealtypus´ in unserem Sinne ist, wie noch einmal wiederholt sein mag, etwas gegenüber
der wertenden Beurteilung völlig indifferentes, er hat mit irgendeiner anderen als einer rein lo-
gischen `Vollkommenheit´ nichts zu tun“ (ebd., S. 200; Herv. im Orig.). Insgesamt zeigt das
von Weber vorgeschlagene Repertoire zur Analyse von Kultur erstens den Vollzug der ledig-
lich vom Menschen auszuführenden Abwägung und Entscheidung und erklärt zweitens For-
schung als Handlungsweise bzw. führt Wissenschaft als Kultur vor: „Der Gedankenapparat,
welchen die Vergangenheit durch denkende Bearbeitung, das heißt aber in Wahrheit: denkende
2.2 Handeln und Verstehen 95

der Naturwissenschaft, die versucht, eine Kulturerscheinung in einem erschöp-


fenden System von Gesetzen und Gattungsbegriffen einzufangen. Weil er in al-
len Kulturerscheinungen vom Handeln ausgeht, legt er für die Wissenschaft, die
diese zum Gegenstand macht, das Verstehen von Sinnhaftigkeiten fest. Er
schreibt:
„Was sich nun als Resultat des bisher Gesagten ergibt, ist, daß eine `objektive´ Be-
handlung der Kulturvorgänge in dem Sinne, daß als idealer Zweck der wissenschaft-
lichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf `Gesetze´ zu gelten hätte, sinnlos
ist. […] `Kultur´ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeu-
tung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltge-
schehens“ (ebd., S. 180; Herv. i. Orig.).
Die für ihn elementare Stellung des Handelns und die Bildung des historischen
Individuums geben zu erkennen, dass er das Verstehen als grundlegend für die
kulturwissenschaftliche Forschung erachtet.
Im Ganzen: Webers auf dem Handeln und vor allem auf dem Handeln der
Untergeordneten beruhenden Idealtypen der Herrschaft und Legitimität kann
man nachgehen, wenn verständlich macht, dass er das Handeln für seine Wissen-
schaft akzentuiert. Hilfreich hierfür ist seine Haltung, die besagt, dass die Wis-
senschaft unmöglich die Instanz sein kann, die für die Geltung von Werten sorgt,
denn: Wissenschaft untergräbt die Unerschütterlichkeit der Geltung von Werten,
anstatt sie zu schöpfen. An ihre Stelle setzt er das Individuum, das sich für gel-
tende Werte entscheiden kann. Weber rechnet also mit keiner speziell qualifizier-
ten Instanz, die für die Schöpfung von Werten zuständig ist, denn wichtig sind
ihm diejenigen, die sich an Werten orientieren. Das Handeln, das stets im Zu-
sammenhang mit der Entscheidung für einen Sinn steht, ist für Weber das Atom
der Geltung eines Werts. Für dessen Geltung ist es unerlässlich, dass er zum Ge-
genstand eines Handelns gemacht wird, und das ist auch der Grund für Webers
ablehnende Haltung gegenüber dem bevormundenden Transfer von Werten in
der Hochschullehre, wodurch die Entscheidung zugunsten einzelner Werte be-
einträchtigt wird.

2.2 Handeln und Verstehen

Die Akzentuierung des Handelns für die Begründung der Kulturwissenschaft


lässt erkennen, dass Weber das Entscheidungsvermögen des Menschen wichtig

Umbildung, der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit und durch Einordnung in diejenigen Be-
griffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Richtung ihres Interesses entsprachen, entwi-
ckelt hat, steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der
Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der
kulturwissenschaftlichen Arbeit“ (ebd., S. 207; Herv. im Orig.).
96 2 Herrschaft

ist, um jene von der Naturwissenschaft abzuheben, da er kulturelle Artefakte


nicht im Hinblick darauf erklären will, gesetzliche Wiederholungen von Verhal-
tensvorgängen zu entdecken. Die kulturelle Bedeutung des Handelns zeigt sich
am Beispiel des Vorgehens des Wissenschaftlers, der durch die Entscheidung für
eine Wertbeziehung einen erkenntnisinteressierten Eingriff in die unendliche
Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit vornimmt. Der folgende kursorische Über-
blick über das Verstehen im Denken Webers und die Typen des Handelns64 er-
folgt hinsichtlich der späteren Herleitung des Phänomens Herrschaft auf der
Grundlage ihres Atoms, nämlich dem Handeln derjenigen, die an der Über- und
Unterordnung beteiligt sind. Die nun anstehende Skizze ist somit eine Voraus-
setzung, um Webers Herrschaft zu rekonstruieren. Das Handeln wird als erstes
weiter ausgeführt, um zeigen zu können, wie Weber mithilfe des sozialen Han-
delns der Menschen eine Verstehensmöglichkeit herstellt.
Grundlegend für das Paradigma des Verstehens ist, dass Artefakte der Kul-
tur stets von dem Handeln des einzelnen Menschen untersucht werden. Staat,
Nation, Aktiengesellschaft oder Familie bestehen für Weber nur insofern, als
sich Menschen bestimmte Bedeutungen über diese in der Art des Seins oder Sol-
lens vergegenwärtigen und zur Orientierung für die Entscheidung über die Sinn-
setzung sowie zur Orientierung für das Geschehen des auszuführenden Handelns
benutzen (vgl. Weber 2002, S. 7; 1951, S. 50 f.). Dass sich Orientierung und
Sinn, die zu den Bestandteilen des Handelns notwendig gehören, als konstitutiv
für das Bestehen der Dinge erweisen, ersucht Weber, bei der Aufgabenbeschrei-
bung der Soziologie zu beachten:
„Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese
Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner
Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem
Handeln sind“ (Weber 2002, S. 6; Herv. im Orig.).
Dinge wie Staat und Nation nehmen die Handelnden zum Anlass für besonderes
Handeln, das es zu untersuchen gilt, wenn jene zum erklärten Gegenstand der
Untersuchung ausgewählt sind. Die Akzentuierung des Handelns ist für Webers
Wissenschaft schließlich deswegen notwendig, weil er leugnet, dass bestimmte
Sinnhaftigkeiten an kulturellen Artefakten fixiert sind. Er schreibt:
„Es liegt in der Eigenart nicht nur der Sprache, sondern auch unseres Denkens, dass
die Begriffe, in denen Handeln erfasst wird, dieses im Gewande eines beharrenden
Seins, eines dinghaften oder Eigenleben führenden `personenhaften´ Gebildes er-
scheinen lassen. […] Begriffe wie `Staat´, `Genossenschaft´, `Feudalismus´ und
ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte
Arten menschlichen Zusammenlebens, und es ist also ihre Aufgabe, sie auf `ver-

64 Welche Beschaffenheit der zeitgenössische Kontext aufweist, in den Webers Vorgaben des
Kategorienaufsatzes (1951) und der Soziologischen Grundbegriffen (2002) gehören, erklärt
Lichtblau (2006).
2.2 Handeln und Verstehen 97

ständliches´ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Ein-
zelnmenschen zu reduzieren“ (Weber 1951, S. 439).
Ist das Tun, Unterlassen oder Dulden eines Menschen so beschaffen, dass sich
von Handeln sprechen lässt, muss ein gesetzter Sinn vorhanden sein. Der kogni-
tive Vorgang im Hinblick auf den zu wählenden Sinn als Bestandteil des Han-
delns kann Umstände, Zwecke, Mittel und Konsequenzen beachten. Wenn das
Objekt, das mit dem Sinn gekoppelt ist und das für die zuvor getroffene Ent-
scheidung kognitiv aufgerufen wird, ein anderer Mensch ist und wenn dessen
Tun, Unterlassen oder Dulden berücksichtigt wird, dann liegt soziales Handeln
vor (vgl. Weber 2002, S. 11). Über den Anderen stellt der Handelnde bestimmte
Erwartungen an, an denen er sich schließlich bei der Entscheidung über den Be-
stimmungsgrund für das eigene Handeln orientiert. Eine Bestandsaufnahme über
soziales Handeln von zwei oder mehr Individuen mit vorgestellten Erwartungen
an den jeweiligen Anderen, die nicht nur der eine sozial Handelnde, sondern alle
Beteiligten hegen, nennt Weber eine soziale Beziehung (ebd., S. 14). Beim sozia-
len Handeln von wechselseitig sich verstehenden Individuen können die zugrun-
de gelegten Sinnhaftigkeiten übereinstimmen oder voneinander abweichen.
Notwendig müssen die Beteiligten einer sozialen Beziehung und sozial Han-
delnde überhaupt die Verhaltensäußerungen anderer lesen können, um infolge
die Erwartungen vorzustellen. Verstehen ist eine Komponente im Ablauf sozia-
len Handelns in und außerhalb einer sozialen Beziehung, denn für den sozial
Handelnden wird der beobachtete Mensch nur durch Bedeutungsträger versteh-
bar. „Der Umstand, daß `äußere´ Zeichen als `Symbole´ dienen, ist eine der kon-
stitutiven Voraussetzungen aller `sozialen Beziehungen´“ (Weber 1951, S. 332).
Damit Handeln vorliegt, ist also die Sinnhaftigkeit bedeutsam ist, indessen
gilt das menschliche Verhalten dann als sinnlos, wenn es durch einen Trieb mo-
bilisiert ist. Weber identifiziert ein unverstehbares Verhalten anhand der Abwe-
senheit von sinnhaften Gründen. Das sinnlose Verhalten ist insofern für den Ide-
altypus des Handelns bedeutsam, als sich erst durch die im Vergleich von beiden
auftretende Diskrepanz die Unberechenbarkeit des Ersteren und Verstehbarkeit
des Letzteren konstatieren lässt. In der Realität des Handelns muss es zudem in
seinem Ablauf nicht isoliert von triebhaften Bestandteilen auftreten. „Verstehba-
re und nicht verstehbare Bestandteile eines Vorgangs sind oft untermischt und
verbunden“ (Weber 2002, S. 2). Die Dichotomie von sinnlosen Verhalten und
Handeln hält Weber für reale Vorgänge nicht aufrecht, sondern entwickelt sie
nur für die soziologische Terminologie. „Mit anderen Worten: individuelles
Handeln ist seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht – prinzi-
piell spezifisch weniger `irrational´ als der individuelle Naturvorgang“ (Weber
1951, S. 67; Herv. im Orig.).
Verständlich können zum einen die beobachtbaren äußeren Bedeutungsträ-
ger des Handelns sein, die seitens des Beobachters einer Handlung sinnlich gele-
98 2 Herrschaft

sen werden können. Zum anderen lässt sich der im Handeln hinterlegte Sinn des
konkret Handelnden verstehen, d.h. der eine Handlung mobilisierende Zweck
und ebenso die eingesetzten Mittel können ihrem Bezug nach verständlich auf
diese zurückgeführt werden. Jene Art nennt Weber aktuelles Verstehen, während
diese Art erklärendes Verstehen unternimmt (vgl. Weber 2002, S. 3 f.). Für das
wissenschaftliche Verstehen kommt es darauf an, den aus einer Wertbeziehung
hervorgegangenen Gegenstand dahingehend zu erklären, dass eine Zurechnung
der als wissenswert ausgewiesenen Komponenten zu den antreibenden Sinnzu-
sammenhängen aufgedeckt werden kann (ebd., 4). Wenn es Ziel einer Untersu-
chung ist, einen sozialen Gegenstand dahingehend zu erforschen, dass sich die
Kulturbedeutung erschließen lässt, dann ist es erforderlich, das mit dem Gegen-
stand verbundene soziale Handeln in der Weise zu behandeln, mit der sich das
Motiv oder die Motivkette rekonstruieren lässt. Weber dazu:
„Jedes Artefakt, z.B. eine `Maschine´, ist lediglich aus dem Sinn deutbar und ver-
ständlich, den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Ziel-
richtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen
wollte); ohne Zurückgreifen auf ihn bleibt sie gänzlich unverständlich. Das Ver-
ständliche daran ist also die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder
als `Mittel´ oder als `Zweck´, der dem oder den Handelnden vorschwebte, und wo-
ran ihr Handeln orientiert wurde. Nur in diesen Kategorien findet ein Verstehen sol-
cher Objekte statt“ (ebd., S. 3).
Wichtig ist, dass die (Kultur-)Bedeutung eines Gegenstands nicht abseits der auf
ihn bezogenen Vorgänge sozialen Handelns verständlich vorhanden ist. Die
Menschen sind also insoweit Informanten für die Bedeutung der sozialen Gegen-
stände und für das Verständnis von Kultur, als diese in der handlungsweisenden
Orientierung und der Entscheidung für den subjektiven Sinn reflektierte Berück-
sichtigung finden. Als Beteiligter im Bedeutungsverkehr kann der Mensch be-
stimmte Bedeutung in der Handhabung von leblosen Gegenständen, im Gerich-
tet-Sein auf einen anderen Menschen oder im Tausch mit anderen Menschen
hervorbringen, einsetzen und lesen. Wenn es also gilt, den beobachteten Bedeu-
tungsverkehr zu verstehen, dann kann der an ihm beteiligte Mensch darüber in-
formieren.
Weber bemerkt, dass sich wirklichen Verkehr der Menschen ein besonderer
Typus des Handelns nicht im Zustand der völligen Isolation von den Komponen-
ten der anderen Typen auffinden lässt (vgl. Weber 1951, S 435). Ein Handeln
kann sich unterschiedlichen Motiven verdanken. Dabei kann sich der Handelnde
die Motive bewusst vergegenwärtigen und sich trotzdem von unbewussten Au-
tomatismen bewegen lassen. Weil das Handeln des Menschen seinem Hergang
nach einen in sich verschiedenartigen Antrieb aufweist, der zum einen bewusste
und zum anderen für den Handelnden verborgene Beweggründe enthält, folgert
2.2 Handeln und Verstehen 99

Weber, dass ein idealtypischer Anker erforderlich ist, von dem aus das mensch-
liche Geschehen verstehbar gemacht werden kann:
„Idealtypisch sind aber die konstruktiven Begriffe der Soziologie nicht nur äußer-
lich, sondern auch innerlich. Das reale Handeln verläuft in der großen Menge seiner
Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines `gemeinten Sinns´.
Der Handelnde `fühlt´ ihn mehr unbestimmt, als dass er ihn wüsste oder sich `klar
machte´, handelt in der Mehrzahl seiner Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. […]
wirklich effektiv, d.h. voll bewusst und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität
stets nur ein Grenzfall“ (Weber 2002, S. 10; Herv. im Orig.).
Weber konstruiert Typen des Handelns, ohne den Anspruch zu erheben, sie im
wirklichen Verkehr im Reinzustand vorzufinden. Die begriffliche Differenzie-
rung in Typen des Handelns schafft er zunächst für das erklärende Verstehen, bei
dem das zweckrationale Handeln einen zentralen Dienst erweist. Im realen Ge-
schehen können heterogene Orientierungen und Antriebe bestehen, die ein sozia-
les Handeln neben-, durch- oder übereinander mobilisieren. Die unterschiedli-
chen Beweggründe werden weniger danach sortiert, dass sich ein gemeinsamer
Nenner ablesen lässt, sondern sie sollen sich als Rest ergeben, der sich erst durch
die Distanz vom dem Konstrukt des wohlkalkulierten und an Zweckrationalität
orientierten Handelns erkennen lässt. Mit diesem Idealtypus erfolgt die Differen-
zierung der besonderen Typen des sozialen Handelns. Im Hergang eines Han-
delns lassen sich irrationale Komponenten anhand von Abweichungen vom ide-
altypischen Handeln feststellen. Bei einem Vergleich mit dem Handeln, das
Zwecke, Mittel und Folgen antizipiert und kalkuliert und zudem Erfahrungen
berücksichtigt, bleibt deren Abzug vom konkreten Hergang des Handelns der
irrationale Rest übrig. Das an Idealtypen orientierte Verstehen ermöglicht zu
zeigen, „[…] wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde,
wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es
ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre“ (Weber
2002, S. 4; Herv. im Orig.). Weber nutzt den zweckrationalen Typus als Folie
für den Vergleich, aus dem sich unterschiedliche Schattierungen von Orientie-
rungen und Kräften menschlichen Sichverhaltens schöpfen lassen (vgl. Weber
1951, S. 428 ff.; 2002, S. 3). Das zweckrationale Handeln zeichnet sich durch
ein Maximum an planvoller und vergleichender Kalkulation aus (ebd., S. 12 f.):
Das Individuum entscheidet über die verfügbaren Mittel, die zum Einsatz kom-
men, antizipiert Nebenfolgen, rechnet mit den Widerständen und zu veranschla-
genden Kosten und orientiert sich pro- oder retrospektiv an dem Handeln ande-
rer. Wenn Mittel, Nebenfolgen, Widerstände, Kosten und Fremdhandeln so kal-
kuliert sind, dass sich die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks erwarten
lässt, legt sich das handelnde Individuum auf diesen fest. Im Fall des zweckrati-
onalen Handelns ist, sofern keine Transformation der kalkulierten Nebenfolgen,
Mittel, Kosten, Widerstände und des Verständnisses vom Gegenüber erfolgt,
100 2 Herrschaft

Ambivalenz im Anschluss an die Entscheidung ausgeschlossen, weil der Zweck


eindeutig unter Berücksichtigung der zuvor genannten Komponenten festgelegt
ist. Die idealtypische Inanspruchnahme des zweckrationalen Handelus erweist
sich methodisch zweckmäßig, insofern die Kalkulation der Komponenten seitens
des Beobachtenden eines Handlungsablaufs nacherIebbar und rekoustruierbar ist,
dh. vorwiegend die unter strengem Ausschluss von Affekten und prävalenten
Werten abwägende und vergleichende Sorge der Komponenten seitens des Han-
delnden bietet maximales Verstehen (ebd., S. 2; 1951, S. 428). Soweit der Ver-
gleich mit dem Idealtypus erkennbare Differenz hervorbringt, können die hete-
rogenen Orientierungen und Antriebe eines beobachteten Handlungsablaufs von
den zweckrationalen Beweggrönden gefiltert werden. Eine andere Rationalität
liegt bei dem Handeln vor, das sich in erster Linie an einem Wert orientiert. Ist
das der Fall, so wird lediglich die Wahl der Mittel kalkuliert durchgefiihrt, ohne
Sorge um die Konsequenzen zu tragen. Es liegt Wertrationalität vor (vgl. Weber
2002, S. 12 f.). Für diese ist der über mögliche Nebeufolgen dominierende Wert
bedeutsam, der insofern das Handeln rechtfertigt, als dass ausschließlich er be-
folgt wird. Weitaus weniger Rationalität identifiziert Weber in dem durch Affekt
oder Tradition mobilisierten Handeln, fiir die er auch die Zuordnung abseits j e-
der Sinnhaftigkeit vorsieht. Sobald ein kurzfristiges GefijhJserleben ein Sichver-
halten auslöst, das keine oder kaum Berechenbarkeit zulässt, liegt affektuelle
Orientierung vor, während der änderungsresistenten Behaglichkeit die Traditi-
on"' willkommen ist, die unter homogenen Umständen eingeübtes Verhalten

65 Soziales Handeln ereignet sich, Weber zufolge, größtenteils in eingelebter, der Gewöhnung
folgender Weise. In der Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
(1947) nennt Weber zwei Hindernisse, gegen die sich die Entwicklung des modemen Kapita-
lismus richten musste. Das erste Hindernis erkennt Weber in der Beharrlichkeit der traditionel-
len Arbeit in der Produktion (ebd., S. 44 f.). Traditionalismus liegt dann vor, wenn die Weige-
rung besteht, geübtes und gewohntes Sichverhalten aufzugeben und sich statt dessen weitaus
erleichternde Arbeitsformen unter Aufbringung von kognitiven Zwischenanstrengungen
anzueignen. Insbesondere der technischen Entwicklung steht das traditionelle Sichverhalten im
Weg, auf die jede Steigerung der Gewinnchancen angewiesen ist (vgl. Weber 2002, S. 32 f.).
Der moderne Kapitalismus ist, so Weber, U.8. ein Resultat von heterogenen Rationalisierungen
und darf nicht bloß als Oewinnmaximienmg identifiziert werden, die unter allen Umständen
betrieben wird (ebd., S. 4). Um eine solche Gewinnmaximierung handelt es sich beim zweiten
Hindernis, wenn das wirtschaftlich orientierte Handeln rücksichtslos und mitunter gewalttätig
verläuft. Es ist in diesem Fall die Unberechenbarkeit im wirtschaftlichen Tauschverkehr, von
der die notwendige Kalkulation des modernen Kapitalismus untergraben wird. ..Seine Rati-
onalität ist heute wesentlich bedingt durch Berechenbarkeit [ ... ]" (ebd., S. 10; Hcrv. i. Orig.).
Die Überwindung von Disziplinlosigkeit und Verstetigung zeichnet die moderne kapitalis-
tische Wirtschaft aus: "Und ebenso ist es natürlich eine der fundamentalen Eigenschaften der
kapitalistischen Privatwirtschaft. daß sie auf der Basis streng rechnerischen Kalküls rationa-
lisiert, planvoll und nüchtern auf den erstrebten wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet ist, im 00-
gensatz zu dem von der Hand im Mund Leben des Bauern, dem priviligierten Schlendrian des
alten Zunfthandwerkers und dem 'Abendteuerkapitalismus· [... ]" (Weber 1947, S. 61; Herv. i.
2.3 Der Nutzen der Herrschaftslehre 101

bereithält (ebd., S. 12). Die auf Affekt oder Tradition gegründeten Typen werden
also genau dann nicht als rationales Handeln verbucht, wenn sich die Vergegen-
wärtigung der oben genannten Komponenten nicht ereignet. Hingegen enthält
das wertrationale Handeln nur hinsichtlich der Wabl der Mittel die zweckrationa-
le Vergegenwärtigung, da die Geltung des Werts nicht zur Disposition steht,
während das zweckrationale Handeln zusätzlich die Abwägung der sinnhaften
Beweggründe zulässt.

2.3 Der Nutzen der Herrschafts/ehre

Das Besondere an Webers Idealtypen der Herrschaft und Legitimität kann man
erst ausmachen, wenn man zum einen seine Ablehnung gegenüber einer auf
Wertebegründung zielenden Auseinandersetzung mit Phänomenen der Kultur
und zum anderen das von ilnn akzentnierte Handeln berücksichtigt. Weil in den
anstehenden und daran folgenden Arbeitsschritten eine weitere Richtlinie We-
bers weiter sichtbar werden soll, an der er für Herrschaft im Speziellen und für
Phänomene der Kultur überhaupt festhält, war vor allem die bisherige Skizze des
Handelns erforderlich, mit der er sich im Hinblick darauf, die von ilnn vertretene
Wissenschaft zu begründen, um den Nachweis bemüht, dass Dinge nicht an sich
bestehen und nicht aus sich selbst wirken. Weber interessiert sich also nicht da-
rum, warum Herrschaft sein soll. Stattdessen fragt er sich, warum Herrschaft im
Denken der Handelnden als rechtmäßig erscheint. Vor allem ihr Handeln nimmt
in seiner Herrschaftslehre eine prominente Stellung ein, da er sie nicht bloß als
passive Akteure und ihre Beteiligung an Herrschaft nicht als sinnfreies Parieren
begreift. Ohne ihren Beitrag, der sich als affirmative Orientierung am Willen
eines anderen offenbart und Zustimmung für diesen bekundeten Fremdwillen
offenbart, lässt sich für ihn nur ein unvollständiger Idealtypus der Herrschaft
konstruieren. Weber dazu:
,,Ebenso wie 'Herrschaft' nicht bedeutet: dass eine stärkere Naturkraft sich irgend-
wie Bahn bricht, sondern: ein sinnhaftes Bezogensein des Handelns der einen ('Be-
fehl') auf das der anderen ('Gehorsam') uod entsprechend umgekehrt, derart, dass
im Durchschnitt auf das Eintreffen der Erwartungen, an welchen das Handeln bei-
derseits orientiert ist, gezählt werden darf' (Weber 1951, S. 456; Herv. im Orig.).
Das bisherige Vorgehen beruht also auf der Absicht, die Rekonstruktion der Ide-
altypen der Herrschaft und Legitimität so vorzubereiten, dass sich die Kultur der
Herrschaft anhand des für die Erfüllung eines Herrschaftsanspruchs bestimmt

Orig.). Als besonders hilfreich gegen Disziplinlosigkeit und Verstetigung stellt sich die
Orientierung an der Geltung eines bestimmten Eigenwerts der Arbeit im Sinne der Pflicht zur
Produktionstätigkeit heraus. Bedeutsam für diese Pflichvorstellung sind, so Weber, Effizienz
und besonnene KDtroll. der Affekte (ebd., S. 47).
102 2 Herrschaft

gearteten und bedeutsamen Ablaufs des sozialen Handelns hervortritt. Die


Schritte in diesem Teilkapitel sollen die Herrschaftslehre im Denken Webers
einordnen. Hierfür werden nun einige Einschätzungen genutzt, die sie im Ver-
hältnis zu anderen Anliegen und vor allem hinsichtlich der für Weber zentralen
Fragestellung betrachten. Die Herrschaftslehre ist überwiegend fragmentarisch
überliefert, denn Weber hat zu Lebzeiten den umfangreichsten Teil der Texte um
den Komplex Herrschaft nicht publiziert. Da der postum veröffentlichte Nach-
lass66 von ihm nicht autorisiert war, soll zunächst der Stellung der Herrschafts-
lehre nachgegangen werden, die sie in seinem Werk einnimmt.
Die Annäherung an die Herrschaft beruht auf Webers Untersuchung der
Strukturprinzipien der einzelnen Herrschaftstypen unter Berücksichtigung der
Beziehungen zur Wirtschaft, stützt sich aber nur selektiv darauf. Von der Rekon-
struktion sind die Ergebnisse seines Vergleichs ausgenommen, den er mit der
bürokratischen Herrschaft als der idealtypischen Folie für die übrigen Herr-
schaftstypen hinsichtlich hemmender und fördernder Bedingungen des Kapita-
lismus unternimmt. Ferner werden die reinen Legitimitätsgründe der drei Herr-
schaftstypen mit der ihnen eigentümlichen Struktur von Herrschaftsanspruch und
Verwaltung nicht einzeln aufgelistet, sondern nur punktuell berücksichtigt.
Die Beschäftigung mit Herrschaft nennt Stefan Breuer ein „Stiefkind“ We-
bers, das diesem als einer von verschiedenen Gesichtspunkten der Untersuchung
von Kausalzusammenhängen für den Geist des Kapitalismus und die rationale
Kultur des Okzidents67 dient (vgl. Breuer 1991, S. 31; vgl. auch Schluchter 1985,
S. 73). Breuer bildet die Probleme, mit denen sich Weber während der Schaf-
fenszeit der Herrschaftslehre beschäftigt, unter Berücksichtigung der methodolo-
gischen Vorgaben nach und erkennt die im Forschungsinteresse zunächst neben-
sächliche Verortung der Herrschaft. Im letzten Jahrzehnt der Schaffenszeit war,
Breuers Rekonstruktion zufolge, die Untersuchung der Bedingungen dominie-
rend, die Weber für die Entwicklung des modernen Kapitalismus als einer genu-
inen Erscheinung des Okzidents erachtet. Zu dem Schluss über die nebensächli-
che Beschäftigung mit Herrschaft kommt Breuer, indem er auf das Interesse
Webers für die okzidentalen Vorstellungen über Religion und Ethik hinweist,
denen sich dieser anhand der ihnen betreffenden Wirkungen von anderen Kul-
turkomponenten, wie u.a. die Herrschaftsstruktur, annähern will und dies (in den

66 Edith Hanke dazu: „Die Herrschaftssoziologie der älteren Fassung ist kein fertiger in sich
abgeschlossener Text Max Webers, sondern ein nachgelassenes Konvolut von Texten, die of-
fensichtlich verschiedenen Bearbeitungsstufen entstammen und abschließend nicht mehr in ei-
nen homogenen Zusammenhang gebracht worden sind“ (Hanke 2001, S. 31; vgl. auch Stall-
berg 1975, S. 10).
67 Für Richard Münch ist für Webers Anliegen nicht nur der moderne Kapitalismus als Resultat
von Rationalisierung zentral, sondern der dem Okzident eigentümliche Rationalismus, der
Transformationen von Staat, Recht, Bürokratie, Wissenschaft, Kunst und Musik mobilisiert
(vgl. Münch 1978, S. 225).
Der Nutzen der Herrschaftslehre 103

religionssoziologischen Regionalstudien) primär im Hinblick auf die Ableitung


des modernen Kapitalismus leistet (vgl. Breuer 1991, S. 19). Mit den Beziehun-
gen zwischen den Weltreligionen und insbesondere den für sie identitätskonstitu-
tiven Inhalten im Bereich der Ethik einerseits und der Wirtschaft andererseits
beschäftigt sich Weber in der Religionssoziologie, in der, so Breuer, ebenfalls
die Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Weltreligionen und Herrschaft
angelegt ist. Indes enthält der in Wirtschaft und Gesellschaft publizierte Nachlass
auch eine Untersuchung der Beziehung zwischen Herrschaftstypen und Wirt-
schaft. Sein Vorgehen richtet er stets im Hinblick auf die Entstehung des bürger-
lichen Betriebskapitalismus aus (vgl. Weber 1947, S. 10 f.). Breuer schließt nun
aufgrund der Integration der Herrschaftstypen, die Weber in der Einleitung für
die Religionssoziologie vornimmt (ebd., S. 267 ff.), darauf, dass neben dem
Wirkungsverhältnis mit der Wirtschaft auch die Beziehung zwischen religiöser
Ethik und Herrschaftsstruktur an prominenter Stelle im Forschungsprogramm
Webers steht.
In einer früheren Interpretation kommt auch Reinhard Bendix auf die im
Schaffen Webers anfangs untergeordnete Position des Themas Herrschaft, kon-
statiert aber für das spätere Wirken eine Nähe zwischen der Religionssoziologie
und der Herrschaftslehre (vgl. Bendix 1964, S. 218). Neben dem Einfluss religi-
öser Maximen auf die Motivation des Handelns rechnet Bendix auch die Herr-
schaft zu den wichtigen Themen im Werk Webers. Mehr noch gibt er an, Anzei-
chen für die Absicht Webers identifizieren zu können, die nahe legen, dass die
beiden Themen zu einem späteren Zeitpunkt miteinander verschränkt werden
sollten.68 Wichtiger als diese Vermutung ist allerdings Bendix Hinweis auf eine
der Kernfragen Webers, die für die Studien zu den Weltreligionen wie für die
Herrschaftslehre richtungweisend ist: Was veranlasst die Menschen, sich Ver-
pflichtungen unterzuordnen? Bendix leitet diese Kernfrage zum einen von dem
religionssoziologischen Gesichtspunkt des Einflusses religiöser Ideen auf das
Wirtschaftshandeln ab. Weber untersucht nämlich, vor allem im Protestantis-
musaufsatz, das menschliche Potential für eine praktisch-rationale Lebensfüh-
rung im Hinblick auf seine Wirkung für den auf Kalkulation der Arbeit angewie-
senen Kapitalismus. Im Speziellen konzentriert diese durch eine besondere, pie-
tätsorientierte Religionserziehung evozierte Art der Lebensführung das Vermö-
gen die berufliche Leistung als Selbstzweck zu erachten, sich, mit anderen Wor-
ten, für die Verpflichtung gegenüber der Berufsaufgabe und -tätigkeit zu ent-
scheiden (vgl. Weber 1947, S. 47). Zum anderen erkennt Bendix die Präsenz der
Kernfrage u.a. in der Genese der Herrschaftstypen, denn mitunter informiert die

68 Die Entwicklung der Herrschaftslehre aus der religionssoziologischen Beanspruchung des


Charismas nimmt Hanke an. Für die charismatische Herrschaft ist der Legitimitätsglaube über-
lebenswichtig und die Verbindung von Legitimität und Herrschaft nimmt Weber für jene Herr-
schaftsform in intensiver Weise vor, die auf eine Querverbindung schließen lässt (vgl. Hanke
2001, S. 32).
104 2 Herrschaft

Wertorientierung der in einer Gehorsamsbeziehung handelnden Menschen über


die ethische Ordnung der Herrschaft (vgl. Bendix 1964, S. 219). Mit der Kern-
frage sollen also die bewussten Motive des Handelns untersucht werden, die sich
der Mensch vergegenwärtigt und das Handeln ihretwillen und ihrer Richtigkeit
willen orientiert. Demnach lässt sich die Nähe zwischen der Betrachtung der
religiösen Berufsethik und der Herrschaftslehre an der Wertorientierung identifi-
zieren. Wertorientiert ist der Gehorsam der Menschen, wenn überzeugte und
maximengerechte Pflicht gegenüber einem Herrschaftsanspruch wie einer Wei-
sung als der Beitrag der Beherrschten für die Konstitution einer sozialen Herr-
schaftsbeziehung verstanden wird.
Die von Breuer und Bendix aufgedeckte Verbindung zwischen Herrschafts-
lehre und Religionssoziologie ist jedoch im Hinblick auf das eigene Vorhaben
weniger bedeutsam als die von jenem mit der Aufwertung der Überlegungen zur
Herrschaft herausgestellte Kernfrage. Die Kulturbedeutung der einzelnen Herr-
schaftstypen und das Wirkungsverhältnis zwischen ihnen und der Wirtschaft im
Hinblick auf die Entwicklung des modernen Kapitalismus ist hierfür nämlich
belanglos, denn vielmehr geht es um die Beziehung zwischen Über- und Unter-
geordneten. Konkret heißt das: Zum einen sollen die Anstrengungen der Ersteren
beachtet werden, durch Anspruch und Pflege nachhaltige Sorge um die stabile
Geltung der Herrschaftsordnung zu tragen und zum anderen richtet sich das Inte-
resse auf die subjektiven Motive der inneren Anerkennung für eine verpflichten-
de Vorgabe zum Handeln seitens der Untergeordneten.
Neben der Aufwertung der Herrschaftslehre durch Bendix bietet ebenfalls
die Rezeption von Edith Hankes unternommener Kennzeichnung, für die Webers
Begriff der Herrschaft einen „Geniestreich“ darstellt (vgl. Hanke 2001, S. 27),
einen fruchtbaren Anhaltspunkt für die Verortung der Herrschaftslehre in dessen
Schaffen. Die Integration der Herrschaftslehre in die Untersuchung des okziden-
talen Rationalismus ist auch für Hanke gegeben, sie leitet ihre Würdigung aber
vom Nutzen des Begriffs her, mithilfe dessen sich die besondere Betrachtung des
Staats vornehmen lässt. Dass sich ausdrücklich ein Begriff der Herrschaft für die
Annäherung an den Staat eignet, steht, so Hanke, aufgrund Webers Rekurs auf
die Überlegungen Georg Jellineks zur Herrschaft fest. Für diesen lässt sich Ge-
horsam gegenüber einer Befehlsgewalt in allen Fällen abschlagen, allerdings ist
der Gehorsam einer staatlichen Weisung notfalls erzwingbar (vgl. Jellinek 1914,
S. 429). Die Eignung der Herrschaftslehre liegt also darin begründet, dem Staat
auf der Grundlage des Handelns nachgehen zu können. Der vom Handeln ausge-
hende Idealtypus der Herrschaft möglich, den Staat als soziale Beziehung 69 be-

69 Hankes programmatische Bemerkung hierzu lautet: „Erst der politische Verband, der auf ein-
verstädnismäßig wirksamen Ordnungen und Handlungsmechanismen beruht, vor allem aber
der moderne Staat mit seiner rational gesatzten Ordnung und dem von ihm geschaffenen
Zwangsapparat, erscheinen als der adäquate Boden für ausgefeilte Studien zur Herrschaft“
(Hanke 2001, S. 24).
Der Nutzen der Herrschaftslehre 105

sonderer Art zu verstehen. Will man hingegen den Staat auf der Grundlage eines
nur ihm eigentümlichem Zwecks begreifen, so resultiert dies nicht isoliert von
normativen Schlüssen und insofern der Beweis des Geltung eines Werts im me-
thodologischen Programm Webers ausgeschlossen ist, ergibt sich der Nutzen der
auf das Handeln abgestimmten Herrschaftslehre durch den von letzten Zwecken
gereinigten Zugang zur Wirklichkeit des Staates.
Darüber hinaus sieht Hanke den Nutzen der Herrschaftslehre in ihrem Po-
tential gegeben, politische Verbände jeglicher Provenienz erfassen zu können
(vgl. Hanke 2001, S. 28). Zu Lebzeiten Webers waren die gehandelten Begriffe
des Staates zu eng, d.h. sie versetzen die Forschung nicht in die Lage, vormoder-
ne oder außereuropäische Verbände zu untersuchen. Hanke erkennt das besonde-
re Verdienst Webers im Entwurf eines vom Handeln ausgehenden Begriffs der
Herrschaft, der sich für mehr als nur die Analyse des Staates moderner Proveni-
enz eignet. Seine Leistung ist es, mit der Herrschaftslehre idealtypische Kon-
strukte vorzulegen, die einen universalhistorischen Strukturvergleich durchführ-
bar machen. Weber selbst bekundet folgende Einsatzmöglichkeit der Struktur-
prinzipien der drei Herrschaftstypen: „Ihr Nutzen ist: dass jeweils gesagt werden
kann: was an einem Verband die ein oder andere Bezeichnung verdient oder ihr
nahe steht, ein immerhin zuweilen erheblicher Gewinn“ (Weber 2002, S. 154).
Berücksichtigt man die methodologische Konzeption des Idealtypus, so wird
erkennbar, dass es Weber mit der idealtypisch entworfenen Herrschaftslehre
nicht darum geht, ein Abbild für die Wirklichkeit politischer Verbände zur Ver-
fügung zu stellen, sondern ein Vergleichsraster zu konstruieren, dass für die Un-
tersuchung eines Staates hilft.
Einen weiteren an die mit Bendix formulierte Kernfrage anschließbaren
Anhaltspunkt für den Nutzen der Herrschaftslehre liefert Hartmann Tyrell. Der
Vorteil liegt in dem vom Handeln ausgehendem Begriff der Herrschaft, der für
die Beantwortung der „Kardinalfrage“ hilft, die in dessen Überlegungen zu Herr-
schaft präsent ist und die auf die Ermittlung der Bedingungen für den dauerhaf-
ten Bestand einer auf Befehl und Gehorsam abgestellten sozialen Beziehung zielt
(vgl. Tyrell 1980, S. 67). Webers Anliegen ist es, möglichst wertfrei ein idealty-
pisches Konstrukt anzugeben, das, so stellt Tyrell heraus, das Problem löst, mit
dem ein auf die Steuerung anderer Menschen gerichtetes Handeln umgehen
muss: Wie lässt sich die Stabilität der Befolgung von Befehlen erzielen, wenn
diese in die Handlungsautonomie anderer eingreifen und wenn dauerhafter Be-
stand von Herrschaft bedeutet, dass Gehorsam zeitlich unabhängig und inhaltlich
indifferent anfällt? Stabil ist im Anschluss an diese Fragestellung eine Herr-
schaft, wenn das Motiv für das gehorsame Handeln weder mit jedem Befehlsaus-
spruch erneuert, noch der konkrete Inhalt des Befehls in jedem Fall begründet
werden muss. Wenn ferner Stabilität von Herrschaft ausgelotet werden muss, so
ist, bemerkt Tyrell, vor allem die Sinnvorgabe für fremdes Handeln problema-
tisch, denn dieses konstituiert im Fall bestehender Zuverlässlichkeit den dauer-
106 2 Herrschaft

haften Bestand einer Beziehung von Befehl und Gehorsam. Er zeigt, dass sich
Webers Begriff der Herrschaft eigens deswegen als nützlich erweist, weil er dem
Handeln der Untergeordneten Rechnung trägt. Indem Weber vom sozialen Han-
deln ausgehend einen Begriff der Herrschaft vorlegt, der die Beteiligung jener
als handlungskompetenten Gehorsam herausstellt, aber auch explizit die Instru-
mentalisierung dieses als sinnvoll erachteten Gehorsams als eine Stütze der Sta-
bilität erklärt, macht er im Grunde deutlich, dass zunächst ein Handeln nicht nur
von den fassbar Handelnden entschieden wird. Tyrell schreibt:
„[…] dass ein eigenes, selbst vollzogenes Handeln nicht nur dem handelnden Indi-
viduum selbst, sondern auch (und vor allem) einem Anderen (etwa als von ihm zu
verantwortend) zugerechnet werden kann, ist eine außerordentlich abstrakte und
vermutlich evolutionär späte Vorstellung; der Kern dieser Vorstellung aber ist, wie
gesagt, die Kategorie von Befehl und Gehorsam, die den Befehl als explizit gemach-
te und explizit gemeinte Verursachung eines bestimmten fremden Handelns und die-
ses seinerseits von seiner Intention her als darauf spezifisch bezogenen `Gehorsam´
und damit als Wirkung des Befehls fasst“ (ebd., S. 76; Herv. im Orig.).
Erst die Berücksichtigung der Untergeordneten und insbesondere ihrer Sinnge-
bung bei der Befolgung eines Befehls erlaubt Weber, die Kategorie Legitimität
zu bestimmen, die soziale Herrschaftsbeziehung durch die beiderseitige Sinnhaf-
tigkeit vollendet zu fassen und zusätzlich eine Option der Stabilitätskonstitution
vorzulegen.
Angesichts der gefilterten Beiträge aus der Weber-Interpretation lassen sich
resümierend folgende Antworten auf die Fragen nach dem Nutzen der Herr-
schaftslehre notieren: Die Schaffung der Herrschaftslehre erfolgt als untergeord-
nete Parallelarbeit. Sie ist eingebettet in das übergeordnete Forschungsinteresse,
das der sonderbaren Entwicklung des abendländischen Wirtschaftens nachgeht.
Weber integriert die Aufbereitung des Gegenstands Herrschaft als einen bedeu-
tenden außerökonomischen Umstand in sein Kernthema: die Entwicklung des
modernen Kapitalismus. „[…] alle anderen Forschungsinteressen“, schreibt
Breuer“, die darüber hinauswiesen, wurden von diesem Thema erdrückt“ (Breuer
1991, S. 31).
Vor dem Hintergrund der Kernfrage, an der Weber die religionssoziologi-
schen Studien und die Herrschaftslehre orientiert, soll die Entscheidung für ein
Handeln aufgrund der Vorbildlichkeit des Anlasses untersucht werden. In den
Studien zur religiösen Ethik stellt er sich die Frage, um den entschiedenen Ein-
satz zur Aufrechterhaltung der im Protestantismus aufgewerteten Berufsidentität
und ihrer verpflichtenden Komponenten zu betrachten. Die Überschneidung mit
der Herrschaftslehre ist gegeben, insoweit Weber mit ihrer Anfertigung seinem
Interesse nach der bewusst-verpflichteten Orientierung der Menschen an Gebo-
ten folgt, wie sie in der Herrschaftsbeziehung seitens der Untergeordneten vor-
liegen kann.
2.3 Der Nutzen der Herrschaftslehre 107

Weber lehnt es ab, den Staat auf der Grundlage eines nur ihm eigentümli-
chen Zwecks zu erfassen, da sich über einen solchen kein universeller Konsens
finden lässt Er schreibt: ,,Es ist nicht möglich, einen politischen Verband - auch
nicht: den 'Staat' - durch Angeben eines Zweckes seines Verbandshandelns zu
definieren" (Weber 2002, S. 30). Statt also einen Vorschlag für einen überein-
stimmenden Zweck als Wesensmerkmal des Staates zu bieten, belässt er es bei
dern Hinweis auf den nur ihm eigentümlichen Mittel: der legitimen Gewaltsam-
keit (ebd., S. 29). Die Herrschaftslehre befriedigt das wissenschaftliche Anlie-
gen, den Staat als Forschungsgegenstand nicht an der Menge der unterschiedli-
chen Zwecke zu differenzieren, sondern die Komponenten eines Herrschaftsver-
bandes zu filtern, die sich in der Beziehung zwischen Übergeordneten und Ver-
waltung und zwischen diesen und den Untergeordneten einer idealtypischen
Herrschaftsform zuordnen lassen.
Da sie im Besonderen das Handeln innerhalb einer Herrschaftsbeziehung
berücksichtigt, erklärt die Herrschaftslehre, wie sich die für Herrschaft grundle-
gende Bedingung erfiillt: die zuverlässige und kontinnierliche Umsetzung eines
fremden Sinns im eigenen Handeln. Vor allem der ermöglichte Zugang zum Ab-
lauf des HerrschaftshandeIns, der durch die Integration des entschiedenen Han-
delns der Untergeordneten gegeben ist und mitunter die Kategorie Legitimität
begründet, zeichnet den besonderen Nutzen der Vorgaben Webers zur Herrschaft
aus. Sein Ansatz rechnet also mit der inneren Stütze einer auf Befehl und Gehor-
sam gegründeten Beziehung. Er vermeidet es zu erklären, warum der Hergang
des Handelns in dieser Beziehung auf der Geltung eines bestimmten Werts zu
beruhen hat Stattdessen tritt er an, Herrschaft von ihrem Atom aus zu verstehen.
Die Originalität der Herrschaftslehre besteht darin, einen Ansatz vorzule-
gen, der es nicht leistet, eine Begründung für das Geltensollen der Herrschaft zu
liefern, sondern ihre jeweilige Kultur erschließt. Erst die Rekonstruktion der
Hindemisse für die Wissenschaft, die nicht über die Kompetenz verfügt, die Gel-
tung von Werten und, im Hinblick auf eine Fügsamkeitsbeziehung, des Werts
von Herrschaft zu beweisen, lässt zu, die Beachtung der primären Stellung der
handelnden Unter- und Übergeordneten zu rechtfertigen und die Sinnhaftigkeit
von insbesondere der Fügsamkeit zu verstehen. Mit anderen Worten: Wenn es
die erklärte Absicht ist, nicht über die normative Bedeutung von Herrschaft und
Legitimität zu räsonieren, sondern die empirische Wirklichkeit zu erschließen,
dann ist es das Handeln der Menschen, die über die Bestimmungsgründe des
Gehorsams einerseits und das appellierte Motiv der Fügsamkeit andererseits in-
formieren. Damit also eine Herrschaftsbeziehung vorliegt, muss der Ablauf des
Handelns durch die besondere Zuverlässigkeit der Untergeordneten bestimmt
sein, die in einer Machtbeziehung nicht zuletzt aufgrund der Diskontinnität ihres
Ablaufs fehlt Weil sich Herrschaft durch das Handeln auf Seiten der Unterge-
ordneten konstituiert und sich dann von Macht unterscheidet, diese aber in der
108 2 Herrschaft

Realisierung eines Befehls notwendig vorhanden ist, soll die Annäherung an


Herrschaft und Legitimität mit einigen Überlegungen zur Macht beginnen.

2.4 Exkurs: Macht (Heinrich Popitz)

Für Kant steht Folgendes fest: In einem Zustand, in dem noch nicht einmal Ge-
wissheit darüber herrscht, dass andere den eigenen Besitz respektieren, weil die-
se ihrerseits nicht darauf zählen können, dass man selbst ihren Besitz respektiert,
da braucht man sich nicht wundern, wenn man arglos ist und Schaden erleidet,
der den eigenen Besitz betrifft (vgl. Kant 1968a, S. 425). Wo es keine öffentliche
Macht gibt und es neben der bekundeten Verpflichtung, sich seinen Besitz ei-
nander nicht streitig zu machen, da ist die Erwartungssicherheit im Hinblick da-
rauf labil, dass Bemächtigungsversuche am eigenen Besitz von Seiten eines an-
deren unterlassen werden. Kant zeigt sich über die Möglichkeit des Bemächti-
gungsversuchs sicher, weil es eine allgemeine Erfahrung ist, dass sich der
Mensch vorzugsweise machthabend erlebt. In diesem Zusammenhang spricht er
von der „Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen“
(ebd.). Die Erfahrung, widerwillig den Willen eines anderen ertragen zu müssen,
ist somit nicht erstaunlich, weil man im Allgemeinen selbst gewillt ist, sich den
Willen anderer zu bemächtigen.
Einige Jahre später konstatiert Alfred Adler das universelle Streben nach
Macht, weil er den Willen des Menschen von der Erfahrung und Vorwegnahme
der konstitutionellen Minderwertigkeit her begreift, die sich, ihm zufolge, der
Erfahrung kindlicher Organunterlegenheit verdankt (vgl. Adler 1982, S. 41). Ihn
interessiert aber vor allen Dingen das neurotische Machtstreben, das sich im
zwanghaften Handeln um der Versicherung eigener Überlegenheit willen äußert
und das die eigene Macht ostentativ kundtut. Die Ausgleichsanstrengung ist für
ihn also universell, auch wenn sie nicht immer neurotisch Züge annimmt. Elias
Canetti denkt ähnlich. Er nimmt an, dass die Betroffenheit von Macht veranlasst,
sich selbst Wiedergutmachung zu leisten. Sich Weisungen unterzuordnen hinter-
lässt, so Canetti, stets Spuren, die Kompensation erfordern. Unterlegene sind
daher bemüht, sich um Ausgleichserfahrungen zu kümmern, die gegen die Un-
terlegenheitserfahrung als nachträgliche Emanzipation wirken (vgl. Canetti
2006, S. 367).
Für Simmels Befund über die Herrschsucht braucht es wiederum nicht erst
die Erfahrung, sich jemanden Untertan zu machen, denn sie liegt bereits im
„Bewusstsein seiner Wirksamkeit“ vor. Hierzu äußert er sich wie folgt:
„Im Allgemeinen liegt niemandem daran, dass sein Einfluss den anderen bestimmte,
sondern daran, dass dieser Einfluss, diese Bestimmtheit des anderen auf ihn, den Be-
stimmenden, zurückwirke. So liegt eine Wechselwirkung schon bei jener abstrakten
Herrschsucht vor, die daran befriedigt ist, dass das Handeln oder Leiden, der positi-
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 109

ve oder negative Zustand des anderen sich dem Subjekt als das Erzeugnis seines
Willens darbietet“ (Simmel 2006, S. 160).
Einfluss besteht wiederum darin, das Handeln eines anderen herbeizuführen.
Sobald man sich über diese Zurechnung gewiss sein kann, erlebt man, so Sim-
mel, den Einfluss genießend. Anders als im Falle der Macht kann Einfluss von
Seiten des davon Begünstigten nicht gegen den Widerstreben des davon Be-
troffenen vorkommen. „Wer `Einfluss´“, schreibt Ludwig Freund, „auf mich hat
– der Hausarzt, der Berater, der Freund – kann mein Verhalten bestimmen, aber
nicht gegen meinen Willen. Wer die Macht hat und soweit er sie hat, kann dies“
(Freund 1955, S. 47; Herv. im Orig.).
Die knappen Hinweise legen nahe, dass Macht eine allgemeine Erscheinung
ist, und das aufzuzeigen, ist die Intention des nun anstehenden Arbeitsschrittes.
Heinrich Popitz Studie Phänomene der Macht (2004) ermöglicht, Macht als ein
zum Menschen gehörendes Phänomen zu begreifen, weil ihr Urheber und Objekt
auch nur der Mensch ist. Macht üben Menschen aus und sie üben sie über Men-
schen aus. Das leitet Popitz her, indem er zum einen historischen Voraussetzun-
gen für das Bewusstwerden von Macht nachgeht. Zum anderen gelingt es ihm,
anhand von komplementären menschlichen Grunderfahrungen spezifische Ent-
sprechungen zwischen Machtbetroffenheit und Machtausübung zu differenzie-
ren. Daraus entwickelt er vier Grundformen der Macht. Popitz Auseinanderset-
zung soll nun helfen, die Universalität der Macht aufzudecken.
Die erste Voraussetzung nennt er die Machbarkeit von Machtordnungen:
Wenn die Einsicht darüber besteht, dass eine politische Ordnung nicht von einer
übernatürlichen Kraft eingesetzt ist und nicht als sakrosankt erachtet werden
kann, dann bleibt nichts anderes übrig, als sie auf den Menschen zurückzuführen
und nur diesem die Option für die Veränderung einer Ordnung zu überlassen.
Legt man das Entstehen einer Ordnung als menschengemachtes und veränderba-
res Werk aus, so zeigt sich daran das Vermögen, sich Mögliches vorzustellen.
„Anders denkbar aber wird das Bestehende in der Konfrontation mit der Denk-
barkeit des Besseren“ (ebd., S. 12). Für die Einsicht spricht, so Popitz, die Er-
mittlung von Änderungsforderungen als Gegenstand des politischen Durchset-
zungswillens. Ein frühes Auftreten von Änderungsforderungen stellt er in den
politischen Schriften der Antike fest. Ferner lässt sich auf das Bewusstsein über
die Veränderbarkeit von Ordnungen anhand der Vergleiche unterschiedlicher
Verfassungen schließen, denn auch diese gelten als beliebtes Sujet in der antiken
Literatur (ebd., S. 13). An der möglichen Vergleichbarkeit und Unterscheidbar-
keit von Verfassungen gibt sich die Machbarkeit von Ordnungen zu erkennen.
Mit stärkerer Intensität tritt die Überzeugung von der Transformierbarkeit
schließlich in der Moderne auf (ebd.). Das Aufstellen politischer Änderungsfor-
derungen und die Vergleichbarkeit von politischen Ordnungen beruhen, so
Popitz, auf der Grundannahme von der möglichen Veränderbarkeit von Gesell-
110 2 Herrschaft

schaft. Denkbar anders kann Gesellschaft nur seitens des Menschen vorgestellt
(vgl. Kant 1968b, S. 413), so dass die Veränderbarkeit ausschließlich in seinen
Händen liegt.
Die zweite Voraussetzung lautet Omnipräsenz von Macht: Die Ausweitung
der Macht ist, so Popitz, ein Merkmal der modernen Gesellschaft. Nach der ame-
rikanischen und französischen Revolution bietet sich den bürgerlichen Gruppen
die Möglichkeit, einen Streit um Macht einzugehen (vgl. Popitz 2004, S. 15).
Mit der Auflösung der feudalen Ordnung vollzieht sich ein Wandel, den man, so
Alfred Vierkandt, als eine Transformation der Macht begreifen kann. Von nun
an ist es möglich, sich um Macht zu bemühen, anstatt Macht mit der Geburt zu
erlangen. Es ist immer weniger die familiale Herkunft, die mit Macht zusam-
menfällt, denn es zählt vielmehr die individuelle Leistung, die durch die Ver-
mehrung von Chancen für den Zugang zu politischen Ämtern oder Beschäfti-
gungsverhältnissen aufgewertet wird. In der Moderne können mehr Menschen
nach Macht streben, sie ist potentiell jedem zugänglich. Vierkandt schreibt dazu:
„Die Macht ist dadurch gleichsam flüssiger und teilbarer geworden; sie hat aber
eben dadurch an Bedeutung gewonnen“ (Vierkandt 1916, S. 6).
Neben den gestiegenen Gelegenheiten für Kontroversen macht sich für
Popitz die Allgegenwärtigkeit der Macht bemerkbar. Das Individuum ist der
Anforderung ausgesetzt, Eigenverantwortung im Hinblick auf seine gesellschaft-
liche Position zu übernehmen und Investitionen in Identitätsprojekte zu tätigen,
die, weil sie notwendig auf Anerkennung angewiesen sind, auch scheitern kön-
nen. Die Aufmerksamkeit richtet Popitz weniger auf den quantitativen Anstieg
der Machtverhältnisse, als dass er an diesem die ständige Gegenwart der Macht
in menschlichen Beziehungen konstatiert (vgl. Popitz 2004, S. 17).
Zur dritten Voraussetzung zählt er die Konfrontation zwischen Macht und
Freiheit: Erst die Aufwertung des Freiheitsbewusstseins seitens verschiedener
Protagonisten der Aufklärung sowie der verzeichnete Anstieg der Emanzipati-
onsbewegungen in der Moderne machen es erforderlich, Machtverhältnisse zu
rechtfertigen. „Macht in allen Zusammenhängen, in allen Formen ist unlösbar
verknüpft mit der Frage nach dem Warum“ (ebd., S. 20).
Das Nachdenken über Macht steht in einem Zusammenhang mit den drei
historischen Voraussetzungen. Man weiß, Machtordnungen stehen dem mensch-
lichen Zugriff offen, ferner schaffen die politischen Umgestaltungen bürgerliche
Chancen, um ein Machtverhältnis zu erkämpfen und schließlich wird es möglich,
gegen Mächtige zu fordern, Machtverhältnisse zu rechtfertigen. Auf die Univer-
salität der Macht kann Popitz schließlich anhand der vier Grundformen der
Macht stoßen. Für jede einzelne zeigt er Entsprechungen zwischen elementaren
„Handlungsfähigkeiten“ und „vitalen Abhängigkeiten“ auf. Er schreibt:
„Wenn wir uns an die Frage halten: warum, aufgrund welcher Fähigkeiten können
Menschen Macht ausüben? und komplementär: warum müssen Menschen Macht er-
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 111

leiden? ergibt sich eine Differenzierung des menschlichen Vermögens, sich gegen
fremde Kräfte durchzusetzen“ (ebd., S. 23).
Die erste Frage ist auf das besondere Durchsetzungsvermögen gerichtet, wohin-
gegen die zweite Frage den Bedingungen der Machtbetroffenheit nachgeht. Die
Entsprechungen zwischen Machtbetroffenheit und Machtausübung will Popitz
deswegen ausfindig macht, weil er das soziale Wesen der Macht kenntlich ma-
chen will. Die vier Grundformen der Macht sind: Aktionsmacht, instrumentelle
Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht.
In der Ausübung einer Verletzung liegt Aktionsmacht vor. Wer Leid zufü-
gen kann, der ist aktionsmächtig. Die Aktionsmacht setzt sich folgendermaßen
komplementär zusammen: Auf Seiten des Überlegenen braucht man die physio-
logische oder die durch technische Gewaltwerkzeuge vermittelte Verletzungs-
kraft, wohingegen die Verletzung auf Seiten des Unterlegenen auf der Verlet-
zungsoffenheit des schutzlosen Körpers beruht. Aber auch der verletzende Über-
legene ist nicht immun gegen die Verletzungsoffenheit, denn die physiologische
Verletzbarkeit kommt bei jedem vor (ebd., S. 43 f.).
Grundlage des Aktionsmachtverhältnisses ist für Popitz weniger der unkon-
trollierte Aggressionstrieb, sondern die relative Instinktentbundenheit. Weil eine
Verletzung nicht unter vorhersagbaren Umständen stereotyp ausgeführt wird,
lässt sich keine menschliche Disposition über die Anlässe für Verletzungen auf-
finden. Popitz nennt das die Entgrenzung des Gewaltverhältnisses: „Der Mensch
muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln […]“ (ebd., S. 50). Die Phantasie
des Verletzens ist ebenfalls unbeschränkt. Weder lässt sich ein Vorstellungsin-
halt, in dem Gewalt gegen andere enthalten ist, von einer äußeren Instanz über-
prüfen, noch gibt es Objekte, die von der Verletzungsphantasie ausgenommen
werden. Gewaltphantasie unterliegt also lediglich der Selbstkontrolle und kann
prinzipiell alles und alle betreffen. Für die aktionsmächtige Durchsetzung des
Willens ist also die Entsprechung von menschlicher Verletzungsoffenheit und
der prinzipiell offenen Handlungsfähigkeit, mit der die Zufügung von Schmerz
und Leid immer im Bereich des Möglichen liegen, sowie der endlos weiten Vor-
stellbarkeit der Gewalt konstitutiv.
Eine aktionsmächtige Tat kann auch gegen mehr als den Körper gerichtet
werden. Die entsprechende Anfälligkeit des menschlichen Unversehrtseins muss
nicht nur die körperliche Konstitution betreffen. Auch die Schädigung materiel-
ler Lebensbedingungen oder der restriktive Zugang zu Ressourcen können, so
Popitz, aktionsmächtig ausgeübt werden. Die reine Aktionsmacht liegt aber im
Fall der Verletzung des Körpers vor. Während nämlich der Ausgegrenzte ange-
ben kann, dass er den Ressourcenverlust verkraftet und ihn nicht als Verletzung
wahrnimmt, lässt sich eine körperliche Verletzung nicht von sich weisen (ebd.,
S. 45). Bei der Verletzung des Körpers tritt Aktionsmacht verwundend auf. Eine
112 2 Herrschaft

durchgeführte organische Verletzung zu leugnen, ist nicht möglich. Popitz nennt


das die vital-allgemeine Unterworfenheit (ebd., S. 46).70
Während die körperliche Verletzung die Aktionsmacht eindeutig erkennbar
ist, liegt sie für Popitz im Fall der sprachlichen Diskreditierung erst vor, wenn
sie zur Ausgrenzung führt. Judith Butler spricht sich hingegen dafür aus, die
sprachliche Diskreditierung als Verwundung zu betrachten. Eine Verletzung
ereignet sich, argumentiert Butler, bereits in der Ausführung der Diskreditierung.
Die gegen eine Person gerichtete Äußerung und ihre Verletzung fallen zusam-
men (vgl. Butler 2006, S. 44). Um dies zu begründen, weist sie zunächst darauf
hin, dass es sich bei der Beleidigung einer Person um eine sprachliche Handlung
handelt, die eine Wunde hinterlässt (ebd., S. 14). Bei dieser kommt zwar eine
organische Schädigung nicht vor, allerdings lässt sich, ihr zufolge, der Mangel
an sprachlichen Zeichen für die adäquate Kennzeichnung einer Beleidigung an-
rechnen. Man ist schließlich angewiesen, körperbezogenes Vokabular zu bean-
spruchen, wenn man erlebte Diskreditierung mitteilen will. Dazu schreibt Butler,
es „[…] deutet die Tatsache, dass bei nahezu jeder Beschreibung sprachlicher
Verletzung auf körperliche Metaphern zurückgegriffen wird, auf eine besondere
Bedeutung dieser somatischen Dimension für das Verständnis des durch Sprache
erzeugten Schmerzes hin“ (ebd., S. 14). Ähnliches konstatiert Jan Philipp
Reemtsma, für den der Körper eine Referenz ist, um psychisches Leid zu kom-
munizieren. „Wenn wir unsere Seele über ihr Leid sprechen lassen wollen, geben
wir ihr einen Körper, über dessen Malträtiertheit sie klagen kann“ (Reemtsma
2008, S. 104). Darüber hinaus bemerkt er, dass körperlicher Schmerz eine Orien-
tierung für die Betroffenheit von psychischem Leid bietet, denn man kann beides
miteinander vergleichen und den Vergleich nutzen, um Auskunft über die Di-
mension der psychischen Verletzung zu geben.
Butler macht sich die Sprechakttheorie zunutze. Demnach lässt sich sprach-
liches Bezeichnen als Handeln begreifen, wenn es etwas performativ71 ausführt.
Die Ausführung des Handelns fällt im Augenblick des und mit dem Bezeichnen
zusammen (vgl. Butler 2006, S. 72 ff.). Die Wirkung des Bezeichnens wird nicht
zeitlich versetzt herbeigeführt, stattdessen bedeutet das, „[…] dass hier das `Sa-
gen´ dasselbe ist wie das `Tun´ und das beide gleichzeitig erfolgen“ (ebd., S. 34).

70 Für Hegel kommt eine Verletzung des Körpers einer Verletzung der Seele gleich, weil damit
die Existenz der Handlungsfähigkeit von der Gewalt eines anderen bedroht ist (vgl. Hegel
2008, S. 111). Der Körper des Menschen ist im Gegensatz zu dem des Tieres deswegen in sei-
nem Besitz, weil er ihn, argumentiert Hegel, gewollt lenken kann. Die Handlungsfähigkeit be-
steht nur mit dem lebenden Körper. Ferner kann sich nur der Mensch im Extremfall verstüm-
meln oder umbringen.
71 Butler dazu: „Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte hervor, und wir
tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein
Name für unser Tun, d.h. zugleich das, `was´ wir tun (der Name für die Handlung, die wir typi-
scherweise vollziehen), und das, was wir bewirken, also die Handlung und ihre Folgen“ (Butler
2006, S. 19 f.).
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 113

Das illokutionäre Bezeichnen trägt sich hinsichtlich sprachlicher Diskreditierung


so zu, dass sich die Unterordnung des von der Beleidigung Betroffenen im Mo-
ment des Bezeichnens konstituiert. Im Gegensatz zur Darstellung von Popitz, für
den sich, sprechakttheoretisch betrachtet, Ausgrenzung bloß perlokutionär ereig-
net, kommt es nicht möglicherweise infolge der oder unterstützt durch die Dis-
kreditierung zu ausschließenden Effekten, sondern diese geschehen mit dem
Sprechakt.
Wichtig ist für Butler die Gleichsetzung der nicht-organischen Verletzung
mit der Herstellung oder Reproduktion von Unterordnung (ebd., S. 36). Betrach-
tet man zudem die Illokution der Diskreditierung im Hinblick auf die Verortung
von Macht, so weist Butler, anders als Popitz, nicht den diskreditierenden Täter
mit Macht aus. Orientiert an den diskurs- und machtanalytischen Überlegungen
Foucaults identifiziert sie in jenem nicht den Urheber der Diskreditierung 72, denn
der sprachlich Verletzende wiederholt lediglich bestimmte Aussagen und das in
Kenntnis über die Sagbarkeit des beleidigenden Wissens (ebd., S. 84), an dessen
Erschaffung sich Macht feststellen lässt. Wenn man den beleidigenden Inhalt
von dem sprachlich Handelnden ablöst, dann braucht die Wirkungskraft nicht im
erfolgten Sprechakt verortet werden, sondern in dem gültigen Wissen über den
Gegenstand der Diskreditierung.
Ferner beruht die Möglichkeit der nicht-organischen Verletzung auf der
Grundlage der menschlichen Handlungsfähigkeit, die wiederum, und Butler folgt
hier Louis Althusser, durch die Anerkennung in Form von sprachlicher Anru-
fung durch andere konstituiert wird. Erst die Anrufung durch andere trägt zur
Konstitution der Identität einer Person bei und schöpft auf diese Weise die Hand-
lungsfähigkeit (ebd., S. 49). Für Butler entsteht das Subjekt „als Konsequenz aus
der Sprache“ (Butler 2005, S. 101). Von der Anerkennung anderer ist der Ein-
zelne deswegen abhängig, weil diese erst die Erreichbarkeit seines Handelns
stiftet. Mit der Berücksichtigung der Anrufung für die sprachliche Diskreditie-
rung zeigt Butler die sprachliche Abhängigkeit der Handlungsfähigkeit, von der
sie sprachliche Verletzbarkeit herleitet: Wenn die Existenz der Handlungsfähig-
keit darauf beruht, dass man sprachlich anerkannt wird, dann besteht auf dieser
Grundlage die Möglichkeit, jemanden sprachlich zu verletzen und zu verkennen.
Mithilfe der skizzierten Überlegungen Butlers lassen sich Popitz Vorgaben da-
hingehend ergänzen, dass man die nicht-organische Verletzung durch Sprache
als Gefährdung der Handlungsfähigkeit begreift. Aktionsmacht ist diejenige
Grundform der Macht, die auf der Verletzungsoffenheit des Menschen beruht.
Neben der faktisch durchgeführten Verletzung des Körpers kann Aktionsmacht

72 Wenn Butler die Urheberschaft der Diskriminierung nicht dem sprachlich Verletzenden zu-
schreibt, dann entlässt sie diesen nicht aus der Verantwortung. Vorsätzlich diskriminiert er,
weil die Wiederholung des beleidigenden Inhalts von ihm vorgenommen wird, so dass man ihn
dafür verantwortlich machen kann (ebd., S. 50).
114 2 Herrschaft

schließlich durch die sprachlich vermittelte Diskreditierung oder Ausgrenzung


vorkommen.
Ist es möglich, eine aktionsmächtige Tat zu verhindern, so muss zuvor dem-
jenigen, der von der Aktionsmacht bedroht ist, das Angebot unterbreitet werden,
etwas dafür zu tun. In diesem Fall liegt die Macht auf Seiten desjenigen, der an-
bietet. Die zweite Grundform der Macht ist die instrumentelle Macht. Sie beruht
auf den Mitteln der Drohung oder des Versprechens: Wenn man das Handeln
anderer insofern lenkt, dass man sich offenkundig die Option für potentielles,
den anderen betreffendes Handeln offen hält bzw. in Aussicht stellt, dann liegt
instrumentelle Macht vor (vgl. Popitz 2004, S. 79). In der Drohung und im Ver-
sprechen sind die Möglichkeiten und Abhängigkeiten des Menschen in folgender
komplementärer Weise enthalten: Zum einen kann der Mensch über sein Han-
deln vor der tatsächlichen Ausführung informieren. Er kann Aussagen über Zu-
künftiges machen. Jede Tat lässt sich vorab ankündigen bzw. in Aussicht stellen.
Zum anderen beruht instrumentelle Macht auf der für den Menschen erforderli-
chen Erwartungssicherheit. Das angedrohte und versprochene Handeln bedient
die Entlastung von der prinzipiell unendlichen Auswahl an Handlungsmöglich-
keiten. Das geforderte Handeln befreit von der Anforderung, eingeständig ein
Ziel zu setzen, hingegen kann die Handlungsentscheidung die Ungewissheit über
das Resultat des Handelns einschließen. Wo ein Handeln von außen verlangt
wird, da kann sich der Mensch erleichtert über die Verlässlichkeit hinsichtlich
der Folgen des Handelns zeigen. Ersucht man jemanden, in einer bestimmten
Weise zu handeln, so bedient man die Präferenz für die Erwartungssicherheit,
erzeugt daneben aber Ungewissheit im Falle des unangepassten Handelns (ebd.,
S. 84).
Popitz zieht es vor, die zweite Grundform der Macht, lediglich aus seinen
Überlegungen über die Drohung zu schöpfen. Dazu gehören die folgenden
Komponenten: Zunächst muss über die Handlungserwartung, die man an einen
anderen richtet, Auskunft gegeben werden. Dieser muss ebenfalls über die zu
seinem Ungunsten angelegten Folgen informiert werden, sollte er der Erwartung
nicht entsprechen. Die eigentliche Lenkung des Handelns ist durch das angekün-
digte potentielle Handeln instrumentalisiert. Darüber hinaus muss glaubhaft ge-
macht werden, dass die Erwartungsentsprechung die Sanktionsmaßnahme ver-
hindern kann.73
Es zeigt sich, dass auch in der Drohung ein Versprechen enthalten ist. Die
drohende Person bindet sich damit an die von der Drohung betroffene Person, da
das gegebenenfalls bevorstehende Handeln der drohenden Person von der Ant-

73 Vierkandt schreibt hierzu Folgendes: „Nicht die Gewalt selbst, sondern die Furcht vor der
Gewalt ist das eigentliche Zwangsmittel; und zwar wird dieses Mittel durch die Kraft der Sug-
gestion und Phantasie in einer Weise gesteigert, wie sie in der Tierwelt völlig unbekannt ist
[…]“ (Vierkandt 1916, S. 14).
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 115

wort der bedrohten Person abhängt. Man muss berücksichtigen, dass die Dro-
hung auf der Entscheidung des Bedrohten beruht, die trotz der möglicherweise
bevorstehenden Aktionsmacht nicht ausgeschaltet wird. Instrumentelle Macht
lenkt andere nicht durch Zwang, denn: „Die Drohung hebt die prinzipielle Of-
fenheit menschlichen Verhaltens nicht auf. Sie setzt voraus, dass der Bedrohte
sich fügen oder sich wehren kann“ (ebd., S. 82). Anders als der Zwang hebt die
Drohung das Entscheiden auf Seiten des Bedrohten nicht auf. Dazu notiert Sim-
mel:
„Wenn bei unumschränkten Despotismus der Herrscher an seine Befehle die Dro-
hung von Strafe oder das Versprechen von Lohn knüpft, so heißt dies, dass er selbst
an die von ihm ausgehende Vorordnung gebunden sein will: Der Untergeordnete
soll das Recht haben, seinerseits etwas von ihm zu fordern, der Despot bindet sich
mit der Straffestsetzung, so horrend sie sei, keine höhere aufzuerlegen“ (Simmel
2006, S. 165 f.).
Will man Handeln lenken, ohne Gewalt einzusetzen und ohne den Unterlegenen
vor die Entscheidung zu stellen, ob er von einem Nachteil betroffen sein will, so
kann man Macht auf der Grundlage der zugeschriebenen Überlegenheit ausüben.
In diesem Fall liegt autoritative Macht auf der Grundlage der Gewährung und
des Entzugs von Anerkennung vor (vgl. Popitz 2004, S. 129). Wie die instru-
mentelle Macht so überlässt auch die autoritative Macht dem Unterlegenen die
Entscheidung für oder gegen das vorgabengemäße Handeln. Popitz schlägt einen
Weg vor, das Phänomen Autorität zu erschließen, der nicht dabei stehen bleibt,
die willentliche Anpassungsbereitschaft zu konstatieren, sondern der Bindung
zwischen Autoritätsträger und Autoritätsabhängigem in anthropologischer Hin-
sicht nachgeht. Die Komplementarität der Autoritätsbeziehung fügt sich wie
folgt zusammen: Auf beiden Seiten liegt der Bedarf an Anerkennung dergestalt
vor, dass zum einen die autoritätsabhängige Person die Überlegenheit der autori-
tätstragenden Person über sich anerkennt und darum bemüht ist, Anerkennung
von ihr zu erhalten (ebd., S. 133). Die autoritätstragende Person ist schließlich
von der Anerkennung durch die unterlegene Person abhängig.
Warum und wie es geschieht, dass der Mensch im Allgemeinen um Aner-
kennung bemüht ist, erklärt Popitz anhand des Anerkennungsstrebens des Auto-
ritätsabhängigen. Er verweist auf die relative Instinktentbundenheit des Men-
schen, die besagt, dass man aufgrund des Fehlens innerlich angelegter Verhal-
tensrichtungen auf äußere Orientierung angewiesen ist (ebd., S. 28). Neben dem
Orientierungsbedarf begreift Popitz das menschliche Reflexionsvermögen als
grundlegend für die Erfahrung von Anerkennung. Diesen Zusammenhang erklärt
er folgendermaßen. Dass der Mensch sich zum Gegenstand der Reflexion ma-
chen kann, bedeutet, dass er in der Lage ist, sich selbst in Verhältnis zu tatsächli-
chen und möglichen Interaktionen zu setzen. Es ist ihm möglich, die Richtigkeit
des handlungsweisenden Entscheidens zu überprüfen und gegebenenfalls sich
116 2 Herrschaft

selbst infrage zu stellen. „Bewertend begreifen wir auch den Teil der Realität,
der wir selbst sind. Unser Selbstbewusstsein ist stets auch ein Selbstwertbe-
wusstsein“ (ebd., S. 116). Das Reflexionsvermögen ist konstitutiv für die eigene
Sicherheit darüber, dass man handelnd etwas bewirken kann. Das Wissen über
sich selbst entwickelt man, wenn man sich die eigene Beteiligung an Interaktio-
nen vergegenwärtigt. Entscheidend dabei ist, dass das Geschehen und die eigene
Person aus der Perspektive der anderen Beteiligten betrachtet werden. Das
menschliche Vermögen der Empathie ist, so stellt Popitz heraus, wesentlich da-
für, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten. Erst wenn man lernt, sich
von anderen aus zu beobachten, lernt man sich selbst zu beobachten (ebd.). Die
innere Vergegenwärtigung der Bewertung durch andere ist es, die dem Individu-
um vorführt, dass es sich selbst zum Gegenstand von Überlegungen machen
kann. Das Reflexionsvermögen ist daher für Autorität wesentlich. Über Autorität
verfügt derjenige, „[…] wessen Anerkennung einen besonders hohen Anerken-
nungswert erhält“ (ebd., S. 120). Weil Autorität nicht in einer Person verankert
ist, sondern vor allem auf dem Anerkennungsstreben einer autoritätsabhängigen
Person beruht, lässt sie sich nur als Interaktionsergebnis erfassen. Wer Anerken-
nung insbesondere von einer autoritätstragenden Person erheischen will, der ist
ohne weiteres bereit, ihren Vorgaben zu entsprechen und sogar Einstellungen zu
übernehmen (ebd., S. 122). Als besonderes Anzeichen dafür gilt, dass die autori-
tätsabhängige Person zum einen akkurat auf Intentionen des ihr Überlegenen
achtet, in denen sie selbst enthalten ist und sich zum anderen anstrengt, Aner-
kennungsverluste zu vermeiden. Wird sich die autoritätstragende Person über die
Anerkennungserheischung anderer bewusst, so liegt es in ihrer Hand, autoritative
Macht auszuüben. Betreiben kann sie diese, wenn sie ihrerseits den möglichen
Anerkennungsverlust bewusst nutzt und das Bewährungsstreben der autoritäts-
abhängigen Person zu dessen Lenkung einsetzt.
Die Ausübung von Macht ist dann nicht sozial, wenn sie sich nicht gegen
das Verhalten eines Menschen richtet. Macht kommt in diesem Fall so vor, dass
Gewalten der Natur überwältigt werden, um sie für Zwecke nutzbar zu machen,
die der Mensch zu seinem Gunsten setzt. Die Naturbezwingung erweist sich je-
doch nicht nur als folgenreich hinsichtlich ihres Bestands, sondern sie erreicht
dann den Menschen, wenn dieser durch nachhaltige Folgen des Eingriffs betrof-
fen ist. Popitz nennt dies die datensetzende Macht (ebd., S. 31). Die Effekte einer
planvoll durchgeführten Einwirkung in die Natur schlagen sich vermittelt über
die natürlichen Lebensgrundlagen auf den Menschen nieder. Macht spürt der
Mensch dann durch eine nicht-beabsichtigte Übertragung. Im Gegensatz zu einer
Verletzung oder Bedrohung und nicht wie bei der Nutzbarmachung fremden
Anerkennungsstrebens liegt bei der datensetzenden Macht keine Intention vor,
die sich auf eine unterlegene oder zu unterwerfende Person richtet. Die Folge
eines Eingriffs in die Natur, dem unbeteiligte Menschen ausgesetzt sind, nennt er
deswegen eine Datensetzung, weil sie sich zu einem späteren Zeitpunkt für den
2.5 Handeln und Herrschaft 117

Menschen als unüberwindbare Macht-Minen erweisen. Ulrich Beck schreibt:


„Am Ende des 20. Jahrhunderts gilt: Natur ist Gesellschaft, Gesellschaft ist
(auch)`Natur´ (Beck 1987, S. 108; Herv. im Orig.). Was Beck damit zum Aus-
druck bringt, ist die Auflösung der Trennung von Gesellschaft und Natur, wie sie
in der klassischen Gesellschaftstheorie unternommen wird. Im Weiteren schreibt
er: „[…] das Ende der Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft. Das
heißt: Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr
ohne Natur begriffen werden“ (ebd., S. 107; Herv. im Orig.). Das nachhaltige
Resultat datensetzender Machteingriffe in die Natur, an denen Popitz die vierte
Grundform festmacht, entspricht der von Beck konstatierten Betroffenheit des
Menschen von den technisch-industriellen Maßnahmen, die einst zum Zweck der
Beherrschbarkeit von Natur getroffen wurden. Die Bedeutung der Folgerisiken
der industriellen Ausnutzung der Natur skizziert er wie folgt:
„Alles, was das Leben auf dieser Erde bedroht, bedroht damit auch die Eigentums-
und Vermarktungsinteressen derjenigen, die von dem Zur-Ware-Werden des Lebens
und der Lebensmittel leben. Auf diese Weise entsteht ein echter und sich systema-
tisch verschärfender Widerspruch zwischen den Gewinn- und Beisitzinteressen, die
den Industrialisierungsprozess vorantreiben, und seinen vielfältigen bedrohenden
Konsequenzen, die auch Besitz und Gewinne gefährden und enteignen (vom Besitz
des Lebens ganz zu schweigen)“ (ebd., S. 51; Herv. im Orig.).
Datensetzende Macht liegt also dann vor, wenn sich der Mensch gegen natürli-
che Kräfte durchsetzt, also nicht einen anderen Willen stoppen will. Sie erreicht
den Menschen aber, und erweist sich damit als soziale Macht, wenn die men-
schengestaltete Natur dazu führt, das Handeln des Menschen zu beeinträchtigen.
Insgesamt führt Popitz das soziale Wesen der Macht darauf zurück, dass je-
de der vier Grundformen auf dem Handeln beruht. Das eigene Handeln kann von
den Auswirkungen des Handelns anderer betroffen sein. Die Machtbetroffenheit
durch Handeln geht darauf zurück, dass die Physiologie und die Handlungsfä-
higkeit verletzt werden, oder die Orientierungsfähigkeit des Machtbetroffenen
für die Durchsetzung des Willens einen Dienst erweist. Die von Popitz erarbeite-
te Universalität der Macht ergibt sich daraus, dass Elemente der Interaktion in
den vier Grundformen enthalten sind. Vor allem die ersten beiden und die letzte
Grundform der Macht zeigen, dass Machtausübende nicht davor bewahrt sind,
ihrerseits zu Machtbetroffenen zu werden. Das muss im Falle der Herrschaft
ausgeschlossen sein.

2.5 Handeln und Herrschaft

„Macht“, so Popitz, „gerinnt zur Herrschaft“ (Popitz 2004, S. 233). Auf den
Kern dieses Machtverhältnisses stößt Weber, indem er spezifische Orientierun-
118 2 Herrschaft

gen für das Handeln auf Seiten der Über- und der Untergeordneten angibt, an
dem sich das Wesentliche der Herrschaft erkennen lässt. Was er konstruiert, ist
die idealtypische Herrschaft, und das ist ein Gedankenbild, das aus optimierten
Sinnzusammenhängen besteht, ohne den Anspruch zu erheben, ein Abbild der
empirischen Wirklichkeit zu sein. Das fasst er wie folgt zusammen:
„Er wird gewonnen durch eine einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichts-
punkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr,
dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich je-
nen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitli-
chen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nir-
gends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar […]“ (Weber 1951, S. 191; Herv. im
Orig.).
Der Idealtypus dient also weder zur Abbildung der Wirklichkeit noch soll er
angeben, wie die Wirklichkeit werden soll.74 Stattdessen kommt er als Mittel
zum Einsatz, um empirische Sinnzusammenhänge mithilfe von konstruierten
Sinnzusammenhängen zu vergleichen und die Abstände zwischen ihnen zu mes-
sen. Auf diese Weise lässt sich die unendliche Fülle der wirklichen Sinnzusam-
menhänge ordnen, die in einem Zusammenhang mit der zu untersuchenden sozi-
alen Regelmäßigkeit stehen. Weber konstruiert also die reine Herrschaft anhand
von optimalen Sinnzusammenhängen.
Was der idealtypischen Herrschaft wesentlich ist, wird auf den nächsten
Seiten erarbeitet. Zwei von Weber unternommene Vergleiche sollen das spezifi-
sche soziale Handeln der Über- und Untergeordneten zum Vorschein bringen,
womit ein Maximum an stabiler Herrschaft gewährleistet wird. Zum einen grenzt
er sie von der reinen Macht ab, so dass ein Rest übrig bleibt, der für das verste-
tigte Machtverhältnis der Herrschaft konstitutiv ist. Zum anderen vergleicht er
sie mit der wirtschaftlichen Monopolstellung, um beschreiben zu können, was
letzterer fehlt, aber im Falle der Herrschaft vorliegt. Die beiden Vergleiche ste-
hen als erstes an. Es wird sich dabei zeigen, dass das Handeln auf Seiten der Un-
tergeordneten ausschlaggebend ist, denn ihre für das Herrschaftshandeln erkenn-
bare Orientierung ist im Falle der Macht ausgeschlossen. 75 Die Stellung der Un-
tergeordneten soll als zweites mit einigen Überlegungen Simmels zum Unter-

74 Weber tritt nicht an, um eine Begründung für die Legitimität von Herrschaft zu liefern. Das ist
Sache normativer Auseinandersetzungen, die, so Ulrich Sarcinelli, u.a. Folgendes zum Gegen-
stand machen: das Gemeinwohl einer politischen Gemeinschaft, Aufrechterhaltung von Frie-
den und Ordnung, Rechtsbindung, Limitierung der Staatsgewalt, Gewaltenteilung, Grund-
rechtssicherung, soziale Gerechtigkeit oder Umsetzung der Volkssouveränität (vgl. Sarcinelli
2009, S. 78; vgl. auch Menzel 1980, S. 20 f.).
75 Für Simmel lässt sich das Herrschaftshandeln der Untergeordneten darauf zurückführen, dass
es ermöglicht, sich von Verantwortung zu emanzipieren. Wer sich gehorsam verhält, ist, da der
Sinn für das auszuführende Handeln im Ermessen des Übergeordneten liegt, von der nicht sel-
ten als Beschwernis erlebten Anforderung entlastet, eine Entscheidung für seine Handeln zu
treffen (vgl. Simmel 2006, S. 171; Herv. im Orig.).
2.5 Handeln und Herrschaft 119

schied zwischen Herrschaft und Zwang so ergänzt werden, dass verständlich


wird, warum ihr Beitrag ausschlaggebend wird. Das soll mit Hartmann Tyrells
Abwägung ergänzt werden, mit der er die Frage beantworten will, warum Weber
für den Idealtypus der Herrschaft nicht auf die ökonomisch effiziente Drohung
setzt. Mit Tyrells Auseinandersetzung lässt sich ferner das im Denken Webers
akzentuierte Handeln der Untergeordneten erarbeiten. Die Klärung, ab wann sich
Gehorsam dem Handeln zuordnen lässt, ist für den nächsten Schritt wichtig, da
sich auf diese Weise die Annäherung an Webers Begriff des Legitimitäts-
Einverständnisses durchführen lässt. Einige Hinweise Peter Graf Kielmanseggs
sollen dann zum Beitrag der Übergeordneten führen, der, trotz der ausschlagge-
benden Stellung der Untergeordneten, im Hinblick auf die Pflege der Legitimität
bedeutsam ist. Das, worauf Übergeordnete rekurrieren und was ihre Beteiligung
am wesentlichen Merkmal der idealtypischen Herrschaft zu erkennen gibt, nutzt
Weber, um drei Typen der Herrschaft zu konstruieren. Wofür diese nützlich sind,
zeigt im letzten Schritt der Vorgang, der für ihn von Interesse ist, um Nähe und
Abstand zwischen empirisch wirklicher Herrschaft auf der einen Seite und den
drei Typen auf der anderen Seite zu messen, und das ist die Ordnungsschöpfung.
Der erste Vergleich: Weber interessiert sich dafür, wie sich die Herrschaft
zur Macht verhält, für die er folgenden Begriff bereithält: „Macht bedeutet jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wi-
derstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 2002,
S. 28; Herv. im Orig.). Und er ergänzt: „Der Begriff `Macht´ ist soziologisch
amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstel-
lationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen
Situation durchzusetzen“ (ebd., S. 29). Über- und Unterlegenheit sind im Falle
der Macht unstetig. Was für sie gilt, ist, dass in einer gegebenen Beziehung die
Durchsetzung des einen gegen den anderen dergestalt auf einer zufälligen
Grundlage beruhen kann, dass ihre beständige Wiederholbarkeit nicht erwartbar
ist. Der gleichförmige Ablauf sozialen Handelns lässt sich im Falle von Macht-
beziehungen nur schwer beobachten (ebd., S. 14). Weil Macht gestaltlos ist,
kann man mit ihr regelmäßig auftretender Sinnhaftigkeit nicht nachgehen. Über
die amorphe Macht bemerkt Wilhelm Hennis, dass sie so variabel wie die For-
men menschlichen Zusammenlebens überhaupt beobachtbar ist (vgl. Hennis
2000, S. 8; vgl. auch Haferkamp 1983, S. 64). Weber bekanntes Beispiel dazu
lautet:
„`Herrscht´ aber z.B. bei der Bestellung von einem Paar Stiefeln der Schuster über
den Kunden oder dieser über jenen? Die Antwort würde im Einzelfall sehr verschie-
den, fast immer aber dahin lauten: dass der Wille jedes von beiden auf einem Teil-
gebiet des Vorgangs den des anderen auch gegen dessen Widerstreben beeinflusst,
in diesem Sinne also `beherrscht´ habe. Ein präziser Begriff der Herrschaft wäre da-
rauf schwerlich aufzubauen“ (Weber 2005, S. 136 f.; Herv. im Orig.).
120 2 Herrschaft

Der disparate Charakter der Macht verhindert es somit, Herrschaft auf Macht zu
reduzieren. Sukale erinnert zur Erklärung der Abgrenzung der Herrschaft von der
amorphen Macht an die Absicht der Herrschaftslehre: Auch für diesen Teil des
später in Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlichten Projekts gilt, dass Weber
die Struktur der Herrschaftstypen insbesondere in Bezug auf Wirkungsverhält-
nisse zur modernen Wirtschaft vergleichend untersucht,76 die sodann nicht ge-
staltlos sein können (vgl. Sukale 2002, S. 49). Was aber die Herrschaft von der
amorphen Macht im Kern unterscheidet, konkretisiert Sukale wie folgt: Herr-
schaft ist verstetigte, nicht-zufällige Macht, für die sich eine Form angeben lässt,
denn wer herrscht, kann seinen Willen in vorhersagbarer Weise durchsetzen
(ebd., S. 364). Das, so Sukale, erlaubt, im Gegensatz zur formlosen Macht den
regelmäßigen Ablauf der Herrschaftsbeziehung anzugeben. Im Unterschied zur
Macht herrscht in der verherrschten Macht also eine spezifische, im Weiteren
noch zu präzisierende Gewissheit über das Handeln der Untergeordneten, die
Vorhersagbarkeit zulässt. Das Amorphe der Macht verhindert Herrschaft, und
daher tritt hervor, dass diese im Gegensatz zur Macht die Erwartungssicherheit
einschließt.
Der zweite Vergleich: Weber unternimmt einen Vergleich, bei dem auf der
einen Seite ein in erheblichem Maße stabiles Machtverhältnis steht: Die Durch-
setzung ökonomischer Entscheidungen nennt er Herrschaft kraft Interessenkons-
tellation oder kraft monopolistischer Lage (vgl. Weber 2005, S. 129), wenn die
Machtausübung auf der überlegenen Seite auf bestimmten markttauglichen Be-
sitz beruht, der für die eigenen Zwecke so in Stellung gebracht werden kann,
dass er zudem Einfluss auf das interessenorientierte Handeln der unterlegenen
Seite ausübt. Wichtig ist, so Weber, die jeweils auf beiden Seiten ausschlagge-
bende Orientierung an dem eigenen Interesse, denn auch für denjenigen, der vom
Monopol betroffen ist, hängt die in Aussicht gestellte Interessenverwirklichung
von den aufgesetzten Marktbedingungen des monopolistisch Begünstigen ab.
Jener ist also genötigt, ist aber nicht in die Pflicht genommen, die von diesem
vorgeschriebenen Preise anzunehmen, weil sie trotz der vorgegebenen Bedin-
gungen die Erfüllung der eigenen Zwecke ermöglichen. Lässt er sich nicht auf
die vorgegebenen Bedingungen ein, so kann der, der über das Marktmonopol
verfügt, die zur Interessenverwirklichung des Anderen wichtige Tauschbereit-
schaft verweigern.
Im Gegensatz zum marktbedingten Monopol begreift Weber die andere Sei-
te dieses Kontrasts: die Herrschaft kraft Autorität. Insofern nämlich der mono-
polmächtig geäußerte Wille lediglich und sogar ausschließlich deswegen befolgt

76 Seinen Arbeitsplan für die Herrschaftslehre kennzeichnet Weber wie folgt: „Wir suchen hier
zunächst möglichst nur allgemeine deshalb unvermeidlich wenig konkret und zuweilen auch
notwendig etwas unbestimmt formulierbare Sätze über die Beziehungen zwischen den Formen
der Wirtschaft und der Herrschaft zu gewinnen“ (Weber 2005, S. 128).
2.5 Handeln und Herrschaft 121

wird, weil die Fügsamkeit restlos mit dem eigenen Interesse korrespondiert, stellt
sich die Durchsetzbarkeit der autoritären Befehlsgewalt auch und gerade wegen
der jenseits von dem Kriterium der Zweckmäßigkeit disponierten Zumutbar-
keitsappell ein. Wo sich die Monopolmacht nur und nichts anderes außer Interes-
sen der Untergeordneten zunutze macht, da beansprucht die Autorität interesse-
los das Recht auf Gehorsam gegenüber Befehlen. Die reine Herrschaft besteht,
unabhängig von den Interessen der Untergeordneten. Voneinander unterschieden
lassen sich die Monopolmacht einerseits und die Autoritätsmacht andererseits,
wenn man beachtet, dass letztere von den Untergeordneten verlangen kann, sich
zum erwarteten Gehorsam zu verpflichten (ebd., S. 133.). Der zweite Kontrast
führt also genau dann zum Idealtypus Herrschaft, wenn man Webers strenge
Trennung zwischen den beiden skizzierten Herrschaftstypen verfolgt: Die siche-
re Erwartung, dass einem Befehl pflichtgemäß Folge geleistet wird, ist im Fall
der Interessenkonstellation nicht gegeben, d.h. wer berechtigt herrscht, kalkuliert
nicht mit der verfolgten Zweckerfüllung der Untergeordneten, sondern kann sich
gewiss darüber sein, dass sich das Handeln derjenigen, an die sich eine Auffor-
derung richtet, grundsätzlich an der Umsetzung der Fremdintention orientiert.
Die kontrastierten Herrschaftstypen sind sich zwar insofern ähnlich, als beide
nicht von dem Widerstreben der Untergeordneten belastet sind, nur kann sich das
autoritäre Pflichtverhältnis auf das mit dem zugemuteten Gehorsam korrespon-
dierende Befehlsrecht berufen. Erst dieser kontrastierende Vergleich ermöglicht
es also, dass die Gehorsamspflicht übrig bleibt. Auf diese Weise kann Weber den
Idealtypus wie folgt konstruieren:
„Unter `Herrschaft´ soll hier also der Tatbestand verstanden werden: dass ein be-
kundeter Wille (`Befehl´) des oder der `Herrschenden´ das Handeln anderer (des o-
der der `Beherrschten´) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflusst, dass
dies Handeln, einem sozial relevanten Grade so abläuft, als ob die Beherrschten den
Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hät-
ten (`Gehorsam´)“ (ebd., S. 135).
Die Seite der Untergeordneten lässt sich mithilfe der von Simmel unternomme-
nen Abgrenzung der Herrschaft vom Zwang weiter verfolgen. Sein Anliegen ist
es, die Identifikation dieser beiden zu widerlegen, um den sozialen Hergang der
Herrschaft zum Vorschein zu bringen, der sich mit einem einseitigen Zwangs-
verhältnis nicht vereinbaren lässt (vgl. Simmel 2006, S. 163). Lässt man Herr-
schaft mit Zwang zusammenfallen, so unterstellt man, dass das Handeln der Un-
tergeordneten ohne Resonanz verläuft. Ihre spezifische Beteiligung wird dann
abseits jeder Eigenregung lediglich als stumpfe Fügsamkeit begriffen, wohinge-
gen die Überordnung komplementär zur unfreien Unterwerfung eine bedin-
gungslose Übermacht darstellt. Simmel gelingt die Widerlegung, indem er die
spezifische Beteiligung der Untergeordneten offenlegt, womit er den sozialen
Hergang der Herrschaft aufzeigt.
122 2 Herrschaft

Zunächst erklärt er, warum sich selbst die – oben bereits erwähnte –
Herrschsucht als minimal sozial oder mit seinen Worten als „Rudimentärform“
kennzeichnen lässt: Man kann dem Herrschsüchtige nicht vorwerfen, dass er
seinen Einfluss mit uneingeschränkter Rücksichtslosigkeit erlebt, denn, so Sim-
mel, es bleibt ein wesentliches Interesse an der als von ihm herbeigeführt re-
gistrierten Eigenregung des Anderen übrig (ebd., S. 160). Anders als die Rück-
sichtslosigkeit kann die Herrschsucht die physische Existenz des von ihr Be-
troffenen also nicht ausschließen, sie kann sogar nicht auf sie verzichten. Letzt-
lich endet die Berücksichtigung von dessen Handlungsmöglichkeit genau dann,
wenn der Betroffene mit der Tatabsicht konfrontiert ist, die seine „physischen
Vergewaltigung“ vorsieht (ebd., S. 161). Das beschriebt er wie folgt: „Erst wo
der Egoismus nicht einmal Herrschsucht ist, sondern der Andre ihm absolut
gleichgültig und ein bloßes Werkzeug zu über ihn hinausliegenden Zwecken ist,
fällt der letzte Schatten des vergesellschafteten Füreinander fort“ (ebd., S. 160).
Simmel geht es um die Mitwirksamkeit der Untergeordneten, zu der er mit-
tels eines Vergleichs von zwei Über- und Unterordnungsbeziehungen gelangt,
denen zunächst gemeinsam ist, dass sie das Widerstreben der Untergeordneten
ausschließen. Das ist zum einen die Autorität: Die häufig anzutreffende Identifi-
kation des Autoritätsverhältnisses mit Zwang lehnt er ab, indem er zum einen auf
die infolge von einer persönlichen Qualität geschaffene Autorität hinweist. In
diesem Fall machen personengebundene Bedeutung und Kraft die Überlegenheit
des Autoritätsträgers aus, von der man annimmt, dass dieser von seiner Persön-
lichkeit aus mit einer objektiven Auskunfts- und Weisungsfähigkeit ausgestattet
ist. Dazu Simmel:
„[…] die Persönlichkeit hat eine Prärogative und axiomatische Zuverlässigkeit für
ihre Entscheidung gewonnen, die über den immer variabeln, relativen, der Kritik un-
terworfenen Wert einer subjektiven Persönlichkeit mindestens um einen Teilstrich
hinausragt“ (ebd., S. 162).
Zum anderen betrachtet man die Träger eines Amtes als Autorität, wenn genau
und einzig dieses ihrer Entscheidungsfähigkeit soziale Schätzung zukommen
lässt, die ihre Persönlichkeit ansonsten nicht hervorgerufen hätte. Im Grunde
zeigt der letzte Fall, dass sich gerade in der Besetzung eines Autoritätspostens
mit einer an sich nicht mit zweifelsfreier Entscheidungssicherheit ausgestatteten
Person eine Transformation ereignet, auf die sich um ihrer Realisierung wegen
die Untergeordneten einlassen müssen. „An dem Punkt dieses Übergangs hat
nun ersichtlich der mehr oder weniger freiwillige Glaube des der Autorität Un-
terworfenen einzusetzen […]“ (ebd., S. 163). Ohne den Glauben und das Ver-
trauen an die Richtigkeit der Entscheidungen des Übergeordneten wird diese
nicht konstituiert. Anders ausgedrückt: Erst die Aussicht auf den freiwillig ein-
gegangenen Autoritätsglauben bringt die von dieser abhängige Überordnung
überhaupt hervor.
2.5 Handeln und Herrschaft 123

Zweitens das Prestige: Anders als die Autorität fällt das Prestige nicht mit
einer als sachlich richtig erachteten Entscheidungsbefugnis zusammen. Wo sich
die Autorität aus dem Vertrauen in die objektive Zulässigkeit der Entscheidung
speist, da beruht das Prestige auf einer Verherrlichung und Ehrerweisung, die
von einer emotional bedingten Gunst des Prestigeträgers gestützt wird. Beim
Vergleich mit diesem unterliegt der sich dem Prestige Unterwerfende aus einwil-
lig gefühlter Geringwertigkeit ihm gegenüber. Ist der Autoritätsträger im Grunde
nicht gegen Einwände gefeit, so ist der Prestigeträger immun dagegen. Für das
Prestige
„[…] ist hier die ganz individuelle Kraft entscheidend; bleibt nicht nur als solche
bewusst, sondern gegenüber dem Durchschnittstypus des Führers, der immer eine
gewisse Mischung aus persönlichen und angegliederten sachlichen Momenten zeigt,
geht das Prestige ebenso von dem reinen Persönlichkeitspunkte aus, wie die Autori-
tät von der Objektivität von Normen und Mächten“ (ebd.).
Wie die Autorität zeigt also auch das Prestige die Abhängigkeit von der Aner-
kennung der Untergeordneten. Man kann, so Simmel, vermuten, dass in der An-
erkennung der Autorität ein Mehr an Freiheit vorliegt als in der Hingebung ge-
genüber dem Prestige. Gerade die Abhängigkeit der Autorität und des Prestiges
ermöglichen nicht nur, die Herrschaft von der auf Einseitigkeit und passiver
Fügsamkeit beruhenden Vorstellung zu lösen und den sozialen Hergang der
Über- und Unterordnung zu konstatieren, sondern auch dem Klärungsbedarf hin-
sichtlich der besonderen Beteiligung der Untergeordneten Genüge zu tun. Es
zeigt sich nämlich: Weder parieren die Untergeordneten, noch eliminieren die
Übergeordneten mit Zwang jede Eigenregung. Herrschaft ist eine Beziehung, für
welche zwar die Unterordnung ausschlaggebend ist, die Weisungsbefugnis der
Übergeordneten ist aber an die Anerkennung seitens der Untergeordneten ge-
bunden.
Ihr Beitrag lässt sich noch mehr konkretisieren, indem man die sinnhafte
Orientierung der Unterordnung präzisiert, und zwar folgendermaßen: Tyrell un-
terstellt Weber, für die Konstruktion der Herrschaftslehre ein „fundamentales
Problem“ berücksichtigt zu haben (vgl. Tyrell 1980, S. 62): Es besteht darin,
dass die Integration des Handelns in Webers Methodologie, die den Menschen
als Schlüssel für das kulturwissenschaftliche Paradigma inauguriert, mit der für
Herrschaft grundlegenden Lenkung der Untergeordneten kollidiert. Zur Versöh-
nung zwischen dem akzentuierten Handeln des Handelnden und der Heteroke-
phalie der Herrschaft reicht es jedoch nicht aus, auf die Erteilung von Anerken-
nung seitens der Untergeordneten hinzuweisen. Zur Auflösung des Problems
hilft aber insbesondere die nähere Betrachtung des Bewirkenkönnens fremden
Handelns.
Tyrell macht das Handeln der Untergeordneten transparent, indem er ab-
wägt, ob nicht die Drohung anstelle der Gehorsamspflicht für den Idealtypus der
124 2 Herrschaft

Herrschaft veranschlagt werden sollte. Er fragt sich, ob sich der reine Begriff
Herrschaft, der sich durch ein Maximum an Stabilität auszeichnet, zweckmäßi-
ger gestalten ließe, wenn man ihn, statt auf die Beziehung von Befehl und Ge-
horsam zu rekurrieren, auf die Drohung abstellt. Es scheint ihm deswegen frag-
würdig, die verstetigte Machtbeziehung idealtypisch auf einen erfolgreich Befeh-
lenden zu stützen, weil er zuvor den ökonomischen Wert der Drohung und des
bloßen Vorführens der Möglichkeit von Gewalt – der Terminologie von Popitz
entsprechend ist das die instrumentelle Macht – an die Oberfläche bringt. Anders
als der schlichte Einsatz von physischer Gewalt als Mittel für die Durchsetzung
des eigenen Willens abseits jeder Berücksichtigung der Handlungsautonomie des
von ihr Betroffenen kalkuliert die Drohung mit der Deliberationsfähigkeit desje-
nigen, der u.a. vor die mit Sicherheit erwartbare Option des eigenen Nachteils
gestellt wird (ebd., S. 64). Die Entscheidung, ob dieser nicht eintritt, oder der
Drohende den unerfreulichen Schaden in die Tat umsetzt, trifft zuletzt der, an
den sich die Drohung richtet. Für das Bewirken fremden Handelns lässt sich die
Drohung vorzugsweise instrumentalisieren, weil das womöglich eigenwillige
Handeln seitens des Bedrohten bereits durch die realistische Vorstellung des
dann zutreffenden Schadens unterlassen wird. Der die Drohung aussprechende
Machthaber ist aber erst dann erfolgreich, wenn der angekündigte Nachteil als
verlässlich erwartbar erscheint und tatsächlich als solcher erachtet wird. Die
Drohung kann den spezifischen Nutzen aufweisen, das fremde Handeln ohne
Zuführen des in Aussicht gestellten Schadens bewirken zu können, und genau
das macht sie vortrefflich. Tyrell dazu:
„Die beim ihm [dem Machthaber; C.A.] damit (u.U.) erzeugte spezifische Konstella-
tion von Vermeidungsdisposition und konditionalen Erwartungen kann den Macht-
unterworfenen nun aber zur Fügsamkeit motivieren, ohne dass der Machthaber
straft, Gewalt anwendet […]“ (ebd., S. 65; Herv. im Orig.).
Wer also bei geringem Aufwand die Lenkung anderer erreichen will, kann sich
der Drohung als Mittel bedienen, die erst und nur für den Fall der Unbotmäßig-
keit gegen das geforderte Handeln den versprochenen (mitunter physischen)
Schaden zufügt, auf diesen aber verzichten kann, weil der Bedrohte zumeist das
Risiko vor dem anstehenden Nachteil abwendet und sich fügt. Der auf kosten-
günstigen Aufbietungen in der Drohbeziehung beruhende Gehorsam könnte sich,
so Tyrell, eignen, um dasjenige Machtanliegen weitestgehend vor der Labilität
zu schützen, das den verlässlichen Transfer des Willens von den Übergeordneten
zu den Untergeordneten verlangt. Auf diese Weise lässt es Tyrell zunächst frag-
lich erscheinen, warum Weber statt auf die gewählte Relation von Befehl und
Gehorsam nicht auf die eindrucksvolle Effektivität der Drohung rekurriert.
Die Abgrenzung von der Drohung lässt aber das jeweilige Handeln der
Über- und Untergeordneten deutlich erkennbar werden. Was die Drohung radikal
einschränkt, ist die autonome Eigenbedeutung, die man dem Unterordnungshan-
2.5 Handeln und Herrschaft 125

deln zuschreibt. Die Kanalisierung fremden Handelns auf eine Option, mit der
sich Nachteile vermeiden lassen, lässt dem Bedrohten ein Minimum an Sinnhaf-
tigkeit. Das ist im Falle der Gehorsamspflicht anders. Auf sie verweist auch Ty-
rell, um die spezifische Sinnhaftigkeit der Unterordnung zu beschreiben. Dafür
muss man aber zunächst den Befehl betrachten, mit dem er zwei Intentionen
verbindet: Da ist erstens das Herbeiführen eines bestimmten Handlungsresultats
und zweitens dessen Durchführung seitens desjenigen, an den sich der Befehl
richtet. Mit dem Befehl will man also die Überführung eines bestimmten Sinns
erreichen und auf den Willen des Untergeordneten wirken (ebd., 73). Wer also
einem Untergeordneten aus einer nicht konfrontativen Stellung heraus einer
Weisung aussetzt, will diesen nicht nur über das Verlangen in Kenntnis setzen,
für dessen In-die-Tat-Umsetzung der Informierte Sorge zu tragen hat, sondern er
beabsichtigt, auch den anderen überhaupt zu mobilisieren. Um die Sinnhaftigkeit
der Unterordnung zu verstehen, ist eine Bemerkung Webers wichtig, die zum
oben rekonstruierten Idealtypus der Herrschaft gehört. Sie betrifft das „als ob“:
„Die schwerfällige Formulierung mit `als ob´ ist, wenn man den hier angenomme-
nen Herrschaftsbegriff zugrunde legen will, deshalb unvermeidlich, weil einerseits
für unsere Zwecke nicht die bloße äußere Resultante: das faktische Befolgtwerden
des Befehls, genügt: denn der Sinn seines Hingenommenwerdens als einer `gelten-
den´ Norm ist für uns nicht gleichgültig […]“ (Weber 2002, S. 544).
Welche Bedeutung das „als ob“ für das Herrschaftshandeln hat, lässt sich wie
folgt auflösen. Herrschaftshandeln weist die Komponenten des sozialen Han-
delns auf, es beinhaltet aber auch eine spezifische Güte. Zur Herrschaftsbezie-
hung gehört die Zuschreibung der Rechtmäßigkeit. Reines soziales Handeln, das
nicht an einer Sitte, einer Konvention oder einem Recht orientiert ist, weist nur
eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür auf, dass sich es Erwartung anderer erfül-
len wird. Das reine soziale Handeln demonstriert, so Weber, aufgrund der bloßen
Orientierung an dem erwarteten Handeln anderer die „absolute Labilität“ dieser
Erwartung (vgl. Weber 1951, S. 446). Wichtig ist nun Folgendes: Sozialen Han-
deln, das von Seiten der Handelnden nicht an einer zweckrationalen Ordnung
orientiert ist, kann so erfolgen, als ob sie sich an einer solchen orientierten (ebd.,
S. 452). Der Ablauf des sozialen Handelns lässt in diesem Fall einen Ertrag er-
kennen, der sich sonst ergeben hätte, wenn sich die Handelnden an einer zweck-
rationalen Ordnung orientiert hätten. Wird das soziale Handeln entsprechend
einer zweckrationalen Ordnung gestaltet, die tatsächlich aber nicht besteht, so ist
die Wahrscheinlichkeit größer, dass mit einem Handeln auf Seiten der Gegen-
über zu rechnen ist, das wiederum für die Orientierung des eigenen Handelns
ausschlaggebend sein kann. Zur Veranschaulichung des „als ob“ hilft eines der
Beispiele Webers: Eine Sprachgemeinschaft besteht u.a. deswegen, weil Spre-
cher die Erwartung hegen, dass ihr gemeinter Sinn bei anderen auf Verständnis
126 2 Herrschaft

trifft. Der Rückgriff auf die Zeichen erfolgt, als ob sie sich an tatsächlichen
zweckrationalen Grammatikregeln orientierten (ebd., S. 454).
Die mit dem „als ob“ verbundene Erwartungssicherheit skizziert er an ande-
rer auch mit der Kategorie Einverständnis. Er legt fest:
„Unter `Einverständnis´ nämlich wollen wir den Tatbestand verstehen: dass ein an
Erwartungen des Verhaltens Anderer orientiertes Handeln um deswillen eine empi-
risch `geltende´ Chance hat, diese Erwartung erfüllt zu sehen, weil die Wahrschein-
lichkeit objektiv besteht: dass diese andern jene Erwartungen trotz des Fehlens einer
Vereinbarung als sinnhaft `gültig´ für ihr Verhalten praktisch behandeln werden“
(ebd., S. 456).
Was für die Erwartungssicherheit verantwortlich ist, tritt mit dieser Kategorie
hervor: Beim Einverständnis kann man deswegen mit der Erfüllung der Erwar-
tung rechnen, mit der man an einen Handelnden herantritt, weil die Chance be-
steht, dass auch dieser die an sich gerichtete Erwartung als geltend erachtet. An-
stelle der Orientierung an der Erwartung an das Handeln der Anderen richtet sich
die Orientierung an die Geltungschance, d.h. man kann aufgrund der Vorstellung
über die Geltung einer Ordnung, die im Wesentlichen aus Verhaltensvorgaben
besteht (vgl. Weber 2002, S. 16), objektiv Erwartungen hegen, was ein Mehr an
Erwartungssicherheit begründet.77
Herrschafts-Einverständnis nennt Weber den Sachverhalt, der vor allem am
Ungehorsam erkennbar wird. In diesem Fall wird Unbotmäßigkeit kaschiert,
weil der Ungehorsame eine legitime Herrschaft nicht leugnet (vgl. Weber 1951,
S. 457). Dazu sieht er sich veranlasst, weil er sich der objektiven Chance gewiss
ist, die besagt, dass man auf Seiten anderer mit der Orientierung an der Geltung
einer Herrschaft rechnen kann. Am abweichenden Verhalten erklärt Weber auch
die Geltung einer Ordnung. Für Weber kann nicht nur die Befolgung einer Ord-
nung ihre Geltung hervorbringen, denn auch das abweichende Verhalten kann an
ihr orientiert sein. Wenn dieses nämlich von Seiten des Handelnden verborgen
werden soll, dann zeigt sich, dass er mit der Geltung einer Ordnung zählt. Er
orientiert sich daran, dass sich andere so an der Ordnung orientieren, als ob sie
deren Erfüllung zur Maxime für das eigene Handeln machen, was schließlich das
Kaschieren des abweichenden Verhaltens veranlasst (ebd., S. 443). Zum Herr-
schafts-Einverständnis zählt er darüber hinaus den Gehorsam aus Gründen der
Furcht. Die ständige Unzufriedenheit auf Seiten der Untergeordneten gefährdet
aber eine solche Herrschaft. Sie kann zwar mit einer gewissen Beständigkeit

77 Die besondere Effizienz der Herrschaft geht, Tyrell zufolge, auf eine dreifache Indifferenz
zurück. Da ist als erstes die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt des Befehls, der von Seiten
der Untergeordneten nicht evaluiert, d.h. die inhaltliche Indifferenz „[…] schließt von sich aus
keine Handlung als möglichen Gegenstand von Befehl und Gehorsam aus und hat auch keine
Präferenz für bestimmte Befehle“ (Tyrell 1980, S. 78). Infolge der inhaltlichen Indifferenz er-
geben sich als zweites die zeitliche Streckung und drittes die soziale Reichweite.
2.5 Handeln und Herrschaft 127

rechnen, weil man aber die zugemutete Orientierung lediglich am erwarteten


Gehorsam orientieren kann, der aus Furcht veranlasst ist, handelt es sich um eine
labile Herrschaft. Anderes liegt im folgenden Fall vor: Bekundet man seinen
Willen im Hinblick darauf, ihn von anderen befolgt zu sehen, und tritt diese Er-
wartung von Seiten der Übergeordneten mit einer Verbindlichkeit auf, die sei-
tens der Untergeordneten deswegen befolgt wird, weil sie sich subjektiv ver-
pflichten, so liegt die Geltung der Herrschaft hervor. Die objektive Chance für
einverständnismäßigen Gehorsam besteht also dort, wo die von der Geltung der
Erwartung Betroffenen diese Geltung als verbindlich herantretend erfahren und
sich entscheiden, sie für sich als verbindlich anzusehen. Das nennt Weber das
Legitimitäts-Einverständnis (ebd., S. 470). Im Denken der Untergeordneten ver-
fügen die Übergeordneten über das Ansehen, Herrschaft rechtmäßig auszuüben.
Weber schreibt: „Aber überhaupt ist festzuhalten: Grundlage jeder Herrschaft,
also jeder Fügsamkeit, ist ein Glauben: `Prestige´-Glauben, zugunsten des oder
der Herrschenden“ (Weber 2002, S. 153; Herv. im Orig.).
Im Falle des Gehorsams liegt Handeln vor. Hierfür muss die sinnhafte An-
erkennung des besonderen Prestiges der Herrschaftsbeziehung erklärt werden.
Die Sinnhaftigkeit wird durch die Orientierung für die Ausführung des Fremd-
willens deutlich. In diesem Fall weiß der Untergeordnete, was der Wille des
Übergeordneten ist und erkennt beschließend die Geltung von dessen für den
Befehl grundlegenden, aber nicht eigenhändig auszuführenden Vorsatz an. Beim
Gehorsam muss der Befehl zum vorgelagerten Inhalt des Willens des Unterge-
ordneten werden. Man spricht also von Gehorsam, wenn ein vorsätzlicher Trans-
fer des Willens des Übergeordneten vorliegt. Der Gehorsame handelt. Tyrell
hebt die Fügsamkeit um der Anweisung willen hervor, in der er eine „doppelte
Zurechnung“ erkennt (vgl. Tyrell 1980, S. 74).
Die Erwartungssicherheit auf Seiten der Übergeordneten ist maximal, wenn
sie mit der vorsätzlich verpflichteten Unterordnung rechnen können. Diese Stabi-
lität trifft nicht nur für Herrschaft zu, sondern gilt für legitime Ordnungen über-
haupt. Weber schreibt:
„Eine nur aus zweckrationalen Motiven innegehaltene Ordnung ist im Allgemeinen
weit labiler als die lediglich kraft Sinne, infolge Eingelebtheit des Verhaltens, erfol-
gende Orientierung an dieser: die von allen häufigste Art der inneren Haltung. Aber
sie ist noch ungleich labiler als eine mit dem Prestige der Vorbildlichkeit oder Ver-
bindlichkeit, wir wollen sagen: der `Legitimität´ auftretende“ (Weber 2002, S. 16). 78

78 Dessen ungeachtet macht er einen anderen Sachverhalt für die massenhafte Befolgung von
Ordnungen verantwortlich: Angesichts eines wesentlichen Merkmals moderner Gesellschaften,
nämlich die Anhäufung gesatzter Ordnungen, die für die unterschiedlichsten Interaktionen
vorgesehen sind, fragt er nach den praktischen Konsequenzen der immer weiter fortschreiten-
den „Rationalisierung der Ordnungen“ (Weber 1951, S. 471). Man muss berücksichtigen, dass
es den Ablauf des Handelns erschweren würde, wenn man in jedem Fall Verständnis für die ra-
tionalen Zwecke aufbringen müsste, um deren willen die betreffenden Ordnungen eingerichtet
128 2 Herrschaft

Im Allgemeinen stellt er fest, dass Interaktionen, in denen man jeweils auf die
Orientierung der anderen an einer geltenden Ordnung zählen kann, einen hohen
Grad an Erwartungssicherheit aufweisen. Weber dazu:
„Die Deutung des Handelns muss von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz
nehmen: dass jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-)
Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils
Gelten-Sollendem in den Köpfen realer Menschen […] sind, an denen sich deren
Handeln orientiert, und dass sie als solche ganz gewaltige, oft geradezu beherr-
schende, kausale Bedeutung für die Art de Ablaufs des Handelns der realen Men-
schen haben. Vor allem Vorstellungen von etwas Gelten (oder auch: Nicht-Gelten-)
Sollendem“ (ebd., S. 7; Herv. im Orig.).
Für Herrschaft macht er also geltend, dass es die Orientierung an der Legitimität
ist, die sie jeweils optimiert. „[…] Sitte oder Interessenlage so wenig wie rein
affektuelle oder rein wertrationale Motive der Verbundenheit könnten verlässli-
che Grundlagen einer Herrschaft darstellen. Zu ihnen tritt normalerweise ein
weiteres Moment: der Legitimitätsglaube“ (ebd., S. 122). Kann man mit der Le-
gitimität der Herrschaft rechnen, so bedeutet das, die Untergeordneten folgen
einem Befehl um einer Herrschaftsbeziehung wegen, sie handeln gehorsam.79 Im
Wesentlichen ist es die gelungene Übertragung eines Willens, die sich durch die

wurden. Für die Handelnden wäre das, so Weber, unzumutbar, wenn man sie nötigen würde,
sich bei der Ordnungsorientierung für das jeweilige Handeln das Prinzip zu vergegenwärtigen,
auf dessen Grundlage die Ordnung einmal geschaffen wurde. Obwohl dies in der Tat nicht ge-
schieht und die jeweiligen Prinzipien und Zwecke dem Bewusstsein der Handelnden unzuläng-
lich sind, werden Ordnungen trotzdem befolgt. Weber folgert, dass es nicht erforderlich ist,
Prinzipien und Zwecke zu kennen. Sein Kommentar lautet: „Einverständnis und Verständnis
sind nicht identisch“ (ebd.). Vollkommen ausreichend ist es, ihm zufolge, wenn diejenigen
umfassend informiert sind, die dazu befugt sind, sich über den Sinn einer zu schaffenden Ord-
nung zu verständigen und zu einigen. Er schreibt: „Solange die Schaffung eines neuen `Geset-
zes´ oder eines neuen Paragraphen der `Vereinsstatuten´ diskutiert wird, pflegen wenigstens
die praktisch besonders stark davon berührten Interessenten den wirklich gemeinten `Sinn´ ei-
ner Neuordnung zu durchschauen. Ist sie praktisch `eingelebt´, so kann dieser ursprünglich von
den Schöpfern, mehr oder minder einheitlich, gemeinte Sinn so völlig vergessen oder durch
den Bedeutungswandel verdeckt werden, dass der Bruchteil der Richter und Anwälte, welche
den `Zweck´, zu welchem verwickelte Rechtsnormen seinerzeit vereinbart oder oktroyiert
worden sind, wirklich durchschauen, winzig ist das `Publikum´ aber selbst die Tatsache des
Geschaffenseins und der empirischen `Geltung´ der Rechtsnormen und also der daraus folgen-
den `Chancen´ gerade soweit kennt, als zu Vermeidung der allerdrastischten Unannehmlichkei-
ten erforderlich ist“ (ebd., S. 472). Es genügt die spezifisch moderne Gewissheit darüber, dass
man gegebenenfalls die Zwecke und Prinzipien einer Ordnung nachvollziehen könnte, weil sie
rational geschöpft sind (ebd., S. 473).
79 Die Aufmerksamkeit für Legitimität steigt an, seitdem die sakrosankte Rechtfertigung von
Herrschaft ihre Kraft eingebüßt hat, infolgedessen Legitimität dem Denken zugänglich ge-
macht wurde (vgl. Johnson 1977, S. 48). Legitimität ist nun, so Ulrich Matz, nachweisbedürf-
tig: „Gott oder die Religion entfallen als Bezugspunkt der Legitimität von vornherein, ja, diese
Säkularisierung des Staates ist geradezu die erste Bedingung moderner Legitimität […]“ (Matz
1978, S. 27).
2.5 Handeln und Herrschaft 129

Zuschreibung der Rechtmäßigkeit ereignet, infolge dessen die Untergeordneten


sich verpflichten, gehorsam zu sein (ebd., S. 544).80
Peter Graf Kielmansegg, der sich an Webers Vorgaben zu legitimer Ord-
nung und zur Legitimität der Herrschaft orientiert, legt offen, warum Legitimität
von Seiten der Übergeordneten gepflegt werden muss. Wie Weber bemerkt auch
er, dass man in der Konfrontation mit einer Norm eine Geltungserfahrung macht,
wenn man sie als rechtmäßig erachtet. Er schreibt: „Legitimität ist soziale Gel-
tung als rechtens (vgl. Kielmansegg 1971, S. 371). Um Legitimität genau zu
erfassen, differenziert er zwischen Zustimmung und Anerkennung. Der Ersteren
fehlt eine Wirkung, die im Falle der Anerkennung gegeben ist, denn diese fügt
der Norm eine Güte zu. Die schlichte Zustimmung zu einer Norm kann erfolgen,
weil sie mit dem Orientierungsbedarf korrespondiert, den die Norm befriedigt
(vgl. Popitz 2004, S. 224), d.h. befürwortet man die entlastende Verlässlichkeit
für die eigene Orientierung, so liegt noch keine Geltungserfahrung vor. Mit der
Anerkennung etikettiert man hingegen eine Ordnung als rechtmäßig. Legitim
nennt man eine besondere Geltungszuschreibung, und somit ist die Ordnung

80 Wesentlich für den Idealtypus der Herrschaft ist also die Verpflichtung zum Gehorsam.
Nichtsdestoweniger nimmt Weber an, dass sich Herrschaft in der empirischen Wirklichkeit
vielmehr auf dem Interesse der Untergeordneten stützt: „Natürlich bleibt auch in jedem autori-
tären Pflichtverhältnis faktisch ein Minimum von eigenem Interesse des Gehorchenden daran,
dass er gehorcht, normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder des Gehorsams“ (Weber 2002,
S. 133). Welchen Bezug dieses Interesse beansprucht, führt Arnold Gehlen auf Folgendes zu-
rück (vgl. Gehlen 1978, S. 92): Es ist das sachliche Interesse an all das, was die Untergeordne-
ten ihr Eigen nennen, um dessen Erhaltung sie sich in einem Herrschaftsverhältnis deswegen
weniger sorgen, weil sie die Existenzsicherung als Aufgabe der Übergeordneten erachten. Das
Interesse an der Existenzsicherung findet man, Weber zufolge, insbesondere in modernen Ge-
sellschaften vor, in denen das materielle Überleben auf die bürokratische Herrschaft angewie-
sen ist. „Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funk-
tionieren der zunehmend bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisationen nimmt
stetig zu, und der Gedanke an die Möglichkeit ihrer Ausschaltung wird dadurch immer utopi-
scher“ (Weber 2002, S. 208 f.). Übergeordnete können sich nicht indifferent gegenüber den In-
teressen der Untergeordneten verhalten, denn, so Karl Otto Hondrich: „Nur in einer regressi-
ven, letztlich selbstzerstörerischen Gesellschaft (`Entgesellschaftung´) lässt sich ein unbe-
schränkter Interessengegensatz zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen konstruieren. In der
statischen Gesellschaft gibt es schon ein Minimum an übereinstimmender Interessenlage –
nämlich im Hinblick auf die Erhaltung sozialer Beziehungen. In der fortschreitenden, also auf
weitergehende Bedürfnisbefriedigung angelegten Vergesellschaftung schließlich ist der lang-
fristige Machtzuwachs des Gesamtsystems (und damit der Überlegenen im System) nur mög-
lich, wenn die Mächtigen ihre Machtausübung fortlaufend einschränken, also den Interessen
der (noch) Unterlegenen immer weniger zuwider handeln, mit anderen Worten, wenn das Ver-
hältnis von positiven zu negativen Leistungen sich ständig zugunsten der ersteren verschiebt“
(Hondrich 1973, S. 73). Neben dem sachlichen Interesse macht Weber das Interesse an einem
ständischen Moment gelten, das spezifisch für die in der bürokratischen Herrschaft bedeutsame
Unterordnung der Beamten zutrifft. Diese sind nämlich an jenem Ansehen interessiert und ge-
nießen im Gegensatz zu den weiter unten Untergeordneten das Prestige, das im Wesentlichen
auf der Schätzung des für die rationale Bürokratie unerlässlichen Bildungspatents beruht (vgl.
Weber 2005, S. 161 f.).
130 2 Herrschaft

durch die Anerkennung von Seiten derer mitkonstituiert, an die sich die Gel-
tungsanforderung der Ordnung richtet (vgl. Kielmansegg 1971, S. 372). Das
trifft auch auf Herrschaft zu.81
„Denn das Objekt, das es zu erfassen gilt, sind nicht bestimmte Geltungsüberzeu-
gungen, sondern es ist die Tatsache, dass politische Systeme sich auf Geltungsüber-
zeugungen gründen, als solche. Wenn der Sozialwissenschaftler sich dabei das Phä-
nomen der Geltung aus den vorfindbaren Geltungsüberzeugungen erschließt, so
kehrt er die Erfahrung des Individuums sozusagen um. Für das Individuum gründet
sich Geltung eben nicht auf Anerkennung, sondern Anerkennung folgt aus Geltung“
(ebd., S. 368 f.).
Die Geltung der Herrschaft ist somit ein Resultat der Orientierung an ihrem Be-
stehen. Das allerdings macht erst dann Sinn, wenn man die Erteilung der Aner-
kennung als eine Reaktion begreift. Daher Kielmansegg: „Legitim ist – so legt es
die Definition, Legitimität sei soziale Geltung als rechtens, fest –, was die, auf
die der Geltungsanspruch zielt, als legitim anerkennen“ (ebd.). Neben der Wert-
schätzung für die Herrschaftsbeziehung ist es demzufolge der Legitimitätsan-
spruch auf Seiten der Übergeordneten, der zur Hervorbringung von Legitimität
beiträgt. Die Geltungsanforderung ist schließlich auch deswegen erforderlich,
weil die Zumutung der Unterordnung von Seiten der Betroffenen als rechtferti-
gungsbedürftig erfahren wird (ebd., 389). Für die Geltung einer Herrschaft
braucht es also Gründe für ihre Rechtmäßigkeit. Insofern verweist Legitimität
auf ein Beziehungsresultat (vgl. auch Sternberger 1962, S. 2):
„Indem der Mensch die Notwendigkeit geistiger Herrschaftsbegründung entdeckt
und seine Geltungsvorstellungen zu Legitimitätsideen formt, schafft er die Möglich-
keit legitimer Herrschaft. Indem er den Geltungsanspruch anerkennt, der in seinem
Denken Gestalt gewonnen hat und ihm in einer Herrschaftsordnung gegenübertritt,
schafft er Legitimität (und Illegitimität – dort, wo er ihn verwirft)“ (Kielmansegg
1971, S. 390).
An der Herstellung von Legitimität sind demnach beide Seiten einer Herr-
schaftsbeziehung beteiligt, die Untergeordneten und die Übergeordneten. Claus
Offe spricht in dieser Hinsicht von zwei Aktionsrichtungen (vgl. Offe 1976, S.
84): Wenn die Untergeordneten die Legitimität bekräftigen, dann rekurrieren sie
auf spezifische Geltungsgründe, die von Seiten der Übergeordneten vorgetragen
werden. Dazu Habermas: „Was als Grund akzeptiert wird und konsenserzielen-
de, damit motivbildende Kraft hat, hängt vom jeweils geforderten Niveau der
Rechtfertigung ab“ (Habermas 1976, S. 42; Herv. im Orig.).

81 Carl Joachim Friedrich bemerkt ebenfalls, dass Legitimität nicht mit Zustimmung identisch
sein kann, denn was der Zustimmung fehlt, ist die Auskunft darüber, ob Herrschaft zu Recht
besteht (vgl. Friedrich 1960, S. 121).
2.5 Handeln und Herrschaft 131

Die zwei Aktionsrichtungen sind für Webers Vorhaben bedeutsam, reine


Typen der Herrschaft zu konstruieren, mit deren Hilfe sich messen lässt, was
man an einem Herrschaftsverband einem oder mehreren der Idealtypen zuordnen
kann, um sie sodann zu verstehen und ihren Beziehungen zur Wirtschaft nachzu-
gehen. Vor dem Hintergrund der Aktionsrichtung von Seiten der Übergeordneten
bildet er drei reine Typen der Herrschaft. Die Übergeordneten berufen sich auf
einen spezifischen Geltungsgrund, um ihren Anspruch zu rechtfertigen, Weisun-
gen erfüllt zu sehen, ohne sie durchsetzen zu müssen. Weber dazu:
„Für unsere begrenzten Zwecke hier gehen wir aber diejenigen Grundtypen der
Herrschaft zurück, die sich ergeben, wenn man fragt: auf welche letzten Prinzipien
die `Geltung´ einer Herrschaft, d.h. der Anspruch auf Gehorsam der `Beamten´ ge-
genüber dem Herrn und der Beherrschten gegenüber beiden, gestützt werden kann“
(Weber 2002, S. 549).82
Die Konstruktion der Idealtypen, die auf der jeweiligen Referenz für ihre Gel-
tung basieren, geht darauf zurück, dass sich jede Herrschaft rechtfertigen muss.
Die Prinzipien der jeweils idealtypischen Herrschaft sind wie folgt beschaffen:
Die legale Herrschaft beruht darauf, dass die Übergeordneten durch formale und
logisch-korrekt gesatzte Regeln bemächtigt werden, denen sie sich ihrerseits
unterordnen (ebd., S. 124 ff.). Man befiehlt, weil eine rationale Ordnung dies
erlaubt und selbst der Befehl ist ein Ausdruck von Gehorsam gegenüber dieser
Ordnung. Die formal richtige Schöpfung der Ordnung bestimmt die Legalität der
Bemächtigung und somit ist auch die Herrschaft legitim. Die traditionale Herr-
schaft speist ihre Rechtfertigung aus der Pietät gegenüber ehrwürdiger Sitte. Sie
„[…] kann ihre Grundlage in der Heiligkeit der Tradition, also des Gewohnten,
immer so Gewesenen finden, welche gegen bestimmte Personen Gehorsam vor-
schreibt“ (ebd., S. 549). Die charismatische Herrschaft stuft Weber als den am
wenigsten rationalen Typus ein, da sie sich auf der außerordentlichen Qualität
einer Person gründet. Ihre Legitimität entspringt dem Charisma des Übergeord-
neten, das hingebungsbereite Schwärmerei hervorruft, nur hält sie sich, solange
der Charismaträger sich in seinen außeralltäglichen Kompetenzen bewährt (ebd.,
S. 140 ff.).
Allesamt sind nicht im Hinblick darauf konstruiert, dass sie sich in einem
Herrschaftsverband abbilden. Die Terminologie kommentiert er folgenderma-
ßen:
„Hier sei nur betont: dass sie mitnichten den Anspruch erhebt, die einzig mögliche
zu sein, noch vollends: dass alle empirischen Herrschaftsgebilde einem dieser Typen

82 Die Erwartungssicherheit auf Seiten der Übergeordneten muss vor allem gegenüber einer ei-
gens getroffenen Auswahl an Menschen gegeben sein. Konkret: Eine „Organisation“ muss Er-
wartungssicherheit erfüllen, und das ist die Verbindung zwischen den Übergeordneten und der
Verwaltung, die dafür Sorge tragen muss, dass Ordnungen eingehalten werden (vgl. Weber
2002, S. 122).
132 2 Herrschaft

`rein´ entsprechen müssten. Im geraden Gegenteil stellt die überwiegende Mehrzahl


von ihnen eine Kombination oder einen Übergangszustand zwischen mehreren von
ihnen dar“ (Weber 1947, S. 273).
Die drei Herrschaftstypen erfüllen für ihn in erster Linie nicht den Zweck, un-
mittelbare Interaktionen verstehend zu beobachten, die sich in der empirischen
Wirklichkeit tatsächlich aus Befehl und Gehorsam zusammensetzen: Stattdessen
steht ein bestimmter Sachverhalt im Vordergrund, den er als genuinen Ausdruck
von Herrschaft begreift, und das ist: die Ordnungsschöpfung. Ursprünglich, so
Weber, waren es charismatische Personen, die Ordnungen neu schöpften. Sie
gaben neue Gebote bekannt (vgl. Weber 2002, S. 19), deren Befolgung aber vom
Ansehen der verkündigenden Personen abhing, das wiederum auf Bewährungsta-
ten gegenüber vorgetragener Not von Seiten der Untergeordneten beruhte (ebd.,
S. 141). Die Ordnungsschöpfung ist also in diesem Fall eigens an eine Person,
genauer: an ihr außergewöhnliches Prestige gebunden. Der Charismaträger er-
scheint infolge einer Sendung, die mit den Hoffnungen der Untergeordneten kor-
respondiert. Schließlich speist sich das Charisma durch Wunder und Erfolge auf
der Grundlage von außergewöhnlichen Qualitäten, mit denen die Untergeordne-
ten vorbehaltlos dessen Träger etikettieren und an die sie ihren Glauben an das
eigene Wohlergehen richten, weil „[…] er persönlich als der innerlich `berufene´
Leiter des Menschen gilt, dass diese sich ihn nicht kraft Sitte oder Satzung fü-
gen, sondern weil sie an ihn glauben“ (Weber 1994, S. 36). Vermindert sich die
Leistung des Charismaträgers, gelingt es ihm nicht, sich durch Schaffung von
Wohlergehen für die Untergeordneten als außeralltäglich hervorzutun, so löst
sich das Charisma auf (vgl. Weber 2002, S. 140). Der charismatische Überge-
ordnete braucht also notwendig Anerkennung infolge des Wohlergehens der Un-
tergeordneten. „Wenn nicht, so ist er offenbar nicht der von den Göttern gesand-
te Herr“ (ebd., S. 656). Die erfolgreiche Verkündigung von Geboten steht und
fällt mit der Bewährung.
Das Risiko der charismatischen Herrschaft zeigt, dass die Schöpfung und
Reformierung von Ordnungen eine Legitimitätsgrundlage voraussetzt und zwar
die derjenigen, die Ordnungen schaffen. Von diesem Umstand zeigen sich aller-
dings nicht nur Ordnungsschöpfungen kraft übernatürlicher Sendung betroffen,
sondern auch die Hervorbringung von positiven Satzungen ist daran gebunden,
von dem Glauben an ihre Berechtigung bekräftigt zu sein. Das erklärt Weber am
Verband und an der Anstalt. Grundlegend für den Ersteren ist zum einen die
Möglichkeit, die Beteiligung an einer sozialen Beziehung zu verweigern. Zum
anderen kann er die Einhaltung von Ordnungen notfalls mit Zwang garantieren.
Dazu Weber: „Fehlt die Chance dieses Handelns eines angebbaren Personensta-
bes (oder einer angebbaren Einzelperson), so besteht für unsere Terminologie
eben nur eine `soziale Beziehung´, aber kein `Verband´ (Weber 2002, S. 26;
Herv. im Orig.). Wichtig für ihn ist also die ordnungsgarantierende Beteiligung
2.5 Handeln und Herrschaft 133

von wenigstens einer Person und das kann mitunter ein Familienoberhaupt, ein
Hausherr oder auch ein Vereinsvorstand, Fürst oder Staatspräsident sein. Die
notfalls mittels Verbandszwang aufrecht zu erhaltende Ordnung braucht aller-
dings, seinen Angaben zufolge, nicht rational gesatzt zu sein, denn genau diese
Entbehrung schafft die wesentliche Unterscheidung zu der anderen sozialen Be-
ziehung, der ebenfalls der mögliche Einsatz von Zwang eigen ist.
Zur Anstalt: Liegt eine soziale Beziehung vor, ohne dass die Beteiligten ei-
ne Ordnung über diese vereinbart haben, eine solche aber besteht und deren Be-
folgung von den Beteiligten erwartet wird, gleichwohl sie nicht an ihrer Schaf-
fung mitgewirkt haben, dann geschieht die Beteiligung an dieser sozialen Bezie-
hung ohne vorherige Einwilligung der Beteiligten (vgl. Weber 1951, S. 465).
Soweit stimmt der Typ Anstalt mit dem Verband überein, d.h. der für die Inne-
haltung der Ordnung vorgesehene Zwangapparat ist die Komponente, die beide
Typen miteinander teilen. Was aber erstere und letzteren voneinander trennt, ist
die Entbehrung, die sich der Verband leistet, hingegen die Anstalt kennzeichnet:
Eine rationale Ordnung, die von fachmäßig Geschulten formal richtig gesatzt
wird. Insofern es nur diese ist, die dem Verband abgeht, die Anstalt ansonsten
wie dieser den eigens zur Erfüllung der Ordnung eingerichteten Personenstab
und auch die unfreiwillige Beziehungsbeteiligung aufweist, kann Weber den
bloß relativen Gegensatz der beiden Typen erkennen (vgl. Weber 2002, S. 28).
Mit anderen Worten: „Das `Anstaltshandeln´ ist der rational geordnete Teil eines
`Verbandshandelns´, die Anstalt ein partiell rational geordneter Verband“ (We-
ber 1951, S. 467).
Wird das ordnungsgemäße Handeln derjenigen verbindlich erwartet und im
Hintergrund durch Zwang garantiert, die sich an den sozialen Beziehungen von
Verband und Anstalt beteiligen können und werden sie ihnen ferner auch ohne
ihr Entgegenkommen zugerechnet, so spricht Weber von einer politischen Ge-
meinschaft (vgl. Weber 1951, S. 466), der vordergründig die Herrschaftsgeltung
auf einem Gebiet eigen ist. Die Gebietsgeltung wird erkennbar, wenn der zur
Innehaltung der Ordnung bereitstehende Stab seine Aufmerksamkeit nicht nur
auf die expliziten Angehörigen von Verband oder Anstalt, sondern auch auf an-
dere sich auf dem Gebiet aufhaltenden Menschen richtet. Zur politischen Ge-
meinschaft gehört schließlich der durchführbare Einsatz von Gewalt, um Ord-
nungen zu garantieren. Weber akzentuiert speziell diese Komponente, indem er
sie erstens als Mittel der Ordnungsgarantie benennt, auf die ausschließlich die
politische Gemeinschaft angewiesen, und zwar existenziell angewiesen ist. Die
einzig auf der Grundlage der Gewalt vorgenommene Identifikation nimmt er
deswegen vor, weil sich aus der Menge der Zwecke der politischen Gemein-
schaft kein universeller Zweck angeben lässt, so dass man sich, ihm zufolge, nur
auf das unerlässliche Mittel der Gewalt einigen kann, welches er von jenen son-
dert.
134 2 Herrschaft

„Man kann daher den `politischen´ Charakter eines Verbandes nur durch das – unter
Umständen zum Selbstzweck gesteigerte – Mittel definieren, welches nicht ihm al-
lein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Ge-
waltsamkeit“ (Weber 2002, S. 30; Herv. im Orig.).
Der Staat ist der vollkommen moderne Typ des politischen Herrschaftsverbands,
genauer: der politischen Herrschaftsanstalt, deren Gewaltmonopol die positiven
Anstaltssatzungen garantiert und durch diese geregelt ist.
Weitaus wichtiger als die Unterscheidung von Verband und Anstalt ist der
Sachverhalt, bei dem eine gesatzte Ordnung neu geschaffen wird. Weber stellt
für diesen Vorgang die Oktroyierung und Fügsamkeit in den Vordergrund (vgl.
Weber 2002, S. 27). Spricht man von der Oktroyierung einer Ordnung, so wird
diese zum Zweck der Orientierung an ihr bekannt gemacht. Der Vorgang
schließt Ungehorsam aus. Das wiederum offenbart den Tatbestand der Herr-
schaft auf Seiten derjenigen, die oktroyieren und mehr noch die erforderliche
Anlehnung an deren legitime Schöpfungsmacht.
„Die Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder
Mehrere setzt, soweit nicht bloße Furcht oder zweckrationale Motive dafür ent-
scheidend sind, sondern Legalitätsvorstellungen bestehen, den Glauben an eine in
irgendeinem Sinn legitime Herrschaftsgewalt des oder der Oktroyierenden voraus
[…]“ (ebd., S. 20; Herv. im Orig.).
Für Weber steht fest, dass die Einsetzung einer Ordnung legal, also gemäß gülti-
gen Vorschriften erfolgt, damit aber an den Geltungsgrund der Herrschaft83 ge-
bunden ist. Wenn daher eine Anstalt eine Ordnung erlässt, dann erachtet man die
mit ihr erwartete Verbindlichkeit deswegen als legitim, weil man sich an dem
Legitimitätsglauben der Herrschaft orientiert, ohne den eine Oktroyierungsmacht
nicht sein kann. Ist diese tatsächlich, so bedeutet das, man kann an ihr empiri-
sche Geltung beobachten, d.h. es lässt sich die Orientierung der von der Ordnung
Betroffenen an Vorstellungen von der geltenden Herrschaft zur Aufzwingung
der verbindlichen Ordnung beobachten. Diese Fügsamkeit gegenüber der Sat-
zungsmacht nennt Weber die Verfassung84 des Verbands (vgl. Weber 1951, S.
469). Oktroyierung beruht also auf Macht und ist die machtgestützte Oktroyie-
rung einer Ordnung gegeben, so ist der Vorgang, zu dem die Anerkennung der

83 Grundsätzlich gilt für Weber, dass die Einführung einer Verbandsordnung nicht unabhängig
von der Verbandsherrschaft geschehen kann: „Der Sache nach aber beruht jegliche Oktroyie-
rungsmacht auf einem spezifischen, in seinem Umfang und seiner Art jeweils wechselnden
Einfluss – der `Herrschaft´ – konkreter Menschen (Propheten, Könige, Patrimonialherren,
Hausväter, Älteste oder anderer Honoratioren, Beamten, Partei- oder anderer `Führer´ von
höchst verschiedenem soziologischen Charakter) auf das Verbandshandeln der andern“ (Weber
1951, S. 470; Herv. im Orig.).
84 Er konkretisiert: „Der hier gebrauchte `Verfassungs´-Begriff ist auch der von Lassalle verwen-
dete. Mit der `geschriebenen´ Verfassung, überhaupt mit der Verfassung im juristischen Sinn,
ist er nicht identisch“ (Weber 2002, S. 27).
2.5 Handeln und Herrschaft 135

Oktroyierung gehört, die Verfassung. Es ist schließlich diese Kategorie, mit der
Weber auf den unerlässlichen Zusammenhang zwischen (Anstalts-)Ordnungs-
schöpfung und Herrschaft verweist.
Alles in Allem: Die reine Herrschaft lässt sich nicht auf Macht reduzieren
und sie ist der Herrschaft des Wirtschaftsmonopols um etwas voraus, was sie
allgemein optimiert: die Gehorsamspflicht. Simmels Nachweis darüber, dass
Herrschaft nicht mit Zwang zusammenfällt und Tyrells Feststellung, dass die
Drohung mit der Gehorsamspflicht nicht mithalten kann, lassen noch schärfer
hervortreten, warum das Handeln der Untergeordneten, das Weber für den Ideal-
typus der Herrschaft veranschlagt, ausschlaggebend ist. Hierfür hält er die Kate-
gorie des Einverständnisses bereit. Dass aber auch von Seiten der Übergeordne-
ten eine Wirkung auf das Legitimitäts-Einverständnis ausgeht, lässt sich daran
erkennen, dass sie es sind, die die Geltungsprinzipien der Herrschaft in Stellung
bringen. Anhand der Geltungsprinzipien kann Weber schließlich Typen der
Herrschaft konstruieren, die er im Einzelnen oder verschränkt miteinander im
Handeln des Verbands und der Anstalt aufsucht.
3 Émile Durkheims Welt

3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode)

Durkheim tritt an, um Moral „[…] zu beobachten, sie zu beschreiben, sie zu


klassifizieren und die Gesetze zu suchen, die sie erklären“ (Durkheim 2008a, S.
76). Hierfür muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass im Französischen
ein anderes sprachliches Zeichen für Moral im Umlauf ist, als das im Deutschen
der Fall ist. Im Unterschied zur deutschen Sprache bezeichnet Moral im Franzö-
sischen auch Werte, Normen und Regeln (vgl. Müller 1986, S. 72), aber auch
Sitte, Brauch, Gewohnheit, Gesetz, Vorschrift, Betragen oder Verhalten (vgl.
Krisam 1972, S. 18).
Durkheims Zugang kann man, so Anthony Giddens, erst dann begreifen,
wenn man seine Absicht berücksichtigt, das Faktische der Moral zu beobachten
und zu verneinen, dass sie nicht von dieser Welt ist (vgl. Giddens 1986, S. 21).
Sein Vorhaben im Ganzen ist es, bemerkt Hans Joas, die Voraussetzungen für
den Wandel der Moral zu untersuchen (vgl. Joas 1992, S. 77). Moral drängt sich
dem Menschen auf und sie unterliegt Bedingungen, die eine eigene Wirklichkeit
haben.85 Durkheim will Moral erforschen, und hierfür sieht er vor, sie wie ein

85 Der Drang lässt sich, gleichwohl sich sein Substrat verorten lässt, nicht von territorialen Gren-
zen aufhalten. Darauf weist Durkheim hin, und daher ist es fragwürdig zu behaupten, dass man
den methodologischen Nationalismus „in Reinkultur beispielsweise in den Gesellschaftstheo-
rien Emile Durkheims“ (Beck 2004, S. 44) auffindet. Durkheim und Mauss weisen zwar darauf
hin, dass der nationale Container ihr Bezugspunkt ist, sie formulieren aber auch explizit, dass
es zu den Aufgaben der Soziologie gehört, soziale Phänomene zu untersuchen, für die territori-
ale Grenzen kein Hindernis darstellen: „Eine der Regeln, die wir befolgen, wenn wir soziale
Phänomene als solche und für sich genommen untersuchen, besteht darin, sie nicht im luftlee-
ren Raum stehen zu lassen, sondern stets in Bezug zu einem definierten Substrat zu setzen, das
heißt zu einer Gruppe von Menschen, die einen bestimmten Teil des Raums einnimmt und sich
geographisch abbilden lässt. Nun ist die umfassendste all dieser Gruppierungen – diejenigen,
die alle anderen in sich birgt und die folglich sämtliche Formen umfasst und umkleidet –, wie
es scheint, die politische Gesellschaft: Sippe, Volksstamm, Nation, Stadtstaat, moderner Staat
usw. Es scheint also auf den ersten Blick, als könne sich das kollektive Leben nur innerhalb
von klar umrissenen und fest begrenzten politischen Gebilden entwickeln, das heißt als sei das
nationale Leben die höchste Form des kollektiven Lebens und als könne es für die Soziologie
keine sozialen Phänomene einer höheren Ordnung geben. Es gibt jedoch solche, deren Rahmen
nicht so klar definiert sind; sie setzen sich über politische Grenzen hinweg und erstrecken sich
auf weniger leicht bestimmbare Räume. Auch wenn es aufgrund ihrer Komplexität zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt schwierig ist, sie zu untersuchen, so gilt es dennoch, ihre Existenz fest-

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
138 3 Émile Durkheims Welt

Ding zu behandeln.86 Das bedeutet zunächst Folgendes: „Wir wollen die Moral
nicht aus der Wissenschaft ableiten, sondern die Wissenschaft der Moral betrei-
ben, was etwas ganz anderes ist“ (Durkheim 2008a, S. 76). An anderer Stelle
schreibt er:
„Wir verstehen darunter die Behandlung moralischer Phänomene, der moralischen
Wirklichkeit, wie sie sich der Beobachtung darbietet, sei es nun in der Gegenwart
oder in der Vergangenheit, analog zu der Behandlung, die die Physik und die Physi-
ologie den von ihnen untersuchten Phänomenen zukommen lassen“ (Durkheim
1986a, S. 49).
Begreift man Moral als Ideen, an die sich die Wirklichkeit anpassen soll, dann
versperrt man sich auf diese Weise den Weg, der Wirklichkeit der Moral nach-
zugehen. Geht man im Sinne Durkheims erfahrungswissenschaftlich vor, so
stellt man nicht in den Vordergrund, dass einzig eine moralische Idee das mora-
lische Handeln bewirkt, sondern man untersucht, welche Ursachen die Moral
verschulden und welche Wirkungen sich ihr verdanken, ohne jedoch vorauszu-
setzen, dass Letztere mit einem gewünschten Nutzen zusammenfallen (vgl.
Durkheim 1984, S. 116). In der Ethik hingegen erschöpft sich, so Durkheim, die
Moral in Ideen, ohne ihr zuzugestehen, dass sie abseits der Ideen eine Eigenexis-
tenz führt. Somit macht die Ethik ihrerseits nicht die geltenden Verhaltensregeln,
sondern die in diesen zum Ausdruck gebrachten Ideen zum Gegenstand. Die
Wissenschaft, die aber „etwas ganz anderes ist“, bricht nicht von den Ideen zu
den Dingen auf. Für Durkheim gilt die folgende Regel: Wer Dinge untersuchen
will, weiß vorab nichts von ihnen (ebd., S. 90). Moralisches Handeln ist unter
dieser Voraussetzung nicht die Wirkung einer postulierten Idee, da man Moral,
sobald sie als Ding behandelt wird, nicht in ihrer Wirklichkeit erfassen kann,
wenn man von dem ausgeht, was sein soll.
Wer sich Durkheim anschließt, muss durch wissenschaftliche Erklärungen
herbeigeführte Verwerfungen aushalten können, die zum einen die „Suggestion
des gesunden Menschenverstandes“ (ebd., S. 85) und zum anderen heilige Dinge
betreffen. Gesetzt den Fall, man behandelt Moral wie ein Ding, so muss man
sich von Begriffen, oder wie Durkheim schreibt, von „Vulgärbegriffen“ verab-

zuhalten und ihnen innerhalb der Soziologie den ihnen gebührenden Platz einzuräumen“
(Durkheim/Mauss 2013, S. 453). An anderer Stelle schreiben sie außerdem Folgendes: „Es gibt
also soziale Phänomene, die nicht fest an ein bestimmtes soziales Gebilde gekoppelt sind; sie
erstrecken sich über Gebiete jenseits nationaler Territorien oder entwickeln sich über Zeiträu-
me, die über die Geschichte einer einzelnen Gesellschaft hinausgehen. Sie führe in gewisser
Weise ein supranationales Leben“ (ebd., S. 454). Zur Kritik an der Identifikation Durkheims
mit dem methodologischen Nationalismus vgl. auch Inglis/Robertston 2008; Chernilo 2008.
86 Das hat, so Tanja Bogusz und Heike Delitz, anfangs vor allem in Deutschland für Verwirrung
gesorgt. Sie schreiben: „Durkheim betonte stets, dass die Gruppe sich kognitiv `betätigt´; die
`Produkte dieses Betätigung des Gesamtgeistes´ bezeichnet er als `Dinge´, so dass man den
Eindruck habe, er betrachte die Gesellschaft `als etwas von ihren Mitgliedern ganz verschiede-
nes`“ (Bogusz/Delitz 2013, S. 18; Herv. im Orig.).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 139

schieden, die den Alltag erklären und ihn durch vorgegebene Ziele erleichtern.
Obwohl Vulgärbegriffe für das praktische Handeln nützlich sind, indem sie be-
schreiben oder festlegen, was sein soll und mit welchen Mitteln etwas sein soll
oder was zu unterlassen ist und was sich als nachteilig erweisen wird, ermögli-
chen sie nicht, Ursachen des praktischen Handelns offenzulegen. Dank der be-
reitgestellten Orientierung erlauben sie zwar, der unendlichen Komplexität der
Wirklichkeit auszuweichen und somit bieten Vulgärbegriffe eine Hilfestellung
für den Alltag, indem sie über einen bestimmten Nutzen informieren. Angesichts
dessen sind die tatsächlichen Bedingungen des Nutzens belanglos. „Sie sind von
der Praxis und für die Praxis geschaffen“ (ebd., S. 116).
Wer Sakrales wie ein Ding behandelt, setzt sich der Gefahr aus, sich in
Schwierigkeiten zu bringen. Anders als die Naturwissenschaften macht sich die
Wissenschaft der sozialen Phänomene nicht nur solche Dinge zum Gegenstand
ihrer Forschung, für die im Allgemeinen und aufgrund der langen Gewöhnung
die Ursachen in Verbindung mit ihrem Nutzen erklärt werden, sondern sie nimmt
sich auch die Ursachen von politischen und religiösen Überzeugungen vor. Weil
sie neben den Begriffen des alltäglichen Bedarfs, denen hergebrachte und für die
Erforschung der Auslöser hinderliche Selbstverständlichkeiten anhaften, auch
auf Begriffe zurückgreift, die ansonsten Leidenschaft und Engagement mobili-
sieren, erntet sie für ihr Tun entweder Widerstand und Unverständnis oder sie
verschließt sich gar selbst von der Unnahbarkeit des politisch und religiös Ehr-
würdigen (ebd., S. 129). Insbesondere wer die Moral untersucht und ihr nicht
unterstellt, dass sie außerordentlicher beschaffen sei, als es die übrigen Dinge
sind, der wird sich der Empörung aussetzen, muss aber, so Durkheim, einräu-
men, dass sogar die Moral trotz ihrer Überlegenheit als empirische Tatsache zu
behandeln ist. Sogar das, was heilig ist, hat Ursachen und ist kein Ergebnis einer
„transzendentalen Antizipation der Wirklichkeit“ (ebd., S. 130).
Zu Durkheims Programm gehört es somit, die „Funktion“ 87 und die Ursa-
chen eines sozialen Phänomens zu untersuchen (ebd., S. 181). Er bemerkt, dass
der Nachweis über die Funktion, die ein soziales Phänomen leistet, nicht zur
Herleitung von dessen Ursache genügt. Für Durkheim gilt: Ein soziales Phäno-
men verdankt sich nicht seinem spezifischen Nutzen. Der erzielte Vorteil ist
nicht der Anlass dafür, dass ein soziales Phänomen zu irgendeinem Gunsten er-
zeugt wird (ebd., S. 177). Das begründet Durkheim wie folgt: Die Eigenexistenz
der moralischen Verhaltensregeln besteht insofern, als sie sich gegenüber dem
Individuum überlegen zeigen. Die Absicht allein reicht nicht aus, um den Wan-
del einer moralischen Verhaltensregel zu bewirken. Ihre Macht beruht darauf,

87 Statt von „Zweck“ oder „Ziel“ zu sprechen, greift Durkheim auf „Funktion“ zurück, weil er
leugnet, dass eine Wirkung planvoll im Hinblick auf einen Nutzen geschaffen wird (vgl. Durk-
heim 1984, S. 181).
140 3 Émile Durkheims Welt

dass sie auf sich gestellt ist. Man kann sie fördern, aber nicht nach Plan schöp-
fen:
„Dass wir den Nutzen, den die Dinge bieten, empfinden, kann uns zwar veranlassen,
diese Ursachen ins Werk zu setzen, um dadurch die mit ihnen verbundenen Wirkun-
gen hervorzurufen, nicht aber diese Wirkungen aus dem Nichts zu erzeugen“ (ebd.).
Ferner nennt er soziale Phänomene, deren Zwecke vergehen oder sich wandeln,
obwohl sich an ihren Ursachen keine Änderung verzeichnen lässt. Z.B.: Das Ge-
setz, das im römischen Recht das Eigentum des Vaters an den Kindern der Ehe-
frau garantierte, ist zwar erhalten geblieben, allerdings dient es nunmehr zum
Schutz der Kinder (ebd., S. 178). Darüber hinaus ist es deswegen unangemessen,
vom Nutzen eines sozialen Phänomens auf die Ursache zu schließen, weil sich
nicht nachweisen lässt, dass es ausnahmslos zugunsten aller besteht. Eine Wir-
kung kann ihre Ursache betreffen, indem sie diese erhält. Die Funktion der Wir-
kung kann also in einer Rückwirkung bestehen, die nicht einer Absicht unter-
liegt, da der aus ihr geschöpfte Nutzen als eine Folge neben der Wirkung auf ihre
Ursache auftritt (ebd., S. 182). Selbst die sozialen Phänomene, die im Allgemei-
nen abgelehnt und insgesamt als unnütz erachtet werden, haben Wirkungen auf
ihre Ursachen, die deswegen vonnöten sind. Durkheims bekanntes Beispiel hier-
für ist das Verbrechen. Hält man daran fest, das Verbrechen als schädlich und
somit als unnütz zu erachten und nimmt man seine Untersuchung im Hinblick
darauf vor, dass es aufhört, dann wird man sich dabei behindern, auf diejenigen
Wirkungen des Verbrechens zu stoßen, die eine Funktion ausüben, und zwar in
Richtung der Bedingungen des Verbrechens (ebd., S. 86). Das Verbrechen hat,
so Durkheim, eine Wirkung, die man nicht erforschen kann, wenn man sich nicht
davon löst, dass es unter allen Umständen abzulehnen ist. Dazu später mehr.
Ein soziales Phänomen wie ein Ding zu behandeln, heißt also zunächst, die
Voraussetzung zu vermeiden, dass sich von der Feststellung seines Nutzens die
Ursache herleiten lässt. Durkheim hingegen setzt voraus, dass etwas nicht aus-
schließlich deswegen geschieht, weil es vorab im Hinblick auf seinen Nutzen
geplant wurde (vgl. Durkheim 1981, S. 115). Forschung muss, ihm zufolge, die-
se Auffassung ablegen, weil: Moral kein Resultat einer gezielten Erfindung ist,
soziale Phänomene im Laufe der Zeit anderen Zwecken nützen können, diese
aber nicht allseits beansprucht werden und weil soziale Phänomene auf sich
selbst wirken können. Schließlich macht es deren Studium erforderlich, sich von
hergebrachten Begriffen und der Unantastbarkeit der Glaubensüberzeugungen zu
emanzipieren. Nur so, nämlich indem man sich unvoreingenommen gegenüber
den sozialen Phänomenen verhält, wird es der Forschung möglich, dass sie „ins
Unbekannte dringt“ (vgl. Durkheim 1984, S. 91).
Weil sich soziale Phänomene nicht durch ihren Nutzen erklären lassen, le-
gen Durkheims Überlegungen nahe, dass sie ihrem Wesen nach auf das indivi-
duell beabsichtigte Zutun verzichten können. Hierfür hält er den Begriff des so-
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 141

ziologischen Tatbestands bereit, der ermöglicht, Moral und andere Arten des
Handelns wie Dinge zu behandeln (ebd., S. 110 ff.). Die individuelle Intention
von den Ursachen der sozialen Phänomene zu sondern, hat schließlich Konse-
quenzen für das wissenschaftliche Vorgehen, das jene untersucht. Durkheims
Absicht ist es, anhand dieser Konsequenzen das Eigentümliche der Soziologie
als Disziplin herzuleiten.
René Königs Auslegung zufolge ist ein soziales Phänomen nicht gleich ein
soziologischer Tatbestand (vgl. König 1984, S. 38). Mit dem Begriff lassen sich
soziale Phänomene hinsichtlich ihrer besonderen Wirklichkeit untersuchen, für
die das Individuum gleich ist. Zu den Bedingungen des soziologischen Tatbe-
stands gehört nicht der individuelle Beitrag, sondern die Verbindung der Mitwir-
kenden, deren Resultat etwas anderes ist, als die Summe der einzelnen Beiträge
(vgl. Durkheim 1984, S. 92). Was aus einigen individuellen Tätigkeiten erschaf-
fen wird, beruht auf deren Wechselwirkungen und nicht auf den einzelnen Ab-
sichten, d.h. es lässt sich nicht aus den isolierten Beiträgen der jeweiligen Betei-
ligten ermitteln. Das, was sich aus sozialen Wechselwirkungen ergibt, ist nicht
eins mit der Summe der beteiligten Kräfte (ebd., S. 187). Angesichts dessen ist
es unnütz, die Mitwirkenden zu sondern und isoliert zu betrachten. Hingegen
setzt Durkheim voraus, dass Ursachen sozialer Phänomene eine eigene Wirk-
lichkeit haben, nämlich „[…] dass diese spezifischen Erscheinungen in der Ge-
sellschaft selbst ihren Sitz haben und nicht in ihren Teilen, d.h. ihren Gliedern“
(ebd., S. 94). Das Individuum ist zwar an sozialen Phänomenen beteiligt, nur
führt dessen Einzelbeitrag nicht zu dessen Ursachen (ebd., S. 189). Was sich aus
der Synthese der einzelnen Handelnden ergibt, stellt eine eigene Wirklichkeit
dar. Für deren Erforschung hilft der soziologische Tatbestand.
Der Nachweis über die Unabhängigkeit vom Individuum lässt sich anhand
der beiden Kennzeichen des soziologischen Tatbestands erbringen. Es ist näm-
lich nicht die Diskrepanz zwischen dem isolierten Handeln des Individuums und
dem am Handeln anderer orientierten Handeln, aufgrund derer ein soziales Phä-
nomen nicht eins ist mit der Summe seiner Teile. Stattdessen lässt sich dafür das
erste und dominante Kennzeichen des soziologischen Tatbestands veranschla-
gen, nämlich der Zwang, den Durkheim ab und an auch Drang nennt (ebd., S.
107). Als zweites Kennzeichen nennt Durkheim die Diffusion, die, ihm zufolge,
aber vom ersten Kennzeichen nicht unabhängig auftreten kann (ebd., S. 112).
Der Drang ist keine physische Kraft, denn es handelt sich nicht um eine aus der
Zusammenführung und Kooperation tatsächlicher Körper summierte Kraft (ebd.,
S. 99). Die Rede ist nicht vom physischen Zwang.
Auf den sozialen Zwang kann Durkheim stoßen, indem er auf die Unterle-
genheit des Individuums gegenüber Normen verweist. Normkonformes Verhal-
ten bringt man nicht unmittelbar aus sich selbst hervor, sondern es ist Ergebnis
pädagogischer Tätigkeit. Wer den Normen entspricht oder sie vertritt, hat sie
ferner nicht erfunden. „Dass sie vor ihm da waren, setzt voraus, dass sie außer-
142 3 Émile Durkheims Welt

halb seiner Person existieren“ (ebd., S. 105). Aber nicht nur Normen können
regelmäßiges Verhalten veranlassen. Gleichermaßen verhält es sich im Falle
anderer von ihm genannter Beispiele, wie der Sprache oder der Währung, ver-
möge derer sich die individuelle Willkür bezwingen lässt, da dem Individuum
keine andere Wahl bleibt, als auf ein bereits bestehendes Zeichensystem und
Geld, also auf Dinge zurückzugreifen, die jeweils vor und nach dem Individuum
existieren. Insgesamt veranschaulichen die Beispiele soziologische Tatbestände,
deren innewohnende Macht daran erkennbar ist, dass sie das Individuum nicht
bloß überdauern, sondern auch gegen spontanes Änderungsstreben seinerseits
gefeit sind. Überlegen sind sie also, weil sie sich kraft eines subjektiven Ent-
schlusses weder abschaffen noch modifizieren lassen.88 Durkheim dazu:
„Sie sind Dinge, die eine Eigenexistenz führen. Der Einzelne findet sie vollständig
vor und kann nichts dazu tun, dass sie nicht seien oder dass sie anders seien, als sie
sind; er muss ihnen Rechnung tragen, und es ist für ihn umso schwerer (wenn auch
nicht unmöglich), sie zu ändern, als sie in verschiedenem Grade an der materiellen
und moralischen Suprematie teilhaben, welche die Gesellschaft über ihre Glieder
besitzt“ (ebd., S. 99).
Kennzeichnend ist es für die soziologischen Tatbestände schließlich deswegen,
sich anderen aufdrängen zu können, weil sich ihr Zwang, trotz der freiwilligen
Unterordnung, die sie erzielen können, im Falle einer Abweichung als Gegen-
wehr, Missbilligung oder Nachteil offenbart. Das tritt insbesondere im Falle kol-
lektiver Freude, Trauer, Empörung oder Gewalt auf. Sie sind etwas anderes als
die Gesamtheit der einzelnen Affekthandlungen. „Der Zusammenklang der Emp-
findungen ist nicht die Folge einer spontanen und vorgeplanten Harmonie, son-
dern ein und derselben Kraft, die alle im selben Sinn bewegt“ (ebd., S. 111). An
ihnen zeigt sich der für den soziologischen Tatbestand wesentliche Zwang, denn
was im Kollektiv begangen wird, wird dadurch unterstrichen, dass Abweichung
mit Widerstand geahndet wird (ebd., S. 108).
Zum Substrat89 der Gesellschaft zählt er die Bevölkerungs- und Interakti-
onsdichte, deren Verteilung auf einem Territorium, die Tendenz zum Leben in
der Stadt, aber auch Verkehrswege, von denen allesamt ein Zwang auf das Indi-
viduum ausgeht (ebd., S. 113; vgl. auch Durkheim 1981, S. 112). Die Untersu-
chung letzterer ist Sache der „sozialen Morphologie“. Zu den Aufgaben einer
solchen Untersuchung gehört demnach, deren Wirkungen und insbesondere de-
ren Wirkungen im Hinblick auf den Wandel der Dinge nachzugehen (vgl. Durk-

88 „[…] wie können sie nicht wegwünschen“, schreibt Zygmunt Bauman. „Sie existieren, ob wir
von ihnen wissen oder nicht, vergleichbar dem Tisch und den Stühlen, die in meinem Zimmer
stehen, ganz gleich, ob ich sie anschaue oder an sie denke“ (Bauman 2001, S. 302).
89 Zu Durkheims Begriff Substrat vgl. auch Terrier, 2009.
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 143

heim 1984, S. 194).90 „Diese Wissenschaft, deren Ziel die Erforschung der mate-
rielle Formen der Gesellschaft ist, wollen wir soziale Morphologie nennen“
(Durkheim 2009, S. 171).
Durkheim veranschaulicht den Drang anhand der Erziehung. Verhaltens-
vorgaben, mit denen man vermittels Erziehung anderen Orientierungen für das
Handeln aufdrängt, so dass sie sich zu „Gewohnheiten und inneren Tendenzen“
(ebd., S. 109) wandeln, sind im Wesentlichen weder die Erfindung der Erzieher,
noch werden sie seitens ihres Gegenübers ohne Umschweife angenommen. Er-
ziehung bedeutet, Druck im Hinblick darauf auszuüben, „[…] dem Kinde eine
gewisse Art zu sehen, zu fühlen und zu handeln aufzuerlegen, zu der es spontan
nicht gekommen wäre“ (ebd., S. 108). Es ist die Macht des Drangs, die sich auf
die Erzieher überträgt und von welcher deren Gegenüber betroffen ist. Die zur
Gewohnheit gewordene Orientierung hat somit eine Ursache, die nicht an den
subjektiven Entschluss der Erzieher gebunden ist, sondern auf sich gestellt ist.
Am Beispiel der Erziehung lässt sich darüber hinaus erklären, auf welcher Reso-
nanz das Kennzeichen der soziologischen Tatbestände beruht.
„Das ganz und gar Besondere des sozialen Zwanges besteht darin,“ schreibt Durk-
heim, „dass er nicht der Starrheit gewisser molekularer Anordnungen, sondern dem
Prestige entspringt, mit dem gewisse Vorstellungen bekleidet sind“ (ebd., S. 99).
Die Kraft soziologischer Tatbestände ist an ihr Ansehen gebunden. Diejenigen
aber, wie die Erzieher, welche im Namen der Verhaltensvorgaben und zu deren
Gunsten auf andere Druck ausüben, folglich zur Aufbewahrung des Ansehens
spezifischer Verhaltensvorgaben beitragen, waren selbst anfangs von einem be-
sonderen sozialen Zwang betroffen. Was sich auf die Wirklichkeit des soziologi-
schen Tatbestands rückführen lässt, das wirkt nachhaltig auf dieses zurück. Er-
ziehung, deren Erfinder im Allgemeinen nicht Erzieher sind, hat also eine
Rückwirkung, von der das Ansehen der sich aufdrängenden Verhaltensvorgaben
betroffen ist. Insbesondere religiöse Vorstellungen geben ein Zeugnis davon ab,
denn nicht zwangsläufig, sondern durch Erziehung wird man, so Durkheim, de-
ren Ansehen anerkennen, nur ist dieses länger als die Generation derjenigen vor-
handen, welche die betreffenden religiösen Vorstellungen zum Gegenstand der
Erziehung machen (ebd., S. 111).
Im Ganzen legt Durkheim eine Wirklichkeit frei, die er, weil sie sich keiner
anderen zuordnen lässt, sozial nennt und mit welcher er der von ihm vertretenen
Disziplin ein für Forschung und Theoriebildung eigenes Gebiet verschafft (ebd.,
S. 107). Obwohl es einen soziologischen Tatbestand ohne Handelnde überhaupt
nicht geben kann, beruht er aber nicht auf einzelne Handelnde. Durkheim ist

90 Indem Durkheim u.a. das Wachstum der Bevölkerung und die Dichte der Interaktion zu den
Kausalbeziehungen zählt und vor diesem Hintergrund darauf verweist, dass die Zahl der Kau-
salbeziehungen für gesellschaftlichen Wandel unbeschränkt ist, schließt der aus, dass dieser ei-
nem Plan unterliegt (vgl. Durkheim 1984, S. 198).
144 3 Émile Durkheims Welt

wichtig, dass sich ein bestimmtes Handeln nicht ausbreitet, weil es häufig bei
vielen Menschen vorkommt, sondern weil der soziale Drang besteht. Nicht die
Diffusion bewirkt den Drang, sondern er bewirkt sie. (ebd., S. 111). Das Soziale
entsteht demnach nicht aus der Nachahmung. „Seine Fähigkeit, sich auszubrei-
ten, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung seines soziologischen Charak-
ters“ (ebd., S. 112). Der Drang besteht unabhängig von denjenigen, die sich re-
gelmäßig gleich verhalten. Das trifft, so Durkheim, insbesondere im Falle von
religiösen Glaubensvorstellungen zu, denn sie überdauern Generationen. Ein
Zwang, für den gilt, dass er nicht aus der Summe von Körperkräften resultiert,
für die Erfahrung nicht unzugänglich ist, nicht organisch ist und sich schließlich
aus einer willkürlichen Initiative heraus weder hervorbringen noch abschaffen
lässt, ist das wesentliche Kennzeichen des soziologischen Tatbestandes und lässt
deren Abgrenzung von Dingen anderer Gattungen zu. Die Konsequenz der Un-
abhängigkeit dieser Wirklichkeit vom Individuum ist, dass man nicht von diesem
ausgeht, wenn man soziologische Tatbestände zum Gegenstand der Forschung
macht.
Wer soziologische Tatbestände untersucht, kümmert sich nicht um den sub-
jektiven Sinn, der einem sozialen Phänomen zugeschrieben wird. 91 Es ist nicht
der menschliche Wille, dessen Resultat die Dinge sind, denn wäre das zutref-
fend, so hätten sie immerfort andere Ursachen (vgl. Durkheim 1981, S. 94). Man
braucht demnach, so Durkheim, nicht wie in der Psychologie vorgehen (vgl.
Durkheim 1984, S. 129). Anders als psychische Erscheinungen, derer sie sich
annimmt, sind soziale Phänomene nicht an ein Individuum gebunden, so dass
sich ihre dinglichen Eigenschaften auf anderen Wegen beobachten lassen. Sozia-
le Phänomene können sich, schreibt er, „kristallisieren“ (ebd., S. 107). Sie neh-
men umgrenzte Formen an und als starre Regelmäßigkeit sind sie „konsolidierte
Funktion“ (Durkheim 1981, S. 48). Für diese fixen Arten des Handelns greift
Durkheim auf den Begriff Institution zurück. Beispiele hierfür sind Recht und
Gesetz, Regelungen für die Produktion und den Tausch in der Wirtschaft. Kris-
tallisierungen stehen für die Beobachtung der soziologischen Tatbestände zur
Verfügung, d.h. man kann diese isoliert untersuchen, ohne Rücksicht auf subjek-
tiven Sinn und individuelle Variationen nehmen zu müssen. Neben der Berück-
sichtigung von Kristallisierungen ist ein „methodischer Kunstgriff“ durchführ-
bar, und zwar vermittels der Statistik, mit der sich der Zustand eines sozialen
Phänomens erfassen lässt (vgl. Durkheim 1984, S. 110). Berücksichtigt man die
Häufigkeiten von z.B. Ehen, Geburten und Selbstmorden, so sind die individuel-
len Variationen belanglos. Nehmen sie zu, dann lässt sich das, so Durkheim, auf
den Drang der soziologischen Tatbestände zurückführen, von dem die Menschen
betroffen sind. Die Statistik ermöglicht den Drang von der individuellen Umset-

91 Dessen ungeachtet leugnet Durkheim jedoch nicht, dass soziale Phänomene in einer individuel-
len Variation auftreten (vgl. Durkheim 1984, S. 100).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 145

zung zu isolieren. Wählte man stattdessen die individuelle Entsprechung eines


sozialen Phänomens als Zugang für die Erforschung eines soziologischen Tatbe-
standes aus, so würde ein solches Vorgehen darauf beruhen, dass das Handeln
des Einzelnen, der dem Druck des soziologischen Tatbestands ausgesetzt ist,
dessen Abbild sei. Im Individuum lässt sich dieser aber nicht isoliert untersu-
chen. „Die Formen, die die kollektiven Zustände annehmen, sofern sie sich in
den Individuen widerspiegeln, sind Dinge ganz anderer Art“ (ebd., S. 109). Der
Drang wird nicht restlos im Verhalten des Individuums aufgehen, weil er im
Hinblick auf seine Existenz nicht darauf angewiesen ist, dass ein Individuum
ihm restlos genügt. Durkheim dazu:
„Da die Autorität, vor der sich ein Individuum beugt, wenn es sozial fühlt und denkt,
es bis zu diesem Grade beherrscht, so ist sie ein Erzeugnis von Kräften, die über das
Individuum hinausreichen und von denen es infolgedessen auch keine Rechenschaft
geben kann. Dieser äußere Druck, den das Individuum erleidet, kann also nicht von
ihm selbst abstammen, dementsprechend kann er auch nicht durch das erklärt wer-
den, was im Individuum vor sich geht“ (ebd., S. 186).
Aus diesem Grund favorisiert Durkheim die Kristallisierungen und die Statistik,
denn mit ihr kann man, weil sich die Berücksichtigung der individuellen Variati-
on erübrigt, einen soziologischen Tatbestand filtern. Er weist insgesamt die Ei-
genexistenz einer Wirklichkeit nach, die weder organisch noch psychisch ist,
deren Wirkungen das eigentümliche Gebiet einer Disziplin sind. Soziale Phäno-
mene können auf diese Weise, indem man also mit ihnen verbundene Absichten
und Nutzen ausschaltet, im Hinblick darauf untersucht werden, was augen-
scheinlich nicht erkennbar ist. Der soziologische Tatbestand ist ein Werkzeug,
mit dem man die Untersuchung von Ursachen sozialer Phänomene abseits der
mit ihnen verbundenen Intentionen des Individuums vornehmen kann. Nicht das,
was sich auf Seiten der Individuen abspielt, sondern die Kraft, von der diese be-
troffen sind, hat daher die von Durkheim vertretene Erfahrungswissenschaft zu
interessieren. Die Individuen nennt er zwar Mitwirkende, als ursprüngliche Ver-
ursacher sozialer Phänomene schließt er sie aber aus. Dazu notiert er Folgendes:
„Wir werden von Illusionen genarrt, die uns einreden, wir hätten selbst geschaf-
fen, was uns in Wahrheit von außen auferlegt wurde“ (ebd., S. 108).
Insofern also die individuelle Variation unerheblich ist, wenn man Ursachen
sozialer Phänomene erforscht, muss man hierfür mit einer Definition für die
Aufnahme der Untersuchung ansetzen. Will man die Trennung des soziologi-
schen Tatbestandes vom Individuum konsequent umsetzen, so macht das, ihm
zufolge, eine Definition notwendig. Mit ihr lässt es sich nicht nur fertig bringen,
verschiedene Variationen eines sozialen Phänomens einzugrenzen und der Defi-
nition unterzuordnen, so dass man den Gegenstand einer Untersuchung als sol-
chen hervorbringt und diese kanalisieren kann, sondern eine Definition ermög-
licht auch den Ausschluss der Vorstellung darüber, wie ein Gegenstand sein soll
146 3 Émile Durkheims Welt

und welche nützliche Hilfestellung er bietet (ebd., S. 131). Für eine Definition
braucht es schließlich objektive Merkmale, die man „losgelöst von den bewuss-
ten Subjekten“ (ebd., S. 125) dem zu untersuchenden Ding entnimmt. Sie lassen
sich feststellen, indem man die sinnliche Komponenten anrechnet, welche die
verschiedenen Variationen eines sozialen Phänomens miteinander teilen, denn
sofern das begrenzt ist, das sie allesamt gemeinsam haben, lässt sich vermöge
dieser ihr Wesen bestimmen (vgl. Durkheim 1981, S. 92). Die erkannten Merk-
male müssen um ihrer Güte willen intersubjektiv anerkannt und stets rekonstru-
ierbar sein. Durkheim betont, dass eine Definition nicht die gesuchten Ursachen
hervortreten lässt, sondern die Voraussetzung hierfür schafft. Weist man objekti-
ve Merkmale nach, so weisen sie anschließend den Weg zu den Ursachen. Durk-
heims Begründung hierfür lautet:
„Aber sofern das Prinzip der Kausalität nicht ein leeres Wort ist, kann man versi-
chert sein, dass die äußeren Merkmale mit der Natur der Erscheinungen eng ver-
knüpft sind und ihnen wesentlich anhaften, da sie sich in gleicher Weise ausnahms-
los bei allen Erscheinungen einer bestimmten Gattung vorfinden“ (Durkheim 1984,
S. 137).
Mit der Definition konstatiert man also nicht Ursachen, sondern sie hilft, um zu
diesen zu gelangen, weil sie auf Merkmalen beruht, die jedweder Variation des
Gegenstands innewohnen und somit nahe legen, dass sie in einer Verbindung mit
den Ursachen stehen. Wichtig ist, dass die Definition aussagt, was den Dingen
sinnlich unmittelbar anhaftet, und nicht wie sie sein sollen.
Das möglichst wertfreie Vorgehen bei der Bildung einer Definition lässt
sich anhand Durkheims Überlegung zur Trennung des Normalen und des Patho-
logischen unter Beweis stellen.92 Für Aussagen über die normale oder anormale
Beschaffenheit eines Dings braucht es Geduld. Bildet man auf konsequenter
Weise eine Definition, so gesteht man allen Variationen eines sozialen Phäno-
mens die objektiven Merkmale zu, die man zunächst unmittelbar erkennt. Geht
man stattdessen inkonsequent vor, so grenzt man die Variation aus, die, der sub-
jektiven Einschätzung zufolge, irrtümlicherweise die Merkmale vorweist, so dass
man für ihren Fall auf Ursachen anderer Art schließt und sie insgesamt als anor-
males Vorkommnis verbucht. Sondert man diese anormale Variation unter der
Voraussetzung aus, dass man unterstellt, sie beruhe auf Bedingungen, die einzig
ihr eigentümlich sind, so kann man nicht versichern, dass die Definition des spe-
zifisch Normalen und Anormalen unwillkürlich aufgestellt ist. Tut man das, be-
vor man die Untersuchung vorgenommen hat, so ist es „[…] leicht vorauszuse-
hen, dass man derart nur eine subjektive und verstümmelte Anschauung erhalten
kann“ (ebd., S. 134). Hingegen verlangt eine folgerichtige Orientierung an
Durkheims Regel, das, was deswegen als anormal erscheint, weil man als ver-

92 Für König sind Durkheims Überlegungen zum Normalen und Pathologischen eine „logische
Konsequenz“ von dessen methodischen Regeln (vgl. König 1984, S. 67).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 147

kehrt erachtet, dass es die objektiven Merkmale der Definition erkennen lässt,
für diese nicht zu disqualifizieren, sondern es zunächst wie eine mögliche Varia-
tion und nicht als Eigenartigkeit zu behandeln. Durkheim sieht hierfür Gleichbe-
handlung vor. Blendet man also Nützlichkeitserwägungen konsequent aus, so
muss man im Falle von mutmaßlich anormalen Erscheinungen billigen, dass sie
Merkmale aufweisen, die den mutmaßlich normalen Erscheinungen entsprechen
(ebd., S. 136). Definiert man etwas, so darf man das Anormale nicht aus der De-
finition ausschließen. Normal oder anormal ist nicht das, was subjektiv oder
mehrheitlich jeweils erwünscht oder nicht erwünscht ist. Wenn es der Wissen-
schaftler ist, der die Entscheidung über das Normale und Anormale trifft, dann
lässt sich nicht garantieren, dass die Entscheidung allgemein ist. Für das, was
normal oder anormal ist, lässt sich dann nicht ausschließen, dass es Streitgegen-
stand wird (vgl. Durkheim 1981, S. 91).
Wenn also nicht der Wissenschaftler entscheiden kann, dann lässt sich ab-
wenden, dass das Normale und Anormale zu Gegenständen der Beliebigkeit und
des Streits werden und stattdessen bleibt nur noch das Ding selbst übrig, dem
sich sein Normales entnehmen lässt. Objektiv ist somit die Feststellung dessen,
was normal ist, wenn sie nicht vorab besteht und sich somit aus Wertungen her-
leitet, sondern durch das bedingt ist, welches das Ding nicht vergehen lässt. Erst
wenn man die Ursachen des Dings ermittelt hat, die es zwangsläufig in seinem
Bestehen erhalten, kann man Aussagen über des Normalbeschaffenheit treffen.
Durkheim ist folglich auf ein objektives Vorgehen angewiesen, ohne das
sich das Normale nicht aufdecken lässt. Nur wenn man es objektiv ermittelt,
kann man sicher stellen, dass man „Funktionen“ von den im Allgemeinen als
unnütz und schädlich und daher vorab als anormal erachteten Phänomenen nicht
übersieht (vgl. Durkheim 1984, S. 157). Man schließt also aus, wenn man vor-
schnell das Anormale feststellt, auch den Nutzen des mutmaßlich Anormalen
untersuchen zu können. Wartet man ab, bis das Normale und Anormale anhand
von verifizierten objektiven Merkmalen bestimmt ist, so kann man sogar den
Nutzen des scheinbar Unnützen offen legen, was es infolgedessen auch als nor-
mal enthüllt. Anstelle des Risikos, die nützliche Wirkung dessen außer acht zu
lassen, das subjektiv nicht sein soll, stellt Durkheim nicht das Nützliche an den
Anfang, sondern er geht umgekehrt vor, und zwar folgendermaßen: Zunächst
muss man berücksichtigen, dass ein soziales Phänomen, wenn es normal oder
anormal auftritt, seine objektiven Merkmale jeweils aufweist. Verschiedenheiten
der sozialen Phänomene können mehrheitlich oder in wenigen Fällen auftreten,
müssen sich aber jeweils bei den Individuen nicht identisch abspielen. Man wird
diese Verschiedenheiten normal nennen können, wenn man auf die Relation zu
den ursächlich nachgewiesenen Merkmalen der anfangs entwickelten Definition
verweisen kann, die schließlich die anormale Verschiedenheit überhaupt konsti-
tuiert (ebd., S. 148). Anormale Variationen eines sozialen Phänomens kommen,
so Durkheim, nur ausnahmsweise vor. „Sie sind eine Ausnahme in der Zeit wie
148 3 Émile Durkheims Welt

im Raum“ (ebd., S. 147 f.). Stellt man das Anormale fest – und deswegen legt
Durkheim hierfür einen Weg vor –, indem man objektiv vorgeht, so kann man
den Nachweis der für die objektiven Merkmale eines sozialen Phänomens aufge-
deckten Ursachen kontrollieren. Sobald man nämlich die häufigsten Merkmale
erkannt hat, die in den häufigsten Erscheinungsformen auftreten, kann man auf
einen Durchschnittstypus verweisen, ohne den sich nicht die entsprechende Gat-
tung feststellen und notwendig von anderen Gattungen unterscheiden lässt.
Wichtig ist aber, dass man die Ursachen für die häufigsten Merkmale auffindet,
denn ihre Häufigkeit wird, bemerkt Durkheim, zweifellos mit den Ursachen ei-
nes sozialen Phänomens in einer Verbindung stehen, sonst würde es sich nicht
wiederholen. Was häufig vorkommt, kann nicht anders als mit den Bedingungen
des Dings verknüpft zu sein. Beweist man, dass die objektiven Merkmale der
Definition in einer Linie zu den Ursachen stehen, die des sozialen Phänomens
wesentlich sind, so stellt man die Rechtmäßigkeit der objektiven Merkmale fest,
die ebenfalls zu ihrem Bestehen nutzen. Somit liegt die Normalbeschaffenheit
eines sozialen Phänomens deswegen vor, weil sie mit dessen Existenzbedingun-
gen verknüpft ist (vgl. Durkheim 1981, S. 116).
Mithilfe des Normalen kann man ferner dem Wandel eines Dings nachge-
hen. Anormal nennt Durkheim das, was die objektiven Merkmale des einstigen
Normaltypus erkennen lässt, dem aber die Ursachen abgehen. Es setzt sich das
fort, was eigentlich obsolet ist. Der Wandel liegt schließlich dann vor, wenn man
objektive Merkmale und Ursachen der Vergangenheit eines Dings nachweist und
sich anhand eines Vergleichs mit der Gegenwart offenbart, dass die Ursachen
nicht mehr gegeben sind (vgl. Durkheim 1984, S. 152). Die Zeit des Übergangs
ist somit dann erkennbar, wenn ein Normaltypus aufrechterhalten wird, obwohl
seine Bedingungen abhanden gekommen sind und somit seine Zeit längst vorbei
ist.
Erst wenn eine Untersuchung den Stand erreicht, die Normalbeschaffenheit
offen zu legen, ist also eine Aussage über das Anormale zulässig, denn es lässt
sich gewährleisten, dass es nicht nach Belieben bestimmt wird. Nur das wissen-
schaftliche Ergebnis kann das Anormale einer begrenzten Zeit festlegen, weil auf
diese Weise subjektive Wertungen über das Unnütze ausgeschlossen sind. Durk-
heim sieht aber nicht den Verzicht der Auskunft über Nützliches vor. Ist die Un-
tersuchung eines Dings fortgeschritten, so kann man über das Nützliche infor-
mieren (ebd., S. 143). Die Wissenschaft von der Gesellschaft kann dem Men-
schen auf diese Weise einen Dienst erweisen, denn sie kann ein bestimmtes Sol-
len vorschlagen, das auf erwiesenen Gründen beruht. Wissenschaft nützt also,
weil sie Auskunft darüber geben kann, was sein soll. Allerdings muss sie sich
treu bleiben, indem sie ausschließt, dass sie es ist, die über das Sollen entschei-
det, dieses soll also nicht aus der Beliebigkeit subjektiver Einschätzung resultie-
ren. Stattdessen leitet sie das Sollen von der Verifikation des Normalen der Din-
ge her. Stehen die objektiven Merkmale, die man im ersten und unmittelbaren
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 149

Zugang erkannt hat, in einem Zusammenhang mit den Ursachen, so weiß man,
was das Ding erhält.93 Der Wissenschaftler, der mit Vulgärbegriffen arbeitet, ist
nicht der Konstrukteur der Wirklichkeit, sondern muss sich einverstanden zei-
gen, sich von den Dingen „belehren zu lassen“ (ebd., S. 163). Lediglich das wis-
senschaftlich aufgedeckte Normale lässt somit Vorstellungen darüber zu, wie
etwas sein soll, denn die entdeckten Ursachen der objektiven Merkmale tragen
zum Bestehen eines Dings bei, was seine Normalbeschaffenheit begründet, und
das bedeutet insgesamt: Für den Wissenschaftler gilt, dass weder das Sollen noch
das Unnütze vorab bestimmbar sind, sondern nützlich ist nur die den Dingen
entnommene Normalbeschaffenheit. Das ist wiederum nicht für den umgekehr-
ten Fall gültig, denn was nützlich sein soll, ist nicht normal. Schließlich erlaubt
nur das objektiv erkundete Sollen, den Streit darüber zu vermeiden, da dessen
Ermittlung maßlos sein wird, wenn man subjektiv vorgeht. Weil es keine univer-
sellen Kriterien für das Nützliche oder Schädliche gibt, ist es ausgeschlossen,
Eintracht darüber herzustellen, was man soll oder nicht soll (vgl. Durkheim
1981, S. 88 f.). Für die Ermittlung gibt es anstelle dessen ein Ende und sie lässt
sich abschließen, wenn man das Sollen an der Normalbeschaffenheit eines Dings
für eine bestimmte Zeit orientiert. Durkheim dazu:
„Das Ziel der Humanität verfließt also ins Unendliche, entmutigt die einen durch
seine Entfernung und stachelt dagegen die andern an, die die Gangart beschleunigen
und sich in Revolutionen stürzen, um sich ein wenig zu nähern. Diesem praktischen
Dilemma entgeht man, wenn das Erstrebenswerte die Gesundheit ist, und wenn die
Gesundheit etwas Umgrenztes und in den Tatsachen Gegebenes ist; denn die Grenze
des Strebens ist dann zugleich gegeben und bestimmt“ (Durkheim 1984, S. 163).
Im Ganzen: An der Moral lässt sich der Beitrag veranschaulichen, den Durkheim
leistet, um die von ihm vertretene Disziplin zu konsolidieren. Die empirische
Wirklichkeit der Moral hat Kausalzusammenhänge, für deren Erforschung man
keine Rücksicht auf die Begründbarkeit der Moral nehmen muss. Behandelt man
soziale Phänomene wie Dinge, so ist es ausgeschlossen, deren gewünschten oder
tatsächlichen Nutzen an den Anfang zu stellen, um zu ihren Ursachen vorzudrin-
gen. Weil sozial mehr als die Summe subjektiver Sinnhaftigkeiten ist, die zwar
im Einzelnen freilich erforderlich sind, ist der besondere Gegenstandsbereich der
Moral, der sich keiner Art unterordnen lässt, vom Individuum unabhängig. Will
man dem weder überempirischen noch physischen Drang nachgehen, der nicht
das Ergebnis eines sozialen Phänomens ist, sondern dieses hervorbringt, so hilft
der soziologische Tatbestand.

93 Durkheim orientiert sich im Hinblick auf das Normale der Dinge an den Überlegungen Mon-
tesquieus, für den die Natur der Dinge mit dem zusammenfällt, was deren Wohl erhält, und
zwar zu einer bestimmten Zeit ihres Bestehens (vgl. Durkheim 1981, S. 98).
150 3 Émile Durkheims Welt

3.2 Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum


(Erziehung, Moral und Gesellschaft)

Durkheims gesellschaftliches Krisenbewusstsein ist in seinen Arbeiten präsent.


Das zeigt sich folgendermaßen in den zentralen Monographien: In der Arbeitstei-
lung (2008a) untersucht er, wie ein Wandel der Moral ein Mehr an individueller
Entscheidungsfreiheit ermöglicht. Er berücksichtigt hier aber auch, dass sich
nicht der Typus der Gesellschaft ausreichend entwickelt hat, der auf der fortan
zulässigen Individualität beruht. Einen empirischen Nachweis über die Krise
unternimmt er im Selbstmord (1973). Der unverzichtbare Nutzen des Sakralen,
das eine Hilfestellung gegen die Folgen der Krise leistet, ist Gegenstand der
Formen (2010a). Insgesamt schließt er nicht aus, dass man auf wissenschaftliche
Erkenntnisse zurückgreift, wenn man gesellschaftspolitische Reformen entwirft,
die angesichts der unzulänglich wirkenden Funktionen der Moral erforderlich
sind (ebd., S. 80).94 Das macht Durkheim, wobei ihm hierfür wichtig ist, seine
Empfehlungen nicht vor der Durchführung einer Untersuchung zu konstruieren,
da er sie auf der Grundlage von Untersuchungsergebnissen herleiten will.
Zum Resümee seiner frühen Studie über die Arbeitsteilung gehört, dass es
nicht nur einen Bedarf, sondern auch ein Mehr an Individualität gibt. Nur ist es
nicht dieser Bedarf, der ihm Sorge bereitet. Stattdessen erachtet er die reduzierte
Unterordnung des Individuums gegenüber Kollektiven (vgl. Durkheim 2008, S.
479) als besorgniserregend. Inwiefern dies für das Individuum wie für Moral von
Nachteil ist, lässt sich mithilfe von Durkheims Morallehre rekonstruieren, und
das ist der Zweck dieses Teilkapitels. Einige wesentliche Überlegungen, anhand
derer er die Morallehre entwickelt, helfen zu verstehen, worin die von ihm er-
kannte Krise ihren Ursprung hat, sie erleichtern aber auch den anschließenden
Zugang zu seinen Studien über die Arbeitsteilung und den Selbstmord.
Der Vorlesung Erziehung, Moral und Gesellschaft (2006) lässt sich ent-
nehmen, was für seine Morallehre grundlegend ist. Es wird sich Folgendes zei-
gen: Freiheit und Freisetzung beruhen auf Unterordnung. Insbesondere dann,
wenn das Individuum insofern mehr auf sich selbst verwiesen ist, als es mehr
Entscheidungen treffen kann, deren Gegenstand die eigene Biographie ist. Es
muss sich gleichwohl äußeren Vorab-Entscheidungen hinsichtlich des eigenen
Handelns fügen, deren Schöpfer es selbst nicht ist. Das von Durkheim konsta-
tierte Mehr an Individualität schließt nicht ein, dass Begrenzungen der individu-
ellen Entscheidungsfreiheit obsolet werden. Zu diesem Ergebnis führt Durk-
heims Auseinandersetzung in der Vorlesung: Er nimmt eine Erörterung darüber

94 Markus Schroer kommentiert das Vorhaben daher wir folgt: „Durkheims Überlegungen zur
modernen Gesellschaft sind deshalb folgerichtig projektiv konzipiert. Die moderne Gesell-
schaft ist als Projekt angelegt, das erst noch in die Tat umgesetzt werden muss“ (Schroer 2001,
S. 138).
Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum 151

vor, inwiefern die Soziologie der Pädagogik nützlich sein kann und weshalb die
Aussonderung der Religion von der modernen, rationalen Moralerziehung nicht
auch das entfernt, was „an der Basis jedes moralischen Lebens“ (Durkheim
2006, S. 75) steht. Da diese Erörterung auf seiner Morallehre beruht, ermöglicht
die Vorlesung, sich dem anzunähern, was im Denken Durkheims für Moral we-
sentlich ist. Auf diese Weise kann man schließlich verstehen, worauf sein gesell-
schaftliches Krisenbewusstsein beruht und inwiefern sich mit der Zunahme an
individueller Entscheidungsfreiheit die Unterordnung gegenüber äußeren Vorab-
Entscheidungen nicht erübrigt.
Eines der Anliegen in der Vorlesung ist es, den Nutzen der Soziologie für
die Pädagogik nachzuweisen. Für letztere ist es nicht nur erforderlich, sich dar-
über zu informieren, wie sich moralische Ziele durchsetzen lassen, denn sie muss
auch berücksichtigen, worin Moral ihren Ursprung hat und wie sie sich wandelt.
Die Soziologie leistet hierfür, ihm zufolge, eine Hilfestellung (ebd., S. 37).
Durkheim stört sich daran, dass man die Wirksamkeit der Pädagogik abwertet,
und das geschieht, wenn man die Moral als zum Menschen gehörend annimmt.
Weil die Tätigkeit der Pädagogik für mehr als bloße Zuarbeit qualifiziert ist, sie
nämlich die moralische Orientierung auf Seiten des Individuums fertigbringen
und in Bewegung setzen kann, ist es falsch, wenn man annimmt, ihre Aufgabe
sei es, lediglich eine bereits tief im Menschen angelegte Moralität zu erwecken.
Durkheim lehnt die Auffassung ab, die besagt, Moral sei im Wesentlichen dem
Menschen innewohnend (ebd., S. 76). Daher verneint er auch die folgende Auf-
gabenzuweisung für die Pädagogik:
„[…] man nahm an, dass dieses Werden [die Ontogenese; C.A.] nur solche Wirk-
kräfte verwirklicht, d.h. latente Energien ans Licht bringt, die schon vorgeformt im
physischen und geistigen Organismus des Kindes existieren. Der Erzieher hätte also
nichts Wesentliches zum Werk der Natur beizutragen“ (ebd., S. 39).
Richtet sich Pädagogik danach aus, mit einer latent bestehenden Moralanlage zu
arbeiten, so blendet sie die sozialen Bedingungen der Moral aus. Indem Durk-
heim zunächst die Annahme widerlegt, wonach die Moralität zur ursprünglichen
Disposition des Menschen gehört, deren Kanalisierung in die richtige Richtung
man zu den Aufgaben der Pädagogik zählt, kann er zeigen, warum der Rückgriff
auf die Soziologie sinnvoll ist. Aufgrund dessen begreift er die Moral nicht als
etwas, was bereits im Keim vorliegt, wenn der Mensch ins Leben tritt. Er weist
auf zwei Tatsachen hin (ebd., S. 40): Erstens ist Pädagogik weder zu unter-
schiedlichen Zeiten noch in unterschiedlichen Gruppen einheitlich. Zweitens
lässt es die Unterschiedlichkeit der Berufe nicht zu, dass Pädagogik ab einem
bestimmten Lebensalter für alle gleich ausgerichtet ist. Bliebe man dabei, im
Menschen eine bereits bestehende Moralität zu vermuten, so hätte die Pädagogik
nicht viel mehr zu erledigen, als den einen Weg für die möglichst vollkommene
Moralbildung zu fördern. Der Wandel moralischer Regeln macht aber, so Durk-
152 3 Émile Durkheims Welt

heim, einen dauerhaften Moralkonsens schwer und die zunehmende Arbeitstei-


lung engt diesen ein. Dass moralische Regeln erstens nicht für die Ewigkeit sind
und ihre beschränkte Geltung sie zweitens auf bestimmte Gruppen begrenzt,
beweist für Durkheim die Plastizität des Menschen. Er schreibt: „Der Mensch,
den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Na-
tur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will“ (ebd.,
S. 44).
Durkheim begreift Moral nicht als einen Handlungsdruck, der bereits ange-
legt ist. Für die Erziehung sieht er demnach die Aufgabe vor, das Individuum zu
bewegen, sich an äußerlichen Handlungsdruck zu orientieren und diesem zu fol-
gen. Dazu äußert er sich wie folgt:
„Sie [die Erziehung; C.A.] begnügt sich nicht damit, den individuellen Organismus
in der von der Natur vorgezeichneten Richtung zu entwickeln und verborgene Kräf-
te, die nur geweckt werden möchten, sichtbar zu machen. Sie erschafft im Menschen
einen neuen Menschen, und dieser Mensch besteht aus allem, was gut in uns ist, aus
allem was Leben Wert und Würde gibt“ (ebd.).
Die zentrale Auseinandersetzung, die Durkheim in der Vorlesung vornimmt,
ergibt sich aus der modernen Aussonderung der Religion in der rationalen Mo-
ralerziehung (ebd., S. 59). Um diese im Kern zu fassen, reicht es, ihm zufolge,
nicht aus, die Entfernung der religiösen Elemente aus der Moralerziehung zu
berücksichtigen. Man kann auf das, was für die rationale Moralerziehung konsti-
tutiv ist, nicht stoßen, indem man die Religion von der Moralerziehung abzieht.
Außerdem riskiert man, so Durkheim, durch die Aussonderung der Religion der
Moral auch „die rein moralischen Elemente zu entziehen“ (ebd., S. 64). Ange-
sichts dessen ist es seine Absicht, das zu erarbeiten, was die Moral überhaupt
kennzeichnet. Das hilft ihm schließlich, um eine Skizze über das Eigentümliche
der rationalen Moral anzufertigen.
Über das erste Kennzeichen der Moral schreibt er Folgendes: Ihr ist „[…]
für alle Handlungen ein Charakter gemeinsam, den man gewöhnlich moralisch
nennt; alle stimmen mit vorherbestimmten Regeln überein“ (ebd., S. 77). Was
also zählt, ist die vom Individuum unabhängige Entscheidung, mit der es sich
konfrontiert sieht, wenn es sich an moralischen Zielen orientiert. Weil der Moral
eine Entscheidung innewohnt, die besteht, bevor das Individuum hinsichtlich
seines Handelns entscheidet, ist die Moral ihm äußerlich. Sie hindert es daran, so
Durkheim, eine gänzlich eigenständige Entscheidung zu treffen. Entscheiden
kann es nur, an welcher spezifischen Vorab-Entscheidung es sich vor dem Hin-
tergrund eines bestimmten Geschehens zu orientieren hat. Moralische Ziele lie-
gen nämlich, obschon vorherbestimmt, nicht passgenau und stets identisch für
bestimmte Handlungsabläufe vor. Das Abwägen bleibt dem Individuum überlas-
sen. „Der moralischen Triebfeder obliegt es zu sehen, wie man sie im besonde-
ren Falle anwendet. Hier bleibt immer ein Überhang für die eigene Initiative,
Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum 153

aber dieser Überhang ist klein“ (ebd., S. 78). Fürs erste hält er fest: Moral ist ein
Handlungsdruck, der Unterwerfung verlangt. Er nennt sie „[…] eine Gesamtheit
von Regeln; ebenso viele Verhaltensmuster mit festen Umrissen, in die wir unse-
re Handlungen gießen müssen“ (ebd., S. 80). Moral fängt also, ihm zufolge, da
an, wo man sich nötigt, es zu unterlassen, nach eigenem Belieben zu handeln,
stattdessen von äußeren Vorgaben bedrängt wird. Nur diese können individuelle
Wünsche und Begierden mäßigen (ebd., S. 96), und damit ist Moral erst recht
keine latente Einrichtung des Menschen, sondern soll gegen die bereits in ihm
bestehenden Kräfte wirken.
Allerdings gehören nicht nur die moralischen Regeln zum äußeren Hand-
lungsdruck. Eine Differenzierung erlaubt, sich dem Wesentlichen der Moral an-
zunähern. Es gibt weitere Vorab-Entscheidungen, die unabhängig von der indi-
viduellen Entscheidung sind. Unterscheidet man die Moral von diesen, dann
kann man sie konkretisieren. Durkheim trennt moralische von technischen Re-
geln. Was den Letzteren wesentlich ist, erkennt er anhand der Folgen angesichts
von Missachtungen ihrer Vorgaben. Anders als bei der Moral gehören zur Hygi-
ene, deren Achtung die technischen Regeln besorgen, unmittelbare und zwin-
gende Konsequenzen, wenn man von den Vorgaben abweicht. Aus der abwei-
chenden Handlung resultiert demnach eine mechanische Folge. Für die Hygiene
bedeutet das, ihre Missachtung führt zu Krankheit. Die Verletzung technischer
Regeln ist somit vorhersagbar mit bestimmten Folgen verbunden (vgl. Durkheim
1976, S. 93). Bei dem moralischen Regeln erfolgt hingegen keine umgehende
mechanische Konsequenz. Durkheim nennt die Verbindung zwischen der Re-
gelmissachtung und der daran anschließenden Konsequenz im Falle der Moral
ein synthetisches Band (ebd.). Die Folge ist nämlich ausschließlich an das Be-
stehen einer Regel gebunden. Jene tritt nur deswegen ein, weil das abweichende
Handeln nonkonform ist, sie ist aber keine unmittelbare Gegenwirkung von die-
ser. Läge die vorherige Regel nicht vor, so würde deren Missachtung faktisch
nicht möglich sein, was folglich keine Konsequenzen herbeiführen kann. „Weil
es eine vorher gesetzte Regel gibt und die Handlung einen Akt der Rebellion
gegen diese Regel darstellt, zieht diese Handlung eine Sanktion nach sich“ (ebd.,
S. 94). Durkheim konstatiert vor diesem Hintergrund Folgendes: Was den Hand-
lungsdruck der Moral von den technischen Regeln unterscheidet, ist ihr „obliga-
torischer Charakter“ (ebd.).95 Von technischen Regeln kann man nicht sagen,
dass ihre Befolgung verpflichtend ist. Ohne die angeordnete Pflicht aber kann
man Moral nicht fassen.

95 Dieses für die Überlegungen Durkheims zentrale Merkmal der Moral beschreibt Jean Terrier
wie folgt: „Die Essenz der Moral besteht also darin, das Leben der Individuen mit den Zielen
der Gruppe und letztendlich der Gesellschaft als Ganzer zu harmonisieren“ (Terrier 2013, S.
502).
154 3 Émile Durkheims Welt

Die verbindliche Verhaltensregel, die sozialen Ursprungs ist und im Falle


der Missachtung nicht mechanischen Konsequenzen hervorruft, kennzeichnet die
Moral. Durkheim bemerkt, dass sich die Verhaltensgewohnheiten des Individu-
ums zwar auf moralische Regeln zurückführen lassen, jedoch wird die Anpas-
sung des Verhaltens an moralische Regeln nicht dadurch garantiert, dass sich
Verhaltensgewohnheiten ausbilden. Ihm ist wichtig, Moral nicht auf Verhaltens-
gewohnheiten beruhen zu lassen. Während sich diese nämlich ablegen lassen,
können moralische Regeln nicht gezielt aufgelöst werden (vgl. Durkheim 2006,
S. 82). Die Standhaftigkeit der Moral geht darauf zurück, dass ein Individuum
moralische Regeln weder erfinden kann, noch kann es sie beseitigen. Moral
hängt nicht vom Entschluss des Individuums ab. Entscheidend ist, dass, so
Durkheim, der zwingende Handlungsdruck der Moral deswegen erfolgreich ist,
weil man sich dem Ansehen moralischer Regeln beugt, und damit ist die Einsicht
in die eigene Unterlegenheit verbunden. Der zwingende Handlungsdruck, der
das Individuum von außen bedrängt, trifft dann nicht auf dessen Widerstand,
wenn es die Höherwertigkeit der Moral akzeptiert. Er schreibt:
„Man muss der moralischen Vorschrift aus Respekt vor ihr gehorchen, und das ist
der einzige Grund. Sie wirkt auf den Willen ausschließlich auf Grund der Autorität,
die sie bekleidet“ (ebd., S. 84).
Moral verlangt also auf der einen Seite, dass sich das Individuum diszipliniert,
denn die Befolgung moralischer Regeln ist damit verbunden, dass sich das Indi-
viduum selbst nötigt und innere Kräfte zurückstellt, die im Widerspruch zu mo-
ralischen Regeln stehen. Auf der anderen Seite kann man sich ihr zugeneigt hin-
geben. In diesem Fall tritt sie dem Individuum nicht befehlend entgegen, sondern
stellt ihm Ideale zur Verfügung, die es mit Leidenschaft zum Gegenstand seiner
Verehrung macht (ebd., S. 141).
Für Durkheim ist es nicht zulässig, die Disziplinierung des Individuums als
„Entmachtung“ (ebd., S. 91) zu begreifen. Moralische Regeln, die Disziplin ver-
langen, kann man deswegen rechtfertigen, „[…] weil sie gesund sind und weil
sie auf das öffentliche Wohlbefinden einen glücklichen Einfluss hätten“ (ebd., S.
102). Gesund ist die Moral, weil sie sich für das Individuum als nützlich erweist.
Zum einen schützt sie vor Orientierungslosigkeit und zum anderen ist sie die
Grundlage für die Selbstbeherrschung des Individuums, und das ist die Emanzi-
pation vor inneren Triebkräften. Durkheim macht geltend, dass menschliche Tä-
tigkeit, der keine Grenzen gesetzt sind, ein Zeichen von Krankheit erkennen lässt
(ebd., S. 92). Führt man eine Tätigkeit aus, ohne sie entschieden zu einem Ende
zu bringen, ist man also gewillt, sie ununterbrochen fortzusetzen, so bedeutet
das, man ist sich keines Ziels bewusst. Weil aber, argumentiert er, das menschli-
che Leben bestimmter Notwendigkeiten bedarf, zu deren Realisierung einem
nicht nur eine bloß begrenzte Menge an Kraft zur Verfügung steht, sondern auch
der Einsatz einer relativen Menge an Kraft vorgesehen ist, so ist die menschliche
Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum 155

Tätigkeit zwingend auf Maß angewiesen. Das zu erreichende Ziel wie die ein-
setzbare Kraft sind jeweils begrenzt. Aber jede Anstrengung, die an keinem Ziel
halt macht, wird dem Individuum nichts weiter außer Leid zufügen, denn die
Ziellosigkeit beeinträchtigt das Handeln, und schließt die kontinuierliche Enttäu-
schung ein. Durkheims schreibt:
„Ein Bedürfnis, ein Wunsch, der keine Hemmung und keine Regel mehr kennt, der
nicht mehr an ein bestimmtes Objekt gebunden ist und durch diese Bestimmung
selbst begrenzt und gebunden ist, kann für den Menschen, der ihm ausgesetzt ist, nur
ein Grund ständiger Qual sein. Welche Befriedigung können sie uns in der Tat ver-
mitteln, wo sie doch schon rein begrifflich nicht mehr befriedigt werden können“
(ebd., S. 93).
Insofern Maß für das Individuum allgemein erforderlich ist, kann er also behaup-
ten, dass sich äußerliche Vorgaben und Vorab-Entscheidungen, die man dem
Individuum zumutet, als gesund erweisen. Die Disziplin, von der Durkheim sagt,
sie setzt grundsätzlich Grenzen für die menschliche Tätigkeit96, entmachtet das
Individuum folglich nicht, sondern versetzt es hingegen in die Lage, sich den
Nutzen seiner Tätigkeit verständlich zu machen. Handlungsfähigkeit ist somit
notwendig auf Disziplin angewiesen. Die moralische Regel übt Druck auf das
Individuum aus und kann verhindern, dass es sich über jedes Maß verhält.
Warum Disziplin das Individuum nicht entmachtet, erklärt er außerdem
noch auf eine andere Weise. Statt die vollkommene Allmacht mit dem Maximum
an Handlungsfähigkeit zu identifizieren, setzt Durkheim jene mit der vollkom-
menen Ohnmacht gleich. Jemand, dessen Wünsche keine Grenzen gesetzt sind,
ist weder allmächtig, noch ständig durchsetzungsfähig, er ist vielmehr von seinen
Wünschen beherrscht. Allmacht ist aber etwas anderes als das Vermögen, das zu
tun, was einem beliebt. Durkheim nennt die individuellen Wünsche in diesem
Fall tyrannisch, denn sie unterwerfen das Individuum. Hingegen spricht er von
Selbstbeherrschung und Freiheit, wenn das Individuum die inneren Kräfte hem-
men und in Richtungen lenken kann (ebd., S. 97). Somit kennzeichnet er die
moralische Regel nicht als ein Instrument der äußeren Beherrschung, sie führt
das Individuum nicht zur Selbstverleugnung, sondern sie erst macht Emanzipati-
on möglich. „Weil die Regel uns lehrt, uns zu mäßigen und uns beherrschen, ist
sie ein Instrument der Befreiung und der Freiheit“ (ebd., S. 101). Insofern also
die Disziplin feste Ziele zur Orientierung wie zur Selbstbeherrschung vorgibt, ist
es nicht zulässig, sie als Entmachtung zu begreifen, denn im Grunde wirkt sie
sich im Interesse des Individuums aus, dessen Leiden sie verhindert. Wer das
nicht einsieht und die ungeregelte Freiheit statt der Disziplin bevorzugt, der

96 Durkheim deckt damit den Ziel- und Orientierungsbedarf des Menschen auf, womit er, Thomas
Korn und Melanie Reddig zufolge, die These vom Menschen als dem weltoffenen Mängelwe-
sen, dessen Handlungsoptionen auf Kontingenzreduktion beruhen vorwegnimmt (vgl.
Kron/Reddig 2003, S. 176).
156 3 Émile Durkheims Welt

wird, so Durkheim, nichts anderes als einen krankhaften Zustand hervorbringen


(ebd., S. 106). In seinem Denken tritt das nicht-erzogene Individuum nicht als
Unheil bringend auf, es ist nicht von Natur aus schlecht. Es ist stattdessen seiner
Natur nach unvollständig, weil er noch nicht zielbewusst handelt (ebd., S. 103).
Die Handlungsfähigkeit wird erst aus der Konfrontation mit dem äußeren Hand-
lungsdruck vermittelt (vgl. hierzu König 1978, S. 125). Es handelt sich um eine
Unterwerfung, von der Durkheim sagt, dass sie im Grunde zur Emanzipation des
Individuums beiträgt (vgl. Durkheim 1976, S. 129).
Besteht aber Moral tatsächlich zum Nutzen des Individuums? Angesichts
der Wirkungen, die Disziplin für das Individuum erzielt, könnte man vermuten,
dass die Ausrichtung am Interesse des Individuums für moralisches Handeln
konstitutiv sei. Durkheim verneint dies aber. Die ihrem Ursprung nach vom In-
dividuum unabhängige Moral kann nicht auf dessen Nutzen ausgerichtet sein,
denn schließlich bringt sie es dazu, sich ihren Regeln zu fügen (vgl. Durkheim
2006, S. 109). Konsequenterweise lehnt er es ebenfalls ab, moralisches Handeln
auf das Interesse anderer Individuen abzustellen. Das begründet er wie folgt:
„Wenn meine Individualität nicht würdig ist, als Ziel für das moralische Verhal-
ten zu dienen, warum sollte es für die Individualität meiner Mitmenschen anders
sein, die in nichts über der meinen steht“ (ebd., S. 115). Ist also das Handeln im
Hinblick auf das eigene Interesse nicht moralisch, so ist auch das Handeln im
Hinblick auf das fremde Interesse nicht moralisch. Gleiches gilt im Übrigen für
das Handeln im Dienst des Interesses mehrerer.
Für Durkheim ergibt sich demnach nur noch ein Ziel der Moral, und das ist
die Gesellschaft (ebd., S. 116):
„[…] dass, wo es eine Moral gibt, diese nur die durch eine Pluralität assoziierter In-
dividuen gebildete Gruppe zum Ziel haben kann, nämlich die Gesellschaft, unter der
Voraussetzung allerdings, dass die Gesellschaft als eine Person betrachtet werden
kann, die sich von den Einzelpersonen, aus denen sie sich zusammensetzt, qualitativ
unterscheidet. Die Moral beginnt also dort, wo die Bindung an eine wie immer gear-
tete Gruppe beginnt“ (Durkheim 1976, S. 87; Herv. im Orig.).
Nur die Gesellschaft hebt sich also vom Eigennutz des Individuums ab und stellt
etwas anderes als eine Gruppe dar. Sie ist zwar nicht bloß eine Ansammlung von
Individuen, kommt aber aus deren Zusammenschluss zustande, womit sie etwas
aufweist, was sich von der Summe der Zusammengeschlossenen unterscheidet.
Zwischen einer Summe von Individuen und der Gesellschaft gibt es, Durkheim
zufolge, einen Unterschied (ebd., S. 104). In einem Zusammenschluss von Indi-
viduen ist eine Wirkung möglich, die ein isoliert handelndes Individuum nicht
hervorbringen kann. Kennzeichnend für Gesellschaft ist, dass das Individuum
anders als im isolierten Zustand handelt. In seinem Handeln kann die vom Han-
deln anderer Individuen ausgehende Wirkung nicht gesondert werden, d.h. wo
die Individuen miteinander in Beziehung stehen, ereignet sich das Handeln so,
Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum 157

wie es in der Vereinsamung nicht erfolgen würde, und somit liegt das vor, was
die Gesellschaft von einer Summe von Individuen unterscheidet (vgl. Durkheim
2006, S. 113).
Damit sie aber Ziel moralischen Handeln sein kann, muss es für das Indivi-
duum einen Grund geben, seine Tätigkeit nach ihr auszurichten. Durkheim fragt:
Was kann das Individuum veranlassen, die Gesellschaft über das eigene Interes-
se zu stellen, obwohl beide im Grunde durch kein „fleischliches Band“ (ebd., S.
117) vereinigt sind? Beantwortet man die Frage mit dem Hinweis auf den Ge-
winn, den das Individuum aus dem Leben in der Gesellschaft schöpft, so würde
der individuelle Eigennutz in das moralische Handeln hineinragen, was sich mit
der bisherigen Feststellung widerspricht, denn die Gesellschaft soll nicht das
Mittel für das individuelle Interesse sein. Zur Lösung des Problems verweist
Durkheim erneut auf einen bestimmten Umstand: Wie die moralischen Regeln
vom Individuum verlangt, sich selbst Grenzen zu setzen, so ersucht man es, sein
Interesse dem „Wohlbefinden“ der Gesellschaft unterzuordnen. Erst wenn man
sich von der Vorstellung verabschiedet, zwischen Individuum und Gesellschaft
bestehe ein Antagonismus, kann man zu einer Antwort auf die oben gestellte
Frage gelangen. Zur reinen Verleugnung des individuellen Selbst zugunsten der
Gesellschaft kommt es nämlich nicht, wenn man das moralische Handeln nach
ihr ausrichtet. Durkheim macht geltend: Nur wenn sich das Individuum der Ge-
sellschaft anschließt, kann es tatsächlich es selbst sein, kann es vollkommen sein
(ebd., S. 118). Dass jede Handlungsfähigkeit nur dann gegeben ist, insoweit das
Individuum der Mäßigung ausgesetzt ist, muss Anlass dafür sein, sich der Ge-
sellschaft unterzuordnen. Das Individuum und die individuelle Handlungsfähig-
keit sind demnach von der Gesellschaft abhängig. Dies muss das Individuum
veranlassen, zugunsten der Gesellschaft zu handeln.
„Sich selbst überlassen, würde das Individuum in Abhängigkeit von physischen
Kräften geraten. Dass es ihnen entrinnen, dass es sich befreien und eine Person wer-
den konnte, rührt daher, dass es sich einer Kraft sui generis begeben konnte, einer
Kraft, die so stark ist, da sie aus der Vereinigung aller individuellen Kräfte resultiert,
die zugleich aber eine geistige und moralische Kraft ist, die die ungeistigen und
amoralischen Kräfte der Natur zu neutralisieren vermag: nämlich die kollektive
Kraft“ (Durkheim 1976, S. 108 f.).
Nun lässt sich als erstes rekonstruieren, warum die Entfernung der religiösen
Elemente nicht soweit gehen darf, dass der rationalen Moralerziehung auch die
„rein moralischen Elemente“ (Durkheim 2006, S. 64) fehlen. Moral besteht aus
Verhaltensregeln, deren Geltung vom Individuum unabhängig ist, und sie tritt
dem Individuum als geistige Macht entgegen, deren Höherwertig es anerkennt.
Schließlich bietet sie Inhalte an, die das Individuum verehren kann. Die religiöse
Moral kennzeichnet es, dass die geistige Macht der Moral in Gestalt heiliger
Wesen auftritt (ebd., S. 137). Im Falle der rationalen Moral fehlt diese Verbin-
158 3 Émile Durkheims Welt

dung. Beiden Moralen ist jedoch die geistige Macht gemeinsam, die das Indivi-
duum bedrängen kann, sich den Vorgaben der Moral zu fügen. Wenn rationale
Moral also Religion aussondert, kann sie nicht auch die geistige Macht der Mo-
ral überhaupt entfernen. Die rationale Moral unterscheidet sich dadurch von der
religiösen Moral, dass sie nicht ausschließt, Herkunft und Wirkung der geistigen
Macht der Moral erklären zu können.
Dieses Begreifen der Moral überhaupt ist, Durkheim zufolge, für Autono-
mie konstitutiv. Hierfür muss man zunächst Folgendes berücksichtigen: Die
Notwendigkeit, sich Moral unterzuordnen, bleibt unbeschadet, unabhängig da-
von, in welchem Maße die Entscheidungsfreiheit des Individuums zunimmt. Um
handeln zu können, kann das Individuum nicht darauf verzichten, äußere Vorab-
Entscheidungen der Moral zu berücksichtigen. Die Autonomie des Individuums
beruht für Durkheim nicht darauf, dass man sich bewusst, für eine Verhaltensre-
gel entscheidet, sondern versteht, von welchen Gründen die Moral abhängt und
welche Funktionen sie erfüllt (ebd., S. 164). Die bewusste Entscheidung für eine
Verhaltensregel schließt nämlich nicht aus, dass die geistige Macht der Moral
das Individuum bedrängt. Man kann den Drang der Moral, dem man ausgesetzt
ist, aber verstehen, und daran misst Durkheim die Autonomie des Individuums.
Insbesondere die Soziologie ist hierfür nützlich. „Wir können die Moralwelt nur
so erobern, wie wir die physische Welt erobern: indem wir die Moraldinge wis-
senschaftlich erforschen“ (ebd.).
Durkheims Morallehre lässt sich zweitens entnehmen, in welcher Hinsicht
das Individuum für ihn besorgniserregend ist. Weil er es ausschließt, dass Moral
dem Wesen des Menschen innewohnt, kann er die Unverzichtbarkeit der Erzie-
hung feststellen. Sie sorgt für die Achtung des äußerlichen Handlungsdrucks.
Man darf sich aber nicht beirren lassen und annehmen, die Morallehre implizie-
re, der Fall des nicht-erzogenen Individuums sei besorgniserregend. Weil das
Individuum im Denken Durkheims ohne die wesentlichen Resultate der Erzie-
hung, nämlich ohne Zielorientierung und Selbstbeherrschung nicht lebensfähig
ist, kommt in seinen Arbeiten das nicht-erzogene Individuum nicht vor und so-
mit lässt sich die Krise der Moral nicht auf Individuen zurückführen, die von
jeder Disziplinierung verschont geblieben sind. Infolgedessen begründet er zum
einen den notwendigen Erziehungsbedarf und zum anderen streitet er eine Unter-
stellung ab, die besagt, dass die „Materie, das Fleisch, die Quelle des Übels und
der Sünde“ (ebd., S. 103) sei. Wenn also das moralfreie Individuum nicht vor-
kommt, dann muss es ein anderer Sachverhalt sein, dem sich Durkheims gesell-
schaftliches Krisenbewusstsein verdankt. Das lässt sich ermitteln, wenn man
Folgendes in Rechnung stellt: Eine moralische Regel ist, so sieht es seine Kon-
zeption vor, ein Handlungsdruck, der das Individuum mit einer vorab getroffe-
nen und sein Handeln betreffenden Entscheidung konfrontiert. Dass sie auch
Widerstreben mobilisiert, kalkuliert Durkheim, denn stimmte sie mit der
menschlichen Natur überein, so wäre sie redundant. Erfolgreich kann der Hand-
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 159

lungsdruck allerdings nur dann sein, wenn das Individuum seine Unterlegenheit
ihm gegenüber anerkennt. Dann liegt die Einsicht über die Höherwertigkeit der
moralischen Regel vor. Es ist die Anerkennung dieses Ansehens, dem Durkheim
die Kraft zuschreibt, das eigentliche Widerstreben des Individuums gegen Vor-
ab-Entscheidungen zu brechen. Nur mit der Anerkennung kann das Individuum
die Anstrengung fertig bringen, die inneren Kräfte zu bremsen. Lässt die Aner-
kennung nach, so mindert sich die Kraft der Moral und die einmal geschaffene
Begrenzung der individuellen Kräfte wird von diesen durchbrochen. Das Indivi-
duum ist also nicht besorgniserregend, weil es möglicherweise nicht erzogen
wird. Hingegen sieht Durkheim den Anlass zur Sorge insbesondere deswegen als
gegeben, weil die einst durchgesetzte Zurückstellung der individuellen Kräfte
aufhören kann. Es ist die Abkehr von den moralischen Regeln, die Einstellung
der Anerkennung seitens des Individuums, mit der dieses jenen einen Geltungs-
verlust zufügen kann (ebd., S. 95). Mindert das Individuum das Ansehen der
Moral, so wird es ebenfalls die Kontrolle über sich mindern. Folglich wird es
sogar dann den äußeren Handlungsdruck nicht entbehren, wenn es der Zunahme
an Entscheidungsfreiheit nicht aus dem Weg gehen kann.

3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung)

Das Individuum gewinnt seine Freiheit nicht agonal, denn sie wird notwendig,
und was das bewirkt, das schafft auch die Voraussetzung, damit das Individuum
die Freiheit überhaupt nutzen kann. In diesen Bemerkungen sind die zentralen
Ergebnisse von Über soziale Arbeitsteilung (2008a) zusammengefasst. Die Stu-
die ist hilfreich für das eigene Vorhaben, weil sich ihre Ergebnisse im Hinblick
auf die Untersuchung der Möglichkeiten und des Bedarfs an nationaler Moral
nutzen lassen.
Es steht nun an, der Studie die Ursachen für die Fortschritte der Arbeitstei-
lung zu entnehmen, denn damit sie sich entwickelt, braucht es Individualität, und
somit verrät die Arbeitsteilung, was sie möglich macht. Zum Vorgehen im Ein-
zelnen: Als erstes wird die Problemstellung skizziert, die Durkheim veranlasst,
den Zusammenhang von Arbeitsteilung und Individualität zu untersuchen. Zwei
unterschiedliche Typen des Zusammenhalts, von denen der eine Typus keine
Individualität zulässt, während der andere Typus auf eben dieser beruht, ermög-
lichen Durkheim, die Zunahme der Entscheidungsfreiheit festzustellen. Das soll
als zweites rekonstruiert werden, bevor als letztes die Gründe für die Dominanz
des Zusammenhalts auf der Grundlage der Individualität erarbeitet werden.
Zum Vorhaben der Studie. Durkheim interessiert sich für folgenden Sach-
verhalt: In Gesellschaften mit fortgeschrittener Arbeitsteilung verfügt das Indivi-
duum über mehr Entscheidungsfreiheit, aber dessen ungeachtet sieht es sich nach
160 3 Émile Durkheims Welt

wie vor veranlasst, sich Verhaltensregeln unterzuordnen. Vor diesem Hinter-


grund fragt er sich:
„Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer
mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und
solidarischer sein? […] Das ist das Problem, das wir uns gestellt haben“ (ebd., S.
82).
Sein Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen der vermehrten Freiheit für das
Individuum und dessen neuer Abhängigkeit zu untersuchen. Obwohl man an-
nehmen kann, dass die beiden Vorgänge einander widersprechen, unterstellt er,
dass die Freiheitszunahme mit einer neuen Form der Unterordnung gegenüber
einer Moral in Verbindung steht. Beides, die Freiheit und die Unterordnung setzt
er in einen Zusammenhang mit der Arbeitsteilung. Es geht ihm nicht darum,
deren Wirkung für die effiziente Produktion zu untersuchen, sondern er will
nachweisen, dass sie eine ausschlaggebende Quelle für Zusammenhalt ist, wäh-
rend sie auch Freiheit möglich macht (ebd., S. 109). Selbst diejenigen, schreibt
er, die höher gebildet sind, registrieren, dass sie in mancherlei Hinsicht unvoll-
kommen sind. Daher sind sie veranlasst, auf andere zuzugehen. Was ihnen ab-
geht, sollen andere ergänzen. Dieser Umstand ist eine Quelle für „kleine Freun-
deskreise“ (ebd., S. 102). Er notiert: „Individuen sind untereinander verbunden,
die sonst unabhängig wären“ (ebd., S. 108). Häufige Interaktionen, bei denen die
Handelnden, wechselseitig Erwartungen hegen, sind, seiner Unterstellung zufol-
ge, Quelle einer Moral. Seine Studie richtet er auf diese Moral aus. Für Durk-
heim gilt also Folgendes: Mit der Arbeitsteilung sind zwar zuvor nicht gekannte
Freiheiten für das Individuum verbunden, aus ihr geht aber auch eine Moral her-
vor, und das bedeutet, sie nimmt dem Individuum auch einen Teil seiner Frei-
heit. Diese beiden Zusammenhänge will er untersuchen.
Damit er der moralischen Funktion der Arbeitsteilung nachgehen kann,
konstruiert er zwei Typen der Solidarität, die für ihn mehr als bloß Verbunden-
heit gegenüber anderen darstellt. Solidarität ist ein Zusammenhalt, der aus der
Verbindung von Normen und Werten mit jeweils einem bestimmten Typus der
Struktur einer Gesellschaft entsteht. Weil aber der „immaterielle Charakter“ der
Solidarität weder ihre Messung noch die Beobachtung ihrer Veränderung zulässt,
wählt er einen Weg aus, bei dem er die beiden Solidaritäten mittels ihrer äußeren
Entsprechungen klassifizieren und vergleichen kann. Die Entsprechung ist das
Recht. Es ist das äußere Anzeichen, mit dem er die Solidarität beobachtbar ma-
chen will. Wo es feste und regelmäßige Beziehungen gibt, da wird sich das
Recht entwickeln und da werden sie nicht ohne Recht bestehen, also folgert
Durkheim, dass sich die Solidarität im Recht abzeichnet (ebd., S. 115). Um einen
spezifischen Typus der Solidarität an eine Rechtsform zu koppeln, klassifiziert er
diese nach der Strafe, die die jeweilige Rechtsform vorbehält. Da ist einmal das
repressive Recht, dessen Kennzeichen die Strafe zum Zweck der Sühne ist und
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 161

einmal das restitutive Recht, das weniger die Sühne und mehr die Wiedergutma-
chung zum Selbstschutz verfolgt (ebd., S. 117). Im Laufe der Untersuchung kon-
struiert Durkheim zudem einen einfachen Gesellschaftstypus, den er die segmen-
täre Gesellschaft nennt und in dem das repressive Recht im Vordergrund steht,
wohingegen er das restitutive Recht einem modernen Gesellschaftstypus vorbe-
hält, nämlich der organischen Gesellschaft (ebd., S. 283 f.). Im ersten Gesell-
schaftstypus besorgt die mechanische Solidarität den Zusammenhalt. Die Ein-
zigartigkeit des Individuums ist dort, wo diese Solidarität herrscht, stets den al-
len gemeinsamen Normen, Werten, Vorstellungen und Gefühlen unterlegen, d.h.
individuelle Verschiedenheit wird durch kollektive Homogenitätszumutungen,
die zur mechanischen Solidarität gehören, weitestgehend verhindert. Individuali-
tät ist folglich „gleich null“ (ebd., S. 182). Der Zusammenhalt beruht primär auf
der Übereinstimmung aller untereinander. „So ist Originalität nicht nur selten,
sie hat hier sozusagen überhaupt keinen Platz“ (ebd., 187). Im Weiteren schreibt
er: „Wenn sich das Individuum nicht von der Gruppe unterscheidet, so darum,
weil sich das individuelle Bewusstsein fast nicht vom kollektiven Bewusstsein
unterscheidet“ (ebd., S. 249 f.). Der Strukturtypus der segmentären Gesellschaft
ist so beschaffen, dass die Menschen in abgegrenzten Kollektiven leben, die nur
eingeschränkte Beziehungen untereinander haben. Diese Segmente sind unterei-
nander homogen und ähnlich (ebd., S. 229 ff.). Anders hingegen wirkt die zum
zweiten Gesellschaftstypus gehörende Solidarität, nämlich die organische Soli-
darität. In diesem Fall ist das Individuum auf eine eigene Betätigung angewie-
sen, d.h. statt sich anzugleichen, wird es mit Bedingungen konfrontiert, denen es
sich entziehen würde, wenn es seine Individualität nicht vorantreibt. Die Arbeits-
teilung, die Durkheim zur primären Quelle der organischen Solidarität zählt,
macht Spezialisierung erforderlich, in deren Kontext die individuelle Variation
nicht nur möglich, sondern auch erforderlich wird. Die organische Gesellschaft
beruht nicht auf in sich homogenen Gruppen. Durkheim kennzeichnet sie als ein
System von verschiedenen Funktionen, die nicht wie die Segmente des anderen
Typus nur auf sich verwiesen sind, denn sie bestehen überhaupt erst dadurch,
dass sie untereinander verbunden sind. Diesen Strukturtypus nennt er die organi-
sche Gesellschaft (ebd., S. 237).
Man muss aber Folgendes beachten: Durkheim stellt zwei Solidaritäten und
zwei Gesellschaftsstrukturen gegenüber, die sich nicht verschiedene Epochen
zuordnen lassen. Sie treten in der Wirklichkeit nicht so auf, dass der eine Typus
verschwindet und nahtlos vom anderen Typus abgelöst wird. Die mechanische
Solidarität liegt zwar zunächst rein und isoliert vor, jedoch kommt auch sie in
der Studie bloß idealtypisch zum Einsatz. Er macht geltend, die beiden Typen
lediglich zur Untersuchung des Übergewichts von jeweils der einen über die
andere Solidarität einzusetzen. Somit schließt er nicht aus, dass sich die beiden
Typen überlagern können.
162 3 Émile Durkheims Welt

„In den beiden Fällen sieht man die Gesellschaft nicht vom gleichen Blickwinkel
aus. Im ersten handelt es sich bei dem, was man mit diesen Namen bezeichnet, um
eine mehr oder weniger organisierte Gesamtheit von Glaubensüberzeugungen und
Gefühlen, die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind: das ist der kollektive
Typ. Die Gesellschaft dagegen, der wir im zweiten Fall verpflichtet sind, ist ein Sys-
tem von verschiedenen und speziellen Funktionen, die bestimmte Beziehungen ver-
einigen. Diese beiden Gesellschaften bilden im Übrigen nur eine. Es handelt sich um
die zwei Gesichter ein und derselben Wirklichkeit, die aber gleichwohl verlangen,
unterschieden zu werden“ (ebd., S. 181).
Es ist deswegen wichtig, das reine Vorkommen der beiden Solidaritätstypen aus-
zuschließen, weil Durkheim im Anschluss an das unten ermittelte Übergewicht
der organischen Solidarität gegenüber der mechanischen Solidarität konstatiert,
„[…] dass es Gesellschaften gibt, deren Zusammenhang wesentlich von der Ge-
meinschaft des Glaubens und der Gefühle abhängt, und dass aus dieser Gesell-
schaft jene hervorgegangen sind, deren Einheit die Arbeitsteilung sichert“ (ebd.,
S. 337). Der Zusammenhalt, der aus dem Typus der mechanischen Solidarität
hervorgeht und sich im repressiven Rechtstypus ablesen lässt, gehört also zu den
Voraussetzungen, damit sich die Quelle der organischen Solidarität bilden kann.
Nun zu den eigentümlichen Wirkungen der beiden Rechtstypen: Die repres-
sive Strafe ist, der idealtypischen Konstruktion zufolge, so angelegt, dass sie
einen ausgleichenden Schaden zufügt, also das Verbrechen rächt, und daher ist
sie, so Durkheim, auf diejenige Gesellschaft abgestimmt, deren Solidarität einen
Zusammenhalt stiftet, für den gilt: Eine Handlung ist erst dann ein Verbrechen,
wenn sie zur Schädigung des Zusammenhalts führt. Um den besonderen Zu-
sammenhalt der mechanischen Solidarität zu untersuchen, berücksichtigt er, was
in der segmentären Gesellschaft eine Bestrafung veranlasst, also das, was eine
Handlung zu einem Verbrechen macht (ebd., S. 118). Durkheim fragt für diesen
Typus, woran man das Wesen des Verbrechens, das alle Verbrechensvariationen
gemeinsam haben, identifizieren kann. Weil die verschiedenen Verbrechen etwas
aufweisen, was sie ein Verbrechen sein lässt, muss es ein Kriterium geben, für
das der Grad des Verbrechens indifferent ist. Weil man allen Variationen nach-
sagen kann, sie sind ein Verbrechen, müssen sie alle das betreffen, was deren
Strafwürdigkeit begründet. Insofern aber Versuche, die jenes Wesen durch Auf-
listung aller jemals verübten und weltweit bekannten Verbrechen entdecken wol-
len, für Durkheim zum Scheitern verurteilt sind, muss man nach einer externen
Bedingung suchen (ebd., S. 120). Das Wesen des Verbrechens lässt sich nicht
davon herleiten, was eine Gesellschaft gefährdet, und das liegt, ihm zufolge,
daran, dass man Handlungen zu Verbrechen zählt, die weit davon entfernt sind,
die Gesellschaft in ihren Grundfesten zu bedrohen. Selbst der Mord, schreibt er,
der zu den besonders schweren Verbrechen gehört, gefährdet die Gesellschaft
weniger als beispielsweise das weniger schwere aber für die Gesellschaft gefähr-
lichere Wirtschaftsverbrechen. Man kann also das Wesen des Verbrechens nicht
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 163

mit den Notwendigkeiten für das Überleben einer Gesellschaft in Verbindung


bringen, weil es Handlungen gibt, die man als Verbrechen und sogar schwere
Verbrechen fasst, ohne dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.
Durkheim knüpft aber an diese nicht seltene Annahme an und fragt:
„Könnte man […] sagen, Straftaten wären das, was der Gesellschaft, die sie unter-
drückt, schädlich erscheint; die Strafregeln drückten nicht die Bedingungen aus, die
für die Gesellschaft wesentlich sind, sondern die Bedingungen, die für die Gruppe,
die sie beachtet, wesentlich erscheinen? (ebd., S. 121; Herv. im Orig.).
Statt das Verbrechen also im Kern von der faktischen Bedrohung der Gesell-
schaft überhaupt abzuleiten, schlägt er vor, sich nicht am tatsächlich angerichte-
ten Schaden, sondern an dem Effekt des Verbrechens zu orientieren, der als
Schaden gewertet wird.97 Nur dann kann man die Verbrechensvariationen auf
einen gemeinsamen Nenner bringen und somit korrespondiert das Verbrechen
nicht mit einem tatsächlich angerichteten Schaden, denn es kollidiert mit einer
gemeinsamen Einstellung. Was also das von allen geteilte Bewusstsein verletzt,
das gilt als ein Verbrechen. Durkheim entwickelt auf diese Weise das Kollektiv-
bewusstsein, denn aus einer Handlung wird ein Verbrechen, wenn es im Wider-
spruch zu ihm steht, und das ist: die auf Seiten aller gemeinsam und unabhängig
von Einzelnen vorfindbaren Glaubensvorstellungen, Gefühle, Normen und Prak-
tiken. Er schreibt:
„Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im
Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes
System, das sein eigenes Leben hat; man könnte es das gemeinsame oder Kollek-
tivbewusstsein nennen“ (ebd., S.128; Herv. im Orig.).
Der Zusammenhang zwischen dem Kollektivbewusstsein und dem Verbrechen
darf aber nicht missverstanden werden. Seinen Nutzen erweist es erst, wenn man
von ihm das Verbrechen ableitet, denn so kann man ersichtlich machen, worin
das Verbrecherische einer Handlung besteht. Für Durkheim ist wichtig: Das
Verbrechen bringt nicht den Widerspruch seitens einer Gesellschaft gegen sich
hervor. Ganz anders: Der Widerspruch seitens einer Gesellschaft lässt eine
Handlung überhaupt ein Verbrechen werden.
Wie kann Durkheim von dem, was seitens der Angehörigen einfacher Ge-
sellschaften unisono als Verbrechen etikettiert wird, auf den Typus der mechani-
schen Solidarität schließen, die daraus resultiert, dass sich jene zugunsten der

97 Einige Jahre später schreibt Howard S. Becker: „Abweichendes Verhalten ist keine Qualität,
die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der eine
Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren“ (Becker 1973, S. 13). Popitz nennt das
die „demonstrative Missbilligung“ (Popitz 2010, S. 70). Die Kenntnisnahme des abweichenden
Verhaltens kann schließlich dazu führen, dass der Abweichende die Etikettierung als rechtmä-
ßig erachtet. Frank Tannenbaum beschreibt das folgendermaßen: „The person becomes the
thing he ist described as being“ (Tannenbaum 1951, S. 20).
164 3 Émile Durkheims Welt

Ähnlichkeiten untereinander verhalten, sich also kollektiven Homogenitätszumu-


tungen unterordnen? Für die Erklärung der mechanischen Solidarität macht er
nicht nur geltend, dass das Wesen des Verbrechens in einer Verbindung mit dem
Kollektivbewusstsein steht, sondern er arbeitet auch heraus, dass dieses auf das
Verbrechen angewiesen ist. Durkheim erklärt den Zusammenhalt der mechani-
schen Solidarität anhand von Verbrechen, nämlich Handlungen, die im Wider-
spruch zum Kollektivbewusstsein stehen. Das macht er, indem er zunächst die
Wirksamkeit von Vorstellungen veranschlagt, genauer: Eine Vorstellung ist eine
Antriebskraft für das Handeln desjenigen, der sie hegt. Sie ist, schreibt er, „[…]
ein wesentlicher Faktor unserer allgemeinen Lebenskraft“ (ebd., S. 147). Dem-
nach lässt sich auf geliebte Vorstellungen eine intensive Antriebskraft zurück-
führen. Daneben folgert er aber auch, dass solche Vorstellungen, die den antrei-
benden Vorstellungen entgegengesetzt sind, sich auf eben diese beeinträchtigend
auswirken.
„Darum kann sich keine Überzeugung, die unserer Überzeugung entgegengesetzt ist,
in unserer Gegenwart äußern, ohne uns zu verwirren; denn indem sie in uns ein-
dringt, befindet sie sich mit allem, was ihr dort begegnet, im Gegensatz und verur-
sacht damit ein wahres Durcheinander“ (ebd., S. 148).
Missmut und Irritation liegen vor, wenn widersprechende Vorstellungen die
Quelle der Antriebskraft herausfordern. Während diese Folgen im Falle von ne-
bensächlichen Vorstellungen in nur geringem Maße vorkommen, ruft die Kolli-
sion mit einer besonders favorisierten Vorstellung agonale Reaktionen hervor. Er
notiert: „Wenn es sich aber um eine Überzeugung handelt, sie uns lieb ist, erlau-
ben wir nicht – und können es gar nicht erlauben –, dass man ungestraft Hand an
sie legt“ (ebd.). Schließlich bemerkt er, dass der Gegensatz zu solchen Vorstel-
lungen, die zum Kollektivbewusstsein gehören, besonders heftige Antworten
bewirkt. Die kollektiven Vorstellungen, von denen man weiß, dass sie von vielen
anderen geteilt werden, zeichnet es aus, dass sie ein Kollektiv, aber wohlgemerkt
nicht die Summe seiner Angehörigen repräsentieren. Das Individuum registriert,
dass es von kollektiven Vorstellungen durchdrungen wird, denn es wird sich
darüber bewusst, dass der Ursprung der kollektiven Vorstellung nicht in ihm
liegt. Daher zieht eine Verletzung gegen das, was zum Kollektivbewusstsein
gehört, besonders heftige Reaktionen nach sich. Solche Antworten werden ge-
fordert, weil, so Durkheim, die Verletzung nicht ein bestimmtes Individuum be-
trifft, sondern eine Vorstellung, die vielen Individuen gemeinsam ist, somit eine
Macht ist, die jedes einzelne Individuum übertrifft und die sich nicht aus der
Summe der sie beansprichenden Individuen, sondern aus deren Synthese ergibt.
Nimmt ein Individuum die Verletzung einer zum Kollektivbewusstsein gehören-
den Vorstellung zur Kenntnis, so begründet sich ihm die Reaktion auf die Ver-
letzung nicht deswegen, weil es selbst von davon betroffen ist, sondern weil sie
etwas trifft, was ihm äußerlich ist. Die kollektive Vorstellung durchdringt das
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 165

Individuum und es macht etwas für ihre sodann wirkende Kraft verantwortlich,
das für all diejenigen steht, die ebenfalls diese kollektive Vorstellung teilen und
sie hervorbringen. Die Strafe für die Verletzung leitet sich daher nicht vom em-
pirischen Schaden her, sondern geht auf die Respektlosigkeit gegenüber der Vor-
stellung, die sonst in hohem Maße kausal bedeutsam ist. Daraus ergibt sich die
Funktion des Typus des repressiven Rechts: „Denn die Taten, die es bestraft,
scheinen Angriffe auf etwas Transzendentes zu sein, seien es nun Wesen oder
Ideen“ (ebd., S. 150). Insofern also die Verletzung der transzendenten Kraft gilt,
die sich durch eine externe Instanz speist und die der Grund dafür ist, dass das
Individuum die geteilte Vorstellung aus sich editiert und einem äußeren Objekt
zuschreibt, ist sie es auch, die mit der Reaktion auf die Verletzung geltend ge-
macht wird. Die Vergeltung für ein Verbrechen, von dem ein Individuum empi-
risch betroffen ist, ruft die Vergeltung für die Verletzung einer geteilten Vorstel-
lung hervor, sie steht nicht stellvertretend für das Individuum, sondern für ein
Kollektiv. „Da diese Gefühle Kollektivgefühle sind, sind nicht wir es, die sie in
uns repräsentieren, sondern die Gesellschaft. Indem wir sie rächen, rächen wir
die Gesellschaft und nicht uns selber; diese aber steht über dem Individuum“
(ebd., S. 151). Und weiter schreibt er: „In einfachen Gesellschaften gelten Ver-
haltensvorgaben als Befehl einer Gottheit, der, wenn er missachtet wird, nicht
Wiedergutmachung, sondern Sühne verlangt“ (ebd., S. 193).
Durkheim ist wichtig, dass es im Falle der Verletzung von Vorstellungen
und Gefühlen, die zum Kollektivbewusstsein gehören, trotzdem nur um Vorstel-
lungen und Gefühle handelt, die faktisch nur im Denken eines Individuums prä-
sent sind. Das Verlangen, diese Verletzung zu vergelten, kommt ebenfalls auf
Seiten von nur einem Individuum vor. Faktisch erhebt sich zwar kein Kollektiv,
aber die Orientierung des Individuums daran, dass etwas verletzt wurde, das zum
Kollektivbewusstsein gehört, löst, so Durkheim, eine Wirkung aus, die intensiver
ist als im Falle einer bloß individuell gehegten Vorstellung. Ein Kollektiv ist im
Denken Durkheims weder eine Summe von Individuen, noch ist es ein Hand-
lungssubjekt, denn was für ihn zählt, ist, dass ein Kollektiv kausal bedeutsam ist,
und diese Kraft ist es, deren Auf und Ab er später in den Schwankungen der
Selbstmordraten abliest, um zu ergründen, was auf der einen Seite jeweils ihre
Stärkung und Schwächung verschuldet und welchen Nutzen sie auf der anderen
Seite dem Individuum bereitet.
„Natürlich ist diese Vorstellung eine Illusion; selbstverständlich sind wir es, die sich
in einem bestimmten Sinne rächen, die Genugtuung suchen, denn wir und nur wir
allein haben jene beleidigten Gefühle. Aber diese Illusion ist notwendig. Da diese
Gefühle aufgrund dieses kollektiven Ursprungs, ihrer Universalität, ihrer Dauerhaf-
tigkeit, ihrer innewohnenden Intensität eine außerordentliche Kraft haben, unter-
scheiden sie sich radikal vom übrigen Bewusstsein, dessen Zustände viel schwächer
sind. Sie beherrschen uns, sie haben sozusagen etwas Übermenschliches, und zu
gleicher Zeit binden sie uns an Objekte, die außerhalb unseres zeitlichen Lebens lie-
166 3 Émile Durkheims Welt

gen. Sie erscheinen in uns deshalb wie das Echo einer Kraft, die uns fremd ist und
die überdies sehr viel stärker ist als wir“ (ebd.).
Wenn das Kollektivbewusstsein verletzt wird, dann wird der Angriff auf Seiten
aller, die an den Gefühlen teilhaben, eine gemeinsame Reaktion hervorrufen.
Wird eine solche Vorstellung verletzt, von der man weiß, sie gehört zum Kollek-
tiv, so wird man auf andere zugehen, die man zum Kollektiv gehörend weiß und
die Verletzung zum Gegenstand von Interaktionen machen (ebd., S. 153). Die-
jenige Verletzung, die zwar gegen ein Individuum verübt wird, sich aber nicht
bloß an dieses richtet, sondern gegen etwas, was das Individuum mit anderen
teilt, bringt die Angehörigen eines Kollektivs zusammen. Durkheim notiert Fol-
gendes dazu:
„Die Gefühle, die daran beteiligt sind, holen ihre ganze Kraft aus der Tatsache, dass
sie aller Welt gemeinsam sind; sie sind kraftvoll, weil sie unbestritten sind. Der be-
sondere Respekt, dessen sie sich erfreuen, liegt darin, dass sie allgemein respektiert
werden“ (ebd.).
Dieser Effekt der Verletzung, nämlich die Interaktionen, für die es abseits von
solchen Verletzungen des Kollektivbewusstseins keine Veranlassung gibt, führt
ihn darüber hinaus zu der Folgerung, dass kollektive Vorstellungen und Gefühle
davon leben, ab und an Opfer eines Angriffs zu sein. Hätte sich das Kollektiv-
bewusstsein allgemein durchgesetzt, d.h. würde es faktisch von allen geteilt wer-
den, dann ginge ihm, so Durkheim, das ab, was es ursprünglich ins Werk setzt.
Weil es Lücken gibt, und das sind diejenigen, die ein Verbrechen ausüben, wer-
den kollektive Vorstellungen und Gefühle erkennbar. Für diese heißt das, die
Verbrechen sind „die Quelle ihrer Autorität“ (ebd.). Mit anderen Worten: Wenn
es dazu kommen sollte, dass sich im Falle eines Verbrechens keine daran an-
schließende Reaktion ergibt, bei der sich allesamt empört zeigen, sich die Indivi-
duen im Konsens über die Immoralität eines Verbrechens vereinen, dann hören
kollektive Vorstellungen und Gefühle auf, kausal bedeutsam zu sein. Folglich:
Erst das Verbrechen gibt den Anlass, dass sich die Individuen über sie bewusst
werden.
Wie kann nun Durkheim anhand von Verbrechen, die das Kollektivbe-
wusstsein betreffen, den Typus der mechanischen Solidarität in einfachen Ge-
sellschaften erklären? Sein Ergebnis lautet: Der Rechtstypus, in dem sich die
mechanische Solidarität abbildet, garantiert Homogenität und damit den Zu-
sammenhalt im Typus der einfachen Gesellschaft. Im repressiven Recht ist eine
Bestrafung nicht im Hinblick darauf vorgesehen, einen Straftäter so zu verbes-
sern, dass sich die Wiederholung des Verbrechens nicht erwarten lässt, sondern
sie ist auf das Ziel ausgerichtet, ihm ein ausgleichendes Leid zuzufügen. Weil
der Nutzen der Strafe primär der ist, schlechthin den Zusammenhalt zu bewah-
ren, geht es nur darum, dem Straftäter ein Leid zuzufügen.
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 167

„Obwohl sie [die Strafe; C.A.] aus einer rein mechanischen Reaktion, aus leiden-
schaftlichen und zum größten Teil unbedachten Regungen herrührt, spielt sie den-
noch eine nützliche Rolle. Nur besteht diese Rolle nicht darin, was man ihr gewöhn-
lich unterstellt. Sie dient nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu
korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. In beiderlei Hinsicht ist ihre
Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig. Ihre wirkliche Funktion
ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen
Bewusstsein seine volle Lebensfähigkeit erhält“ (ebd., S. 158 f.).
Eine mögliche Verhaltenskorrektur des Straftäters oder eine mögliche Prävention
durch Abschreckung sind für Durkheim lediglich Nebenwirkungen. Für das re-
pressive Recht ist die Zukunft des Straftäters im Gegensatz zu derjenigen des
moralisch Tüchtigen belanglos.
„Ohne diese notwendige Sühne könnte das, was man das Moralbewusstsein nennt,
nicht erhalten werden. Man kann also ohne Paradoxie behaupten, dass die Strafe in
erster Linie dafür bestimmt ist, auf die ehrenwerten Leute zu wirken“ (ebd., S. 159).
Die Strafe bewahrt also nicht nur den Zusammenhalt, sondern trägt im Wesentli-
chen dazu bei, diesen überhaupt hervorzubringen, denn es ist das Verbrechen,
das die Menschen erst auf die geteilten Vorstellungen und Gefühle und somit auf
die Ähnlichkeit untereinander verweist und zueinander bringt. Wenn also eine
Handlung dadurch erst zu einer Straftat wird, dass sie das Kollektivbewusstsein
verletzt und folglich die Ähnlichkeit der Menschen stört und das repressive
Recht die Sorge um Bewahrung der Homogenität trägt, dann drückt dieses spezi-
fische Recht die spezifische Solidarität einfacher Gesellschaften aus, und das ist
die mechanische Solidarität, deren Resultat die Ähnlichkeit und deren Widersa-
cher die Heterogenität ist.
Dieser Typus der Solidarität zeigt sich insbesondere an Verhaltensregeln,
deren formellen Zwecke ihren eigentlichen Nutzen nicht hervortreten lassen und
somit deren Missachtung zunächst bedeutungslos erscheint, weil sie an sich kei-
ne Bedrohung darstellen, deren Nachhaltigkeit allerdings unentbehrlich ist.
Durkheim nennt folgendes Beispiel. Man wird auf den ersten Blick nicht nach-
vollziehen können, warum das Verbot, bestimmtes Fleisch zu essen, notwendig
für Zusammenhalt ist. Wenn man den Grund dafür freilegt, Verbote von schein-
bar ungefährlichen Taten aufzustellen, dann wird man den Drang zur Ähnlich-
keit begreifen. Durkheim erklärt (ebd., S. 157): Man muss sich vorab vergegen-
wärtigen, dass Gesellschaft aus zufälligen Wirkungen resultiert und kein Ergeb-
nis bewusster Planung ist. Wenn sie nicht aus einem Plan entsteht, wird sie nicht
auf einen bestimmten Nutzen ausgerichtet sein, was wiederum heißt, dass es
Vorgänge gibt, die an sich als nutzlos erscheinen, trotzdem aber gewünscht sind
und das werden nicht selten solche sein, die generationenübergreifend tradiert
werden. Erscheint also das Verbot des Verzehrs bestimmten Fleisches nutzlos,
dann wird nicht nachvollziehbar sein, dass jemand infolge des Verzehrs desa-
168 3 Émile Durkheims Welt

vouiert wird. Rechnet man aber an, dass der untersagte Fleischverzehr für das
Kollektivbewusstsein wesentlich ist und dieses im Falle einer Missachtung durch
die geteilte Missbilligung aktualisiert wird, dann offenbart sich der Nutzen des
Verbots, und zwar ist das die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts überhaupt.
Die in einfachen Gesellschaften augenscheinlich unangemessenen Strafen wer-
den vor diesem Hintergrund begreifbar. Der Nutzen des scheinbar Unnützen
liegt vor, und das ist die Rekonstitution des Zusammenhalts.
Die im repressiven Recht vorgesehenen Strafen helfen Durkheim, die Wirk-
samkeit der mechanischen Solidarität herzuleiten. Eine Handlung gilt als ein
Verbrechen, wenn sie im Widerspruch zum Kollektivbewusstsein steht und die
Strafe erfüllt den Zweck, es geltend zu machen. Weil also der Straftypus dafür
sorgt, Abweichungen von kollektiven Vorstellungen und Gefühlen zu vermei-
den, bildet er, so Durkheim, ab, was den Zusammenhalt in einfachen Gesell-
schaften bewirkt, nämlich die Homogenität ihrer Angehörigen (ebd., S. 181).
Der Effekte des Rechtstypus besteht darin, den sozialen Drang zur Ähnlichkeit
aufrechtzuerhalten. Durkheim dazu:
„Diese Kraft beschützt das Strafrecht gegen jede Schwächung, indem es von jedem
von uns ein Minimum an Ähnlichkeiten verlangt, ohne die das Individuum eine Be-
drohung für die Einheit des Sozialkörpers bedeuten würde, und indem es uns zu-
gleich zum Respekt gegenüber dem Symbol zwingt, das diese Ähnlichkeiten aus-
drückt, zusammenfasst und zugleich garantiert“ (ebd., S. 157).
Der idealtypische Zusammenhalt der mechanischen Solidarität besteht demnach,
solange sich keine Individualität auf Seiten des Individuums zeigt. Durkheim
macht aber im Weiteren ungeplante Faktoren ausfindig, die das Hervortreten der
Individualität veranlassen, und das bedeutet, die soziale Nötigung, sich an das
Kollektivbewusstsein zu assimilieren, wird durch ein Individuum konfrontiert,
das sich aussondert. Der Zusammenhalt wird daher unabhängig davon, ob kol-
lektive Vorstellungen und Gefühle verletzt werden. Aus diesem Grund unter-
sucht Durkheim, worauf der Zusammenhalt beruht, in dem Individualität vorge-
sehen ist und Abweichungen vom Kollektivbewusstsein möglich sind. Mithilfe
des restitutiven Rechts, das nicht Sühne, sondern Wiedergutmachung und Scha-
densersatz auferlegt, geht er dem Typus der organischen Solidarität nach.
Zum restitutiven Recht zählt Durkheim das Familien-, Vertrags-, Handels-,
Prozess- und Verwaltungsrecht (ebd., S. 173). Jedes Recht regelt Funktionsaus-
übungen und gilt in einem eingeschränkten Bereich, um die Aufrechterhaltung
von arbeitsteiligen Beziehungen zu garantieren. Die wechselseitige Abhängigkeit
der arbeitsteilig Handelnden ist im Wesentlichen auf Regelmäßigkeit angewie-
sen. Insofern sieht das restitutive Recht solche Strafen vor, mit denen ein ur-
sprünglicher Zustand wiederhergestellt wird. Eine Handlung ist demnach dann
ein Verbrechen, wenn sie die Regelmäßigkeiten der Arbeitsteilung stört. Die
Sühne ist daher im Hinblick darauf redundant, für den geordneten Ablauf der
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 169

Arbeitsteilung zu sorgen. Weil das restitutive Recht darauf abgestellt ist, die
Verpflichtungen zu sanktionieren, auf denen die Arbeitsteilung beruht, besteht es
grundlegend im Hinblick darauf, die spezifischen Funktionsausübungen zu be-
wahren (ebd., S. 165).
Was das repressive und restitutive Recht unterscheidet, das lässt sich ferner
wie folgt aufdecken. Die zum Rechtstypus für die Arbeitsteilung gehörenden
Regelungen sind nicht allen bekannt, denn sie sorgen für Ordnung in Beziehun-
gen, die wiederum nicht alle betreffen. Weil es sich um spezifisches Recht für
spezifische Funktionsbereiche handelt, richtet es sich sachgemäß nur an diejeni-
gen, die an den jeweiligen Funktionsbereichen beteiligt sind (ebd., S. 163). So-
mit entzieht es sich der Kenntnis der Übrigen. Insoweit aber die Aufmerksamkeit
gering ist, wird die Verletzung spezifischen Rechts nicht wie im Falle des re-
pressiven Rechts die Empörung aller nach sich ziehen. Der Kreis derer, die von
in diesem Rechtstypus als Verbrechen gewerteten Handlungen Notiz nehmen, ist
demnach eingeschränkt. Schließlich sind sogar denen die Regeln eines Funkti-
onsbereichs nicht allgegenwärtig, die in diesem eine spezielle Funktion ausüben.
Sie müssen sich an den besonderen Regeln nämlich nur während der Funktions-
ausübung orientieren. Abseits des arbeitsteiligen Handelns brauchen die jeweili-
gen Ordnungen nicht berücksichtigt zu werden. Das wiederum hat zur Folge,
dass die Empörung im Falle von Handlungen, die gemäß dem restitutiven Recht
als Verbrechen gelten, nur gering ausfällt. Weil die spezifischen Funktionsberei-
che nicht das gesamte Leben eines Individuums ausfüllt, ist auch die Hingebung
für diese Bereiche nicht so intensiv.
„Die Verletzung dieser Regeln berührt also weder lebendige Teile der Gemein-
schaftsseele der Gesellschaft noch, wenigstens im Allgemeinen, jene Sondergruppen
und kann folglich nur eine recht bescheidene Reaktion hervorrufen“ (ebd., S. 180).
Durkheim macht daher den Unterschied zum repressiven Recht daran fest, dass
die im Kontext des restitutiven Rechts begangenen Verbrechen keine Verletzung
ausüben, die die Kraft kollektiver Vorstellungen und Gefühle betrifft. Er
schreibt:
„Solange die Funktionen eine gewisse Allgemeinheit bewahren, kann zweifellos je-
der sie in irgendeiner Weise empfinden; wie sie sich aber immer weiter spezialisie-
ren, wird der Kreis derer, die sich aller einzelnen Funktionen bewusst sind, immer
kleiner, und damit übersteigen sie das allgemeine Bewusstsein immer mehr. Die Re-
geln, die sie bestimmen, können also nicht jene überragende Kraft und jene trans-
zendente Autorität gewinnen, deren Verletzung eine Sühne verlangt“ (ebd., S. 179).
Der Zusammenhalt der organischen Solidarität bildet sich wie folgt in dem ihr
zugeordneten Rechtstypus ab: Das restitutive Recht sorgt dafür, dass das Inei-
nandergreifen verschiedener Funktionen garantiert ist, denn die Verstöße, die es
ahndet, sind Störungen der Funktionsabläufe. Er schreibt: „Es ist nur notwendig,
170 3 Émile Durkheims Welt

dass diese Funktionen auf regelmäßige Weise zusammenarbeiten. Wenn diese


Regelmäßigkeit gestört ist, reicht es uns hin, wenn sie wiederhergestellt wird“
(ebd., S. 180). Das Individuum ist demnach von Verhaltensregeln betroffen, die
nicht die Angleichung an die Homogenität eines Kollektivs vorsehen, sondern
die Ausübung von Funktionen gewährleisten sollen. Durkheim sieht darin die
Quelle für den Zusammenhalt des zweiten Solidaritätstypus. Damit sich die Ver-
haltensregeln der Arbeitsteilung ausbilden, rechnet er Folgendes an: Die arbeits-
teilig Handelnden werden sich darüber bewusst, dass sie aufgrund des erforderli-
chen Ineinandergreifens von Funktionen voneinander abhängig sind, d.h. sie
registrieren, dass es für ihre Leistungen, die Beiträge anderer braucht (ebd., S.
429 f.). Hiermit ist die Orientierung im Hinblick darauf verbunden, dass be-
stimmte Funktionsausübungen solche Effekte haben, die für andere Funktions-
ausübungen notwendig sind (ebd., S. 442). Wichtig ist außerdem die beständige
Wiederholung der jeweiligen Funktionsausübung (ebd., S. 434 f.), damit sich
eine dauerhafte Abhängigkeit zwischen verschiedenen Funktionen konsolidiert.
Vor diesem Hintergrund folgert Durkheim, dass die Abhängigkeit der Individuen
voneinander und der Zusammenhalt groß sind, wenn die Arbeitsteilung fortge-
schritten ist. „Tatsächlich hängt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft
ab, je geteilter die Arbeit ist, und andrerseits ist die Tätigkeit eines jeden um so
persönlicher, je spezieller sie ist“ (ebd., S. 183). Genau das ist die Voraussetzung
der organischen Solidarität. Sie beruht darauf, dass sich die Individuen vonei-
nander unterscheiden, sie „[…] ist nur möglich, wenn jeder ein ganz eindeutiges
Betätigungsfeld hat, wenn er also eine Persönlichkeit hat, wenn er also eine Per-
sönlichkeit hat“ (ebd.). Jede Funktion erlaubt und verlangt individuelle Eigen-
ständigkeit, sorgt aber auch für eingeschränkte Abhängigkeiten.
Die mechanische und die organische Solidarität ordnet Durkheim nicht zwei
Gesellschaften zu, die in der Wirklichkeit isoliert und nacheinander auftreten
(ebd., S. 181). Stattdessen kann er mithilfe der Typen dem allmählichen Wandel
von Gesellschaft nachgehen. Hierfür berücksichtigt er, was dazu führt, dass sich
die organische Solidarität vor die mechanische Solidarität schiebt. An dieser
Überholung zeichnet sich ab, dass Individualität möglich wird, weil kollektive
Homogenitätszumutungen geschwächt werden. Zu den Voraussetzungen der
organischen Solidarität zählt er die Minderung der mechanischen Solidarität.
Dass es zur Überholung des einen Solidaritätstypus kommt, stellt er zunächst am
Wandel der Möglichkeiten fest, ein Verbrechen zu begehen.
Das repressive Recht dient ihm nicht nur als Schablone für die Untersu-
chung der mechanischen Solidarität, denn es lässt auch zu, die Minderung dieses
besonderen Zusammenhalts festzustellen Das macht Durkheim, indem er nach-
stellt, welche Verbrechen verschwinden. Für seine Zwecke verweist er vor allem
auf Verbrechen, die Vorgänge in der Familie und in den Beziehungen zwischen
den Geschlechtern betreffen und schließlich Verbrechen wie Frevel gegen In-
stanzen der Religion. In den drei Bereichen zeigt sich zunehmend ein Rückgang
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 171

der Strafen, wie z.B. in den folgenden Fällen: Beleidigung der Eltern (ebd., S.
210), vorgetäuschte Jungfräulichkeit (ebd., S. 212) oder Entwurzelung heiliger
Ölbäume (ebd., S. 215). Die genannten Verbrechen gehören zu einer von Durk-
heim angefertigten Liste ähnlicher Delikte im mediterranen Altertum, die im
Laufe der Zeit seitens des antiken Gesetzgebers nicht mehr als Straftat erachtet
werden. Seine Schlussfolgerung lautet: Wenn die Verbrechen, die das Kollektiv
betreffen, immer weniger werden, dann werden die Gefühle, die das Kollektiv
betreffen, ebenfalls weniger. Somit verliert, konstatiert er, der auf geteilten Ge-
fühlen beruhende Zusammenhalt an Kraft.
Anders verhält es sich mit dem für Arbeiteilungen geschaffenen Recht.
Aufgrund der sukzessiven Zunahme der Arbeitsteilung treten vermehrt Spezial-
funktionen hervor und in gleichem Maße nimmt das Recht zu, das dafür sorgen
soll, die gegenseitigen Verpflichtungen zu regeln und zu definieren. Das Mehr
an Funktionen vervielfacht also die Verbindlichkeiten, folglich wird der Umfang
des für diese Zwecke zuständigen Rechts größer und komplexer (ebd., S. 261).
Durkheim stellt insgesamt die Verringerung der Straftaten fest, die man mit Süh-
ne beantwortet und die Vermehrung der rechtlichen Regelungen für die Arbeits-
teilung. Weil sich die mechanische Solidarität am Strafrecht ablesen lässt, kann
er anhand der Tatsache darüber, dass die vormals als Verbrechen geltenden
Handlungen aufhören, unter Strafe zu stehen, die Folgerung über den Rückgang
des genannten Solidaritätstypus ziehen.
Die umgekehrte Dominanz zwischen den beiden Solidaritätstypen, die für
Durkheim deswegen gegebenen ist, weil sich insbesondere der die organische
Solidarität abbildende Rechtstypus differenziert und das Recht zum Schutz des
Kollektivbewusstseins überholt, lässt ein Mehr an Individualität erkennen, denn
sie ist eine Voraussetzung für die Arbeitsteilung und der aus ihr resultierenden
Moral. Vor diesem Hintergrund fragt sich er sich, welchen Ursachen sich die
Möglichkeit der Individualität verdankt. Wichtig ist, dass das Voranschreiten der
Arbeitsteilung ein Indikator für ein Mehr an Individualität ist, denn die Zunahme
der Ersteren äußert sich darin, dass neue Spezialfunktionen konstruiert werden,
die ihrerseits nicht ohne die Ausübung der Funktionen anderer in die Tat umge-
setzt werden können (ebd., S. 175 f.). Durkheim dazu:
„Während das Verschwinden des segmentären Typus zu einer größeren Spezialisie-
rung nötigt, löst es gleichzeitig das individuelle Bewusstsein teilweise von der orga-
nischen Umwelt, die es trägt, wie aus dem sozialen Milieu, das es umgibt, ab, und
das Individuum wird als Folge dieser doppelten Emanzipation immer mehr zum un-
abhängigen Faktor seines eigenen Verhaltens“ (ebd., S. 474).
Zunehmende Arbeitsteilung ist somit, Durkheim zufolge, ein Anzeichen dafür,
dass das Individuum kollektive Homogenitätszumutungen übergehen kann, ohne
sich in Schwierigkeiten zu bringen, und das ist die Voraussetzung für Individua-
172 3 Émile Durkheims Welt

lität. Ferner trägt der Anlass, Spezialfunktionen zu entwerfen, dazu bei, immate-
rielle Tätigkeiten zu erfinden.
Für diese Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit braucht es Ur-
sachen, und die müssen sich zum Nachteil von kollektiven Homogenitätszumu-
tungen auswirken, die Individualität verhindern. Durkheim rechnet damit, dass
sich die in erster Linie die Individualität erlaubende Beeinträchtigung der Kraft
des Kollektivbewusstseins auf Faktoren zurückführen lässt, die ebenso wenig
wie die unbeabsichtigt wirkenden Homogenitätszumutungen nicht gezielt her-
beigeführt sind. Weder das Aufgehen der Individualität in den kollektiven Vor-
stellungen und Gefühlen noch die Emanzipation der Individualität unterliegen
einem Plan. Das Individuum wird dementsprechend nicht zum Widerspruch ge-
gen Homogenitätszumutungen mobilisiert, weil es einen Nutzen seiner Emanzi-
pation voraussieht. Für das Hervortreten der Individualität macht Durkheim eini-
ge Ursachen ausfindig, in deren Folge der Drang zur Ähnlichkeit an Geltung
verliert und deren nachhaltige Wirksamkeit die Kraft der Homogenitätszumu-
tungen noch mehr schwächt. Das müssen demnach Ursachen sein, die für einen
Rückgang der segmentären Gesellschaftsstruktur sorgen.
Um die Auswirkungen auf den Strukturtypus zu erklären, der „wenigstens
zum Teil verschwunden sein muss“ (ebd., S. 314), greift Durkheim auf die Be-
griffe der moralischen Dichte, der materiellen Dichte und des Volumens zurück,
und das sind gemäß dieser Reihe: Die Menge der Individuen, die durch morali-
schen Beziehungen aufeinander verwiesen sind (vgl. Durkheim 1984, S. 195).
Die materielle Dichte bezeichnet die physische Nähe zwischen den Individuen,
die eine Voraussetzung für die moralische Dichte ist und sich, anders als diese,
empirisch beobachten lässt (ebd., S. 196). Die Zunahme der moralischen Dichte
hängt ebenfalls von der numerischen Population einer Gesellschaft ab, und das
ist das Volumen. Für die Zunahme der materiellen Dichte macht er Folgendes
verantwortlich (vgl. Durkheim 2008a, S. 315 ff): die Konzentration der Bevölke-
rung, die Verstädterung und die Zunahme der Kommunikations- und Verkehrs-
wege. Damit sich die moralische Dichte überhaupt vergrößern kann, müssen sich
Distanzen zwischen Individuen verringern, und jene drei Vorgänge sind hierfür
maßgeblich. Um die Erklärung für die Zunahme der Arbeitsteilung entwickeln
zu können, hält Durkheim daher zunächst fest, dass sie in einem Zusammenhang
mit der moralischen Dichte steht, denn nimmt sie zu, so beeinträchtigt sie die
„wechselseitige Isolierung aller Segmente“ (ebd., S. 353). Die Erfahrungsmög-
lichkeiten des Individuums in der segmentären Struktur bleibt nämlich rudimen-
tär und ähnlich, solange die Distanz zwischen den Individuen groß, die materiel-
le Dichte also gering ist, und das bedeutet, Kollektivbewusstsein und segmentä-
rer Gesellschaftstypus sind stabil, wohingegen für Individualität kaum Chancen
bestehen. Vor diesem Hintergrund lautet Durkheims Zwischenergebnis:
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 173

„Der Anstieg des sozialen Volumens beschleunigt also nicht immer die Fortschritte
der Arbeitsteilung, sondern nur dann, wenn sich die Masse zur gleichen Zeit und im
selben Ausmaß zusammenzieht […]. Wir können also die folgende Aussage formu-
lieren: Die Arbeitsteilung ändert sich im direkten Verhältnis zum Volumen und zur
Dichte der Gesellschaft; wenn sie also im Laufe der sozialen Entwicklung ständig
fortschreitet, so deshalb, weil die Gesellschaften regelmäßig dichter und ganz all-
gemein umfangreicher geworden sind“ (ebd., S. 321).
Man muss sich zunächst erneut vergegenwärtigen, was Durkheim nachweisen
will: die Solidarität auf der Grundlage der nicht-vorsätzlichen Anstiftung zur
individuellen Variation. Für letzteres ist es wichtig, dass kollektive Homogeni-
tätszumutungen an Kraft verlieren, denn für die Zunahme der Arbeitsteilung ist
es erforderlich, dass sich das Individuum spezialisieren kann, was allerdings dem
Geist der mechanischen Solidarität widerspricht. Individualität ist nur dann be-
günstigt, wenn das Kollektivbewusstsein schwach ist. Er schreibt:
„Damit die Arbeitsteilung entstehen und wachsen kann, genügt es nicht, dass bei
den Individuen Sonderfähigkeiten angelegt sind, auch nicht, dass sie angeregt wer-
den, im Sinn dieser Fähigkeiten zu variieren; vielmehr müssen diese individuellen
Variationen auch möglich sein. Nun können sie aber nicht entstehen, wenn sie in
Opposition mit irgendeinem starken und bestimmten Zustand des Kollektivbewusst-
seins stehen“ (ebd., S. 345).
Die Möglichkeit der Individualität steht und fällt mit der Wirksamkeit der me-
chanischen Solidarität und daher sind neben einer unten noch zu präzisierenden
Konfliktlösung, die sich auf das Mehr an moralischer Dichte zurückführen lässt,
die von Durkheim erarbeiteten Sekundärfaktoren bedeutsam, die sich zum Nach-
teil des Kollektivbewusstseins auswirken und ohne die es sogar aussichtslos ist,
die Bildung individueller Variation zu erwarten (ebd., S. 347). Für die Zunahme
der individuellen Entscheidungsfreiheit macht er auf der einen Seite eine unaus-
weichliche Folge des Anstiegs der moralischen Dichte verantwortlich. Auf der
anderen Seite schreibt er sie den folgenden Sekundärfaktoren zu, deren Wirkung
dem Kollektivbewusstsein zusetzt.
Als erstes der größere Erfahrungsreichtum. Nimmt das Volumen zu, dann
nimmt es auch mehr Gebiet ein. Wo die Individuen nicht auf einem Raum mit
ähnlichen Gegebenheiten verteilt sind, da werden sie Erfahrungen machen, die
voneinander abweichen. Der Erfahrungsreichtum mindert nicht nur die Ähnlich-
keit der Erfahrungen, sondern trägt auch zur Differenzierung des Denkens bei.
Folglich wird sich das Kollektivbewusstsein zunehmend verallgemeinern, denn
bleibt es speziell, so wird es immer weniger Übereinstimmung herstellen. „Es
bezieht sich nicht mehr auf genau dieses Tier, sondern auf die umfassende Gat-
tung; nicht mehr auf jene Quelle, sondern auf alle Quellen; nicht mehr auf diesen
Wald, sondern auf den Wald in abstracto“ (ebd., S. 349).
174 3 Émile Durkheims Welt

Zweitens der Rückzug der Götter. Ursprünglich, so Durkheim, waren reli-


giöse Mächte unmittelbar gegeben, doch sie werden im Laufe der Zeit immer
unfassbarer. War es am Anfang ein bestimmbares Totem, das nicht von Außen
bemächtigt wurde, so trennen sich zunächst die religiösen Kräfte von den Dingen
und es treten Götter hervor, die es in die Ferne treibt. Sie lassen sich auf Berghö-
hen oder im Meer nieder, bis schließlich die monotheistischen Religionen der
Gottheit keinen Platz auf der Erdoberfläche überlassen. An den Veränderungen
zeigt sich der zunehmende Verlust der Fassbarkeit von religiösen Instanzen. Für
Durkheim macht sich auf diese Weise die Verallgemeinerung des Religiösen
bemerkbar, denn mit dem allmählichen Abzug der Götter aus dem Alltag der
Menschen ist man angewiesen, sich bedachter an den religiösen Verhaltensvor-
gaben zu orientieren (ebd., S. 350). Die Distanz zu den Symbolen, an denen sich
das Kollektivbewusstsein hypostasiert, wird größer, was dessen Eindeutigkeit
mindert. „Wenn Gott von den Dingen und den Menschen weit entfernt lokalisiert
ist, dann ist er nicht mehr allgegenwärtig und greift nicht mehr in alles ein“
(ebd., S. 352).
Drittens der Bedarf an Auslegung. Wo sich Verhaltensregeln verallgemei-
nern und immer weniger für spezifische Sachverhalte gelten, da lässt es sich
nicht vermeiden, dass diejenigen, an die sie sich richten, eigenständig überlegen
müssen, wie sie zu interpretieren und umzusetzen sind. Sind sie der Reflexion
ausgesetzt, also der Prüfung durch die Betroffenen, so werden sie nicht mehr so
eindringlich zu ihrer Befolgung nötigen. „Man versucht anfänglich, einige Glau-
bensartikel jeder Erörterung zu entziehen, aber dann erreicht sie die Diskussion
doch. Man möchte sich über sie Rechenschaft ablegen, man stellt ihre Daseins-
berechtigung in Frage […]“ (ebd., S. 352). Der Präzisionsverlust führt dazu, dass
das Individuum zunehmend eigenständiger wird, denn die Entscheidung darüber,
wie Verhaltensregeln anzuwenden sind, bleibt immer mehr den Betroffenen
überlassen.
Viertens die Minderung des Respekts für das Hergebrachte. Es ist insbeson-
dere die Tradition, aus der das Kollektivbewusstsein seine Kraft schöpft. Was
bereits seitens der Vorfahren anerkannt wurde, dessen Geltung ist besonders
stabil. Wenn sich die Bevölkerung vergrößert und vermischt, dann werden Indi-
viduen hinzukommen, deren lineare Abstammung variieren und sie sich demzu-
folge an unterschiedlichen Traditionen orientieren. Wo man unabhängiger von
den ortsgebundenen Traditionen ist, da hat man es leichter, Innovationen zu täti-
gen. Mit anderen Worten: Nimmt die Berücksichtigung der Maxime über die zu
wiederholende Vergangenheit ab, so kommt es überhaupt erst in den Sinn, die
Zukunft zum Gegenstand der Planungsvorstellungen zu machen (ebd., S. 366).
Durkheim führt das in erster Linie auf Migration zurück, denn der Wanderer
wird nicht den Respekt für das Hergebrachte aufbringen, den man auf Seiten der
Alteingesessenen antrifft (ebd., S. 355). Aus diesem Grund konstatiert er, dass
sich der Stand des Fortschritts vor allem an Migrationsstädten abzeichnet. Wo
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 175

nämlich die Tradition ihre Kraft einbüßt, da wird man nicht in der Lage sein,
„[…] die freie Entfaltung individueller Variationen zu behindern“ (ebd., S. 359).
Fünftens die geminderte Beaufsichtigung in der Großstadt. Dass die indivi-
duelle Variation ein negatives Resultat aus der Ablösung von dem Zusammen-
halt der mechanischen Solidarität ist, bildet sich besonders an der Schwächung
des Kollektivbewusstseins durch das Stadtleben ab. Die Bevölkerungsdichte in
der Großstadt erschwert es, individuelle Variationen als Abweichung zur Kennt-
nis zu nehmen. Das liegt, Durkheim zufolge, daran, dass die persönlichen Kon-
takte dort seltener und kürzer werden, wo die Dichte der Menschen groß ist
(ebd., S. 361). Die Möglichkeit zur Indiskretion ist kleiner, was die Wissbegie-
rigkeit der Menschen einschränkt. Werden die persönlichen Kontakte seltener, so
wird man unaufmerksamer. Wenn die Indifferenz in der Großstadt zunimmt, so
ermöglicht dies dem Individuum, abseits der vom Kollektivbewusstsein vorge-
gebenen Ähnlichkeitsvorstellungen zu handeln. Man kann sich der Aufsicht ent-
ziehen, ohne mit einer Strafe zu rechnen. Die Diskretion in den Beziehungen
zwischen den Menschen steigt also dort, wo diese darauf angewiesen sind, unter
vielen zu leben. Individualität, die im Widerspruch zum Kollektivbewusstsein
steht, zieht somit weniger Aufmerksamkeit auf sich. Unterstützend wirkt sogar
die Tendenz, die gewonnene Freiheit als einen Anspruch zu erleben. „Wir finden
eine Kontrolle unerträglich, an die wir nicht mehr gewöhnt sind. Ein erworbenes
Recht auf eine größere Autonomie ist entstanden“ (ebd., S. 362).
Durkheim nennt insgesamt solche Faktoren für die Schwächung des Kollek-
tivbewusstseins, deren Wirkung man nicht antizipiert, so dass sie Gegenstand
eines Aspiration zur ihrer Verwirklichung sind. Dass man mehr und unterschied-
liche Erfahrungen macht, man die Gottheiten nicht mehr als greifbare Hand-
lungspartner erlebt, die Auslegung der religiösen Vorschriften erforderlich wird,
die Traditionen zunehmend von Respektlosigkeit betroffen sind und schließlich
die Unübersichtlichkeit der Großstadt die Überwachung erschwert, sind allesamt
Vorgänge, die nicht absichtlich herbeigeführt werden. Das trifft auch auf eine
besondere Folge der oben von ihm bemerkten Zunahme der moralischen Dichte
zu. Während sich nämlich die Kraft der kollektiven Homogenitätszumutungen an
den Sekundärfaktoren erschöpft und die Voraussetzung für Individualität schafft,
veranlasst die Folge der moralischen Dichte das Individuum die Initiative zu
übernehmen, Spezialfunktionen zu konstruieren. Der von Durkheim ausfindig
gemachte Faktor, der die Spezialisierung zentral verantwortet, ist die Konkur-
renz.
Die Individualität verdankt sich, ihm zufolge, weil sich die Individuen von-
einander abweichend zeigen, wenn sie sich untereinander ausgesetzt sind. Es
sind die Überlegungen Darwins, an denen sich Durkheim orientiert, wenn er den
Anstieg der individuellen Variation auf die Konkurrenz zurückführt, in deren
Folge sich das Individuum veranlasst sieht, sich als einzigartig präsentieren zu
wollen (ebd., S. 325). Zum Ausbruch des Wettkampfs reicht es aber nicht aus,
176 3 Émile Durkheims Welt

wenn die Bevölkerung zunimmt. Durkheim bemerkt, dass, wo eine stabile seg-
mentäre Struktur besteht, das Bevölkerungswachstum nicht zur Opposition zwi-
schen den Individuen führt. Nur wenn sich, wie oben gezeigt, aufgrund der grö-
ßeren Bevölkerung zunehmend Kontakte zwischen den Segmenten entwickeln,
wird das Kollektivbewusstsein schwach, die geschlossenen Homogenitäten wer-
den porös und die Individuen werden beginnen, sich gegenseitig den Platz strei-
tig zu machen (ebd., S. 329). Die Opposition ist unausweichlich, weil, schreibt
er, Individuen gleiche Bedürfnisse und Ziele haben (ebd., S. 325). Wo mehr
Kontakte bestehen, da treffen sie aus unterschiedlichen Orten aufeinander und
bieten Dienste an, die sich gleichen und da werden sie unter den Bedingungen
des zunehmend unpräzisen Kollektivbewusstseins und der aufgebrochenen Ho-
mogenität gegeneinander antreten. Ist das Kollektivbewusstsein stark, so lösen
sich die Menschen weniger von der Ortsbindung und dann wird der Zusammen-
halt der mechanischen Solidarität den Wettkampf verhindern. Wichtig ist, dass
der Wettkampf dann stattfindet, wenn die Gelegenheiten zunehmen, sich auf-
grund der porösen Segmente zu begegnen. Es braucht also die Kontaktaufnahme
außerhalb des Kollektivs.
„Solange die verschiedenen Segmente ihre Individualität bewahren und voneinander
abgeschlossen bleiben, begrenzt jedes von ihnen eng den sozialen Horizont seiner
Bürger. Getrennt vom Rest der Gesellschaft durch mehr oder weniger schwer zu
überschreitende Barrieren, lenkt uns nichts vom lokalen Leben ab und folglich kon-
zentriert sich in ihm unsere ganze Tätigkeit. In dem Maße, in dem sich der Zusam-
menschluss der Segmente vollzieht, wird der Blick weiter, und das umso mehr, als
sich im Allgemeinen die Gesellschaft zugleich selbst ausdehnt“ (ebd., S. 362).
Durkheim führt schließlich die Zunahme der Spezialisierung darauf zurück, dass
sich die oppositionell verhaltenden Individuen nicht beseitigen, sondern indivi-
dueller zeigen. Statt sich zu verdrängen, bemüht man sich, durch einzigartige
Funktionsausübung den Wettkampf für sich zu entscheiden. Die verstärkte Spe-
zialisierung aber bringt neuen Bedarf an Diensten anderer hervor, d.h. wenn sich
die Individuen spezialisieren, dann hängen sie auch von neuer Zusammenarbeit
ab. Durkheim macht geltend, dass es die ausgeweitete Teilung der Arbeit ist, mit
welcher der aus der gestörten Homogenität hervorgehende Konflikt befriedet
wird (ebd., S. 329).
Ferner: Sind die Individuen dem Wettkampf ausgesetzt, den sie dann zu ih-
ren Gunsten entscheiden, wenn sie sich auf kreative Weise spezialisieren, dann
werden sie Überlegungen anstellen, wie sie immer speziellere Tätigkeiten anbie-
ten. Sie sind zur Änderungsbereitschaft genötigt. Vor diesem Hintergrund wer-
den die entworfenen Tätigkeiten zunehmend komplexer und unabhängiger von
menschlichen Organen, die bloß eingeschränkte Funktionen möglich machen
(ebd., S. 398). Berufe sind immer weniger an den Körper gebunden. Daran wird,
so Durkheim, erkennbar, dass die Tätigkeiten anspruchsvoller werden und mehr
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 177

Bildung erfordern. „Aus dieser allgemeinen Anregung geht unweigerlich ein


höherer Grad der Kultur hervor“ (ebd., S. 402).
Somit trägt die Erhöhung der moralischen Dichte dort, wo die segmentäre
Geschlossenheit brüchig ist und die Individuen zueinander finden, zur Ände-
rungsbereitschaft und zu individueller Variation bei. Es reicht, ihm zufolge,
nämlich nicht aus, dass die Individuen gewillt sind, ihre Einzigartigkeit hervor-
treten zu lassen. Damit man die Konkurrenten mit einem individuellen Tätig-
keitsangebot ausstechen kann, ist neben der Wettkampfsituation noch die
Schwächung des Kollektivbewusstseins durch die oben skizzierten Sekundärfak-
toren nötig, ohne die Abweichungen von Homogenitätszumutungen nicht mög-
lich sind. Das Individuum muss in der Lage sein, Entscheidungen abseits der
vorgeschriebenen Ähnlichkeit zu treffen. Die Sekundärfaktoren und vor allem
der Wettkampf zeigen, dass Individualität mittels Spezialisierung unausweich-
lich ist. Durkheim dazu:
„Wir sagen nicht, dass das Wachstum und die Verdichtung der Gesellschaft eine
größere Arbeitsteilung erlauben, wir sagen, dass sie sie zwangsläufig hervorrufen.
Jene Faktoren sind kein Instrument, mit dem sich die Arbeitsteilung verwirklicht; sie
sind deren bestimmende Ursache“ (ebd., S. 321).
Darüber hinaus registriert er, dass die verstärkte Opposition nachhaltige Wirkung
hinsichtlich der Spezialisierung zeigt. Das Speziell-Werden trifft auf neue Be-
dürfnisse und das ist ein Resultat des als Belastung empfundenen Wettkampfes
(ebd., S. 333). Sind die Menschen angewiesen, sich zum einen im Gegeneinan-
der noch mehr als sonst anzustrengen und fordert zum anderen die Spezialisie-
rung von ihnen ab, sich noch mehr zu bilden, so wird nicht nur die vermehrt auf
immaterielle Arbeit ausgerichtete Spezialisierung, sondern die Kultivierung ins-
gesamt neue Ansprüche hervorbringen, die zuvor gänzlich unbekannt waren. Die
Spezialisierung wird also nicht nur infolge der Konkurrenz, sondern auch infolge
der Spezialisierung erforderlich. Das ist eine Wirkung, von der das Kollektivbe-
wusstsein und die Nötigung zur Homogenität nachhaltig geschwächt werden.
Die zunehmende Arbeitsteilung fügt der mechanischen Solidarität eine wei-
tere nachhaltige Entkräftung zu, weil sie Verhaltensvorgaben für die Menschen
bereithält, die bloß in spezifischen Bereichen gelten. Während die Reglementie-
rung der segmentären Gesellschaft darauf ausgerichtet ist, die individuelle Varia-
tion zu verhindern, wirken sich die Vorschriften in der organischen Gesellschaft
zugunsten der Individualität aus. Für die gelingende Arbeitsteilung sind nämlich
Regeln für den Ablauf spezifischer Aufgaben erforderlich, d.h. es entwickeln
sich verschiedene Berufspflichten und -rechte, an denen man sich allerdings nur
in dem eingeschränkten Bereich orientieren muss, in dem die Aufgabe auszu-
üben ist. Die Ordnungen, die spezifische Bereiche betreffen, sind außerhalb die-
ses Bereiches belanglos. „Jenseits dieser Sphäre erfreut sich das Individuum ei-
ner größeren Freiheit, deren Ursprung wir eben aufgezeigt haben“ (ebd., S. 365).
178 3 Émile Durkheims Welt

Die Regeln für die Aufgaben im Beruf betreffen nicht nur die gesamte Gesell-
schaft, sie sind zudem nur einer eingeschränkten Gruppe von Menschen präsent.
Hingegen brauchen sich diejenigen, die an der spezifischen Ausübung eines Be-
rufes nicht beteiligt sind, nicht über dessen Regeln zu informieren. Durkheim
folgert aus dieser Sachlage, dass spezifische Regeln geringere Autorität aufwei-
sen und somit geringere Änderungsresistenz hervorrufen (ebd., S. 366). Die Ar-
beitsteilung schreitet also nicht nur voran, weil die Menschen genötigt werden,
sich immer individueller zu zeigen, sie schafft sogar Bedingungen dafür, dass die
individuelle Variation immer weniger verhindert wird. Mit anderen Worten: Erst
ein geschwächtes Kollektivbewusstsein lässt die Arbeitsteilung zu, die wiederum
dessen Erholung nicht zulässt, seine Schwächung folglich verstetigt und sogar
vorantreibt.
„Diese [die Arbeitsteilung; C.A.] kann nur in dem Maß auftauchen, in dem die seg-
mentäre Organisation sich verflüchtigt. Wenn die Arbeitsteilung einmal existiert,
kann sie zweifellos dazu beitragen, deren Verschwinden zu beschleunigen. Sie
taucht aber erst auf, nachdem jene zurückgegangen ist. Die Wirkung reagiert auf die
Ursache, verliert aber dabei nicht die Eigenschaft der Wirkung. Die Reaktion, die sie
nach sich zieht, ist also nur zweitrangig“ (ebd., S. 314).
Arbeitsteilung macht also nur dort Fortschritte, wo das Kollektivbewusstsein
wenig gegen individuelle Variation ausrichten kann. Damit ist zwar gesagt, dass
diese mit der Ablösung von jenem zusammenfällt, vor diesem Hintergrund wird
man aber nicht sagen können, dass die Arbeitsteilung aus dem Nichts entsteht.
Trotz des Widerstands seitens des Kollektivbewusstseins, wird es, so Durkheim,
Arbeitsteilung nicht geben, ohne dass das Individuum vorab von kollektiven
Homogenitätszumutungen betroffen ist. Nimmt es sich nicht vor, Spezialfunkti-
onen zu konstruieren, so wird das Niveau der Arbeitsteilung auf der Stelle ste-
hen. Was alsbald zur Spezialisierung zwingt, das macht eine Verständigung er-
forderlich, damit sich die unterschiedlichen Funktionsausübungen komplementär
zueinander verhalten (ebd., S. 336). Aus einem zur Verfügung gestellten Dienst,
der vorab auf die Tätigkeitsausübungen anderer angewiesen ist, geht eine Kette
von Abhängigkeit hervor. Aufeinander abgestellte Funktionen werden ihren je-
weiligen Nutzen nur dann mit Gewissheit anbieten können, wenn Kommunikati-
on zwischen den Gliedern der Kette besteht. Weil sich demnach neue Speziali-
sierung ohne Mitteilungen untereinander nicht ausbilden kann, folgert Durkheim,
„[…] dass es zwischen ihnen [den Individuen; C.A.] moralische Bande geben
muss“ (ebd.). Ohne dass sie sich an kollektive Homogenitätszumutungen anglei-
chen, kommen erste moralische Beziehungen nicht zustande und somit ist
Kommunikation nicht möglich, um die anstehende Spezialisierung abzugleichen.
Durkheim konstatiert, dass ungeachtet der blockierenden Wirkung des Kollek-
tivbewusstseins auf die Spezialisierung sich diese ohne jenes nicht entwickeln
kann. Folglich sind die Individuen für das Hervortreten der Individualität nicht
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 179

nur angewiesen, sich von dem Kollektivbewusstsein zu entledigen, sondern sie


sind diesem auch verpflichtet.
Alles in allem: Das zentrale Anliegen der Studie ist Folgendes: Durkheim
will wissen, warum das Individuum trotz gewonnener Entscheidungsfreiheit in-
tegriert ist. Er stellt fest, dass letztere unausweichlich ist, jedoch bleibt ein Ein-
schluss in moralische Abhängigkeiten unentbehrlich, nämlich denen der Arbeits-
teilung. Entscheidungsfreiheit äußert sich in der Möglichkeit zur Individualität,
deren Voraussetzungen sich wiederum am Voranschreiten der Arbeitsteilung
untersuchen lassen. Diese wird sich nur in dem Maß entwickeln, in dem die Ab-
weichung von kollektiven Homogenitätszumutungen möglich ist. Infolgedessen
trägt die Arbeitsteilung ihrerseits dazu bei, die Möglichkeit zur Individualität zu
maximieren, weil auch sie dem Kollektivbewusstsein zusetzt. Damit sich die
Arbeitsteilung entwickeln kann, muss individuelle Variation zulässig sein, denn
für die Zunahme braucht es die kreative Selbstgestaltung. Die Arbeitsteilung ist
es aber wiederum, die das Individuum mit Verbindlichkeiten konfrontiert, auf
deren Einhaltung die Verquickung der Funktionen angewiesen sind und die das
Individuum davor bewahren, durch Orientierungslosigkeit belastet zu sein.
Durkheim kann die Möglichkeit der Individualität durch den Vergleich der
Solidaritäten freilegen, deren Grundlage entweder die Gleichheit oder die Hete-
rogenität ist. Wo individuelle Variation nur rudimentär vorliegt bzw. sie idealty-
pisch „gleich null“ ist, da lassen sich die Barrieren untersuchen, die sie verhin-
dern. Mechanische Solidarität sichert einen Zusammenhalt, der darauf beruht,
dass man sich über sich selbst so wie über die Kollektivzugehörigkeit bewusst
ist, aber ohne Schattierungen. Der Zusammenhalt beim Typus der segmentären
Gesellschaft braucht ferner Opposition, die im Falle von Verbrechen gegen das
Kollektivbewusstsein aufkommt. Was das angeht, ist der Verbrecher nichts wei-
ter als ein Mittel zum Zweck. Weil die repressive Strafe den Bestraften bloß in-
strumentalisiert, um die Menschen zueinander zu führen und auf diese Weise das
Kollektivbewusstsein sozial zu bekräftigen, ist die Resozialisierung nicht ihr
Zweck.98 Anders verhält es sich mit der Solidarität der Unterschiede. Der Zu-
sammenhalt der organischen Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Individua-
lität abseits des Kollektivbewusstseins möglich ist. Ist Heterogenität nicht zuläs-
sig, dann wird man Spezialfunktionen nicht eigenständig gestalten und anbieten
können. Die Eigenständigkeit ist allerdings auf einer Kette von Abhängigkeiten
angewiesen und setzt ebenfalls Pflichten voraus. Wer eine Spezialtätigkeit aus-
führt, kann auf das Tun anderer nicht verzichten. Erledigt man zugewiesene
Aufgaben nicht angemessen oder gar nicht, so wird das Sanktionen nach sich
ziehen. Anstatt aber dem Straftäter ein Leid zuzufügen, geht es vermehrt um den
Schadensersatz zum Schutz der Spezialtätigkeiten. Was also für den Zusammen-

98 Zu Durkheims Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen abweichenden Verhalten und


Festigung von Normen vgl. König 1978, S. 250.
180 3 Émile Durkheims Welt

halt in der organischen Gesellschaft sorgt, das setzt nebenbei auch Persönlichkeit
frei.
Die voranschreitende Arbeitsteilung setzt somit Individualität voraus. Kon-
frontiert man die beiden Solidaritätstypen miteinander, so gibt das zu erkennen,
dass sich die Voraussetzungen für den jeweils bewirkten Zusammenhalt verkehrt
zueinander veralten. Am Vergleich des segmentären und organischen Typus der
Gesellschaft zeigt sich, dass Individualität ohne den Geltungsverlust der Voraus-
setzungen für den ersten Typus abwegig ist. Durkheim erschließt, dass das Zu-
rücktreten der segmentären Gesellschaft hinter die organische Gesellschaft nicht
das Resultat eines Plans ist. Die Schwächung des Kollektivbewusstseins tritt
nämlich vor allem dann ein, wenn dessen Eindeutigkeit schwindet. Für diesen
Sachverhalt macht er ausschließlich solche Faktoren ausfindig, denen man nicht
nachsagen kann, dass sie vorsätzlich ins Werk gesetzt werden, um die Präzision
der Homogenitätszumutungen zu schädigen. Es sind „[…] rein mechanische Ur-
sachen, die bewirken, dass die individuelle Persönlichkeit von der kollektiven
Persönlichkeit absorbiert wird; und Ursachen gleicher Natur sind es, infolge de-
rer sie sich davon befreit“ (Durkheim 2008a, S. 365). Es ist also weder das Zu-
rückhalten der Individualität, noch ist das Hervortreten der Entscheidungsfreiheit
das Ergebnis eines aus Nützlichkeitserwägungen angetriebenen Vorhabens.
Die Veranlassung, Spezialfunktionen zu konstruieren, wird besonders durch
soziale Verdichtung verschuldet, gleichwohl das ein schwaches und unpräzises
Kollektivbewusstsein voraussetzt. Wenn die vorgeschriebene Ähnlichkeit an
Geltung verliert und man angewiesen ist, mehr Initiative für das eigene Handeln
aufzubringen, dann wird es dem Individuum überhaupt in den Sinn kommen,
eine abweichende Individualität zum Gegenstand der Vorstellung zu machen.
Das aber ist das Resultat des Drucks, den diejenigen ausüben, die sich abseits der
segmentären Trennwände begegnen. Das nötigt das Individuum, sich unähnlich
zu zeigen. Der Zwang zur individuellen Variation liegt aber erst vor, wenn die
Grenzen in der segmentären Gesellschaft fallen. Werden die Grenzen porös, so
nehmen die Interaktionen zu und die Individuen setzen sich gegenseitig unter
Druck. Nur wenn sie sich unähnlich zeigen, werden sie den Druck auflösen.
Durkheim konstatiert: Anstatt sich dauerhaft zu bekämpfen, wird man sich aus
dem Weg gehen, indem man zunehmend einzigartige Tätigkeiten anbietet, für
deren Ausführung man jedoch unzureichend ausgestattet ist, so dass die Spezia-
lisierung die Individuen wiederum zueinander führt.
Individualität ist also ein unbeabsichtigtes Ergebnis. Sie kann erst dann her-
vortreten, wenn die kollektiven Homogenitätszumutungen, die individuelle Ab-
weichung verhindern, an Kraft verlieren. Man kann aber die Emanzipation vom
Kollektivbewusstsein nicht auf eine Absicht zurückführen, denn Arbeitsteilung
erfordert zwar individuelle Variation, ermöglicht und treibt sie aber auch voran.
Emanzipation von der vorgeschriebenen Ähnlichkeit schafft Individualität und
diese ist eine Bedingung der Arbeitsteilung. Ohne die Zunahme der individuellen
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 181

Entscheidungsfreiheit wird Arbeitsteilung sich nicht entwickeln. Verzeichnet sie


aber Fortschritte, so wird sie nachhaltig für Individualität sorgen. Ein Plan zur
Emanzipation lässt sich insgesamt nicht ausfindig machen. Durkheim dazu:
„Zweifellos trifft es zu, dass diese Emanzipation nützlich ist oder wenigstens ge-
nützt wird. Sie macht die Fortschritte der Arbeitsteilung möglich, noch allgemeiner:
sie verschafft dem sozialen Organismus mehr Geschmeidigkeit und Elastizität. Aber
sie existiert nicht, weil sie nützlich ist. Sie besteht, weil sie nicht nichtvorhanden
sein kann“ (ebd., S. 365).
An anderer Stelle schreibt er Folgendes:
„Der Individualismus und das freie Denken entstammen nicht unseren Tagen, auch
nicht 1789, weder der Reformation noch der Scholastik, weder dem Untergang des
griechisch-römischen Polytheismus noch dem der orientalischen Theokratien. Es
handelt sich um ein Phänomen, das nirgendwo anfängt, sondern das sich unaufhalt-
sam die ganze Geschichte hindurch entwickelt hat“ (ebd., S. 226 f.).
Die Stärke der segmentären Gesellschaft beruht auf den Verhaltensregeln, die
dem Individuum vorschreiben, sich der Ähnlichkeit unterzuordnen. Diese Vor-
gaben beruhen wiederum in letzter Instanz auf der Anerkennung ihrer Geltung
seitens des Individuums. Verhaltensregeln werden sich ihm mit weniger Kraft
aufdrängen, wenn es sie als weniger „erstrebenswert“ erachtet. Das Individuum
trifft aber nicht die Entscheidung über den Geltungsverlust der Moral. Vielmehr
treten ihm Verhaltensregeln mit geminderter Präzision entgegen. Die reduzierte
Eindeutigkeit lässt sich, wie gezeigt, auf mechanische Gründe zurückführen.
Diese aber wirken dahingehend auf das Individuum, dass es die Vorgaben nicht
mehr ihretwegen befolgt. Erst dann machen sich die Wirkungszusammenhänge
um das Bevölkerungswachstum hinsichtlich der Kraft des Kollektivbewusstseins
bemerkbar, sie und nicht individuelle Nützlichkeitserwägungen führen nämlich
dazu, den Verhaltensregeln weniger Achtung entgegenzubringen. Die zuneh-
mende Unbestimmtheit des Kollektivbewusstseins erweist sich als günstig für
die individuelle Freiheit, das Individuum aber entscheidet nicht, die Unbe-
stimmtheit und damit die allmähliche Nivellierung der kollektiven Homogeni-
tätszumutungen herbeizuführen.
Wenn aus dem Übergewicht der organischen über die mechanische Solida-
rität folgt, dass die Freiheit zur Selbstgestaltung zunimmt, dann schließt das vor
dem Hintergrund der Morallehre Durkheims ein, dass das Individuum die Frei-
heit biographisch zu nutzen weiß. Nur der moralisch Disziplinierte wird aber mit
Freiheit umgehen können. Zum einen ist individuelle Variation ohne neue Ab-
hängigkeiten nicht möglich, denn die Konsequenz der Freiheit ist, dass man
Funktionen für andere erfüllt und dass andere Funktionen für einen selbst erfül-
len. Das wiederum macht Verständigung erforderlich, die auf Disziplinierung
beruht. Zum anderen muss die individuelle Variation mit Maß erfolgen. Weil es
kein Individuum ohne Selbstbeherrschung und Orientierung an Zielen gibt, kann
182 3 Émile Durkheims Welt

die Nötigung zur kreativen Selbstgestaltung keine Emanzipation zur grenzenlo-


sen Freiheit sein. Die Morallehre macht somit verständlich, dass individuelle
Variation nicht gelingen kann, wenn das Individuum orientierungslos ist, denn
erst wenn das Handeln moralischen Regeln unterworfen ist, beginnt es, individu-
elle Tätigkeit zu sein.
Die Lösung vom Kollektivbewusstsein lässt also moralische Bildung nicht
obsolet werden. Das impliziert bereits Durkheims Grundannahme: Weil das In-
dividuum nicht über eine moralische Anlage verfügt, bleibt es unter alles Um-
ständen darauf angewiesen, von Moral betroffen zu sein. Die Freiheit macht ein
Individuum erforderlich, das von einer neuen Moral angesprochen wird. Weil
das Individuum im Denken Durkheims ohne die Gesellschaft nicht sein kann,
wird auch die Möglichkeit der Individualität nicht von Dauer sein, ohne dass es
eine der individuellen Autonomie angemessene Unterordnung gibt. Wo die Frei-
heit für das Individuum zunimmt, da mindert sich das, was Moral anbietet, näm-
lich Orientierung. Das jedoch gefährdet die Moral an sich, was wiederum die
zunehmende Freiheit für das Individuum gefährdet, denn ohne die Selbstbeherr-
schung und das Zielbewusstsein, die sich der Moral verdanken, lässt sich auch
die individuelle Entscheidungsfreiheit nicht gewährleisten. Anhand der Moral-
lehre Durkheims zeigt sich demnach, warum sich Individualität nicht ohne Moral
vollzieht. Seiner Studie lässt sich entnehmen, dass individuelle Variation deswe-
gen möglich ist, weil das Individuum nicht anders kann, als sich mehr Freiheit zu
nehmen. Durch die Freiheit aus Zwang lässt es sich auf neue Abhängigkeiten
ein. Die Unabhängigkeit von kollektiven Homogenitätszumutungen zur Ähn-
lichkeit schließt die Notwendigkeit der Bindungen nicht aus.
Schließlich ist es dieser Hintergrund, der näher bringt, warum, ihm zufolge,
die Gesellschaft zwar das Ziel der Moral ist, das Individuum aber nicht übergan-
gen wird. Weil die Moral das Individuum betrifft, um die Gesellschaft zu erhal-
ten, jenes nämlich nicht nur eine Gefahr für die Gesellschaft, sondern auch für
sich selbst sein kann, wird die Gesellschaft nicht das Ziel der Moral sein, ohne
auch das Individuum zu erhalten.

3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord)

Regelmäßige Selbstmorde sind für Durkheim Mittel zum Zweck. Zwei zentralen
Zwecken hilft die Studie Der Selbstmord (1973): Erstens einen Beitrag für die
Konsolidierung der von ihm vertretenen Disziplin zu leisten und zweitens einen
Schlüssel für die Erklärung der Ausnahmeerscheinungen und Leidensformen
moderner Gesellschaften zu finden.
Der erste Zweck: Angesichts der methodologischen Schrift Durkheims ist
es nicht erstaunlich, dass man in der Studie zum Selbstmord nicht über die inti-
men Entschlüsse derer unterrichtet wird, die Hand an sich legen. Für seine Me-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 183

thodologie ist die Sinnhaftigkeit individuellen Handelns unbedeutend, d.h. die


Ursachen, die das Individuum für sein Verhalten bekannt gibt, gelten als uner-
heblich.99 Es ist nicht Durkheims strenger Beharrlichkeit hinsichtlich der von
ihm entworfenen Regeln für das wissenschaftliche Vorgehen verschuldet, dass er
im Falle der persönlichsten Dinge des Menschen keine Ausnahme macht. Ein
Effekt der Studie geht über diese Gradlinigkeit im wissenschaftlichen Vorgehen
hinaus, und zwar: Eine Untersuchung, für die das Zeugnis, das ein Suizidant
über seine Tat abgelegt hat, belanglos ist, demonstriert, dass nicht das Individu-
um den sozialen Drang ursprünglich bewirkt. Insofern es schließlich gelingt,
solche Ursachen ausfindig zu machen, denen sich der bewusste Verzicht auf das
eigene Leben abseits des Vorsatzes zum Freitod, also unabhängig von „gewissen
Zuständen des individuellen Bewusstseins“ (Durkheim 1984, S. 189), verdankt,
kann man den Selbstmord wie ein Ding untersuchen, das sich nur durch Soziales
erklären lässt. Angesichts dessen offenbart sich ein mit der Selbstmordstudie
verdecktes Anliegen, und das ist die Befürwortung der Analyse all derjenigen
Faktoren, die das Individuum selbst in seinen persönlichsten Angelegenheiten
überschreiten.
Im Vorwort bringt Durkheim zum Ausdruck, dass man die Wissenschaft der
Gesellschaft ihres Gegenstands beraubt, wenn man darauf verzichtet, diejenigen
Ursachenzusammenhänge zu untersuchen, die von anderen Disziplinen nicht
beachtet werden. „Sie muss über eine Wirklichkeit entscheiden“, schreibt er zu
Beginn der Studie, „die keiner anderen Wissenschaft angehört“ (Durkheim 1973,
S. 20). Was sich auf Seiten des einzelnen Selbstmörders abspielt, das ist, ihm
zufolge, Sache der Psychologie. Worauf es ihm ankommt, ist die Erkundung der
Wirklichkeit, unter deren Einfluss die sozialen Phänomene stehen. Setzt man
voraus, diese bestünden aufgrund der Sinnhaftigkeit, die der Einzelne mit ihnen
verbindet, so ließe man deren Ursachen außer Acht, die bestehen, ohne seiner zu
bedürfen. Es gibt noch andere Faktoren als die individuellen Angaben, die der
Suizidant hinterlässt. Der Nachweis über den eigentümlichen Gegenstandsbe-
reich einer „autonomen Wissenschaft“ (vgl. Durkheim 1984, S. 221), für den der
Anteil des Individuums sekundär ist, lässt sich neben dem Selbstmord ansonsten
nur mit wenigen anderen Dingen des menschlichen Lebens so eklatant erbringen.
Schließlich offenbart man auf diese Weise dort eine überindividuelle Wirklich-
keit, wo im Grunde der individuelle Wille für sich herrscht.
Gleichwohl steht die subjektive Komponente des Selbstmords für dessen
Definition im Vordergrund. Alle Variationen des Suizids sind in der Definiti-
on100 darauf abgestellt, dass das Opfer seinen Tod gezielt herbeiführt, d.h. für

99 Steven Lukes bemerkt, dass Durkheim mit dem Selbstmord bezweckt, die Wirkung von sozia-
len Ursachen zu demonstrieren (vgl. Lukes 1999, S. 216).
100 Zu Durkheims Definition des Selbstmords vgl. Némedi 1995, S. 62 f., zur Diskussion um die
Definition des Selbstmords vgl. Feldmann 2010, S. 177 ff.
184 3 Émile Durkheims Welt

sein Tun hat man zuvor kalkuliert zu sterben (vgl. Durkheim 1973, S. 27).
Trotzdem bleibt der subjektive Vorwand für die Untersuchung außen vor. Es
lässt sich nicht der eine besondere Schicksalsschlag ausfindig machen, der ohne
Umschweife immer und überall den Selbstmord veranlassen wird (ebd., S. 344),
denn während, und das wird sich an den unterschiedlichen Selbstmordtypen
noch zeigen, auf die einen Bewährungsanstrengungen gegen elende Zustände
lebenserhaltend wirken, dass ihnen die Irritation plötzlicher Entlastung gefähr-
lich wird, überleben andere bereits ein einfältiges Missgeschick nicht, das sie als
unerträgliches Desaster für die ansonsten prätentiöse Außenwirkung der eigenen
Person verbuchen. Eine Grenze des Leids, deren Überschreitung notwendig den
Freitod verschuldet, ist nicht auffindbar. Die Individualisierung der menschli-
chen Belastbarkeitsgrenze bekundet somit, dass die Suche nach Gesetzmäßigkei-
ten für den Selbstmord erschwert wird, wenn man die rein individuellen Fakto-
ren isoliert.
Insbesondere im Hinblick auf die Faktoren für die Häufigkeit des Selbst-
mords ist es daher vergeblich, sich auf die Angaben in Abschiedsbriefen zu stüt-
zen. Wer den Selbstmord eines Einzelnen untersucht, der ist auf Quellen für das
individuelle Bewusstsein angewiesen, wer aber hingegen Regelmäßigkeiten des
Verhaltens untersucht, genauer: Wer den Bedingungen der Selbstmordrate, also
der jährlichen Gesamtzahl der Selbstmorde gemessen an der Wohnbevölkerung
eines Landes nachgeht, für den ist weder die subjektive Erklärung einer Einzeltat
noch die Summe dieser Erklärungen eine ausreichende Quelle. Anhand der
Längsschnittbetrachtung der Selbstmordraten verschiedener Länder101 zeigt
Durkheim (ebd., S. 31 f.), warum einzelne Schicksalsentscheidungen für die Su-
che nach den Bedingungen der Häufigkeiten unrelevant sind: In mitteleuropäi-
schen Ländern, für die ihm die Selbstmordraten zur Verfügung stehen, bleibt
diese über eine kurze Periode von wenigen Jahren konstant. Erst wenn man län-
gere Perioden berücksichtigt, wandelt sich die Häufigkeit, diese Änderung bleibt
aber erneut für wenige Jahre konstant. Zwischenzeitliche Schwankungen, die ins
Gewicht fallen, treten immer dann auf, wenn sich außeralltägliche Großereignis-
se abspielen. Durkheims Schlussfolgerung lautet: Dass die Selbstmordraten nicht
nur Konstanz und Wandel nach langer Zeit, sondern auch plötzliche Ausschläge
aufweisen, belegt das Wirken von Kräften, die nicht über die Einzelschicksale
der Suizidanten, sondern über soziale Ursachen erklärt werden können.
„Sie [die Suizidanten; C.A.] beeinflussen sich, wenigstens normalerweise, nicht ge-
genseitig, sie handeln nicht im gegenseitigen Einverständnis, und trotzdem spielt
sich alles so ab, als ob alle nach der gleichen Losung vorgingen“ (ebd., S. 353)

101 Durkheim greift auf die amtlichen erfassten Selbstmordraten von Frankreich, Preußen, Eng-
land, Sachsen, Bayern und Dänemark für die Jahre 1841 bis 1872 zurück (vgl. Durkheim 1973,
S. 31).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 185

Die periodische Beharrlichkeit der Häufigkeiten führt er darauf zurück, dass sich
die Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens nicht jedes Jahr aufs Neue ändern,
hingegen aber ein Großereignis wie beispielsweise Krieg oder unverhofftes
Wirtschaftswachstum in deren Ablauf eingreift. Auf die Werte der Selbstmordra-
ten wirken sich somit überindividuelle Faktoren und deren Wandel aus. Hierzu
schreibt er:
„Diese Konstanz kommt nicht daher, dass die den Selbstmord herbeiführende Geis-
tesverfassung plötzlich durch irgendeinen Zufall in einer bestimmten Anzahl von
Einzelpersonen auftritt, die sie dann durch einen ebenso rätselhaften Zufall an die
gleiche Anzahl von Nachahmern weitergeben. Sondern sie kommt daher, dass die
Ursachen außerhalb des Individuums, die die Selbstmordrate entstehen lassen und
aufrechterhalten, die gleichen bleiben“ (ebd., S. 375).
Ein soziales Phänomen kommt zu einer bestimmten Zeit und vor allem im
Wechsel der Generationen immerzu häufig vor. Die Häufigkeit kann aber auch
augenblicklich so umschlagen kann, dass sie einen außerordentlich hohen oder
niedrigen Wert erreicht. Für diesen Zeitabschnitt müssen solche Ursachen gege-
ben sein, die sich gegenüber dem Individuum souverän verhalten. Kann man für
ein soziales Phänomen die Beteiligung einer kontinuierlichen Zahl von Men-
schen feststellen, obwohl sich die Generationen ablösen, der Menschenbestand
sich also ändert, dann lässt das den Schluss auf soziale Kräfte zu, deren Wandel
erst die Beharrlichkeit jener Zahl stört. Aus diesem Grund will Durkheim „das
Individuum als Individuum beiseite lassen“ (ebd., S. 161) und stattdessen auf
statistische Fremddaten zurückgreifen, die ihm für sein Vorhaben nützlich sind,
unterschiedliche Typen des Selbstmords zu entwickeln.
Konstanz und Schwankungen der Selbstmordrate will er nicht anhand der
subjektiven Motive der Suizidanten, sondern mit sozialen Faktoren erklären. Die
Rechtfertigung hierfür leitet sich von der Macht des Sozialen her, für die die
Beweise in der Studie verstreut vorliegen und nun wie folgt rekonstruiert wer-
den: Was dem Sozialen wesentlich ist, tritt zunächst in einem von ihm unter-
nommenen Vergleich zwischen der sozial mobilisierten Verhaltenswiederholung
und der Nachahmung hervor. Indem Durkheim die Unterstellung zurückweist,
dass sich soziale Phänomene durch die nachahmende Angleichung an das Ver-
halten anderer erklären lassen, bringt er eine Wirkungskraft zum Vorschein, die
nicht von der nachzuahmenden Person abhängt. Darüber hinaus müsste eine ge-
ographische Verteilung der Selbstmorde sichtbar werden, die sich von einem
Häufigkeitszentrum der Selbstmorde ausgehend absteigend verhält. Als zweites
wird sich zeigen, dass die Kraft der überindividuellen Faktoren kein Mehrheits-
ergebnis ist. Schließlich demonstriert Durkheim die Macht des Sozialen an der
Rückwirkung, die sie trifft, wenn sich das Individuum ihr zugunsten Selbstver-
zicht auferlegt.
186 3 Émile Durkheims Welt

Was sozial bewirkt ist, das kann, ihm zufolge, nicht daraus resultieren, dass
man andere in ihrem Denken und Verhalten imitiert (ebd., S. 131). Diese Erklä-
rung ist nicht hinreichend. Wo jemand es einem anderen gleichtut, da spielt sich
zwar ein Anstieg der Quantität ab, es liegt aber auch ein qualitativer Unterschied
vor. Während sich im ersten Fall das Verhalten bloß summiert, wenn es sich
wiederholt, steht der andere Fall für den Ablauf dessen, ohne das sich das, was
Durkheim ein Kollektivgefühl nennt, nicht erhalten kann, d.h.: Schließt man sich
regelmäßigem Verhalten an, so erkennt man dessen Wert an. Man nimmt min-
destens so von ihn Notiz, wie er von Seiten anderer dem Verhalten beigemessen
wird, wobei diese Zuschreibung nicht auf die Erfindung eines Einzelnen zurück-
geht (ebd., S. 130). Wer ein bestimmtes Verhalten wiederholt, übt somit eine
erhaltende Wirkung aus, die dessen Geltung betrifft. Wer es missachtet, übt
ebenfalls eine Wirkung aus, denn einerlei ob man Missbilligung oder Indifferenz
mobilisiert, wird letzteres den Wert schwächen, während ihn die Missbilligung
bewahrt. Hingegen kommt die Imitation ohne Rücksichtnahme auf Wünschens-
wertes aus und das zu imitierende Verhalten kann sogar die isolierte Vorgabe
eines Einzelnen sein. „Wie könnte“, fragt Durkheim für den anderen Fall, „ein
einzelner Mensch, der nichts weiter ist als das, genug Kraft haben, die Gesell-
schaft nach seinem Bilde zu formen“ (ebd., S. 149). Eine Regelmäßigkeit des
sozialen Geschehens kann dieser nicht ohne weiteres erfinden, denn hierfür
braucht er wenigstens Ansehen, wofür er notwendig auf andere angewiesen ist
(ebd., S. 128). Insbesondere die Kontinuität der sozialen Phänomene, die sich an
verschiedenen Menschengenerationen ablesen lässt, kann ein Einzelner nicht
vorsätzlich erschaffen. Im Gegensatz dazu kann die Nachahmung auf einen Ein-
zelnen zurückgehen. In dem zu wiederholenden Verhalten ist kein Ansehen am
Werk, so dass der Nachahmende von keinem Drang betroffen ist. Das ist ansons-
ten nicht der Fall.
Die Widerlegung konkretisiert er, indem er auf verschiedene Selbstmordra-
ten zurückgreift. Dass es sich im Falle des Selbstmordes um nachahmendes Ver-
halten handelt, widerlegt Durkheim, indem er auf empirische Daten zurückgreift,
die die Häufigkeit der Selbstmorde für französische Departments und Arrondis-
sements, die besonders betroffenen deutschen Länder, einige italienische Provin-
zen und Kantone der Schweiz verzeichnen (ebd., S. 506 ff.). Er entnimmt dem
Frankreich betreffenden Zahlenmaterial, dass sich eine geographische Konzent-
ration der Selbstmorde, die man in Paris verorten kann, nicht nachweisen lässt.
Stattdessen bestehen sogar beträchtliche Schwankungen zwischen benachbarten
Arrondissements. Ähnlich verhält es sich für die Gebiete außerhalb Frankreichs
und somit schließt er aus, dass eine Diffusion des Selbstmordes von den bevöl-
kerungsreichen Zentren ausgehend und mit der Zahl der Bevölkerung abneh-
mend stattfindet. Hingegen postuliert er, dass es deswegen zu den geographisch
nebeneinander liegenden Häufigkeitsschwankungen kommt, weil die sozialen
Lebensbedingungen nicht homogen verteilt sind (ebd., S. 143 f.). Für eine Diffu-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 187

sion des Selbstmordes aber, die sich schlicht deswegen ereignet, weil die Tat an
sich ein gutes Beispiel zur Imitation gibt, würde die ungleiche Verteilung der
Lebensbedingungen belanglos sein, d.h. die sozialen Voraussetzungen, die ein
Gebiet aufweist und sich von Gebiet zu Gebiet unterscheiden, wären für die
Ausbreitung einer nachgeahmten Regelmäßigkeit gleichgültig. Die Schlussfolge-
rung lautet: Nur wo die Ursachen ausgebreitet sind, da findet sich eine entspre-
chende geographische Verteilung der von ihnen erwirkten Effekte vor.
Durkheim warnt vor diesem Hintergrund, soziale Phänomene durch Nach-
ahmung zu erklären, weil man sich auf diese Weise den Zugang zu den Ursachen
versperrt. Wiederholtes Verhalten lässt, sofern es Resultat einer Nachahmung ist,
nicht erkennen, wie Soziales auf den Menschen wirkt. Die Abgrenzung des So-
zialen von der Nachahmung erfüllt für die Argumentation Durkheims den
Zweck, das erkennbar zu machen, worauf das Nachzuahmende nicht angewiesen
ist, und das ist die Wirkungskraft, die den Fluss der Verhaltenswiederholung
beeinflusst, wenn diese normkonform ist. Durkheim beabsichtigt, die Imitation
als Erklärung für soziale Phänomene zu verwerfen, um stattdessen zu demonst-
rieren, dass eine Norm unabhängig von ihrer Entsprechung im Handeln des Ein-
zelnen besteht. Aus der Eigenständigkeit der Norm begründet sich wiederum
ihre Überlegenheit gegenüber dem Individuum. Ihr soziales Ansehen ist nicht
darauf angewiesen, dass es man es identisch im Denken des Einzelnen abgebil-
det findet. Durkheim erklärt dies wie folgt: In der Angelegenheit eines abwei-
chenden Verhaltens wie dem im Allgemeinen abgelehnten Mord, der jemanden
nicht betrifft, fällt die Missbilligung seinerseits vergleichsweise gering aus. An-
ders spielt sich das Geschehen ab, wenn der Vorfall zum Gegenstand der öffent-
lichen Missbilligung wird. Nunmehr fällt die Ablehnung intensiver aus, und das
obwohl der Einzelne nach wie vor nicht vom Vorfall berührt wird. Es ist nicht
nur das soziale Entsetzen intensiver, sondern auch das individuelle Entsetzen
und es offenbart sich auf diese Weise die Überlegenheit des sozialen Ansehens,
das einer Norm eigen ist und dem gegenüber das Individuum schwächer ist
(ebd., S. 369). „Die Macht, die er auf diese Weise zu respektieren gelernt hat und
die für ihn zum Idol wurde, das ist die Gesellschaft […]“ (ebd., 363).
Dieser Unterschied zwischen der Individualform und der Sozialform (ebd.,
S. 369) einer Norm soll nicht den Effekt einer aus Einzelkräften addierten Ge-
samtkraft offenbaren, die eine Herrschaft auf das Individuum ausübt. Wenn sich
der Einzelne unter dem Eindruck eines kollektiven Gefühls mit höherer Intensität
empört oder erfreut, als er es für sich getan hätte, dann ist das nicht ein Ergebnis,
das von der Zahl der isolierbaren Einzelkräfte eines Kollektivs abhängt, sondern
resultiert aus dem Aufeinanderbezogensein dieser Kräfte, und zwar der Kräfte,
die im Hinblick auf das Ansehen der Norm wirken. Sie besteht somit nicht, weil
sie mehrheitlich getragen wird, denn ihre Geltung ist vielmehr ein soziales Pro-
dukt, was eine andere Wirklichkeit ist als eine Summe.
188 3 Émile Durkheims Welt

„Darum kann der blasse und unvollständige Abklatsch, der sich davon im Gewissen
des einzelnen findet, nicht als das Original angesehen werden. Er ist viel eher das
Ergebnis einer ungenauen und groben Wiedergabe von etwas, das außerhalb des In-
dividuums liegt […]“ (ebd., S. 371).
Die Wirklichkeit des Sozialen ist demzufolge das Ergebnis abwechselnden und
voneinander abhängigen Handels, das etwas anderes ist als das Handeln für sich.
Das Handeln vieler, und zwar das aneinander orientierte Handeln ist insofern
qualitativ verschieden von einer Einzeltat, als das isolierte Handeln eines Einzel-
nen ohne Gesellschaft und somit auf sich gestellt ist, so dass es anders verursacht
ist und andersgeartete Wirkungen nach sich zieht. Zwei getrennte Realitäten lie-
gen also deswegen vor, weil die Summe bestimmter Ursachen nicht identisch ist
mit den Wechselwirkungen dieser Ursachen und dies nennt Durkheim die „Hete-
rogenität des Sozialen und Individuellen“ (ebd., S. 364). Wirkungen, die auf das
Soziale zurückgehen, beruhen auf alternierenden Orientierungen der an einer
Handlung tatsächlich Beteiligten und Gegenstand der betreffenden Orientierung
ist im Ursprung nicht die reine Erfindung eines der Beteiligten. Allesamt sind
also einer Wirklichkeit, nämlich einem „unpersönlichen Kausalnexus“ unterwor-
fen (ebd., S. 359), die über die subjektiven Beiträge hinausgeht und längst exis-
tierte. Durkheim unterstreicht aber, dass die Wirklichkeit des Sozialen nicht von
sich aus wirkt. „Diese Grundlage ist“, schreibt er, „nicht substantiell oder onto-
logisch, da sie nichts anderes ist, als die Zusammensetzung von Einzelteilen“
(ebd., S. 373).
Für die Begründung dafür, dass das Soziale dem Individuum übergeordnet
ist, lässt sich den Überlegungen Durkheims bislang Folgendes entnehmen: Ers-
tens weist er die Nachahmung für die Erklärung sozialer Phänomene zurück,
indem er zeigt, dass derjenigen, der imitiert, nicht von dem Ansehen des zu wie-
derholenden Verhaltens betroffen ist. Er offenbart zweitens die besondere Kraft
überindividueller Faktoren anhand der Sozialform geltender Normen, die nicht
darauf angewiesen ist, eins zu sein mit deren Individualform. Zum Wesen der
überindividuellen Faktoren gelangt man ferner über einen dritten Weg, und das
ist der soziale Ursprung der Transzendenz.
Die als heilig geltenden Dinge und, so Durkheim, Normen haben sie ge-
meinsam. Das erklärt er folgendermaßen: Weil Verhaltensvorgaben nicht auf die
zahlenmäßige Überlegenheit ihrer Protagonisten beruhen und sich in keiner Wei-
se von einem Einzelnen erfinden lassen, sondern der Wirklichkeit des Sozialen
entspringen, können sie unmöglich mit individuellem Eigennutz zusammenfal-
len. Was nicht mit dieser übereinstimmt, macht unbedingt Verzichtleistungen
nötig, die schließlich aus der Dominanz der Normen resultieren (ebd., S. 393).
Ausschlaggebend ist für Durkheim, dass normkonformes Verhalten unter-
schiedslos, ob es gewollt oder auferlegt ist, in Opposition zum individuellen
Vorteil steht. Die Macht, der man in dieser Angelegenheit unterworfen ist, lässt
sich demnach nicht auf der Seite des Betroffenen verorten. Stattdessen wird sie
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 189

von ihm auf eine äußere Instanz übertragen, wobei es gleich ist, ob diese als ein
konkretes Wesen besteht oder davon losgelöst ist. In seinem Denken ist er von
ihr überwältigt.
„Das ist der Ursprung aller jener Vorstellungen von Transzendenz, die wir als
Grundlage der Religionen und Sittengesetze vorfinden; denn auf eine andere Weise
ist die moralische Verpflichtung nicht zu erklären“ (ebd., S. 393 f.).
Der Vorgang, der Transzendenz schafft und derjenige, den sie bewirkt, sind also
erklärbar und der Erfahrbarkeit nicht verschlossen. Durkheim zeigt, dass sie
nicht die Quelle ihrer Macht ist, sondern ohne die überzeugte Disziplin derjeni-
gen, die an sie glauben, nicht eintreten wird. Transzendenz ist ein Effekt.102 Ihrer
Abhängigkeit lässt sich im Hinblick auf die Wirklichkeit des Sozialen das Fol-
gende entnehmen: Seine Eigenständigkeit besagt zwar, dass es vom Willen und
Eingriff des Einzelnen unabhängig ist, nur ist die soziale Macht an ihren Erfolg
gebunden, die Zurückstellung des individuellen Eigennutzes veranlassen zu kön-
nen, wobei sie insbesondere hierfür darauf beruht, dass sie unabhängig davon ist,
das Individuum mit physischen Zwang zum Selbstverzicht zu bewegen. Die
Kraft überindividueller Faktoren, die dem Einzelnen überlegen ist, geht insge-
samt nicht aus ihr selbst hervor. Anders ausgedrückt: Wenn Durkheim das Sozia-
le als einen Ursachenherd qualifiziert, dann schließt er damit nicht aus, dass die-
ses ebenfalls Ursachen hat.
So wenig wie am Anfang eines sozialen Phänomens eine unerfahrbare Kraft
steht, so undenkbar sind ihre Diffusion und Aufrechterhaltung durch Nachah-
mung. Ihre Ursachen, und das ist Durkheims Absicht für den Nachweis über die
Kraft des Sozialen und für die Selbstmordstudie überhaupt, wird man übergehen,
wenn man sich nicht von der Stellungnahme des Individuums löst. Die Wir-
kungskraft, unter deren Einfluss das individuelle Handeln steht, legt Durkheim
frei, indem er zeigt, dass sie sich gegenüber dem Einzelnen zwar eigenständig
verhält. Für ihr Bestehen ist sie allerdings an die Anerkennung ihrer Geltung
gebunden, wobei sich deren Beschädigung wiederum nicht gezielt herbeiführen
lässt, sondern nur das Ergebnis eines sozialen Vorgangs ist.
Die Suche nach überindividuellen Faktoren für die Erklärung der Selbst-
mordrate kann Durkheim somit rechtfertigen, doch es können auch solche Ursa-
chen den Freitod bewirken, die das Individuum überschreiten, aber nicht sozialer
Natur sind. Neben der sozialen Kraft berücksichtigt er auch solche für den Ein-
fluss auf die Selbstmordrate infrage kommenden Faktoren, die zwar vom Indivi-
duum unabhängig sind, aber anderen Gattungen angehören. Wenn man das Indi-
viduum als Faktor ausschaltet, bleiben nicht nur soziale Ursachen übrig, sondern
es kommen auch Krankheiten und Erbgut als Bedingungen in Betracht. Das So-

102 Die soziale Voraussetzung der Transzendenz gehört zum Programm Durkheims, nicht der
Disziplinierung, sondern der Motivierung des Einzelnen nachzugehen, sich für andere Indivi-
duen, Kollektive und Werte einzusetzen (vgl. Joas 1992, S. 281 f.).
190 3 Émile Durkheims Welt

ziale lässt sich als Ursachenherd nicht nur auf der Grundlage des Nachweises
über die Belanglosigkeit des subjektiven Vorsatzes isolieren, sondern hierfür
braucht es auch die Abgrenzung von überindividuellen Faktoren, die nicht sozia-
ler Natur sind. Durkheim macht sich weitere empirische Daten wie folgt für sei-
ne Argumentation zunutze: Wenn organisch-psychische Dispositionen den
Selbstmord veranlassen, dann wäre die Selbstmordrate unter Frauen und Juden
höher, weil für beide häufiger Geisteskrankheiten festgestellt werden. Faktisch
bringen sich aber Frauen und Juden seltener um (ebd., S. 64).
Ein kausaler Zusammenhang zwischen Rasse und Selbstmord lässt sich
ebenfalls ausschließen: Man ordnet zwar unterschiedliche nationale Gruppen
einer Rasse zu, nur weisen sie unterschiedlich hohe Selbstmordwerte auf. Dar-
über hinaus bringen sich die Angehörigen einer Gruppe, die man einer Rasse
zuordnet, aber an verschiedenen Orten auf der Erde leben, unterschiedlich häufig
um. Schließlich entsprechen die Selbstmordraten derjenigen Gruppen einander,
die gleichen sozialen Lebensbedingungen unterworfen sind, aber unterschiedli-
chen Rassen zugeordnet werden (ebd., S. 80). Dass der Selbstmord im Allge-
meinen nicht vererbbar ist, erklärt Durkheim mit dem Hinweis auf die unter-
schiedlichen Werte zwischen den Geschlechtern. Ein Nachweis darüber, dass
Verhalten vererbbar ist, ließe sich erbringen, wenn sich die Übertragung auf bei-
de Geschlechter gleichmäßig verteilen würde. Der Selbstmord ist allerdings ein
Phänomen, von dem Männer häufiger betroffen sind als Frauen (ebd., S. 91).
Die Widerlegung der Wirksamkeit von Störungen der organisch-
psychischen Funktionen einerseits, biologisch klassifizierter Menschengruppen
andererseits und schließlich von tatsächlichem Ahnenerbe auf den Selbstmord
nimmt Durkheim im Hinblick darauf vor, sie als dessen überindividuelle Fakto-
ren auszuschließen, so dass hiernach nur das Soziale übrig bleibt. Insofern ist der
Selbstmord kein außergewöhnlicher Sachverhalt, denn nicht alle, die den Freitod
wählen, sind kranke Menschen. Geisteskrankheiten sind keine notwendige Be-
dingung für die Selbstmordrate. Das wiederum lässt die Schlussfolgerung zu,
dass der Selbstmord auf Ursachen zurückgeht, die nicht pathologisch, sondern
für die Gesellschaft normal sind. Daneben kann es nicht die Zugehörigkeit zu
einer familienübergreifenden Abstammungsgruppe sein, die über den Selbstmord
entscheidet, denn das hieße, der einzelne Angehörige einer betroffenen Gruppe
könnte sich im Falle, dass die bloße Zugehörigkeit ausreicht, den Ursachen für
soziale Phänomene nicht entziehen. Deren Ursache wäre dann das biologische
Erbe und somit wären soziale Bedingungen belanglos. Da sich aber die Wider-
spruchsfreiheit der Kategorie Rasse nicht aufbringen lässt, sind mit ihr unterstell-
te Kausalzusammenhänge haltlos.
Die endgültige Begründung, mit der es Durkheim erlaubt ist, nur soziale
Ursachen für das Auffinden von Gesetzesmäßigkeiten für den Selbstmord nach-
zugehen, gelingt ihm wie folgt. Die weitergehende Prüfung der außersozialen
und überindividuellen Ursachen führt Durkheim zum Ergebnis, dass sich die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 191

Selbstmordrate ausschließlich den Wirkungen sozialer Ursachen verdankt, und


das eröffnet sich ihm folgendermaßen: Die für seine Zeit nicht ungewöhnliche
Hypothese, die besagt, der Selbstmord sei der Gewalt bestimmter Klimazonen
unterworfen, weist er mittels Daten über auffallend hohe Abweichungen in den
Selbstmordraten verschiedener Zeiten zurück, die aber für eine spezifische kli-
matische Region erhoben wurden (ebd., S. 101). Daneben zeigen sich anhand der
Zahlen ausgeprägte Unterschiede in den Werten synchroner Erhebungen in un-
terschiedlichen Regionen, die sich aber in einer Klimazone befinden.
Eine vergleichbare Hypothese, der zufolge der Selbstmord unter dem Ein-
fluss der Wärme stehe, widerlegt er ebenfalls, nur leistet sie ihm im Hinblick auf
die Isolation der sozialen Ursachen einen Dienst. Zunächst wendet er gegen den
sinkenden Wert der Selbstmordrate bei absteigender Temperatur nichts ein, da
sich den Daten für die Länder Dänemark, Belgien, Frankreich, Sachsen, Bayern,
Österreich und Preußen die Reihenfolge der Jahreszeiten für die sich verringern-
de Selbstmordrate entnehmen lässt, nämlich: Sommer, Frühling, Herbst und
Winter. Neben der Reihenfolge verteilen sich auch die für die Jahreszeiten spezi-
fischen Proportionen der Selbstmorde in den genannten Ländern jeweils gleich
(ebd., S. 105). Dass sich aber nicht die Wärme auf den Suizid auswirkt, weist er
anhand von Temperaturschwankungen bei gleich bleibender Selbstmordrate
nach, d.h. obwohl es einerseits Monate gibt, in denen sich die Temperatur nicht
unterscheidet, zeigen die Werte, dass sich die Zahl der Selbstmorde ändert. Ob-
wohl also verschiedene Monate eine konstante Temperatur aufweisen, ändert
sich die Selbstmordrate. Die Wärme und der Selbstmord stehen somit in keiner
Verbindung. Andererseits bleibt die Selbstmordrate eines Monats in verschiede-
nen Ländern unverändert, obwohl deren jeweiligen Temperaturwerte beträchtli-
che Unterschiede aufweisen. Durkheims Schlussfolgerung lautet: „Wenn die
Tage schneller länger werden, steigt die Selbstmordziffer schnell an“ (ebd., S.
114). Die unveränderte Selbstmordrate in verschiedenen Ländern ist nicht das
Korrelationsergebnis der unveränderten Temperatur, sondern der konstanten
Tageslänge. Dieser Schluss unterstützt zudem die empirisch erwiesene Überzahl
der bei Tag verübten Selbstmorde, so dass er obendrein folgert: „Wenn also der
Tag reicher an Selbstmorden ist als die Nacht, dann steigt natürlich, wenn der
Tag länger ist, ihre Zahl“ (ebd., S. 116).
Insgesamt stellt er eine Verbindung fest, die das soziale Leben überhaupt
betrifft. Die Selbstmordrate steht also im Schatten der Geschäftigkeit. Die Tages-
länge führt nicht unmittelbar den Selbstmord herbei, sondern treibt das soziale
Handeln voran. An natürlichen Regelmäßigkeiten, denen das soziale Leben un-
terworfen ist, wird erkennbar, dass dieses auf die Selbstmordrate wirkt.
„Aber von jetzt an“, folgert er, „verstehen wir, dass die Selbstmordrate, sofern sie
von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst wird, zu- und abnehmen muss, je nach-
dem das Kollektivleben mehr oder weniger aktiv ist“ (ebd., S. 123).
192 3 Émile Durkheims Welt

Durkheim prüft also, ob es möglich ist, den Selbstmord ausschließlich durch


überindividuelle Faktoren außersozialer Natur zu erklären. Weder organisch-
psychische noch natürliche Ursachen haben die Kraft, regelmäßige Selbstmorde
zu erregen. Ferner schließt er Ursachen aus, die für die Erfahrung nicht zugäng-
lich sind. Aus dem Vorhaben heraus, die vermuteten außersozialen Ursachen des
Selbstmords zu überprüfen, sind sogar allgemeine Aussagen über das Soziale
entstanden. Durkheim ist nicht nur den, gemäß dem damaligen Forschungsstand,
häufig unterstellten Ursachen nachgegangen, um deren Falsifizierung zu errei-
chen. Mehr noch, ist im Anschluss an die Widerlegungen nur noch das übrig
geblieben, was Regelmäßigkeiten des menschlichen Handelns veranlasst, und
zwar wie folgt: Insgesamt kann er zwar einen Zusammenhang zwischen der Ta-
geslänge und den Selbstmorden kenntlich machen, er schließt aber aus, dass sie
geradewegs und ohne etwas Drittes vermittelt zu sein, die Menschen zum
Selbstmord bewegt. Mit anderen Worten: Indem er die außersozialen Faktoren
der Reihe nach ausschließt und darüber hinaus aufdeckt, dass die Wirkung von
Seiten eines bestimmten außersozialen Faktors auf soziale Faktoren einen Ein-
fluss auf die Selbstmordrate hat, wobei sich die Wirkung der Letzteren isolieren
lässt, wohingegen die Sonderung der Ersteren auf die Schwankungen der
Selbstmordrate keinen unmittelbaren Einfluss ausübt, kann er den Nachweis er-
bringen, dass der Selbstmord nicht den Regelmäßigkeiten der Natur, sondern
sozialen Ursachen unterworfen ist. Während es im Ganzen nicht möglich ist,
Korrelationen zwischen Faktoren wie Krankheit, unterstelltem und faktischem
Erbe oder Klima und der Selbstmordrate zu entdecken, lassen sich Korrelationen
zwischen ihr und sozialen Ursachen demonstrieren. Es bleibt also nichts übrig,
das von dieser Welt ist und regelmäßige Selbstmorde veranlassen kann, außer
soziale Ursachen.
Inwiefern der Selbstmord ein Mittel zu einem ersten Zweck ist, lässt sich
nun folgendermaßen erklären: Der Selbstmord erweist Durkheim insofern einen
Dienst, als er ihm dabei behilflich ist, einen besonderen Gegenstandsbereich zu
markieren, der aus der Wissenschaft von der Gesellschaft eine eigenständige
Disziplin macht. Weil Kollektives etwas nach sich zieht, das sich aber nicht un-
tersuchen lässt, wenn man es in seine Einzelteile zerlegt, ist es wesensfremd, es
als ein zählbares Kollektiv zu begreifen. Sie bildet hingegen Wirklichkeiten, die
nicht anders als aus der Synthese des Handelns hervorgehen, und das ist eine
Wirkung, die von den Dingen, die das Individuum für sich anrichten kann, ver-
schieden ist. Für die Effekte dieser Wirklichkeiten wird sich im Individuum kei-
ne Erklärung finden lassen, da soziale Wirkungen eine andere Qualität aufweisen
als das addierte Aufkommen ihrer Einzelkräfte. Auf dieser Grundlage wählt
Durkheim den Selbstmord als ein Studienobjekt aus, weil sich die außerordentli-
che Macht des Sozialen am Freitod besonders anschaulich beweisen lässt.
Schließlich ist sie in der Lage, den Lebenswillen zu brechen. Ansonsten gibt es
nichts, dessen Unterwerfung mehr Macht kostet. Der Selbstmord spielt sich, so
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 193

Durkheim, als ein „eminent soziales Phänomen“ ab (ebd., S. 133), womit er ab-
streitet, dass sich einzig die Selbstbestimmung des Individuums exponiert, wenn
es Hand an sich legt. Mit der Untersuchung bezweckt er also den Nachweis über
die Belanglosigkeit des Individuums, indem er Gesetzmäßigkeiten nachgeht, die
unter dem Einfluss sozialer Faktoren stehen. Dieser Zweck richtet sich also an
die von ihm entwickelte Methodologie, die er am Beispiel des Selbstmords nicht
nur umsetzen, sondern auch erhärten will, weshalb er diesen tatsächlich ein Mit-
tel nennt. Er schreibt: „So bietet uns der Selbstmord ein Mittel, durch eine ent-
scheidende Erfahrung die geheimnisvolle Wirkungskraft nachzuweisen, die man
der Nachahmung zuschreibt“ (ebd., S. 137).
Wenn sich im Falle der Tat, für die man sich darüber bewusst ist, dass an
deren Ende der eigene Tod steht, ein Vorgang abspielt, der von einer im Ur-
sprung sozialen Kraft bewirkt ist, wenn sogar eine der persönlichsten Angele-
genheiten des Menschen unter der Gewalt des Sozialen statt der persönlichen
Motive stehen,103 dann lautet eine zentrale Botschaft der Studie: Das Handeln
des Individuums kann man nicht von den sozialen Bedingungen isolieren, wenn
man es erklären will. Abseits der subjektiven Sinnhaftigkeit gibt es eine verlän-
gerte Wirkung von Faktoren, die das Individuum überschreiten (ebd., S. 346).
Der zweite Zweck: Von der Selbstmordrate verspricht sich Durkheim eine
empirisch gestützte Auskunft über die Krise104 der Gesellschaften seiner Zeit.
Die ebenfalls von ihm verfolgten praktischen Empfehlungen, die er darauf aus-
richtet, die gesellschaftliche Misere zu mindern oder zu überwinden, sind gemäß
seiner Methodologie erst auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse überhaupt
möglich. Für beides braucht er den Selbstmord. Damit sich erschließen lässt,
warum dieser ein Mittel ist, der sich für den Aufschluss über den Zustand einer
Gruppe nutzen lässt, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass es zu
Durkheims Anliegen gehört, nicht bloß Maßnahmen zur Prävention derer zu
entwickeln, die den Risikofaktoren für Suizidalität ausgesetzt sind. Stattdessen
interessieren ihn die „Ursachen des allgemeinen Unbehagens“ (ebd., S. 20), und

103 Jean Améry kritisiert an der Studie, dass Durkheim die persönliche Entscheidung des Suizidan-
ten nicht anerkennt: „Jedermann gehört, ich wiederhole es auf die Gefahr, den Leser zu ermü-
den, unter Aufmichnahme, der Monotonie geziehen zu werden, in den entscheidenden Le-
bensmomenten sich selber, und wo er nicht mehr sch gehören will, weil er sich anheimgibt, ei-
ner Idee, einem menschlichen Verband, einem Wahne meinetwegen, ist es doch dort seine
existentielle Eigengehörigkeit, die ihn handeln oder nichthandeln macht“ (Améry 2012, S.
120).
104 Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz verdächtigen Durkheim, von demographischen
Ängsten betroffen gewesen zu sein, den Anschluss Frankreichs an das Bevölkerungswachstum
Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert zu verpassen (vgl. Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995, S.
9). Mehr noch vermuten sie, dass sich am Vorhaben des Selbstmords die Legitimationsfunktion
der Soziologie für den Nationalstaat zeigt (ebd., S. 15). Steven Lukes zufolge zeigt sich durch
Durkheims Engagement die Rolle der Soziologie als sozialer Pathologie (vgl. Lukes 1999,
S.194).
194 3 Émile Durkheims Welt

das bedeutet, er will die Daten der Selbstmordraten im Hinblick auf diejenigen
Faktoren auswerten, auf die sich der Selbstmord nur als ein Effekt unter anderen
zurückführen lässt. Mit anderen Worten: Die praktischen Empfehlungen will er
an bestimmte Ursachen des Selbstmords knüpfen, nur ist dieser lediglich eine der
Folgen, anhand derer sich die „kollektive Krankheit“ (ebd.) offenbart.
Es ist nunmehr nicht unbegründet, dass der Selbstmord auch diesem Anlie-
gen Durkheims einen Dienst erweist, da ihn vorrangig nicht das nächstliegende
Motiv des Suizidanten, sondern der kausale Kette für regelmäßige Selbstmorde
interessiert. Anders ausgedrückt: Erst der Nachweis über die Belanglosigkeit des
Suizidanten auf der einen Seite und die Sonderung der sozialen Faktoren auf der
anderen Seite, die für den Selbstmord unverzichtbar sind, schaffen überhaupt die
Voraussetzung dafür, an der Selbstmordrate den Zustand der sie betreffenden
Gruppe abzulesen. Wenn also der Selbstmord im Ursprung sozial verschuldet ist,
dann kann die Selbstmordrate über das Befinden der sozialen Bedingungen in-
formieren, die vom Suizidanten unabhängig sind. Wenn man einzig den unmit-
telbaren Anlass eines Individuums berücksichtigt, das sich zum Freitod ent-
schließt, wird man sich die Analyse all derjenigen Bedingungen verschließen,
die es mit anderen Suizidanten aber auch mit den Lebenswilligen gemeinsam
hat. Die sozialen Ursachen, denen sich die Selbstmorde verdanken, sind nicht
nur tödlich, sondern ziehen, so Durkheim, auch andere, nämlich desintegrative
Folgen nach sich (ebd., S. 377).
Indem er den sozialen Ursachen des Selbstmords nachgeht, kann er sich die
Selbstmordrate nützlich machen, so dass sie ihm den Weg für die Krisendiagno-
se moderner Gesellschaften ebnet. Sieht man den einzelnen Selbstmord als ein
endgültiges Resultat einer Folge von Ereignissen, dann lassen sich diese hin-
sichtlich der Menge aller in einem Jahr verübten Selbstmorde nicht isolieren, da
sie in einem Zusammenhang stehen. Mit der Selbstmordrate, die für die Wohn-
bevölkerung eines Landes jährlich erhoben wird und durch deren Erhebung so-
mit die Grenzen einer Gruppe festgelegt werden, kann man also Angaben über
den Stärke- oder Schwächegrad der sozialen Selbstmordursachen machen, die
nicht nur auf den Einzeltäter, sondern auf die demographisch erfasste Gruppe
insgesamt wirken (ebd., S. 346).
Wie aber erschließt sich für Durkheim jenes allgemeine Unbehagen? An der
Selbstmordrate will er ablesen, wie es um die moralische Ordnung moderner
Gesellschaften bestellt ist. Entscheidend hierfür ist der Wandel in der Bewertung
des Selbstmords, denn er kollidiert mit einer Güte, die der moderne Mensch als
ehrwürdig erachtet und die ihn und Seinesgleichen im Falle ihrer Verletzung
zueinander führt. Durkheim legt dies frei, indem er hinsichtlich der gewandelten
Bewertung des Selbstmords auf einige Studien zurückgreift. Ihnen entnimmt er
Folgendes: Während man sich in der Antike nur dann in Schwierigkeiten bringen
konnte, wenn man sich ohne Genehmigung das Leben nahm, lehnen die drei
monotheistischen Religionen den Selbstmord seit jeher ab (ebd., S. 382 ff.). Die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 195

Missbilligung des Selbstmords nimmt, ihm zufolge, mit der Entwicklung des
Schutzes für das Individuum zu. Sie steht im Widerspruch mit der religiösen
Pflicht zum Selbstmord, der man nicht selten in polytheistischen Religionen be-
gegnet. Wo diese Maxime gilt, wo man sich also mit dem Gebot konfrontiert
sieht, das eigene Leben zum Gegenstand religiöser Darbringung zu machen, da
ist folglich die Eigenständigkeit des Individuums nur gering ausgebildet. Der
Selbstmord gehört in diesem Fall zu den moralischen Vorschriften und somit ist
das Leben des Einzelnen minderwertig (ebd., S. 429.). Stattdessen wird der
Selbstmord dort geächtet, wo der Wert der Menschen an sich gilt, und der ist
dort gewachsen, wo die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Herrschaftsver-
band zunehmen. „Darum kommt uns jedes Attentat auf ihn wie eine Gottesläste-
rung vor. Und der Selbstmord ist eines dieser Attentate“ (ebd., S. 391). Insge-
samt stellt Durkheim fest, dass der Selbstmord, je weiter man in der Geschichte
fortschreitet, zunehmend abgelehnt wird. Er wird in modernen Gesellschaften
insbesondere deswegen gegeißelt, weil er mit einer transzendenten Orientierung
in Widerspruch steht, die von den Folgen des rationalen Denkens verschont ge-
blieben ist, nämlich dem Kult des Individuums. Man darf dieses Ideal nicht mit
einem Freibrief für das eigennützige Wohl verwechseln, denn was verehrt wird,
ist der „Mensch schlechthin“ (ebd., S. 395). In modernen Gesellschaften, zu de-
ren Kennzeichen die Ausdifferenzierung des Urteilsvermögens gehört, bleibt nur
wenig übrig, über dessen Ehrwürdigkeit sich allesamt einig sind. Das gelingt, so
Durkheim, der Idee über die Würde des Einzelnen an sich, deren Transzendenz
sich insofern zeigt, als sie nicht nur gegen die moderne Heterogenität der Über-
zeugungen ankommt, sondern auch den Selbstverzicht und die Einsatzbereit-
schaft der Menschen für die Unversehrtheit des menschlichen Lebens herbeiführt
(vgl. Durkheim 1986b, S. 62 f.). Die Heiligkeit des Menschen an sich berechtigt
den Einzelnen also nicht, das machen zu können, was ihm beliebt, sondern sie
veranlasst ihn zugunsten der Heiligkeit der Person, von der privaten Orientierung
abzulassen, die bloß das eigene Wohl bezweckt. Was das menschliche Leben
gefährdet, die Handlungsfreiheit und die Rechte des Individuums einschränkt
oder das individuelle Ansehen verletzt und herabmindert, wird zunehmend miss-
billigt. Aus diesem Rest an gemeinsamen Glauben in modernen Gesellschaften
erklärt sich, ihm zufolge, warum der Selbstmord moralische Vorstellungen ver-
letzt. Wenn der Kult des Individuums eine der Stützen der moralischen Ordnung
in modernen Gesellschaften bildet, dann wird derjenige missbilligt, der andere
oder sich umbringt (vgl. Durkheim 1973, S. 394).
„Unter diesen Umständen wird der Selbstmord naturgemäß zu einer unmoralischen
Handlung; […]. Die Gesellschaft ist verletzt, weil das Gefühl, auf dem heute ihre
höchstgeachteten Morallehren beruhen, die fast das einzige Bindeglied zwischen ih-
ren Angehörigen sind, beleidigt wurde, und weil es geschwächt würde, wenn eine
solche Beleidigung in voller Freiheit geschehen könnte“ (ebd., S. 396).
196 3 Émile Durkheims Welt

Der von ihm konstatierte Krisenzustand lässt sich nun wie folgt ermitteln: Ist die
Selbstmordrate ungewöhnlich hoch105, so ist die moralische Ordnung der Gesell-
schaft geschwächt. Das Kollektivgefühl, das den Menschen an sich betrifft, ver-
sagt, da die gefürchtete Missbilligung für den Einzelnen immer weniger zum
Hindernis wird, sich das Leben zu nehmen. Für die Tat des Suizidanten macht
sich sogar Verständnis breit, wenn auch die Lebenswilligen von den sozialen
Bedingungen betroffen sind, in deren Schatten der Selbstmord steht (ebd., S.
440).
Der regelmäßige Freitod unterstützt also Durkheims Vorhaben, einen
Schlüssel zu finden, der ihm die Ursachen für die spezifischen Probleme moder-
ner Gesellschaften eröffnet. Voraussetzung hierfür ist der Nachweis darüber,
dass es hinsichtlich der Kausalität berechtigt ist, von der unmittelbaren Veranlas-
sung des Suizidanten abzusehen und stattdessen die überindividuellen Bedin-
gungen zu berücksichtigen. Die sozialen Ursachen, die regelmäßige Selbstmorde
herbeiführen, haben nicht nur sie, sondern auch anderes zur Folge. Hiervon ver-
spricht sich Durkheim Belehrung darüber, welchen Bedingungen sich die gesell-
schaftliche Krise verdankt. Dass sie sich abspielt, ergibt sich zwar aufgrund der
außergewöhnlich hohen Selbstmordrate, deren starkes Abweichen vom langfris-
tigen Mittelmaß verschiedener Länder er als einen Indikator erachtet, da dies mit
der Heiligkeit der Person in Widerspruch steht, nur ist es seine Absicht, auch die
Ursachen der Krise zu entdecken, denn für solche Erkenntnisse ist die bereits
festgestellte Unvereinbarkeit der maßlos vielen Selbstmorde nicht ausreichend.
Dieses Anliegen ist es, das neben dem naturgemäßen Hindernis, die Merkmale
regelmäßiger Selbstmorde an den Suizidanten abzulesen, Durkheim den Anstoß
für ein ätiologisches Vorgehen gibt, bei dem er den Selbstmord anhand von Ähn-
lichkeiten und Unterschieden seiner Ursachen klassifiziert (ebd., S. 154.). Er
konstruiert vier Typen. Der Freitod wird dadurch verschuldet, dass: a) das Indi-
viduum ausschließlich satt an sich und stumpf ist; b) die Selbstlosigkeit eine
tödliche Höchstleistung erreicht; c) die Ruhelosigkeit jegliches ergebnisorientier-
te Handeln verhindert und d) die Aufsicht über die Verhaltensvorgaben jegliche
Initiative ersticken.
Egoistischer Selbstmord: Für den ersten Typus untersucht er Zusammen-
hänge zwischen jeweils Religion, Familie und Politik einerseits und dem Schutz
vor und der Neigung zum Selbstmord andererseits. Durkheim nimmt sich aus
mehreren Selbstmordraten die gesonderten Werte für Angehörige verschiedener
Konfessionen vor, er greift ferner auf alters- und geschlechtsspezifische Daten
für Junggesellen sowie Verheiratete und Verwitwete mit und ohne Kind zurück

105 Durkheim nennt die Steigerung folgender Selbstmordraten: 411% in Preußen zwischen 1826-
1890, 385 % in Frankreich zwischen 1826-1888, 318% in Österreich zwischen 1841-1845 und
1877, 238% in Sachsen zwischen 1841-1875, 212% in Belgien zwischen 1841-1889 und 72%
in Schweden und 35% in Dänemark zwischen 1841 und 1871-1875 (vgl. Durkheim 1973, S.
434).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 197

und endlich verwendet er die Selbstmordwerte, die im Schatten von politischen


Krisen, Revolutionen, Wahlen und Kriegen stehen. Folgende Daten werden ge-
nutzt.
Als erstes die Konfession. Die ungleichen Häufigkeitsverteilungen zwi-
schen Katholiken, Protestanten und Juden entnimmt er jeweils der Selbstmordra-
te von stets einem Land. Datenmengen (ebd., S. 163 ff.) für Bayrische Provin-
zen, Preußen, Schweizer Kantone, Österreich, Baden und Württemberg ergeben
Folgendes: Während Juden meist die geringste Selbstmordanfälligkeit aufwei-
sen, nehmen sich die Protestanten im Vergleich zu den Katholiken in jedem der
genannten Länder ausnahmslos am häufigsten das Leben, und das tun sie auch
dort, wo sie sich in der Minderheit befinden. Obendrein trifft man den Freitod
auf Seiten der Protestanten auch dann am häufigsten an, wenn nicht sie, sondern
Katholiken oder Juden in der Minderheit sind. Nur eine Statistik, und das sind
die Werte im protestantisch dominierten England, lässt erkennen, dass die
Selbstmordanfälligkeit der Protestanten gering ist (ebd., S. 166). Die Werte ver-
anlassen Durkheim, zunächst der Verbindung zu den Konfessionen nachzuge-
hen. Weil die Protestanten in den meisten Statistiken zum Selbstmord an erster
Stelle stehen und weil ihre Werte auch dann höher sind, wenn sie sich in einer
Lage befinden ähnlich derjenigen der europäischen Juden, nämlich von den
nachteiligen Bedingungen des Minderheitenstatus betroffen sind, fragt er sich
zunächst, ob man die Neigung zum Selbstmord auf den Protestantismus an sich
zurückführen kann. Hierfür greift er auf Daten über den protestantischen Klerus
und über die Bildungsbereitschaft zurück.
Im Weiteren berücksichtigt er die Präsenz von Priestern und die Bildungs-
bereitschaft. Für England gilt (ebd., S. 173): Im Vergleich zu den anderen protes-
tantischen Ländern106 weist es den einzigen hierarchisch organisierten und zu-
gleich den größten Klerus auf, denn es sind dort faktisch die meisten Priester
beschäftigt. Außerdem werden in England vielfach religiöse Regelmäßigkeiten
gesetzlich garantiert. Während also der protestantische Klerus in England stark
vertreten ist, ist das auf dem europäischen Festland nicht der Fall.
Die Zustimmung für die Notwendigkeit der Bildung ist, konstatiert Durk-
heim, auf Seiten der Protestanten größer. Folgenden Vergleichen entnimmt er
diese Feststellung (ebd., S. 175 ff.): In Frankreich und Deutschland ist die Bil-
dungsbereitschaft der Bildungserfolgreichen nahezu gleich, während sie bei den
deutschen Bildungsfernen größer ist. Die Beschulung in Frankreich, Österreich,
Ungarn, Spanien und Italien ist gegenüber derjenigen in Sachsen, Norwegen,
Schweden, Baden, Dänemark und Preußen für denselben Zeitabschnitt um 31%
geringer. Ferner weist das katholische Bayern den höchsten Grad an Analphabe-

106 Im Jahr 1876 kommt in England ein Priester auf 908 Gläubige, in Ungarn einer auf 923, in
Holland einer auf 1100, in Dänemark einer auf 1300, in der Schweiz 1 auf 1440 und in
Deutschland 1 auf 1600 (ebd., S. 173).
198 3 Émile Durkheims Welt

tismus und eine niedrige Selbstmordrate auf. Der Analphabetismus der Frauen
ist in Italien, Frankreich, Preußen und England weiter verbreitet als auf Seiten
der Männer. Zugleich bringen sich diese in den jeweiligen Ländern häufiger um
als Frauen. In den italienischen Provinzen und französischen Departments nimmt
man sich dort seltener das Leben, wo der Analphabetismus verbreitet und die
Bildungsbereitschaft gering ist. Betrachtet man die Berufsgruppen, so ist die
Selbstmordanfälligkeit in Frankreich, Italien, Preußen und Bayern unter den Bil-
dungserfolgreichen am höchsten. Umgekehrtes spielt sich auf Seiten der Juden
ab, deren Selbstmordrate im Allgemeinen gering ist, obwohl sie einen hohen
Grad an Bildungsbereitschaft aufweisen.
Die konfessionsbezogenen Daten ergeben zunächst Folgendes: Protestanten
neigen stärker zum Selbstmord als Katholiken und Juden. Die Selbstmordanfäl-
ligkeit der Protestanten ist aber dort gering, wo die Autoritäten der Konfession
stark vertreten sind. Und schließlich zeigt sich an Erhebungen, die die Bildung
betreffen: Der Analphabetismus ist weniger lebensgefährlich als die Bildungsbe-
reitschaft, die auf Seiten der Protestanten besonders hoch ist. Allerdings bilden
die bildungsbereiten und weniger selbstmordgefährdeten Juden eine Ausnahme.
Als zweites die Familie. Sind Männer und Frauen ledig, verheiratet oder
verwitwet und haben sie zudem Nachwuchs in die Welt gesetzt, so neigen sie
mal mehr und mal weniger zum Selbstmord. Das gegenüber dem Junggesellen-
dasein zwar sorgenreichere Leben in Familie und Ehe ist weniger lebensgefähr-
lich. Hierfür sprechen die französischen Selbstmordraten für die Jahre 1848 bis
1857 (ebd., S. 188): Je Millionen Einwohner bringen sich 112 Junggesellen und
69 Verheiratete um. Ähnlich verhält es sich in Italien in den Jahren 1873 bis
1877, wo 121 tote Junggesellen 75 toten Verheirateten gegenüberstehen. Genau-
ere Aussagen generiert Durkheim auf der Grundlage von Daten über Junggesel-
len, Verheiratete und Verwitwete nach Alter und Geschlecht, mit denen er Ver-
gleiche hinsichtlich des Schutzes für eine der Gruppen gegenüber den beiden
anderen Gruppen gleichen Alters vornimmt (ebd., S. 194 ff.). Die Ergebnisse
lauten: a) Frühe Ehen gefährden den Ehemann mehr als die Ehefrau. b) Die
Selbstmordgefahr verringert sich bei Männern und Frauen, die ab dem 20. Le-
bensjahr heiraten. c) Die Selbstmordanfälligkeit von verheirateten Männern und
Frauen ist je nach Gesellschaft unterschiedlich. d) Verwitwete sind geschützter
als Junggesellen und gefährdeter als Verheiratete, nur schlägt auch in diesem
Fall das Pendel je nach Gesellschaft für die beiden Geschlechter unterschiedlich
aus.
Im nächsten Schritt kommen Daten über den Einfluss der Familie zum Ein-
satz. Was sie besagen, ist: Für die Jahre 1887 bis 1891 lässt sich den französi-
schen Selbstmordraten entnehmen, dass verheiratete Frauen einen geringeren
Vorteil vom Schutz der Ehe ziehen als die verheirateten Männer gleichen Alters.
Durkheim folgert daher, dass von der Ehe keine hemmende Wirkung auf die
Selbstmordanfälligkeit ausgeht, und dafür spricht auch der konstante Wert der
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 199

Eheschließungen gegenüber der steigenden Häufigkeit der Selbstmorde (ebd., S.


203). Aus der Statistik ergibt sich darüber hinaus, dass kinderlose Ehepartner
gegenüber den Junggesellen geringer als Ehepartner mit Kindern geschützt sind.
Das gilt auch für Verwitwete mit Kindern, gegenüber denen die Verheirateten
ohne Kind mehr gefährdet sind. Ferner sind verheiratete Frauen ohne Kind ge-
fährdeter als mit Kind. Im Falle des anderen Geschlechts kommt die Gefährdung
der verheirateten wie verwitweten Männern ohne Kind allerdings geringer vor.
Somit schließt Durkheim, dass es nicht die Ehe, sondern die Familie ist, von der
eine mindernde Wirkung auf die Neigung zum Selbstmord ausgeht, wobei der
Mann von der Ehe insgesamt begünstigter ist als die Frau. Der schützende Ein-
fluss der Familie ist überdies an den französischen Departments mit großer Fa-
miliendichte erkennbar, da die Selbstmorde dort seltener vorkommen als umge-
kehrt in denen mit geringer Familiendichte (ebd., S. 222). Insgesamt folgert er
„[…] dass der wesentliche Faktor, für die Immunität der Verheirateten die Fami-
lie ist, das heißt die vollständige Gruppe von Eltern und Kindern“ (ebd., S. 219).
Als drittes die Politik. Sobald es Anlässe gibt, für politische Macht zu strei-
ten oder sich ihr entgegenzusetzen, kommt es zu Schwankungen in der Selbst-
mordrate. Das spielt sich vor allem während der Ereignisse in Europa im Jahr
1848 ab, in deren Folge in Dänemark, Preußen, Bayern und Sachsen bedeutend
weniger Selbstmorde verzeichnet wurden (ebd., S. 225). In Frankreich, und ins-
besondere in Paris und den anderen französischen Städten wirken sich Staats-
streich und Wahlkampf lebenserhaltend aus. Mit Beginn der Kriege zwischen
Österreich und Italien im Jahr 1866 und zwischen Deutschland und Frankreich
im Jahr 1870 fallen die Werte der jeweiligen Selbstmordraten. Es sind, so Durk-
heim, die politischen Oppositionen, zu denen es punktuell kommt und die einen
plötzlichen Schutz vor Selbstmord bewirken.
Bislang stehen folgende Unterstellungen zur Verfügung: Zum einen ist sich
der Protestant an sich eine Gefahr und zum anderen setzt man sich in der Familie
einer geringeren Lebensgefahr aus als in der Ehe, die wiederum in den meisten
Fällen weniger der Ehefrau als dem Ehemann, aber beiden immer noch mehr
Schutz bietet als das Junggesellendasein. 107 Und schließlich: Leidenschaftliche
Abweichungen vom politischen Alltagsgeschäft hemmen die Neigung zum Frei-
tod. Durkheims Schluss wird lauten: Die Selbstmordanfälligkeit steht und fällt
mit der Kraft der Verbindlichkeiten, die Kollektive betreffen. Er konstatiert „Der
Selbstmord steht im umgekehrten Verhältnis zum Integrationsgrad der Kirche,
der Familie und des Staats“ (ebd., S. 231; Herv. im Orig.).
Das Resultat leitet er wie folgt her: Der Integrationsgrad ist hoch, wenn
Verbindlichkeiten geltungsstark sind und er ist schwach, wenn das Individuum

107 Die relative Immunität vor dem Selbstmord auf Seiten derjenigen, die sich den Verpflichtun-
gen der Familie hingeben, lässt sich auch jüngeren Erhebungen entnehmen (vgl. Feldmann
2010, S. 184).
200 3 Émile Durkheims Welt

keine Schwierigkeiten damit hat, in Gedanken über sich selbst zu versinken, statt
seinen Teil an der Geltung von Verhaltenvorgaben beizutragen und sich ihnen
hinzugeben. Nur reicht der Einzelne nicht aus, um Geltungsschwund zu bewir-
ken. Im Einzelnen bedeutet das Folgendes: Die Hypothese über die besondere
Bereitschaft zum Freitod, die sich aus dem Protestantismus an sich ergibt, ver-
wirft er, und zwar nicht nur deswegen, weil der Selbstmord von allen monotheis-
tischen Religionen, also auch von der protestantischen Kirche nicht gebilligt
wird, sondern auch weil die Selbstmordrate dort relativ niedrig ist, wo der Pro-
testantismus besonders stark ist (ebd., S. 167), nämlich in England. Hingegen
geht er zwei anderen Hypothesen nach: Zum einen ist die Bildungsbereitschaft
dann hoch, wenn überlieferte Verbindlichkeiten schwach sind und zum anderen
verlaufen Selbstmordanfälligkeit und Bildungsbereitschaft gleichgerichtet (ebd.,
S. 174). Seine Absicht ist es, eine Verbindung zwischen der Geltung von Verhal-
tensregeln und der Selbstmordrate aufzudecken und somit zu leugnen, dass eine
spezifische Konfessionszugehörigkeit zum Freitod treibt. Einen Zugang hierfür
eröffnet er sich durch das Merkmal, das die beiden großen Konfessionen vonei-
nander trennt. Weil er die besondere Betroffenheit der Protestanten ohnehin aus-
schließlich aus dem statistischen Vergleich zwischen ihnen und den Katholiken
nur innerhalb eines Landes und dem in dieser Hinsicht in verschiedenen Ländern
mehrfach gleichen Ergebnis behaupten kann, geht er von dem aus, was durchge-
hend zwischen ihnen verschieden ist, und das ist: das „freie Nachdenken“ auf
Seiten der Protestanten. Zwar ist in beiden Konfessionen die eigenständige Reli-
giosität gewünscht, nur zeichnet es den Katholizismus aus, dass er über einen
hierarchisch intakten Klerus und ausreichend Amtspersonen verfügt, die den
eigenständigen Glauben leiten. Im Verhältnis dazu sieht sich der Protestant mit
der Aufforderung zur eigenen Auslegung des Glaubens konfrontiert und man
findet ihn häufiger in klerikal unabhängigen Sekten wieder (ebd., S. 169).
Die hohe Selbstmordanfälligkeit der Protestanten führt Durkheim auf die
stärker erlaubte Eigenständigkeit und die dadurch bewirkte Unzulänglichkeit der
konfessionellen Orientierungsvorgaben zurück, nur reicht es nicht aus, den ur-
sächlichen Zusammenhang aus dem Wesen des reformierten Glaubens zu er-
schließen. Anders ausgedrückt: Das freie Nachdenken ist nicht vorschriftsmäßig
bewirkt, d.h. die Aufforderung des Protestantismus genügt hierfür nicht als
Grund. An der empirisch erwiesenen Bildungsbereitschaft der Protestanten, die
sich sogar auf Seiten der einkommensschwachen Konfessionsangehörigen auf-
finden lässt, liest er zwar das hohe Ansehen der Bildung ab, nur liegt das deswe-
gen vor, weil das Ansehen überlieferter Orientierungsvorgaben schwach ist. Ihre
Erschöpfung verschuldet die von Protestanten favorisierte Bildung, was wiede-
rum besagt, dass, so Durkheim, nicht der Protestantismus der Schöpfer des freien
Nachdenkens ist. Die Attraktivität der Entscheidungsfreiheit trägt ebenfalls nicht
die Schuld, d.h. der voraussehbare Effekt des freien Nachdenkens ist nicht sein
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 201

Anlass. Stattdessen verdankt sich die Bildungsbereitschaft der Orientierungsnot.


Durkheim dazu:
„Das Nachdenken entwickelt sich erst dann, wenn es notwendig wird, dass es sich
entwickelt, das heißt, wenn bestimmte, nicht durchdachte Vorstellungen und Gefüh-
le, die bis dahin das Verhalten ausreichend bestimmten, ihre Wirksamkeit verloren
haben. Dann ist es bestrebt, die entstandene Leere auszufüllen, auch wenn es sie
nicht geschaffen hat. So wie es einschläft, wenn Gedanken und Handlungen automa-
tisch und gewohnheitsmäßig ablaufen, so wacht es nur auf, wenn sich vertraute Ge-
wohnheiten auflösen. Es beansprucht sein Recht gegenüber der öffentlichen Mei-
nung nur, wenn diese nicht mehr die gleiche Kraft hat, also nicht mehr gleicherma-
ßen von allen geteilt wird“ (ebd., S. 170).
Es ist also kein planmäßiger Zweifel, der den Geltungsschwund überlieferter
Orientierungsvorgaben bewirkt, denn schließlich ist ihr Ansehen nicht gezielt,
sondern sozial entstanden. Bildungsbereitschaft resultiert hingegen aus dem Ver-
sagen der Vorschriften und daher wird sie sich dort zutragen, wo nichts anderes
übrig bleibt. Die hergebrachten Vorschriften der Religion werden, so Durkheim,
dann an Geltung verlieren, wenn sie sich im Alltag nicht mehr als hilfreich er-
weisen. Ihr Ansehen wird man immer weniger achten, wenn sie den Lebensbe-
dingungen nicht mehr gerecht werden (ebd., S. 174). Missachtet man geltungs-
schwache Vorschriften, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen, ohne also
Misskredit zu fürchten, so geschieht das zugunsten der Rechtmäßigkeit des
freien Nachdenkens, das schließlich, wo es nicht durch die Verteidigung der al-
ten Vorschriften gehindert wird, daran beteiligt ist, die Integrationskraft von Kol-
lektiven zu strapazieren. Für Durkheim hat die Bildungsbereitschaft nicht nur die
Orientierungsnot zur Bedingung, sondern sie macht diese auch größer (ebd., S.
171). Im Gegensatz dazu herrschen ungünstige Bedingungen für die Bildungsbe-
reitschaft vor, wenn die alten Vorschriften dem alltäglichen Leben einen Dienst
erweisen. Ihr Orientierungsangebot wird begrüßt und man lässt sich in seinem
Handeln von ihnen leiten, sofern ihre Geltung stark und somit der Kritik entzo-
gen ist. „Denn wenn eine ganze Gesellschaft bestimmte Ideen teilt, dann gewin-
nen diese daraus eine Autorität, die sie sakrosankt macht und jedem Angriff ent-
zieht“ (ebd., S. 170). Das gilt insbesondere für Konfessionen. Ihre Kraft, Homo-
genität und Zusammenhalt, so Durkheim, unter ihren Angehörigen zu stiften,
misst sich an der Geltungskraft der Glaubensvorstellungen und daher kann man
ihren Zustand an dem Grad der Bildungsbereitschaft der Gläubigen ablesen.
„Der Mensch sucht Bildung und ergibt sich dem Tod, weil die Glaubensgemein-
schaft, der er angehört, ihren Zusammenhang eingebüßt hat. Aber er sucht den Tod
nicht, weil er sich bildet. Es ist nicht einmal Bildung selbst, die den Glauben zer-
stört, sondern das Bedürfnis nach Wissen erwacht erst mit der Auflösung des Glau-
bens. Bildung wird nicht erstrebt, um damit Tradiertes zu stürzen, sondern weil dies
bereits im Fallen ist“ (ebd., S. 183).
202 3 Émile Durkheims Welt

Die statistischen Erhebungen, aus denen die hohe Bildungsbereitschaft der Pro-
testanten hervorgeht, lassen somit erkennen, dass die kollektiv geteilten Glau-
bensvorstellungen schwach ausgebildet sind. Die Orientierungsnot des Protestan-
ten steht in einem Verhältnis mit seiner Bildungsbereitschaft und Durkheim er-
schließt daraus dessen besondere Selbstmordgefährdung. Umgekehrt verhält es
sich in England, wo der protestantische Klerus stärker, die Bildungsbereitschaft
geringer und die Selbstmordrate niedriger als in Sachsen und Preußen ist und wo
wiederum die Werte für Bildung und Selbstmord den berücksichtigten katholi-
schen Ländern am nächsten sind. Anderes spielt sich auch im Fall der Juden ab,
die nicht nur überall geringe Werte in den Selbstmordraten, sondern auch eine
hohe Bildungsbereitschaft aufweisen. Letzteres sollte die Integrationskraft des
Judentums mindern, allerdings ist sie stark, und zwar weil Juden allseits von
Animositäten und Ausgrenzung betroffen sind, was die Dichte des sozialen Han-
delns innerhalb der Konfession verstärkt und somit der Geltung überlieferter
Vorschriften zuträglich ist (ebd., S. 171). Das Judentum ist zwar von Intoleranz
betroffen, nur fördert das die Integration. Anstatt also, dass die einzigartige Be-
nachteiligung die Anfälligkeit dafür verstärkt, sich das Leben zu nehmen,
schwächt sie das Selbstmordrisiko (ebd., S. 181), so dass Durkheim insgesamt
schlussfolgert: Es ist die Integrationskraft, die im umgekehrten Verhältnis zur
Selbstmordanfälligkeit steht.
Sind Verhaltensregeln stark, so herrscht weniger Entscheidungsfreiheit und
man begeht seltener Selbstmord, der aber nicht in ihr seinen Grund hat, sondern
in der geringen Integrationskraft, die aus dem Anstieg der Entscheidungsfreiheit
resultiert. Der Protestantismus an sich führt nicht ohne Umschweife zum
Selbstmord, sondern es ist die schwache Bereitschaft, sich kollektiven Vorstel-
lungen hinzugeben, und sie ist dann gering ausgebildet, wenn es vor allem dem
Individuum überlassen ist, den Glauben auszulegen. Anders verhält es sich im
Falle von Konfessionen mit großer Integrationskraft:
„Der wohltätige Einfluss der Religion ist also nicht auf den besonderen Charakter
der Heilslehre zurückzuführen. Wenn sie den Menschen schützt vor dem Drang der
Selbstzerstörung, dann nicht weil sie ihm mit Argumenten sui generis die Achtung
vor seiner eigenen Person predigt, sondern weil sie eine Gemeinschaft ist. Grund-
pfeiler dieser Gemeinschaft ist die Existenz einer bestimmten Zahl von Dogmen und
Praktiken, die allen Gläubigen gemeinsam, traditionell geworden und damit ver-
pflichtend sind“ (ebd., S. 184).
Wenn Durkheim feststellt, dass es nicht einer besonderen Konfession eigentüm-
lich ist, das Leben zu schützen oder zu gefährden, sondern sich die (konfessio-
nelle) Integrationskraft an sich auf den individuellen Lebenswillen auswirkt,
dann muss dieser Effekt auch von der Familie und der Politik ausgehen. An der
Familie zeigt sich, dass Verantwortung für andere den Einzelnen schützt. Die
Vergleichswerte für Männer und Frauen offenbaren, dass hinsichtlich des Schut-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 203

zes vor Selbstmord beide von einer fruchtbaren Ehe profitieren und selbst als
Witwer oder Witwe jeweils mit Nachwuchs einem geringeren Risiko ausgesetzt
sind, als es Verwitwete ohne Kind oder Unverheiratete sind. Schließlich tritt der
Zusammenhang aus dem umgekehrten Verhältnis von Familiendichte und
Selbstmordanfälligkeit in ein und demselben Department hervor. Wer die Sorge
für eine Familie tragen muss, der ist zwar mehr belastet als jemand im Jungge-
sellendasein, nur schützt diese Last eher, als dass sie den Verzicht auf das eigene
Leben hervorruft (ebd., S. 222). Die Sorglosigkeit ist in dieser Hinsicht lebens-
gefährlicher als die Sorge.
Vor allem aufgrund des ungleich stärkeren Schutzes der Familie im Ver-
gleich zur kinderlosen Ehe folgert Durkheim, dass die Wirksamkeit auf den indi-
viduellen Lebenswillen von der Dichte eines Kollektivs ausgeht. Die Geltungs-
kraft kollektiver Vorstellungen steht in einem Verhältnis zur Anzahl der Ange-
hörigen eines Kollektivs, wobei es dabei zu einem Anstieg der Intensität der so-
zialen Handlungen kommt, die auf das Individuum wirken.108 Von der Dichte
und nicht vom Volumen geht eine Wirkung auf die Geltung aus, denn mit den
sozialen Handlungen untereinander ist der Nachdruck verbunden, der auf und
von kollektiven Vorstellungen und somit auf die bestimmte Integrationskraft
eines Kollektivs wirkt. Das spielt sich im Falle politischer Leidenschaften und
im Besonderen derer, die punktuell ausbrechen, besonders intensiv ab. Ein Er-
eignis politischer Natur führt zu einem unmittelbaren Anstieg der Dichte, und
zwar insbesondere deswegen, weil sie oppositionell bewirkt ist und es mehr als
sonst erforderlich macht, kollektive Vorstellungen vorrangig gegenüber eigenen
Interessen zu behandeln (ebd., S. 231).
Im Ganzen resultiert der egoistische Freitod aus maßlosem Selbstbezug
und, komplementär dazu, laxer Integrationsbereitschaft. Für das Erstgenannte ist
das ein Hindernis, was zwischen Religion, Familie und Politik den gemeinsamen
Nenner bildet. Der Suizidant ist mit sich selbst beschäftigt und nimmt abseits der
eigenen Person wenig wahr, weil „[…] die äußere Welt in nicht anzieht“ (ebd.,
S. 332). Vor allem seine Anerkennung für Verhaltensregeln leidet darunter,
wenn in seinem Denken er selbst privilegiert vorkommt. 109 „Insofern“, schreibt
Durkheim, „ist jede Aktivität altruistisch, denn sie geht vom Ich weg und steckt
die Grenzen weiter als bis zur eigenen Person“ (ebd., S. 321). Orientierungsnot
und Selbstbezug treten also in der folgenden Hinsicht gepaart auf: Orientierung
und somit soziale Ordnung an sich werden nicht rein von Seiten des Individuums
geschöpft, und das wiederum bedeutet, wer die Anerkennung von Orientierungs-
vorgaben der exklusiven Sorge um sich preisgibt, dem geht auch der Ansporn für

108 Zu Durkheims Deutung der Intensität kollektiver Gefühle in der Familie vgl. auch König 1978,
S. 222.
109 In einer Vorlesung äußert er sich wie folgt dazu: „We feel better, and we´re better able to resist
various distractions, when our lives are guided by a powerful motive. This explains the signifi-
cance of moral hygiene for our health“ (Durkheim 2004, S. 287).
204 3 Émile Durkheims Welt

sein Handeln ab und der wird immer weniger dazu in der Lage sein, soziale und
also auch seine Ziele zu erreichen, da sie ihm abhanden kommen. Der Selbstbe-
zug bewirkt dann nicht nur Erfahrungsarmut, sondern diese wird folglich zu des-
sen Gegenstand. Mit anderen Worten: Wer vorrangig über sich selbst nachdenkt,
reduziert seine Handlungserfahrung, die in den Vordergrund seines Nachdenkens
rückt. Wer hingegen den sozialen Drang akzeptiert und sich der sozialen Auf-
sicht aussetzt, den Eigennutz überschreitende Ziele zu befolgen, der hindert sich
dadurch in maßlosen Selbstbezug zu verfallen, dass er mindestens darauf be-
dacht ist, Beanstandungen seines Verhaltens zu vermeiden. Darüber hinaus wird
er es nicht nur leichter haben, alltägliche Anstrengungen zu erfüllen, sondern
aufgrund der moralischen Dichte, an der er beteiligt ist, wird es ihm erspart blei-
ben, im Falle einer Not auf keinerlei Hilfe bauen zu können (ebd., S. 233) oder
außer sich keinen anderen Gegenstand zu haben, auf den er seine Aufmerksam-
keit richten kann (ebd., S. 322).
Durkheim kennzeichnet daher diesen Typus des Selbstmords als egoistisch,
weil für ihn Folgendes gilt: Sinn, der nicht das Physische des Individuums be-
trifft, ist im Ursprung sozial. Der Selbstbezug mindert auf Seiten des Individu-
ums die Geltungskraft der überindividuellen Ziele, was unweigerlich die Sinnlo-
sigkeit des Lebens hervortreten lässt. Werden die Ziele belanglos, bleiben dem
Individuum keine übrig und selbst kann es zwar Ziele erfinden, nur wird es ihnen
keine Geltung verleihen können. Für lebensgefährlich erachtet er aber nicht das
Fehlen dieser Ziele, sondern deren Einbuße, und das erklärt er wie folgt: Zum
„Doppelwesen“ Mensch (ebd., S. 237) gehören auf der einen Seite die Bedürf-
nisse, die sich dem physischen Leben des Individuums zuordnen lassen und de-
nen man sein Handeln widmet. Auf der anderen Seite zählt Durkheim jegliche
Kulturarbeit dazu, genauer:
„Die Funktion von Kunst, Sitte, Religion, politischer Überzeugung und der Wissen-
schaft selbst ist nicht, die Abnutzung der Organe auszugleichen oder ihr gutes Ar-
beiten zu gewährleisten“ (ebd., S. S. 235).
Kulturarbeit leistet der Mensch, wenn er seine Anstrengung nicht hinsichtlich
seiner physischen Belange ausrichtet, d.h. sie verdankt sich nicht den Zwängen
der Natur, sondern er vollbringt sie im Hinblick auf etwas, das sich aus dem So-
zialen speist. Weil sie nicht dem Individuum einen Dienst erweist, bleibt nur
noch das Soziale als ihr Zweck übrig. Überindividuelle Ziele sind demnach sozi-
ale Schöpfungen und sollen das Soziale erhalten. Ihre Befolgung zahlt sich für
das Individuum mit Achtung (ebd., S. 236) und Verbundenheit aus. Vor allem
diese lässt sich nur durch das Handeln für Ziele hervorrufen, die Durkheim der
ersten und nicht der zweiten Seite zuordnet (ebd., S. 235). Anders ausgedrückt:
Es sind die vom Sozialen kreierten Ziele und nicht die mit der individuellen Phy-
sis verbundenen, denen sich Solidarität überhaupt verdankt. Damit sie das Indi-
viduum befolgt, reicht der Lohn nicht aus und die Bereitschaft lässt sich eben-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 205

falls nicht durch physischen Zwang auslösen. Stattdessen beruht die Unterord-
nung auf dem Ansehen des Sozialen. Die schöpfende Instanz der überindividuel-
len Ziele, also das Soziale muss im Denken dessen, der die Orientierungsvorga-
ben einhält, als rechtmäßig gelten. Man ordnet sich den überindividuellen Zielen
unter, sofern man das Prestige der Instanz anerkennt, welche die Ziele erfunden
hat und der sie nützen. Anders kann Durkheim die folgende Frage nicht beant-
worten:
„Wozu alle moralischen Gesetze, diese Rechtsvorschriften, die uns alle möglichen
Opfer auferlegen, diese Dogmen, die uns im Weg sind, wenn es nicht außerhalb des
eigenen Ich ein Wesen gibt, dem sie dienen und mit dem wir uns verbunden fühlen“
(ebd., S. 236).
Mit der Anerkennung einer Instanz, deren Macht man über die eigene stellt, ge-
lingt es, den Eigennutz gegenüber Zielen, die nicht die eigene Person betreffen,
in den Hintergrund zu rücken. Der Sinn dieser Bereitschaft, so Durkheim, ist
ebenfalls das Ansehen der Instanz, denn misst man den Wert der Anstrengung
im Verhältnis zum individuellen Nutzen, so wird sich keine Veranlassung für sie
ergeben, weil sie nur der Instanz nützt. Wer hinter ihr und ihrem Ansehen steht,
ist bereit sich anzustrengen, und das ist insbesondere dann erkennbar, wenn mit
einer Anstrengung nicht einmal ein materieller Nutzen erzielt wird. Sobald man
das Ansehen eines bestimmten Kollektivs nicht mehr als rechtmäßig erachtet,
wird man sich fragen, welchen Sinn die eigene Anstrengung hat. Hört man auf,
das Kollektiv anzuerkennen, so wird man auch die mit ihnen verbundenen Ziele
nicht mehr teilen, und diese Einbuße betrifft die soziale Seite des Doppelwesens.
Ist der soziale Mensch ein Resultat von Handlungszielen, die nicht dessen Erfin-
dung sind, so wird seine soziale Seite beschädigt, wenn er den Erfinder nicht
mehr anerkennt (ebd., S. 237). Auf Seiten des sodann egoistischen Individuums
verschuldet die Einbuße überindividueller Ziele den Selbstbezug, der sich wiede-
rum, Durkheim zufolge, nachteilig auf das Ansehen des Sozialen auswirkt.
Neben dem Selbstbezug machen ihm aber vor allem Entzauberung und ge-
sellschaftliche Krisen zu schaffen, d.h. ist das Individuum davon betroffen, sich
selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens zu machen, so trägt es zwar auf die-
se Weise zur Minderung von Integrationskräften bei, aber der Selbstbezug ist
hierfür nicht ursprünglich verantwortlich. Damit die Integrationskräfte der Kol-
lektive geschwächt werden, reicht der Egoismus nicht aus. Weitaus folgeschwe-
rer wirkt sich in dieser Hinsicht, so Durkheim, die Modernisierung der Wissen-
schaft aus (ebd., S. 325). Er bemerkt hierzu: Seitdem die Wissenschaft von der
Idee angetrieben ist, dass es nichts mehr gibt, dessen Geltung übernatürlich und
durchweg gefestigt ist, wird das Zweifeln gefördert. Bedrohlich ist die Moderni-
sierung der Wissenschaft insbesondere deswegen, weil sie zum einen alles in
Zweifel zieht, zum anderen aber nicht in der Lage ist, Kausalzusammenhänge für
die Dinge anzugeben, deren Kausalität man sich einst verbat. In modernen Ge-
206 3 Émile Durkheims Welt

sellschaften steht der Egoismus also im Schatten der Entzauberung. Er breitet


sich aber dann aus, wenn es das Soziale ist, das die Integrationskräfte der Kol-
lektive schwächt, in der Krise also. Durkheim nennt das eine „kollektive Asthe-
nie“ (ebd., S. 238). In diesem Fall hat die Geltungsminderung soziale Geltung.
Der Egoismus drängt sich dem Einzelnen sozial auf. „Denn die Individuen sind
viel zu sehr in die Gesellschaft verstrickt, als dass sie krank und sie gesund sein
könnten“ (ebd.). Der Misskredit für den Egoisten reduziert sich, was Auswir-
kungen auf überindividuelle Ziele im Allgemeinen hat, ihre Verbindlichkeit wird
nämlich schwach. Was dem ersten Typus des Selbstmords wesentlich ist, wird in
der gesellschaftlichen Krise besonders deutlich: Der egoistische Selbstmord ist
das Negativ der Integration.
Altruistischer Selbstmord: Für den zweiten Typus ist die maßlose Befol-
gung von Verhaltensregeln wesentlich. Durkheim geht erstens der Bereitschaft
zum Selbstmord in Gesellschaften nach, in denen die mechanische Solidarität
dominiert. Zweitens untersucht er die Selbstmordraten der Soldaten in modernen
Gesellschaften. Zum Einsatz kommen weniger quantitative Daten als zuvor und
mehr Dokumentationen und Untersuchungen anderer. Ihm erweisen Quellen
einen Dienst, zu denen aus der Antike überlieferte Briefe, Berichte und Zeugnis-
se, historische, ethnologische und anthropologische Studien, das Gesetzbuch des
Manu und Reiseberichte gehören. Statistische Daten helfen ihm nur im Falle der
Soldatenselbstmorde.
Zur Lebensgefahr durch Altruismus in segmentären Gesellschaften. Durk-
heim erwähnt (ebd., S. 243 ff.) Goten und Kelten, die im Greisenalter den Frei-
tod wählen, bevor sie von Krankheit und Schwäche betroffen sein werden. Es
liegen ihm hierfür Berichte über ritualisierte Selbstmorde alternder Männer vor.
Im Land der Bengalen sind Frauen angehalten, sich im Todesfall ihrer Ehemän-
ner das Leben zu nehmen. Gleiches hat man im Fall der unmittelbaren Unterge-
ordneten von Königen in Westafrika und Hawaii aufzeichnen können. Auch sie
nahmen sich nach dem Tod des Oberhaupts das Leben. Er greift ferner auf Rei-
seberichte aus Polynesien, Asien und Nordamerika zurück, denen zufolge der
Selbstmord zwar kein Gebot ist, aber nicht selten dann verübt wird, wenn Ent-
täuschung, Beleidigung oder Eifersucht erlebt werden. Anderes spielt sich beim
indischen Jainismus ab, in dessen Lehre der Selbstmord als religiöse Übung vor-
gesehen ist.
Mit den genannten Fällen veranschaulicht Durkheim, dass der Suizid nicht
nur keine Ablehnung hervorruft, sondern unter bestimmten Bedingung entweder
als Handlungsoption zur Wahl steht oder den Menschen keine andere Wahl
bleibt, als ihn zu verüben.
Zum Altruismus der Soldaten. Anhand von zahlreichen Vergleichswerten,
die er aus unterschiedlichen Statistiken gewinnt, schließt er darauf, dass sich die
Tat der soldatischen Suizidanten auf Ursachen zurückführen lässt, die sich von
denen anderer, aber zur gleichen Zeit dokumentierter Selbstmörder im Kern ab-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 207

weichend verhalten. Im Einzelnen: Die Selbstmordraten in acht von neuen Län-


dern weisen im Vergleich der Zivilbevölkerung mit den Soldaten eines Alters
eine höhere Anfälligkeit auf Seiten der Letzteren auf, während sich in einem
Land keine Unterschiede zeigen (ebd., S. 256). Ebenfalls steht fest: Gegenüber
unverheirateten männlichen Zivilisten bringen sich Soldaten gleichen Alters häu-
figer um und im Vergleich von Unteroffizieren mit gleichaltrigen Junggesellen
ist das Risiko noch höher für die Ersteren. Die Daten geben sogar her, dass die
Selbstmordrate der Soldaten einerseits in den Ländern besonders hoch ist, wo die
Selbstmorde in der Zivilbevölkerung selten vorkommen und sie andererseits in
den Ländern niedrig ist, wo sich Zivilisten häufig das Leben nehmen (ebd., S.
264). Wo sich darüber hinaus die Selbstmorde in der Zivilbevölkerung, über eine
längere Zeit betrachtet, sukzessive mehren, da nehmen sie im gleichen Zeitraum
in der Armee ab. Schließlich bringen sich die Angehörigen von Spezialtruppen
weitaus häufiger um, als es Pioniere, Schreiber oder Sanitäter der gleichen Ar-
mee tun. Für Frankreich geht aus dem Vergleich zwischen Soldaten und Unterof-
fizieren auf der einen Seite und Unverheirateten auf der anderen Seite hervor,
dass diese weniger gefährdet sind. In der Französischen und Englischen Armee
steigen die Selbstmorde mit der Dienstzeit und vor allem mit der im Ausland
verbrachten Dienstzeit an. Innerhalb der Armee bringen sich Unteroffiziere häu-
figer um als Offiziere. Das gilt für Preußen, Italien und Österreich (ebd., S. 262).
Und: Im Vergleich zu freiwillig Dienenden schneiden Berufssoldaten hinsicht-
lich der Selbstmordanfälligkeit besser ab.
Für den zweiten Selbstmordtypus stehen Durkheim Zusammenhänge zur
Verfügung, mit denen er unterstellen kann, dass er von Ursachen verschuldet
wird, die von denen des egoistischen Selbstmords grundverschieden sind. Darauf
wird er nicht zuletzt deswegen stoßen können, weil sich die ausgewählten Ver-
gleichswerte zu den Werten für Soldaten in der Selbstmordrate ein und desselben
Landes umgekehrt verhalten. Die zuerst skizzierten Vorfälle verraten aber mehr
über die besonderen Ursachen des altruistischen Selbstmords als die soldatischen
Suizidanten.
In segmentären Gesellschaften kommt der Selbstmord nicht selten dann vor,
wenn der natürliche Tod durch Krankheit und Schwäche einmütig als Schande
erachtet wird. Der Freitod steht zur Auswahl, damit eine radikale Minderung des
individuellen Ansehens antizipiert werden kann. Wer aufgrund einer altersbe-
dingten Krankheit den Tod gewärtigt, der kann damit rechnen, dass ihm keine
Ehrung zuteil wird, nachdem sie ihn umgebracht hat. Hingegen haben Suizidan-
ten nicht zu befürchten, Missbilligung durch ihre Tat zu verursachen. „Sie sind
der Meinung, den Tod zu erwarten, sei die größte Schande des Lebens“ (ebd., S.
243). Der Selbstmord soll nicht den schmerzhaften Symptomen einer Krankheit
zuvorkommen, sondern die Verschmähung ihretwegen verhindern. Diesem Fall
lässt sich der Tod der Witwen und königlichen Gefolgsleute insofern anschlie-
ßen, als sie wie die Alten dem wesentlichen Merkmal des zweiten Typus, näm-
208 3 Émile Durkheims Welt

lich der Pflicht zum Selbstmord ausgesetzt sind. Andernfalls drohen Missbilli-
gung oder Strafen. Das wird derjenige, der vor aller Welt von Eifersucht, Betrug
oder Niederlage betroffen ist, zwar nicht erwarten, zur Rettung seines Ansehens
kann er sich aber entscheiden, so wie die vorschriftsmäßigen Selbstmörder zu
verfahren (ebd., S. 249).
Durkheim differenziert den zweiten Typus, für den er die Begriffe obligato-
risch altruistischer Selbstmord einerseits und fakultativ altruistischer Selbstmord
andererseits bereithält (ebd., S. 248 f.). Während jener von denen verübt wird,
die keinerlei Zweifel an der strengen Pflicht zur Tat haben und es nicht zur Dis-
position steht, den Folgen der unterlassenen Pflichterfüllung aus dem Weg zu
gehen, wird dieser Selbstmord zwar im Falle einer Schande ausgeführt, mit der
aber die Tat nicht zwingend verbunden ist. Der freigestellte Selbstmord ermög-
licht also, die Auswirkungen einer Schande auf das individuelle Ansehen zu re-
vidieren oder zu lindern, ihm ist wiederum innewohnend, dass der mindestens
„Diskreditierbare“ (Goffman 1975, S. 56) mit der Minderung des Ansehens le-
ben muss, sofern er sich nicht das Leben nimmt. Der Unterschied beruht, so
Durkheim, auf dem Grad der Erwartung. In beiden Fällen sind die sozialen Be-
dingungen für ehrenvolles Ansehen im Denken der Suizidanten präsent. Aller-
dings ist nicht die Ehre das Wesentliche des altruistischen Selbstmords, sondern
die tatsächliche Opferung des eigenen Lebens für überindividuelle Ziele. Das
wird im Besonderen beim Freitod erkennbar, der wie im Jainismus als religiöse
Übung begangen wird. Was sich in diesem Fall abspielt, ist, so Durkheim, „[…]
Altruismus in reinster Form“ (Durkheim 1973, S. 252). Er nennt dies den über-
spitzten altruistischen Selbstmord,110 weil sich mit ihm offenbart, dass sogar das
eigene Leben der Geltung überindividueller Ziele untergeordnet wird.
Der soldatische Altruismus eröffnet schließlich den Kontrast, der zum
Selbstmord im Schatten der Sinnlosigkeit besteht, denn für die Armee ist es er-
forderlich, dass die Individualität gering ausgebildet ist, während die Bereit-
schaft zu Selbstverzicht und Befolgung von überindividuellen Zielen besonders
vonnöten ist. Ohne Tatkraft und Pflichterfüllung kommt eine Armee nicht aus,
was folglich heißt, „[…] dass die soldatische Laufbahn eine moralische Haltung
entstehen läst, die den Menschen eher dazu bereit macht, sich seines Lebens zu
entäußern“ (ebd., S. 270). Wenn man also eine Sache im Leben des Soldaten
nicht vermissen kann, dann sind das Sinnvorgaben, die ihn davon entlasten, ei-
genständig auf die Suche nach Sinn zu gehen. Für den Militärgeist ist der Altru-
ismus notwendig. Durkheims Vergleiche anhand der quantitativen Daten erge-
ben vor diesem Hintergrund das Folgende: Die höhere Selbstmordrate auf Seiten

110 Zum überspitzt altruistischen Selbstmord gehört der Opfertod, bei dem Suizidanten den Ur-
sprungsmythus ihrer religiösen Gruppe zum Anlass nehmen, um mit ihrer Tat die Rückkehr
zum Ursprung einzuleiten, so dass sich in deren Horizont der Tod nicht als Ausscheiden aus
dem Leben abspielt (vgl. Nassehi/Weber 1989, S. 263).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 209

der Soldaten gegenüber den gleichaltrigen Junggesellen eines Landes, deren


Selbstmordanfälligkeit ebenfalls nicht gering ist, spricht dafür, dass der soldati-
sche Selbstmord von Ursachen anderer Natur verschuldet wird, da die für den
Junggesellen typischen Faktoren des egoistischen Selbstmords dem Soldatenle-
ben weitgehend fremd sind. Wiederum: Die höhere Selbstmordanfälligkeit der
Unteroffiziere und hauptamtlich dienenden Soldaten gegenüber den einfachen
Soldaten sowie die Vergrößerung der Lebensgefahr mit dem Anstieg der Dienst-
zeit und besonders der Dienstzeit im Ausland deutet Durkheim im Hinblick da-
rauf, die Unterstellung zu widerlegen, der zufolge die körperliche Belastung aus-
schlaggebend für den Freitod sei. Weil Unteroffiziere weniger aushalten müssen
und die Belastung mit der dienstzeitbedingten Reife abnimmt, kann dies kein
Faktor des Selbstmords sein. Im Gegensatz dazu wirkt sich die besondere Identi-
fikation der Berufssoldaten mit dem Militärgeist, so Durkheim, auf die Selbstm-
ordneigung aus. Aus den Zahlen geht hervor, dass besonders diejenigen Soldaten
vom Freitod bedroht sind, die am stärksten für den Beruf leben.
„[…] der Soldat richtet sein Verhalten nach Maximen, die außerhalb seines Ich lie-
gen, und das ist der charakteristische Zug des Altruismus. Das Militär ist im Übrigen
unter allen Gruppen, die unsere moderne Gesellschaft bilden, der Struktur nach den
primitiven Gesellschaften am ähnlichsten. Es besteht gleichfalls aus einer massiven,
fest gefügten Einheit, in die das Individuum eingezwängt und an der Entfaltung ei-
nes ihm gemäßen Eigenlebens gehindert wird. Da aber diese soziale Verfassung der
beste Nährboden des altruistischen Selbstmordes ist, haben wir allen Grund zu der
Annahme, dass der Selbstmord von Soldaten hierzu gerechnet werden muss und auf
dem gleichen Ursprung beruht“ (ebd., S. 263).
Soldatischen Altruismus trifft man somit vor allem bei denen an, die länger die-
nen und sich aus freien Stücken für das Militär entscheiden und schließlich sind
sie es, die am stärksten dem Selbstmord zugeneigt sind. Dieser Zusammenhang
geht aus einem weiteren Verhältnis hervor. Die Selbstmordrate der Soldaten ist
in den Ländern hoch, in denen die allgemeine Selbstmordrate niedrig ist. Was in
diesen Ländern das Leben erhält, kann, wenn es, so Durkheim, maßlos wird, den
Selbstmord verursachen, d.h. wo die Kollektivvorstellungen stark sind und somit
die Faktoren des isolierten Individuums schwach ausgebildet sind, da gibt es
zwar Hindernisse für den egoistischen Selbstmord, dort wird sich aber der ver-
herrschende Solidaritätstypus auf den Grad des Altruismus auswirken, der beim
Militär herrscht (ebd., S. 266). Sind also Kollektivvorstellungen in der Zivilbe-
völkerung stark, so ist es auch der soldatische Altruismus. Umgekehrtes ist in
den Ländern feststellbar, in denen die Selbstmordrate in der Zivilbevölkerung
zunimmt und die der gleichaltrigen Soldaten überholt. Der soziale Zustand in
dieser Umgebung des Militärs ist durch den Altruismus beeinflusst, den der Ego-
ismus schwächt. Das Individuum ist dann weniger vor der lebensgefährlichen
Sinnlosigkeit behütet.
210 3 Émile Durkheims Welt

Durkheim wählt den Soldatenselbstmord nicht nur deswegen aus, weil er in


den Statistiken zahlreicher Länder ausführlich dokumentiert ist, sondern weil er
dem Typus des Selbstmords am nächsten kommt, den man in modernen Gesell-
schaften am seltensten antrifft. Im Soldatenleben hat sich die Orientierung an der
Ehre erhalten, während sie in der übrigen sozialen Umgebung von geringerem
Wert ist und daher kommt vor allem der fakultativ altruistische Selbstmord der
Soldaten aufgrund von Ehrverletzungen vor, auch wenn er in der Zivilbevölke-
rung seltener wird.
Der altruistische Selbstmörder legt also Hand an sich, weil es sozial geboten
ist. Das kann jedoch nur der Fall sein, wenn der Wert des Individuums niedrig
ist. Es muss wenig zählen, damit eine Pflicht, die den Selbstmord vorsieht, über-
haupt möglich ist. Ist die individuelle Einzigartigkeit nicht erforderlich, so steigt
der Wert des Individuums nicht an, das somit eins ist mit dem Kollektiv, d.h.
dessen Orientierungsvorgaben sind besonders geltungsstark (ebd., S. 247). Der
Kult des Individuums ist weitestgehend fremd. Das Handeln ist vorwiegend alt-
ruistisch, weil überindividuelle Ziele resistent gegen Zweifel sind. Der Egoismus
bedroht sie nicht, so dass das Individuum, wo der Freitod befohlen wird, die Be-
reitschaft zeigt, sich ihnen zuliebe das Leben zu nehmen. Anders als im Fall des
egoistischen Selbstmords ist nicht der Geltungsverlust der Orientierungsvorga-
ben ausschlaggebend, sondern deren maßlose Geltung wirkt sich tödlich aus.
Während Antriebslosigkeit und Desorientierung den Egoisten plagen, zeichnet
sich der Altruist durch Engagement und Tatkraft für Ziele aus, deren Erfinder er
nicht ist (ebd., S. 325). Beim Typus des altruistischen Selbstmords, der sich, so
Durkheim, nur in vormodernen Gesellschaften nahezu rein abspielt (ebd., S.
271), kommt eine rationale Kalkulation vor, die nur möglich ist, wenn der Be-
troffene die Geltung überindividueller Ziele anerkennt, denn mit ihnen rechnet
er, wenn er sich für die Tat entschließt. Das Ansehen der eigenen Person, für
dessen Verteidigung man sein Leben zu opfern bereit ist, steht in einer notwen-
digen Verbindung mit überindividuellen Zielen. Anders ausgedrückt: Für deren
Befolgung kann man sich einer Prämie sicher sein, ohne die sich das Ansehen
nicht ausbilden kann. Der eigene Tod wird zur Ehrensache. Durkheim dazu: „In
der Ordnung des Lebens ist nichts gut, was maßlos ist“ (ebd., S. 242).
Anomischer Selbstmord: Für den dritten Typus sind Störungen von Verhal-
tensregeln wesentlich. Plötzliche Einschnitte, die sie treffen, machen sich in der
Selbstmordrate bemerkbar. Durkheim verlässt sich wieder ausschließlich auf
statistische Daten, mit denen er erstens den Einfluss wirtschaftlicher Notlagen
und Prosperität, zweitens die in bestimmten Berufsgruppen erkennbaren Häufig-
keit des Selbstmords und drittens die Folgen der Scheidung für Mann und Frau
untersucht.
Zu den Wandlungen der Wirtschaft. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts
kommt es in Wien, Frankfurt und Paris zu Finanzkrisen (ebd., S. 273 f.) und
während sie anhalten, erfolgt ein lokaler Anstieg der Werte in den Selbstmordra-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 211

ten von jeweils 51%, 45% und 59%. Die Daten zeigen, dass der Anstieg zügig
vonstatten geht und gleichfalls schnell vergeht. Die Einflüsse auf die Selbstmor-
de sind nicht anders, wenn sich die Wirtschaft in einem unerwarteten und ra-
schen Hoch befindet. Ein Anstieg der Selbstmordrate begleitet den plötzlichen
wirtschaftlichen Aufschwung in Preußen, Italien und Frankreich um bis zu 90%.
Durkheim ergänzt die Verhältnisse zwischen der Selbstmordrate und Krisen ei-
nerseits und Wohlstand andererseits mit Zahlen, die Berufsgruppen betreffen
(ebd., S. 295). In den Ländern Frankreich, Schweiz, Italien, Preußen, Bayern,
Belgien, Württemberg und Sachsen gehören die Selbstmörder vorwiegend den
Berufen aus Handel und Industrie an. Meist sind es Arbeitgeber, die sich in man-
chen Ländern sogar häufiger das Leben nehmen als diejenigen, die in freien Be-
rufen tätig sind. Tote Landwirte sind seltener.
Zu den Ehescheidungen. Durkheim fällt ein Parallelismus zwischen der
Scheidungs- und Selbstmordrate auf, der in vielen Ländern Europas auftritt. Ge-
nauer (ebd., S. 297 ff.): Seltene, mittel häufige und zahlreiche Scheidungen wer-
den von ähnlichen Werten in der Selbstmordrate begleitet. In Preußen, Sachsen,
Baden und Württemberg bringen sich außerdem mehr Geschiedene um, als es
jeweils Junggesellen, Verheiratete oder Verwitwete tun. Wo man ferner wenig
Tote unter den Verheirateten zu beklagen hat, da trifft das auch für die Verwit-
weten zu. Schließlich bringen sich die Verheirateten derjenigen Länder seltener
um, in denen die Scheidungsrate niedrig ist und umgekehrt ist die Zahl der toten
Eheleute dort hoch, wo Scheidungen üblich sind. Der Erhaltungskoeffizient der
Verheirateten gegenüber den Unverheirateten ist insgesamt dort niedrig, wo die
Scheidungsrate hoch ist. Die Gefährdung unterscheidet sich im Übrigen je nach
Geschlecht. Wo die Scheidungsrate hoch ist, da ist die Selbstmordanfälligkeit
unter Männern höher als unter Frauen. Hingegen sind diese eher dort gefährdet,
wo Scheidungen selten sind. Länder mit vielen Scheidungen sind also lebensge-
fährlich.
Der dritte Selbstmordtypus beruht auf Faktoren, die, so Durkheim, denen
des egoistischen Selbstmords dahingehend gleichen, dass sie charakteristisch
sind für moderne Gesellschaften (ebd., S. 442). Was aber die beiden Typen von-
einander unterscheidet, ist die Bereitschaft zur Aktivität, denn im Fall des Egois-
ten wirken Sinnverlust und Antriebslosigkeit gegenseitig aufeinander ein, wäh-
rend Anomie ein Resultat ist, für das Orientierungslosigkeit zwar verantwortlich
ist, ohne dass sie aber die Tatkraft des Individuums negiert.111 Folgenschwere
Änderungen, die ein ganzes Land betreffen, deutet Durkheim ebenso wie den
Parallelismus der Scheidungen und Selbstmorde folgendermaßen, um den ano-
mischen Selbstmord zu erklären.

111 Zur Abhängigkeit der subjektiven Erfahrungsordnung von objektiven, sozialen Sinnzusam-
menhängen und der Entstehung von Anomie vgl. auch Peter Berger 1988, S. 22.
212 3 Émile Durkheims Welt

Wirtschaftskrisen tragen zwar zu einem kurzzeitigen Anstieg der Selbst-


morde bei, nur erklärt sich dies nicht durch die plötzlich anschwellenden Sorgen
um den zu verantwortenden Haushalt. Wenn nämlich die unerwartete Last des
Lebens den Lebenswillen beeinträchtigt, dann ließen sich nicht ähnliche Effekte
auf die Selbstmordrate verzeichnen, die eine überraschende Wirtschaftskonjunk-
tur auslöst. Für die Unabhängigkeit des Lebenswillens vom Sorgenreichtum
sprechen nicht nur die durch Krise und Prosperität verschuldeten Abweichungen
in den Werten der Selbstmordrate, sondern das geht auch aus den dauerhaft nied-
rigen Selbstmordraten der Länder (ebd., S. 278) hervor, in denen die Menschen
seit mehreren Generationen in Armut leben. Durkheim schließt daher, dass es
der unangemeldete Einschnitt ist. Für dessen Wirkung auf die Selbstmordanfäl-
ligkeit liefert er eine Erklärung, die er auch für die toten Geschiedenen anwen-
det.
Der Parallelismus zwischen Scheidung und Selbstmord zeigt Folgendes:
Der Wert der Ehe ist, ihm zufolge, zunächst in den Ländern niedrig, in denen die
Scheidung häufig vorkommt. Deren Ansehen wirkt sich somit auf die Ehe im
Allgemeinen aus (ebd., S. 312). Sie schützt die Eheleute schließlich weniger vor
dem Selbstmord, als ihr das in Ländern mit niedriger Scheidungsrate gelingt,
denn wo man sich häufig scheidet, nehmen sich nicht nur Geschiedene, sondern
auch Verheiratete öfter das Leben. Das geringe Ansehen der Ehe beeinträchtigt
folglich ihre sonst eigentümliche Wirkung, und das ist die Verhaltensregulierung
der Eheleute. In der Regel schafft es die Ehe, das Gefühls- und Triebleben zu
begrenzen, in dem sie beides auf eine Person kanalisiert. Dem Junggesellen sind
im Vergleich zu den Eheleuten weniger Schranken auferlegt, d.h. sie sind ihm
gegenüber in höherem Maß diszipliniert. Anders als der Junggeselle sind sie also
geschützt davor, erlebtes Vergnügen mit unerschöpflich Vielen wiederholen zu
wollen, wohingegen ihn die Unersättlichkeit gefährdet. Gegen die disziplinieren-
de Kraft der Ehe auf das ausschweifende Triebgeschehen wirkt die Scheidung
insofern beeinträchtigend, als das Ansehen der Ersteren dadurch geschwächt
wird, dass die Eheleute den Entschluss zur Scheidung treffen, ohne sich diskredi-
tierender Kritik und Anfeindungen auszusetzen. Die zunehmende Akzeptanz für
die Scheidung setzt der Ehe zu (ebd., S. 315). Die Schwächung der ehelichen
Regulierung wirkt sich daher für Durkheim auf die Selbstmordanfälligkeit der
Geschiedenen einerseits und der Verheirateten in Ländern mit hoher Scheidungs-
rate andererseits aus, weil sich für beide die Orientierungsvorgaben trotz ihrer
anhaltenden Aktivität erschöpfen.112

112 In dem hinsichtlich der Bedingungen von Anomie hergestellten Zusammenhang zwischen der
regulierenden Funktion der Ehe und dem enthemmenden Effekt der Scheidung sieht Edward
A. Tiryakian die von Durkheim aufgedeckte problematische Natur der Sexualität, die auf der
einen Seite für die Reproduktion von Gesellschaft erforderlich ist und von der auf der anderen
Seite eine Gefahr für die soziale Ordnung ausgeht (vgl. Tiryakian 2009, S. 221).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 213

„Daher bilden die Selbstmorde von Ehemännern, die in Ländern mit hoher Schei-
dungsziffer die Zahl der Selbstmorde ansteigen lassen, eine Variante des anomi-
schen Selbstmordes. Sie geschehen nicht deswegen, weil es in diesen oder jenen Ge-
sellschaften mehr schlechte Ehemänner oder mehr schlechte Ehefrauen gibt und da-
rum mehr unglückliche Ehen. Sie entstammen einer moralischen Verfassung sui ge-
neris, deren Ursache ihrerseits wieder ein Nachlassen der ehelichen Normen ist“
(ebd., S. 314).
Der unangemeldete Einschnitt in die Geltung von Verhaltensregeln wirkt sich
gleichgerichtet auf die Selbstmordanfälligkeit aus: Der Verlust von Beschrän-
kungen belastet die Sinnhaftigkeit der Tatkraft. Wenn es zu unverhofften Krisen
und Reichtum kommt, ist das nicht anders. Insbesondere der Abbau von Regulie-
rungen für das Wirtschaftsleben, die dem Wohlstand untergeordnet werden, hat
anomische Effekte und die Ruhelosigkeit des ungebremsten Handelns in der
Wirtschaft gewinnt an sozialer Geltung.113 Die Tatkraft ist in der modernen
Wirtschaft immer weniger limitiert, was, so Durkheim, im Falle von einschnei-
denden Unregelmäßigkeiten die Orientierungslosigkeit verstärkt. Dies macht er
für die verzeichnete Vermehrung der Selbstmorde während wirtschaftlicher Un-
regelmäßigkeiten geltend.
Anders als beim egoistischen Selbstmörder bringt es die Orientierungslo-
sigkeit nicht mit sich, dass dem Suizidanten durch seine phlegmatische Verfas-
sung nichts außer sich selbst übrig bleibt. Der anomische Selbstmörder ist hinge-
gen tatkräftig, nur ist er davon betroffen, dass die Ziele seiner nimmermüden
Emsigkeit immerfort austauschbar sind. Die Unersättlichkeit hat anomische Ef-
fekte, und zwar aus folgenden Gründen: Das Individuum kann nicht allein und
von sich aus für die eigene Zufriedenheit sorgen und die Gründe für Zufrieden-
heit, die es überschreiten, muss man berücksichtigen, wenn man der Anomie
nachgeht. Durkheim wird es erst dann möglich sein, die Bedingungen der Ano-
mie offen zu legen, wenn er zuvor erklärt, unter welchen Bedingungen das Indi-
viduum durch seine Tatkraft zur Zufriedenheit gelangt. Das Ergebnis wird lau-
ten: Ist es zufrieden, so ist die Integration nicht gefährdet. An ein wirtschaftli-
ches Hoch oder eine Scheidung auf der einen Seite und an eine wirtschaftliche
Krise auf der anderen Seite schließen sich plötzlicher Reichtum oder Enthem-
mung des Trieblebens oder ein Mehr an Entbehrungen an, was sich aber trotz der
Gegensätzlichkeit dieser Folgen jeweils nachteilig auf die Zufriedenheit und, den
Daten der Selbstmordraten zufolge, auf den Lebenswillen auswirkt. Das lässt
erkennen, dass die Sorglosigkeit weder Zufriedenheit schafft, noch das Leben
erhält.

113 Passend dazu Robert K. Merton: „Bei derart fließenden Standards [nämlich das unbestimmte
Maß des finanziellen Erfolgs; C.A.] gibt es keinen festen Ruhepunkt bzw. liegt dieser Punkt
eben immer `eine Nasenlänge voraus´“ (Merton 1995, S. 132).
214 3 Émile Durkheims Welt

Der anomische Selbstmörder ist von seiner Tatkraft belastet, die er keiner
Sinnhaftigkeit unterordnet. Die Tatkraft wird zur Beschwerde, wenn das Indivi-
duum keine festen Ziele hat, auf die es sie kanalisieren kann. Wie dem Egoisten
steht ihm nichts außer sich selbst zur Verfügung, auf das er rekurrieren kann,
wenn er der eigenen Tatkraft ein Ende setzen will. Der Egoist leidet aber darun-
ter, dass ihn die fehlende Orientierung daran hindert, sich überhaupt zu mobili-
sieren. Ist es hingegen nicht möglich, die lebendige Tatkraft auf Ziele zu kanali-
sieren, so ist sie unbegrenzt. Die fehlende Regulierung schafft Anomie. Folglich
wird sich das Individuum zu Handlungen hinreißen lassen, ohne auf die dafür
erforderlichen Mittel zurückgreifen zu können und ihm wird die Erfahrung ab-
gehen, ein Ziel erreicht zu haben (ebd., S. 278). Ziele werden andauernd ersetzt
und somit kontinuierlich nivelliert. Wem die festen Ziele für seine Handlungsbe-
reitschaft fehlen, der ist langfristig aktiv, kann sich aber hierfür keinen Sinn ver-
gegenwärtigen und ihm fehlt es, in die eigene Vergangenheit zu schauen, mit der
er sich einen erzielten Erfolg vor Augen führen kann. Schließlich fehlt ihm das,
auf dessen Grundlage er das eigene Ansehen aufbessern kann. Ruhelosigkeit
begleitet die Tatkraft. „Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekann-
ten Genüssen, nach Freuden ohne Namen, die aber sofort ihren Geschmack ver-
lieren, sobald man sie kennen lernt“ (ebd., S. 293). Also: Fehlen Grenzen für die
Tatkraft, so ist weder die Schätzung der zu investierenden Mittel noch ein Er-
folgserlebnis möglich. Die nicht aufzulösenden Unterschiede zwischen den
Menschen sorgen aber für die notwendige Begrenzung.
Zunächst bemerkt Durkheim, dass dem Menschen die Grenzen seiner Tat-
kraft nicht angelegt sind. Außerdem richtet er sie nicht nur im Hinblick auf das
physische Überleben aus, sondern sie nützt auch für Anliegen, die diesem ge-
genüber zwar redundant sind, aber für den Menschen allmählich unverzichtbar
werden, und das ist der mit der Zivilisation entstehende Komfort. Weil die Gren-
zen also nicht bereits im Menschen gesetzt sind und die mit der Zivilisation ent-
standenen Anliegen nicht beständig sind, sondern ständig überarbeitet werden,
lehnt er es ab, universelle Grenzen aufzufinden (ebd., S. 280). Schließlich variie-
ren die Anliegen entsprechend den Unterschieden in der Sozialstruktur, nur ist es
sie, die zur Begrenzung der Tatkraft beiträgt. Die grenzensetzende Instanz ist,
weil sich der Einzelne eigenständig nicht begrenzen kann und an sich nicht über
Grenzen verfügt, das Soziale. „Für den Menschen allein ist charakteristisch, dass
die Beschränkungen, die ihm auferlegt werden, nicht physisch, sondern mora-
lisch, das heißt sozial sind“ (ebd., S. 287). Zuvor schreibt er:
„Nur die Gesellschaft ist in der Lage, diese mäßigende Rolle zu spielen, sei es direkt
und als Ganzheit oder vermittels eines ihrer Organe. Denn sie ist die einzige dem
Einzelnen übergeordnete moralische Kraft, deren Überordnung er auch anerkennt“
(ebd., S. 282).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 215

Nur wenn die grenzensetzende Instanz anerkannt wird, lässt man die Beschrän-
kung der Tatkraft zu.114 Soziale Grenzen können also das dauerhafte Ausbleiben
von Handlungserfolgen verhindern und die Untauglichkeit auf Seiten des Indivi-
duums zur Erfindung von Grenzen wettmachen. Das Soziale macht es möglich,
das Individuum vor dauerhafter Unzufriedenheit zu bewahren. Die von ihm ge-
setzten Grenzen gelten aber nicht einheitlich für alle.
„Es gibt keine Gesellschaft, in der die Einzelnen“, schreibt er, „auf den verschiede-
nen Stufen der sozialen Hierarchie in gleicher Weise zufrieden gestellt werden kön-
nen“ (ebd., S. 281).
Durkheim macht die Unterschiede im Ansehen, das je nach erbrachter Leistung
angerechnet werden kann, nicht nur für die Zufriedenheit des Individuums, son-
dern auch für die Erhaltung von Gesellschaft überhaupt verantwortlich, und zwar
wie folgt: Die Ertragsunterschiede einer Leistung lassen sich darauf zurückfüh-
ren, welche „sozialen Prämien“ jeweils für sie vorgesehen sind. Damit verbun-
den sind ebenfalls Unterschiede, die die Lebensführung betreffen. Beides spen-
det Orientierung für die Tatkraft. Wer nämlich über seine Verhältnisse lebt oder
das an seine soziale Prämie gekoppelte Wohlergehen durch übertrieben Spar-
samkeit konterkariert, der muss mit Missbilligung rechnen (ebd., S. 284). Das
dekadente Leben,115 der Geiz und die Erheischung sozialer Prämien verursachen
Desavouierung, aber man ist, sofern man diese antizipieren will, im Hinblick
darauf orientiert, welche Lebensführung einer Stufenleiter in der „sozialen Hie-
rarchie“ gebührt. Nur derjenige wird die sozialen Orientierungsvorgaben als
richtig anerkennen, der die Missbilligung fürchtet. Wenn man mit ihr kalkuliert,
so ordnet man sich der Macht des Sozialen und den jeweils spezifisch gesetzten
Grenzen für die Tatkraft unter und somit weiß man nicht nur, ab wann man zu-
frieden sein kann, sondern man kann sich darüber hinaus erklären, was für einen
Aufstieg in der sozialen Stufenleiter nötig ist und was einen Misserfolg verur-
sacht. Dazu gehört, so Durkheim, jedoch auch, die Sozialstruktur im Ganzen zu
akzeptieren, d.h. man muss nicht nur mit der sozialen Prämie der eigenen Leis-
tung einverstanden sein, sondern auch die für Leistungen anderer Art akzeptieren
(ebd., S. 285). Andernfalls gefährdet man die eigene Zufriedenheit, denn wer
das, was anderen Leistungsträgern gebührt, als ungerecht empfindet, der tut das
notwendig in Relation zu dem, das er selbst erhält und sodann wird dies in sei-
nem Denken ebenfalls ungerecht sein. Das trägt schließlich dazu bei, die Geltung

114 Das macht Durkheim auch für seine Kritik an den Überlegungen Saint-Simons geltend, dem er
vorwirft, nicht erkannt zu haben, dass im Wirtschaftsleben externe Grenzen für das Handeln
erforderlich sind (vgl. Durkheim 2010b, S. 199).
115 Selbst die Dekadenz ist bestimmten Kollektiven vorbehalten, und das zeigt Thorstein Veblen
in seinen Überlegungen zur Entwicklung der demonstrativen Verschwendung und Vergeudung
(vgl. Veblen 2011, S. 93 f.). Durkheim führt anomische Tendenzen darauf zurück, dass sich die
demonstrative Verschwendung und Vergeudung an denen beobachten lässt, denen sie eben
nicht vorbehalten ist.
216 3 Émile Durkheims Welt

der Orientierungsvorgaben für die eigene Tatkraft zu mindern, was wiederum die
eigene Zufriedenheit gefährdet, denn es schwindet der Anlass dafür, die Tatkraft
zu richten. Was sich abspielt, ist der Ursprung der Anomie.116
Eine Störung von Verhaltensregeln liegt für Durkheim dann vor, wenn die
Missbilligung für eine ungebührende Lebensführung aussetzt. Das zeigt an, dass
die Unterschiede in der sozialen Prämienverteilung nicht mehr anerkannt werden
und somit werden die Grenzen der Tatkraft zunehmend unwirksam. Der Macht
des Sozialen schwindet „in Zeiten moralischer Verwirrung“ (ebd., S. 284) ihre
Grundlage, nämlich die Anerkennung. Unvermittelte Wandlungen der sozialen
Ordnung sind insofern störend, als entweder eine bislang ungekannte Mäßigung
unvermeidbar wird oder Intransparenz darüber besteht, was als angemessen gilt.
In beiden Fällen wird die Zufriedenheit des Individuums verhindert, weil der
Tatkraft die Orientierung abhanden kommt. Die Vergabe von sozialer Prämie für
bestimmte Leistungen ist gestört, so dass sich die Bereitschaft verflüchtigt, die
mit dem eigenen Leistungsvermögen und dem der anderen vorgesehene Prämi-
enverteilung anzuerkennen. Weil schließlich die Macht des Sozialen darauf be-
ruht, dass sie als gerecht erachtet wird, übt die vom Orientierungsverlust ausge-
löste Unzufriedenheit eine schwächende Wirkung auf die Geltung der Macht aus
(ebd., S. 289).117 Wird die Tatkraft nicht mehr gemäßigt, weil die Ziele etwas
anderes hergeben, als man sich mit ihnen verspricht, dann agiert das Individuum,
ohne Erfolge verbuchen zu können. Das führt nicht nur zu Unzufriedenheit, son-
dern setzt der bereits durch die hereingebrochene Wandlung belasteten Macht
des Sozialen insofern zu, als man es unterlässt sie anzuerkennen. Hingegen ist
sie stark, wenn das Individuum zufrieden ist, weil es dann ihren Zielen und somit
Zielen überhaupt folgt, es weiß nämlich, welche soziale Prämie seinem Tun und
das anderer rechtmäßig ist. Wenn also Störungen die Gesellschaft heimsuchen,
dann erschöpfen sich die Bedingungen der individuellen Zufriedenheit und in-
folge dessen erhöht sich der Geltungsverlust sozialer Ordnungen.118

116 An Durkheims Überlegungen knüpft Merton seinen Begriff der Anomie an, für den sie aus der
Diskrepanz zwischen überragenden Werten einerseits und den sozialstrukturiert und ungleich
zugemuteten Mitteln für das normkonforme Handeln resultiert (vgl. Merton 1995, S. 156).
Merton geht insbesondere dem Grad der Anomie in den Unterschieden der Sozialstruktur nach
(ebd., S. 130 ff.). Durkheims Einfluss auf Merton gehen Werner Gephart (1990) und Nikos
Passas (1995) nach. Letzterer gibt eine Übersicht über die Bewertungen des Rückgriffs Mer-
tons auf Durkheim (ebd., S. 93 f.).
117 Daran knüpft Dahrendorf an, wenn er auf die Tendenz hinweist, für Jugendkriminalität „die
Gesellschaft“ verantwortlich zu machen (vgl. Dahrendorf 1992, S. 241).
118 Robert Agnew und Passas fassen die kriminologische Anomie-Theorie auf der Grundlage von
Durkheims Vorgaben wie folgt zusammen: „Anomie Theory, in sum, focuses on a breakdown
in the social regulation of individual conduct and argues that this breakdown creates pressure
for individual deviance. This pressure stems form the inability of individuals zo satisfy their
desires through legitimate channels“ (Agnew/Passas 1997, S. 3).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 217

Im Denken Durkheims ist es die Anerkennung der Unterschiede zwischen


den Menschen, die Integration unterstützt. Die Ursachen für die Anomie und für
den anomischen Selbstmordtypus verraten sogar, wie sich Gesellschaft selbst
reguliert. Die Nivellierung der Unterschiede ist nämlich ausgeschlossen. Durk-
heim bestreitet, dass die Modernisierung der Sozialstruktur durch die Abschaf-
fung vererbbarer Stellungen zum Vorteil der Leistung an sich ein Ende der Wi-
dersprüche gegen die als unangemessen erachteten Prämien herbeiführt (ebd., S.
286). Die zunehmende Chancengleichheit durch die Abschaffung der herge-
brachten Privilegien wertet zwar das Leistungsvermögen auf und mindert die
Empörung für ungerechte Prämien, sie löst aber Qualitätsunterschiede zwischen
erbrachten Leistungen nicht auf. Weil nicht alle Menschen eine Leistung in ein
und derselben Qualität erbringen können und die verschiedenen Leistungen nicht
den gleichen Nutzen liefern, werden sich Abstufungen in der Sozialstruktur nicht
auflösen. Selbst im Falle der uneingeschränkt gleichen Verteilung sozialer Prä-
mien wäre, ihm zufolge, ein moralischer Druck unvermeidbar, der die Leis-
tungsträger dazu zwingen müsste, die Gleichheit in der Prämienverteilung zwi-
schen ihnen und Schwerfälligen zu akzeptieren. Insofern also ein Leben ohne
Qualitätsunterschiede in den Leistungen der Menschen undenkbar ist, wird es
Unterschiede in der sozialen Prämienausschüttung geben, die für die Zufrieden-
heit notwendige Orientierung sorgen und somit auch Integration verantworten.
Was ein Ding erhält, das ist für Durkheim normal. Solange das Individuum
die sozialen Prämien akzeptiert, kann es seinen Orientierungsverlust abwenden
und sich Zufriedenheit sichern. Was die Gesellschaft dem Individuum abver-
langt, das erhält beide. Das Individuum setzt seiner Tatkraft einen Sinn, dessen
Geltung und somit die der Gesellschaft es anerkennt. Gegen die Prämienvertei-
lung für die unterschiedlichen Leistungen erhebt es keinen Widerspruch. Durk-
heim schreibt: „In normalen Zeiten wird die Kollektivordnung von der großen
Mehrheit der ihr Unterworfenen als gerecht angesehen“ (ebd., S. 287).
Der Zustand der Gesellschaft wird dann pathologisch, wenn die sozialen
Prämien zurückgewiesen werden und die Unordnung die Zufriedenheit unterbin-
det. Das gefährdet die Gesellschaft. Desintegration liegt vor diesem Hintergrund
im Falle des von relativer Deprivation betroffenen Individuums vor oder im Fal-
le desjenigen, der maßlos an der kontrafaktischen Vorstellung leidet, dass andere
auf seine Kosten leben. Ist das in einem Land mehrheitlich der Fall, so ist die
soziale Ordnung gestört und es besteht Lebensgefahr. Länder, in denen die Men-
schen langfristig arm sind, weisen relativ wenige Selbstmorde auf, es kommen
aber auch keine Irritationen vor, die die Verteilung der sozialen Prämien betref-
fen (ebd., S. 290). Auf die relative Immunität vor Selbstmorden in armen Län-
dern verweist Durkheim, weil sich somit der Nachweis darüber unterstützen
lässt, dass die Anfälligkeit, sich das Leben zu nehmen, nicht in einem Zusam-
menhang mit dem Sorgenreichtum steht, sondern von plötzlichen Unregelmä-
ßigkeiten beeinflusst wird.
218 3 Émile Durkheims Welt

Das entscheidende Merkmal des anomischen Selbstmords ist also das Han-
deln, das an keiner Norm orientiert ist, denn dem Handeln, dem keine Beschrän-
kungen unterliegen, mangelt es an erreichbaren Zielen. Kann man es nicht mit
Zielen abstimmen, so verliert man den Einfluss über die eigene Tatkraft und ist
dadurch gefährdet, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überschreiten.
Anders als beim Egoisten löst sich nicht die Handlungsbereitschaft auf. Sie ist
stattdessen weiterhin lebendig, nur wird sie zur Belastung, wenn man jedes Han-
deln, das auf ein Ziel und eine Grenze hinsteuert, als wertlos erachtet. Wer nur
hinter flüchtigen Zielen her ist, der kann Erschöpfungen und Enttäuschungen
nicht verhindern (ebd., S. 329). Die Bereitschaft zum Selbstverzicht verliert
durch das angegriffene Machtprestige des Sozialen ihren Grund und die Regel-
verletzung wird als angemessen erachtet. Der Einzelne weiß nicht, ab wann er
zufrieden sein kann. Der Schutz vor Unersättlichkeit und dem Streben nach dem
Unmöglichen ist für Durkheim gefährdet, wenn zum einen der Ordnung für die
Zuweisung der unterschiedlichen Kriterien der Lebensführung durch plötzliche
Krisen- oder Prosperitätseinbrüche ihre Kräfte entzogen werden und zum ande-
ren die Scheidung die Beschränkungen der Ehe für die geschlechtlichen Aktivi-
täten strapaziert. Lebensgefährlich ist also das allzu leichte Leben.
Fatalistischer Selbstmord: Einen letzten Typus erwähnt Durkheim nur in
einer Fußnote, weil dessen Faktoren in der Gegenwart seltener werden. Für die-
sen Typus greift er nicht auf Daten zurück, sondern er bemerkt nur, dass er sich
im Kontrast zum anomischen Selbstmord abspielt (ebd., S. 318). Im Gegensatz
zu diesem steht der fatalistische Selbstmord nicht mit übersteigerter und unbe-
grenzter Tatkraft, sondern mit maßloser Überreglementierung in einem Zusam-
menhang. Er wird von denen begangen, für die der moralische Druck so über-
mächtig ist, dass es ihnen unmöglich wird, Handlungsziele aus eigener Initiative
zu wählen.
Im Hinblick auf den zweiten Zweck kann Durkheim den Selbstmord nun
wie folgt nutzen: Die zentrale Voraussetzung für seine Methodologie gibt zu-
gleich eine Antwort auf die Frage, was im Leben sinnvoll ist. Ein Leben, das rau
und reich an Sorgen ist, führt also, und das zeigen die Daten der Selbstmordra-
ten, seltener als das sorglose Leben die Entscheidung für den Freitod herbei. Ins-
besondere die Umkehrung der Faktoren für den egoistischen und anomischen
Selbstmord offenbart den lebenserhaltenden Effekt von Sorgen und Kümmernis-
sen, aber auch von Hingebungsbereitschaft und Verpflichtungen. Wer jenen
nicht aus dem Weg geht und diese nicht als unerheblich erachtet, leistet Selbst-
verzicht und Entbehrung, die sich unvermeidlich nur zugunsten von überindivi-
duellen Zielen auswirken. Bereitschaft und Motivation zu Selbstverzicht und
Entbehrung können nur Zielen zugrunde liegen, die dem Eigennutz übergeordnet
sind und deren Beherrschung erlauben, da sie nicht ihretwegen bestehen. Sinn
kann, so Durkheim, nicht rein individuellen Ursprungs sein, sondern geht aus
sozialen Vorgängen hervor. Ein Einzelner kann eine Sinnvorgabe zwar in die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 219

Welt setzen, aber für ihre Geltung ist der Beitrag anderer unentbehrlich, was die
exklusive Ausrichtung der Sinnvorgabe auf den Eigennutz des Einzelnen aus-
schließt. Sinn, der einem sozialen Vorgang entspringt, bietet somit Orientierung
an, für die man nicht allein die Verantwortung trägt. Außerdem veranlasst der
Sinn schöpfende Vorgang, sich für diesen einzusetzen und sich auf diese Weise
selbst zu beherrschen. Wer stattdessen nicht geltenden Sinnvorgaben nachgeht
oder diese nivelliert, indem er sie unstetig behandelt, dem geht alsbald jeglicher
Sinn ab. Egoistischer und anomischer Selbstmord sind zwei verschiedene Folgen
des Geltungsverlusts von Sinnvorgaben: Auf der einen Seite kommt es zu maß-
losem Selbstbezug und Langeweile, die das Handeln überhaupt unterdrücken und
auf der anderen Seite fallen die regulierenden Schranken für das rege Handeln.
So oder so von Sinnlosigkeit betroffen zu sein, heißt für Durkheim, sich selbst zu
schaden, sich aber auch desintegriert zu benehmen, da man zum einen den eige-
nen Lebenswillen beeinträchtigt und zum anderen geltenden Sinnvorgaben, die
auch für andere bestehen, nicht nur nicht unterstützt, sondern auch in deren An-
sehen mindert. Die Entscheidung über das, was sinnvoll ist im Leben, bleibt also
nicht dem Einzelnen überlassen.
Vor diesem Hintergrund erweist die Selbstmordrate den Dienst, den norma-
len oder pathologischen Zustand der Integration des Landes zu untersuchen, für
das die Daten erhoben werden. Die verschiedenen Selbstmordtypen geben näm-
lich in unterschiedlicher Weise Auskunft über die moralische Kraft. Der altruis-
tische Selbstmord lässt ihn außergewöhnlich stark hervortreten, denn in diesem
Fall unterwirft man sich vollständig der Verhaltensregel, sich das Leben zu neh-
men. Am egoistischen und anomischen Selbstmord lässt sich hingegen sein ge-
schwächter Zustand ablesen. Wenn Durkheim zeigt, dass die Faktoren dieser
beiden Selbstmordtypen die Integration schwächen, so kann er schließlich auch
offen legen, was diese erhält, nämlich die Befolgung überindividueller Ziele und
für moderne Gesellschaften: die gemäßigte Befolgung119 überindividueller Ziele,
denn in jenen treten Kollektivvorstellungen, die die mechanische Solidarität ga-
rantieren, nicht nur in den Hintergrund, sondern konkurrieren mit anderen ihres-
gleichen. Schließlich sind Kollektivvorstellungen redundant, die den Selbstmord
vorschreiben. Sittlicher Selbstmord wird inzwischen von subkulturellen Sympa-
thisanten verehrt. Anomischer und egoistischer Freitod sind nur ein Resultat ih-
rer Faktoren, da nicht alle, die von ihnen betroffen sind, Hand an sich legen. Die
sozialen Ursachen des Selbstmords ziehen auch andere desintegrative Folgen
nach sich, und zwar zählt Durkheim hierzu mindestens die Rückwirkung des
Geltungsverlustes, d.h. diejenigen, die sich nicht veranlasst sehen, geltende
Sinnvorgaben zu befolgen, tragen durch ihr Benehmen zur weiteren Schwächung

119 Schroer erkennt darin eine Brücke zwischen der Arbeitsteilung und dem Selbstmord, weil
Durkheim in beiden Studien aufdeckt, wie Integration zu stark oder zu schwach erfolgt (vgl.
Schroer 2001, S. 161).
220 3 Émile Durkheims Welt

der Geltung bei. Ist die Selbstmordrate eines Landes relativ hoch, so lässt sich
erschließen, dass nicht nur die Minderung des Lebenswillens verbreitet ist. Eine
Krise kann man daher an der Selbstmordrate ablesen, wenn die bestimmten Fak-
toren des Selbstmords maßlos vorkommen und sich im Falle von hohen Werten,
an denen sich egoistische und anomische Selbstmorde erkennen lassen, der Gel-
tungsverlust maßlos abspielt. Insofern sind es insbesondere diese beiden Selbst-
mordtypen, die Durkheim für die Untersuchung der Krise moderner Gesellschaft
hilfreich sind, weil sie anderen Bedingungen unterworfen sind, als es der mit
ihnen und vorwiegend mit dem Egoismus in Kontrast stehende altruistische
Selbstmord ist. Dessen statistisch erkennbarer Rückgang gibt nicht nur die Ver-
ringerung seiner Faktoren bekannt, sondern lässt das hervortreten, was diesen
entgegengesetzt und modernen Gesellschaften wesentlich ist: die Entzauberung
der hergebrachten und unbezweifelbaren Kollektivvorstellungen und Verflüchti-
gung der Kollektivvorstellungen im Allgemeinen.
Alles in allem: Die Typen der Selbstmorde lassen die Konstruktion von Ge-
setzmäßigkeiten zu, die allesamt den subjektiven Entschluss zum Freitod in den
Hintergrund treten lassen. Gleichwohl kommen die Typen in der empirischen
Wirklichkeit nicht rein vor. Ob aber der Selbstmord durch den Verlust der Be-
geisterungsfähigkeit für jegliche Sinnhaftigkeit, den Gehorsam für die Pflicht
zum eigenen Tod, den regellosen Tatendrang oder die restlose Repression ver-
schuldet wird, so zeigt er in jedem der Fälle diejenige Wirklichkeit abseits der
individuellen Absichten der Tat, auf der Durkheim die methodologischen Grund-
lagen seiner Disziplin gründet. Das Soziale wirkt auf den Selbstmord, und zwar
nicht nur indem es ihn wie im Falle des altruistischen Selbstmords befiehlt, son-
dern auch durch Faktoren, die sich zu seinem eigenen Nachteil auswirken, so
dass sich die Selbstmordrate als Indikator für die moralische Verfassung des sie
betreffenden Landes nutzen lässt. An ihr kann man gemäß der von Durkheim
favorisierten aristotelischen Mitte den Zustand der integrativen Kräfte ablesen.

3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens)

Tocqueville ist sich darüber gewiss, dass Religion und Demokratie einander
nicht widersprechen. Immerhin ist jene im kollektiven Leben fest verankert, was
zunächst dafür spricht, dass sich die beiden nicht abstoßen. Er schreibt:
„Die Erfahrung aller Jahrhunderte hat übrigens gezeigt, dass die kräftigste Wurzel
des religiösen Bedürfnisses stets im Herzen des Volkes eingepflanzt war. Dort ha-
ben alle untergegangenen Religionen ihre letzte Zuflucht gehabt, und es wäre selt-
sam, wenn Einrichtungen, welche die Ideen und Leidenschaften des Volkes zur Gel-
tung bringen sollen, die notwendige und bleibende Wirkung hätten, den menschli-
chen Geist zur Gottlosigkeit hinzudrängen“ (Tocqueville 1989, S. 24).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 221

Er sieht sich deshalb veranlasst, die Passung der beiden zu verteidigen, weil vor-
nehmlich die Kirche den Anfeindungen der Protagonisten der Französischen
Revolution ausgesetzt war. Man beschuldigte sie, die Privilegien des Adels und
den absolutistischen Staat zu stützen, so dass sie sich, da sie in Widerspruch zu
den Revolutionszielen stand, angreifbar machte (ebd., S. 153). Tocqueville ver-
langt einzusehen, dass es die Kirche, aber nicht die Religiosität oder eine religiö-
se Lehre war, die dem Werk der Revolution im Weg stand. Die Kirche des Fran-
zösischen Absolutismus, aber nicht die Religion beeinträchtigt die Demokratie.
Dessen ungeachtet blieb die Religion von den Angriffen auf die Kirche
nicht verschont. Besonders Schriftsteller taten ihr Bestes und propagierten den
Unglauben. An der Schwächung der Kirche hatten sie ein unmittelbares Interes-
se, da ihr Schaffen von der klerikalen Überwachung betroffen war (ebd.). Aller-
dings geschah, so Tocqueville, infolge der Anfeindungen gegen die Kirche etwas
Neues. Wo zuvor eine Religion verdrängt wurde, da erfolgte das zugunsten einer
anderen Religion, im revolutionären Frankreich aber blieb die Stelle vakant.
„Man arbeitete eifrig und beharrlich, die Seelen des Glaubens, der sie erfüllt hat-
te, zu berauben, und ließ sie leer“ (ebd., S. 152). Stattdessen war zunächst der
revolutionäre Eifer, ein neues Frankreich zu gestalten, ein vorübergehender Er-
satz, der die Orientierung und den Schutz vor sinnlosen Selbstbezug bietet, die
man ansonsten der Religion entnehmen kann (ebd., S. 157). Außerdem hatte die
Revolution in Frankreich, so Tocqueville, mehr religiöse Züge als sonst keine
der vorherigen Umwälzungen. Die Französische Revolution wurde zur Mission
und man machte hierfür weder vor Fremden halt, noch berücksichtigte man die
kollektiven Bezüge des Menschen, den man für sich gewinnen wollte (ebd., S.
27 ff.). Letztlich fehlte dem Revolutionsglauben aber die Beständigkeit und wäh-
rend für moderne Gesellschaften ein neuer Typus des Revolutionärs abfiel, der
erstmals die religiöse sowie die politische Ordnung zunichte machen wollte
(ebd., S. 158), erholten sich Religion und Kirche in Frankreich.
Tocqueville verleiht dem Studium der Religion Impulse. Folgende Unter-
stellungen bieten sich an: Weder vergeht Religiosität, noch lässt sie sich abschaf-
fen. Obwohl die sakrale Einrichtung ihr Ansehen einbüßte, weil man ihr Kolla-
borationen mit dem politischen Gegner nachsagte und sich dadurch viele mobili-
sieren ließen, blieb der Glaube beharrlich oder er konnte nach einem kurzzeiti-
gen Tief wiederauferstehen. Trotzdem zeigt sich: Was heilig ist, ist nicht unver-
gänglich. Und: Der Unglaube erzielt mutmaßlich die Wirkung des Glaubens. Die
missionarische Irreligiosität der Revolutionäre konnte verhindern, dass die an-
sonsten bei fehlendem Glauben hervorgerufene Unerfreulichkeit konstant wurde,
d.h. der für die individuelle Zufriedenheit unverzichtbare Glaube wurde irreligi-
ös ausgelegt. Tocqueville dazu:
„Der unbedingte Unglaube in Fragen der Religion, der dem natürlichen Gefühl des
Menschen so sehr widerspricht und seine Seele in einen so trostlosen Zustand ver-
222 3 Émile Durkheims Welt

setzt, erschien der Menge verlockend. Was bis dahin nur eine Art krankhafter Er-
mattung hervorgebracht hatte, erzeugte diesmal Fanatismus und Bekehrungseifer“
(ebd., S. 152).
Wenn sich herausstellt, dass Glaube und Unglaube in gewisser Weise wesens-
verwandt sind, dann ist auch diejenige Religiosität nicht erstaunlich, die vor den
offiziellen Grenzen der Konfessionen nicht haltmacht. Auf einen derartigen Vor-
fall stößt Mark Mazower in seiner historischen Studie über den Balkan. Er macht
Dokumente für Zeiten des Osmanischen Reichs in Südosteuropa ausfindig, die
Komposita von unterschiedlichen Konfessionen belegen. Ein und dieselben
Gläubigen gingen freitags in die Moschee und sonntags in die Kirche (vgl. Ma-
zower 2007, S. 128). Wenn, wie in diesem Fall, weder die Gläubigen noch die
heiligen Wesen darüber wachen, ob das religiöse Handeln konfessionell korrekt
ausgeführt wird, dann liegt die Vermutung nahe, dass Religiosität andere Dienste
erfüllt als die Intentionen, die mit den Vorschriften der religiösen Lehren ver-
bunden sind.
Religiosität scheint mithin Bedingungen zu unterliegen, die das Zusammen-
leben der Menschen begleiten. Diese Unterstellung über die Religiosität teilt
auch Durkheim. Für ihr Studium verzichtet er deshalb in der Studie Die elemen-
taren Formen des religiösen Lebens (2010a) darauf, Theologien und Mythen der
Gläubigen nach Ursachen und Wirkungen der Religiosität zu befragen. Er erhebt
nicht den Anspruch, dass ihre Dienste mit den bekundeten Zwecken des religiö-
sen Handelns übereinstimmen. Die Ergebnisse werden zum einen zeigen, dass
sich in der Tat mit ihrem Verschwinden nicht rechnen lässt. Zum anderen ermit-
telt er Funktionen des Glaubens, über die weder die religiöse Lehre noch die
eigensinnigen Interpretationen der Gläubigen informieren.120 Sie müssen mit
beiden auch nicht konform sein. Für sein Vorhaben untersucht er zwar den „äu-
ßerlichen Apparat“, zu dem er „Riten“ und „Symbole“, aber auch „Tempel“ und
„Priester“ einer Religion zählt (vgl. Durkheim 1986b, S. 62), nur interessieren
ihn nicht deren verkündigten oder amtlichen Bedeutungen. Stattdessen will er
den verborgenen Faktoren und Effekten der Religion nachgehen.
Zwei Zwecke gibt er an, denen die Studie unterliegt. Erstens die „Natur des
religiösen Lebens“ (Durkheim 2010a, S. 16); mit der Untersuchung will er das
Wesen der Religion ermitteln, das allen Religionen gemeinsam ist. Das sind
nicht die äußeren Merkmale, auf deren Grundlage die Religion definiert ist, doch
die hinter ihnen liegenden Kräfte, die auf und vom Menschen wirken. Durkheim
will offenbaren, was die wesentlichen Züge der Religion hervorbringt. Ihn inte-
ressiert die Wirklichkeit des religiösen Lebens, die in den unterschiedlichen Re-
ligionen nicht variiert (ebd., S. 609). Zweitens, und insgesamt sekundär, geht er
dem religiösen Ursprung des logischen Denkens nach (ebd., S. 26). Die Katego-

120 Nichtsdestoweniger nimmt Durkheim in Anspruch, den religiösen Glauben aus der Sicht des
Glaubenden zu betrachten (vgl. hierzu auch Lukes 2013, S. 470).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 223

rien, denen das logische Denken unterworfen ist, sind für ihn nicht in der geisti-
gen Konstitution des Menschen festgelegt. Stattdessen, und das ist Durkheims
Absicht, lassen sich ihre religiösen und sozialen Bedingungen auffinden. Das ist
der Nebenschauplatz der Studie. 121
Zum Wesen der Religion. Der erste Zweck ist auf die Wirklichkeit gerichtet,
die sich nicht von einer bestimmten Religion herleitet, weil sie allen Religionen
inbegriffen ist.122 „Diese Wirklichkeit ist der Mensch und im Besonderen der
heutige Mensch, denn es gibt nichts, woran wir stärker interessiert sind“ (ebd., S.
13). Was in Erfahrung gebracht werden soll, ist nicht, inwiefern der Mensch
festgelegt ist und ein Gegenstand dessen die Religiosität ist. Durkheim schließt
aus, dass der Mensch das religiöse Handeln von sich aus und somit unabhängig
von anderen Faktoren hervorbringt. Hingegen soll die Studie den Nachweis da-
für erbringen, dass sich die menschliche Religiosität sozialen Ursachen verdankt,
denen sich die Wissenschaft aber versperrt, wenn sie das religiöse Handeln des
Individuums isoliert betrachtet (ebd., S. 142). Darüber hinaus soll sie erklären,
inwiefern der Mensch den Platz der nicht unwesentlichen Bedingung der Religi-
on einnimmt.
Gelingt das, so verspricht sich Durkheim davon, die Erkenntnisse über die
Religion für die Untersuchung der Gegenwart einsetzen zu können.123 Für das
Individuum und das Kollektiv bildet Religion eine dauernde Voraussetzung, auf
die er stoßen will, damit er auch diejenigen Wirkungen auf sie zurückführen
kann, die in einer Zeit der Dominanz der Unterschiede gegenüber den Gemein-
samkeiten zwischen den Menschen vor sich gehen (ebd., S. 626; 1986b, S. 63).
Das Interesse an dem für ihn heutigen Menschen ist davon berührt. Weil er Reli-
gion als ein Phänomen behandelt, die, obwohl sie als Voraussetzung dient, nicht
unabhängig davon ist, von Wirkungen betroffen zu sein, kann er vermöge ihres
Wesens etwas anderes untersuchen, das sich nicht besonders von ihr unterschei-
det, aber aufgrund seiner ebenfalls bestehenden Abhängigkeit von der Dominanz
der Unterschiede zwischen den Menschen betroffen ist, und dies ist die Moral
(vgl. Durkheim 1976, S. 125). Die Ergebnisse der Studie werden zeigen, inwie-
fern Religion und Moral wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die Durkheim
einen Dienst im Hinblick auf die Uneindeutigkeit erweisen, von der Moral in
modernen Gesellschaften betroffen ist.124

121 Für das Anliegen meines Vorhabens ist der zweite Zweck weitestgehend belanglos; zum reli-
giösen Ursprung des Prinzips der Kausalität vgl. auch Durkheim/Mauss 1987.
122 Für König orientiert sich Durkheims Auseinandersetzung mit der Religion an einer „Frage von
struktureller Bewandtnis“ (König 1978, S. 242; Herv. im Orig.), weil er die Gründe für das
Dauerhafte an der Religion untersucht.
123 An anderer Stelle bemerkt er, dass sich viele Problemstellungen, die von der Soziologie be-
trachtet werden, andere Aspekte aufzeigen, sobald man sie religiossoziologisch untersucht
(vgl. Durkheim 1960c, S. 351).
124 In einer Rezension schreibt Durkheim, dass man der Religion die Existenzberechtigung ab-
sprechen kann, wenn diejenigen Gründe zu bestehen aufhören, die sie erforderlich machen.
224 3 Émile Durkheims Welt

Für dieses Anliegen soll ihm das Wesen der Religion behilflich sein, für
dessen Untersuchung er es also ablehnt, es als unabhängige Ursache für das reli-
giöse Handeln zu begreifen. Religion wie ein Ding zu behandeln, heißt, dass sie,
wie sich zeigen wird, nicht nur auf Ursachen beruht, die ihrerseits auf Ursachen
beruhen, sondern auch Effekte herbeiführt, die ihrerseits auf sie wirken. Es sind
diese Zusammenhänge der Religion überhaupt, die er studieren will und weshalb
er zurückweist, dass sie einen absoluten Anfang hat. „Wie jede menschliche Ein-
richtung beginnt auch die Religion nirgends“ (Durkheim 2010a, S. 22). Somit
leistet auch diese Studie einen Beitrag für die Konsolidierung der von Durkheim
vertretenen Disziplin. Indem sich nämlich offenbaren lässt, dass selbst das, für
dessen Außenwirkung es von entscheidender Bedeutung ist imstande zu sein,
seine Wirkungen von sich aus fertig zu bringen, also keine Ursachen zu haben,
tatsächlich aber sozial bewirkt werden muss, bietet sich Durkheim die Voraus-
setzung dafür, die Kraft des Sozialen zu demonstrieren. Indes er seine Wirksam-
keit aufzeigt, beabsichtigt er auch, dessen Faktoren nicht außer Acht zu lassen,
denn er ist, einer Fußnote zufolge, nach wie vor aufgefordert, seine Methodolo-
gie zu verteidigen. Der Drang ist, hebt Durkheim hervor, nicht das Einzige, was
das Soziale wesentlich kennzeichnet. Hierzu schreibt er:
„In Wirklichkeit haben wir darin nur den materiellen und sichtbaren Ausdruck einer
inneren und tiefen Tatsache gesehen, die selbst ganz ideell ist: nämlich die morali-
sche Autorität“ (ebd., S. 310; Herv. im Orig.).
Für das Soziale fällt die andere Seite des Drangs, also das überlegene Ansehen
ins Gewicht. An dessen Wirkungen ist die äußere Seite der moralischen Autorität
erfahrbar, nur ist auch sie ein Resultat, dem Durkheim nachgehen will, wozu er
das Studium der Religion auswählt.
„Die Frage, die hier in diesem Buch abgehandelt wird, ist im Besonderen, in wel-
cher Form diese besondere Art der Moralautorität, die in allem liegt, was religiös ist,
ihren Anfang nahm und woraus sie besteht“ (ebd.).
Dass diese Auseinandersetzung mit der Religion im Hinblick auf die Kausalzu-
sammenhänge durchführbar ist, erschließt sich auch aus der Begründung dafür,
die von ihm untersuchte Religion, und das ist der Totemismus, 125 eine Religion
zu nennen. Ihn deshalb auszuschließen, weil seine Glaubensvorstellungen und

Wenn schließlich ihre Gründe sozialer Natur sind, so muss man untersuchen, was den Wandel
vom Gesellschaft bewirkt und somit die Religion nutzlos macht (vgl. Durkheim 2008b, S.
221).
125 Wenn man sich nicht vergegenwärtigt, dass Durkheim kein Buch über den Totemismus ge-
schrieben hat, wird sein eigentliches Anliegen, das oben skizziert ist, nicht hervortreten. Ein
ähnlicher Hinweis liegt auch bei König vor (vgl. König 1978, S. 246 f.). Ferner gilt die Daten-
lage, die ihm zur Verfügung stand, mittlerweile als überholt und darüber hinaus bietet das eth-
nographische Material nur eingeschränkte Auskunft über den Totemismus in Australien (vgl.
Giddens 1986, S. 101).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 225

Riten in Relation zu denen der fortgeschrittenen monotheistischen Religionen als


überholt oder als Trug gelten, lehnt er ab,126 und zwar folgerichtig. Das lässt sich
wie folgt erklären: Was er für die Sinnhaftigkeit der Tat eines Suizidanten übrig
hat, das trifft auch auf die Interpretationen seitens der Gläubigen für die Glau-
bensvorstellungen und Riten einerlei welcher Religion zu. Will man den Ursa-
chen der Religion nachgehen, so ist das Denken der Gläubigen belanglos. Nur
weil sie keinerlei Zweifel an der Richtigkeit ihres Glaubens haben, sind sie nicht
dessen alleinige Informanten, die ihn erklären können (ebd., S. 612). Untersucht
man den Totemismus einzig auf der Grundlage der Aussagen seiner Gläubigen
hinsichtlich der totemistischen Glaubensvorstellungen und Riten, so fällt es nicht
schwer, sie des Irrtums zu überführen. Einige Kulte werden beispielsweise des-
halb durchgeführt, weil man Fortpflanzungen in der Natur mobilisieren will.
Solche Projekte sind zwar zum Scheitern verurteilt, es muss aber Gründe dafür
geben, dass man an ihnen festhält. Insofern Handlungen vollzogen werden, um
die bekundeten Zwecke einer Religion zu erreichen, die sich jedoch auf diese
Weise nicht durchsetzen lassen, muss es andere Gründe für das religiöse Leben
geben, als die Gläubigen angeben. Totemistische Gläubige führen Riten mit
Pflanzen oder Tieren aus und nennen hierfür Intentionen, jedoch werden sich
diese faktisch nicht realisieren lassen. Wenn sich aber Religionswissenschaft für
die Ursachen und Wirkungen, aber nicht für die Richtigkeit einer Religion inte-
ressiert, dann kann sie sich, so Durkheim, ihr nicht verschließen, weil sie ihr als
seltsam oder abscheulich erscheint (ebd., S. 15). Die allgemeine Würde einer
Religion ist Ergebnis ihrer Bedingungen und nicht der subjektiven Einschätzung.
Damit Glaubensvorstellungen und Riten auf Seiten der Gläubigen die zu je-
der Religion gehörende Verehrung und Hingabe auslösen, sind sie nicht darauf
angewiesen, von der Wissenschaft sanktioniert zu werden. Wissenschaft ist aber
auch nicht in der Lage, eine Religion gutzuheißen, weil sie die Richtigkeit einer
Religion nicht endgültig entscheiden kann. Durkheim rechtfertigt die Gleichwer-
tigkeit aller Religionen, weil es zu seinem Anliegen gehört, den Nachweis dafür
zu erbringen, dass sie alle bestimmte Ursachen gemeinsam haben. Insofern es
schließlich keine Religion gibt, gegen die der Vorwurf, sie sei eine Wahnvorstel-

126 In einer Vorlesung für angehende Lehrer spricht sich Durkheim dafür aus, auch die Auseinan-
dersetzung mit solchen Gesellschaften in das Lehramtsstudium zu integrieren, von denen man
für gewöhnlich denkt, dass sie keinen besonderen Beitrag für die Zivilisation geleistet haben.
Seine Stellungnahme lässt erkennen, dass er in der Lage ist, seinem methodologischem Pro-
gramm zu folgen und Vorbehalte zugunsten der Forschung auszublenden. Er sagt: „Ich bin so-
gar so weit gegangen, den Wunsch auszusprechen, dass der Professor auch andere Völker als
nur die klassischen kennen müsste, damit er den Schülern den Eindruck vermitteln könne, dass
es auch jenseits dieser besonderen Menschheit noch andere gibt, die, wie man sagt, weniger
fortgeschritten sind und die trotzdem ein Anrecht auf unser Interesse haben, weil auch sie
Formen der Menschheit sind: Auf natürliche Weise wird ihm diese Gelegenheit geboten, weil
auch die klassischen Gesellschaften ihre Wurzeln in dieser so genannten niedrigen Menschheit
haben und deren Zeichen tragen“ (Durkheim 1977, S. 311).
226 3 Émile Durkheims Welt

lung, hinfällig geworden ist, d.h. weil sich jeder Religion nachsagen lässt, sie sei
ein Irrtum, aber das religiöse Handeln eine Wirkung ist, die dem trotzt, zeigt
sich, dass die Glaubensvorstellungen und Riten nicht das leisten, was ihnen die
jeweilige religiöse Lehre oder die Interpretationen der Gläubigen zuschreiben,
sondern mit anderen Ursachen und Wirkungen verbunden sind, die ihnen alle-
samt wesentlich sind.
„Im Grund gibt es keine Religionen, die falsch wären. Alle sind auf ihre Art wahr:
alle entsprechen, wenn auch auf verschiedene Weisen, bestimmten Bedingungen der
menschlichen Existenz“ (Durkheim 2010a, S. 15). 127
Weil Durkheim nachweisen will, dass Religion dem sozialen Leben entspringt,
kann er folglich nicht leugnen, dass es Kollektive gibt, deren Religionen nicht
würdig sind, der Kategorie Religion zugeordnet zu werden. Anstelle der Qualität
der Lehren einer Religion entscheiden die Ursachen und Wirkungen ihrer mora-
lischen Autorität, ob eine Religion vorliegt. Zum Ende der Studie hält Durkheim
für die untersuchten Wirkungen der Religion und das Alleinrecht der modernen
Wissenschaft auf die Erkenntnisse nebeneinander (ebd., S. 610). Auf diese Wei-
se macht er die verkehrte Richtung einer Wissenschaft deutlich, die zwar jede
religiöse Kosmologie zurückweist, ohne aber die Geltung falsifizierter Glau-
bensvorstellungen brechen zu können. Das Anliegen seiner Studie tritt dabei
hervor: Die Widerlegung der religiösen Lehre lehnt er ab, da er, statt sich mit
dem Glauben anzulegen, die Gründe für dessen Widerstandsfähigkeit ausfindig
machen will.
Gleich wie irrational eine Religion also erscheint, ist es nicht zulässig, sie
der Kategorie vorzuenthalten. Aufgabe der Wissenschaft ist es für Durkheim
auch nicht, den Nachweis dafür zu erbringen, dass religiöses Handeln einer Täu-
schung unterliegt. Wissenschaftliche Vorhaben, die im Hinblick darauf angelegt
sind, Glauben und Riten als fälschlich für richtig gehaltene Vorstellungen und
Handlungsweisen bloßzulegen, erachtet er aus Gründen als widersinnig, die sich
seinen Einwänden gegen Animismus und Naturismus entnehmen lassen. Der
Animismus führt Religion auf die Auslegung der Träume seitens der Gläubigen
zurück, in denen sie Handlungserfahrungen ihrer eigenen Seelen erkennen. Im
Denken der Träumenden finden die geträumten Aktivitäten tatsächlich statt. Die
Sakralisierung der Seele erfolgt, dem Animismus zufolge, durch den Tod (ebd.,
S. 83). Der Glaube an die zu heiligen Geistern transformierten Seelen überträgt
sich schließlich auf die Naturkräfte und -körper (ebd., S. 85). Für den Nachweis
hingegen stehen diese an erster Stelle: Allein die Beobachtung der gewaltigen
Naturkräfte und -körper ruft, so diese Theorie, die Verehrung von Seiten des
Menschen für Heiliges hervor, das man sich als begabt vorstellt, das beobachtete

127 Ergänzend dazu schreibt er an anderer Stelle: „It has sometimes been said that primitive peo-
ples had no morality. That was an historical error. There is no society without morality“
(Durkheim 2008b, S. 240).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 227

Geschehen durchgeführt zu haben (ebd., S. 115). Beide Erklärungen lehnt Durk-


heim ab, weil sie der Religion keine Wirklichkeit übrig lassen. Die von der ani-
mistischen Theorie vorgelegten Ursachen stellen den Gläubigen in den Vorder-
grund. Für den Animismus überträgt sich die Verehrung der zu heiligen Geistern
gewordenen Seelen der Verstorbenen auf die Naturkräfte und -körper dadurch,
dass ihnen die Gläubigen irrtümlicherweise metaphorische Namen geben. Die
Dinge der Natur werden somit dadurch handlungsfähig, dass man deren Be-
zeichnungen zu ernst genommen hat (ebd., S. 87). Ferner weist Durkheim die
Sakralisierung aufgrund des Sterbens zurück, weil sich der Ahnenkult in den
animistischen Religionen statt an die Seelen aller Verstorbenen gerichtet zu sein,
nur für diejenigen Toten durchgeführt wird, die bereits zu Lebzeiten verehrt
wurden (ebd., S. 98). Nicht jeder Geist eines Verstorbenen ist also heilig.
Gegen den Naturismus spricht, dass er die Faktoren für die Heiligkeit der
bewunderten Naturkräfte und -körper verpasst. Es ist nicht möglich, so Durk-
heim, dass diese dem Gläubigen nahe legen, sie seien heilig, und das ist vor al-
lem in den Fällen unzutreffend, in denen statt gewaltiger Naturkräfte und -körper
äußerst schlichte Pflanzen und Tiere verehrt werden (ebd., S. 130 f.). Wenn das
Erstaunen, folgert er, gegenüber Naturphänomenen ihre Sakralisierung verschul-
det, müssten heiligen Dingen, die dem Gläubigen weitaus unterlegen sind, ihre
Bedingungen abgehen. Schließlich stellt sich diejenige Erklärung des Naturis-
mus als unzulänglich heraus, die besagt, dass sich das religiöse Handeln der Ri-
ten der in den Mythen transportierten Absichten verdankt, Einfluss auf das Ge-
schehen der Natur zu bewirken (ebd., S. 123). Wenn sich der Glaube daraus er-
klären lässt, dann fehlt die Ursache für seine Resistenz, denn er muss der häufi-
gen Enttäuschung widerstehen, die mit jeder rituellen Einflussnahme auf die
Natur verbunden ist. Der Naturismus verfehlt daher die Wirkung der Religion,
weil er nicht beachtet, was die Gläubigen vor Frustration schützt, wenn sie Riten
ausführen, die zum Scheitern verurteilt sind.
Durkheim ist mit dem Animismus und Naturismus nicht einverstanden, weil
das, was Wirkungen hervorruft, keine Illusion sein kann. Beide Erklärungen
verweisen auf Irrtümer. Wenn man offen legt, dass aus falschen Deutungen die
religiösen Mythen entstanden sind, dann stellt man die Ursachen der Religion in
Abrede. Ihre Erforschung ist, ihm zufolge, ungenügend, wenn man sie auf My-
then zurückführt. Erklärt man, dass sie solchen Ursachen entspringt, die faktisch
nicht bestehen, dann kann man nicht erklären, warum Religion dauerhaft sein
kann. Ein Untersuchungsvorhaben, das bei den Mythen stehen bleibt, berück-
sichtigt nur die Faktoren, wie sie im Denken der Gläubigen vorhanden sind, lässt
aber von den Wirkungen ab, die von deren Interpretationen nicht nur verdeckt
werden, sondern diese auch gegen das faktisch den Mythen widersprechende
Geschehen widerstandsfähig macht. Wer auf diese Weise forscht, der kann nicht
den Wirkungen der Religion auf den Menschen nachgehen, weil er stattdessen
auf eine Täuschung als Quelle der Religion stößt und ihr damit ihre Wirklichkeit
228 3 Émile Durkheims Welt

raubt. „Was ist das für eine Wissenschaft, deren Hauptentdeckung darin bestün-
de, den Gegenstand, den sie untersucht, verschwinden zu lassen“ (ebd., S. 109).
Durkheims Abwehrhaltung ist der Verteidigung seiner Methode verpflichtet.
Was er untersuchen will, sind die religiösen Glaubensvorstellungen, und zwar
schließt er nicht aus, dass sie objektive Gründe haben, auch wenn sie seltsam
und verrückt erscheinen. Glaubensvorstellungen können in der Tat der Rationali-
tät widersprechen, nur wenn die moralische Autorität hinter ihnen steht, können
sie wirksame Irrtümer sein.
Die Gründe dafür, den Totemismus für die Studie auszuwählen, lassen sich
nun konkretisieren: Den Totemismus untersucht er nicht seinetwegen, d.h. er
will nicht dem nachgehen, was ihn von den fortgeschrittenen Religionen unter-
scheidet, sondern er beabsichtigt, die Gesetzmäßigkeiten für dessen Religiosität
zu erforschen, die er mit den „komplexen“ Religionen gemeinsam hat. Was de-
ren Untersuchung jedoch erschwert, sind die Mythen und Theologien, deren Er-
klärungen für das religiöse Handeln dominieren und somit die Kräfte, die es ei-
gentlich hervorrufen, in den Hintergrund treten lassen (ebd., S. 22). Stattdessen
bietet der Totemismus aufgrund von lokal unterschiedlichen, aber trotzdem
gleichförmigen Kulten, geringer Individualisierung und wenig personengebun-
denen Unterschieden in den religiösen Verpflichtungen einen Zugang zum „Un-
umgänglichen“ jeder Religion, und das sind die wesentlichen Effekte des religiö-
sen Handelns, für die mythische und theologische Zusätze entbehrlich sind (ebd.,
S. 20). Es ist daher leichter, zu den objektiven Funktionen der Religion zu gelan-
gen, nur ist hierfür unbefangenes Forschen128 zwingend, da man sich ansonsten,
also wenn man den totemistischen Kulten mit relativem Ekel begegnet, den Weg
dafür abschneidet, sich von der Religion belehren zu lassen.
Das gilt vor allem für die Entwicklung der Definition der Religion. Durk-
heim bleibt seiner Methodologie treu, der zufolge eine Definition ordnungsge-
mäß ist, wenn Vulgärwissen ausgeschlossen wird, denn gesucht wird die Be-
schaffenheit eines Dings, wofür Einstellung und Positionen des Wissenschaftlers
belanglos sind. Nur so kann man garantieren, dass bestimmte Religionen nicht
ausgegrenzt werden. Angesichts seines Vorhabens, der Religion im Allgemeinen
nachzugehen, muss er das gewährleisten. Die Definition ist dann nicht sachlich,
wenn sie auf einfache Religionen nicht anwendbar ist, weil diese einen Wert, den
Religionen haben sollten, damit sie der Religion würdig sind, nicht aufweisen.
Schließlich ist, wenn man mit einer auf einem Wert gestützten Definition arbei-
tet, nicht nachgewiesen, dass einfache Religionen die Ursachen und Wirkungen
der Religion im Allgemeinen nicht erkennen lassen. Die „konfessionellen Vorur-
teile der Wissenschaftler“ verhindern also die eigentliche Untersuchung, da man

128 König konkretisiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit religiösen Phänomenen.


Wer an ihnen teilnimmt oder einen Beitrag für ihre theologische Interpretation leistet, der kann
ihren Ursachen nicht nachgehen (vgl. König 1978, S. 240).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 229

mit der Orientierung an Wertvorstellungen die Ergebnisse vorwegnimmt (vgl.


Durkheim 1967, S. 122). Die Definition der Religion kann demnach nicht von
den als besonders wertvoll erachteten und global beliebtesten Religionen129 ab-
geleitet sein, was sich verhindern lässt, wenn man sie anhand von einfachen und
äußerlich beobachtbaren Merkmalen entwickelt, ohne zudem den Anspruch zu
erheben, dass sie auch die Ursachen der Religion enthält, denn diese sind das
eigentliche Anliegen der Untersuchung (ebd., S. 130).
Im Falle des religiösen Tatbestandes muss man jedoch berücksichtigen,
dass es zum einen religiöse Vorgänge gibt, die keiner Religion angehören und
zum anderen Rudimente untergegangener Religionen weiterhin existieren (vgl.
Durkheim 2010a, 61), so dass Durkheim, um auch diese beiden nicht auszugren-
zen, mit den äußerlichen Elementarmerkmalen der Religion beginnt. Das sind
die Folgenden: Keiner Religion fehlen Riten, Glaubensvorstellungen und die
Trennung heiliger und profaner Dinge (ebd.). Außerdem bemerkt er: Ein Ritus,
der nicht einmalig stattfindet, sondern periodisch wiederholt wird und der einen
geordneten Umgang mit heiligen Dingen gewährleistet, ist ein Kult (vgl. Durk-
heim 2010a, 99). Es stellt sich heraus, dass man sich diesen Elementen nicht im
Einzelnen annähern kann. Ein Ritus ist nämlich eine, obligatorische Handlung,
die sich als solche, nicht von rechtlichen und moralischen Handlungen unter-
scheiden lässt (vgl. Durkheim 1967, S. 131). Damit es ihm gelingt, den Ritus von
diesen Handlungen abzuheben, zeigt er, welche unentbehrliche Verbindung er in
sich trägt. Von sonstigen Verhaltensregeln kann man den Ritus nur anhand sei-
nes spezifischen Gegenstandes absondern. Sein Zweck ist der Inhalt der Glau-
bensvorstellung, und das sind die heiligen Dinge. Die Verhaltensvorschriften, die
man bei der Ausführung von Riten berücksichtigen muss, richten sich an heilige
Dinge. Was profan ist, das wird weder Gegenstand eines Ritus sein, noch wird es
durch die Glaubensvorstellung ausgefüllt. Schwieriger ist es aber, so Durkheim,
das Heilige zu bestimmen, denn die Verschiedenheit der Dinge, die in den Reli-
gionen als heilig gelten, ist grenzenlos. Nichts ist davon ausgeschlossen, ein hei-
liges Ding zu sein. Darüber hinaus ist die Alleinstellung weder durch die Höher-
stellung gekennzeichnet, denn nicht alles, was übergeordnet ist, wird unmittelbar
dadurch heilig und noch reicht es aus, das Heilige anhand von außergewöhnli-
chen Kräften zu identifizieren, weil es nicht selten profanen Dingen an physi-
schen Kräften unterliegt. Durkheim schließt daraus, dass nur noch ein Charakte-
ristikum verbleibt, und das ist die Unvereinbarkeit, die zwischen dem Profanen
und der Sakralität besteht (ebd., S. 64). Die unendliche Verschiedenheit der hei-
ligen Dinge lässt kein anderes Merkmal außer der Andersartigkeit zu. Was heilig
ist, steht im Gegensatz zum Profanen. Mit den Verhaltensvorschriften der Riten

129 Durkheim gelingt es, so König, eine ideologische Definition der Religion zu vermeiden, indem
er sich nicht an einer spezifischen Religion orientiert, um zu den Merkmalen für das Wesen der
Religion zu gelangen (vgl. König 1978, S. 242).
230 3 Émile Durkheims Welt

kann man, folgert Durkheim weiter, Sorge tragen, dass ihre Unvereinbarkeit ge-
wahrt bleibt. Die Annäherung an heilige Dinge ist von Seiten eines profanen
Menschen mittels Riten möglich. Ferner regeln Riten die Transformation, in
deren Folge profane Dinge heilig werden. Wenn nämlich nichts davor geschützt
ist, zu den heiligen Dingen zu gehören, dann muss es einen Vorgang geben, dem
sie entspringen. Für die Sakralität sind die Riten also eine Bedingung, nur sind
sie ihrerseits an Glaubensvorstellungen gebunden, deren Gegenstand heilige
Dinge sind, um sich von gewöhnlichen Verpflichtungen abzuheben. Nur auf die-
se Weise kann man ausschließen, Elemente der Religion mit anderen Vorgängen
zu identifizieren, mit denen sie vieles gemeinsam haben.
Beim Vorgehen für die Entwicklung der Definition bleibt Durkheim inso-
fern konsequent, als er nur auf diese Weise garantieren kann, dass solche Dinge
ausgeklammert werden, die in der Welt der fortgeschrittenen Religionen nicht
infrage kommen sakral zu sein, aber auf Seiten der nicht zu diesen gehörenden
Religionen sehr wohl die radikale Verschiedenheit von den profanen Dingen
aufweisen. Definiert man die Religion zum Beispiel anhand der Idee vom Un-
endlichen, so bleiben Religionen unberücksichtigt, denen diese Idee unbekannt
ist (ebd., S. 51). Geht man also davon aus, Religion verdankt sich der Aspiration
des Menschen, sich einer Sache anzunähern, für die es keine Erklärung gibt und
sich dem menschlichen Verstand verschließt, so setzt man voraus, dass es für
alles Übrige jeweils Gesetze gibt, deren Erforschung möglich ist, d.h. die Suche
nach dem Unendlichen ist nur dort möglich, wo überhaupt die Suche nach den
Gesetzen der Dinge bekannt ist. Wenn Religion aus der Suche nach dem Unend-
lichen hervorgeht, so stehen diejenigen Religionen abseits dieser Definition, de-
nen nichts unerklärlich ist, weil sie alles dadurch erklären, dass sie es religiösen
Kräften unterordnen. Ähnlich verhält es sich mit Definitionen, die Götter und
heilige Wesen zur Voraussetzung machen. Sie schließen nicht nur Religionen
aus, in denen Persönlichkeiten dieser Art nicht vorkommen, sondern mit ihnen
wird es schwierig, das religiöse Handeln einzubeziehen, dessen Gegenstand we-
der Götter noch heilige Wesen sind (ebd., S. 59).
Hingegen reicht, so Durkheim, eine Definition, die auf Riten, Glaubensvor-
stellungen und der Trennung der heiligen und profanen Dinge beruht und man
kann den Ausschluss von Religionen verhindern. Er fasst einen Teil seiner Defi-
nition zusammen:
„Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind,
worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten
müssen. Religiöse Überzeugungen sind Vorstellungen, die die Natur der heiligen
Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander oder mit den profanen
Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vor-
schreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat“ (ebd., S.
67).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 231

Riten, Glaubensvorstellungen und die Trennung der heiligen und profanen Dinge
sind also unweigerlich aufeinander abgestellt. Sakralität ergibt sich nicht anders
als aus dem Gegensatz zum Profanen und spezielle Verpflichtungen haben ihn
zur Folge. Weil die Isolation des Heiligen vom Profanen durch die Riten, aber
auch in den Glaubensvorstellungen obligatorisch ist, schließt Durkheim daraus,
dass sie beide von einer Ursache betroffen sein müssen, die ausfindig zu machen,
das Ziel seiner Studie ist. Folglich, also weil beide untrennbar miteinander ver-
bunden sind, schließt er aus, sie jeweils für sich zu definieren. Man kann Glau-
bensvorstellung und Riten nicht getrennt definieren, denn sonst verwechselt man
die Ersteren mit Glaubensvorstellungen, die ohne Kult auskommen, trotzdem
nicht ohne Sanktionen verletzt werden können und jene mit Verhaltensvorschrif-
ten, die sich an Gegenstände richten, ohne dass diese zum Inhalt einer Glaubens-
vorstellungen gehören (vgl. Durkheim 1967, S. 135).
Was Durkheim bislang definiert hat, reicht ihm aber für Religion nicht aus.
Er nennt die Kirche, und das ist die gemeinschaftliche Ausübung der Religion
(vgl. Durkheim 2010a, S. 71). Mit der bisherigen Definition ist nämlich etwas
eingeschlossen, was, ihm zufolge, von der Religion getrennt werden muss. Die
religiösen Phänomene kommen nämlich auch in der Magie vor (ebd., S. 69), aber
sie ist nicht imstande, ein Kollektiv vermittels ihrer Riten und Glaubensvorstel-
lungen dauerhaft zu vereinen.130 Nur Religion, und nicht Magie, weist die Ein-
heit ihrer Anhänger auf, die sich allesamt zur ihr bekennen. Im Fall der Magie
stehen im Gegensatz zur Religion, wie sich noch zeigen wird, nur die vor-
schriftsmäßigen Zwecke der magischen Riten im Vordergrund. Sie in Anspruch
zu nehmen, ist kein Anlass dafür, dass man zu den anderen findet, die sich eben-
falls ihrer Dienste bedienen. Der Magie gehen die Wirkungen ab, denen sich eine
„moralische Gemeinschaft“ (ebd., S. 71) verdankt. Erst die Abgrenzung erlaubt
Durkheim, die Definition zu vervollständigen:
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die
sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Prak-
tiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kir-
che nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (ebd., S. 76; Herv. im Orig.).
Die Merkmale der Definition gestatten ihm, zum einen die Religion von anderen
Tatbeständen wie dem Recht und der Moral abzugrenzen (vgl. Durkheim 1967,
S. 133) und weil sie zum anderen nicht den Zweck erfüllt festzulegen, wie eine
Religion sein sollte, schließt sie weder frühe Religionen noch Rudimente ehema-
liger Religionen aus. Die Glaubensvorstellungen und Riten, die aus ihnen erfol-
gende Sortierung der Dinge in eine heilige und eine profane Welt und Einheit
derer, die sich zu den Glaubensvorstellungen und Riten bekennen, müssen daher

130 Daran lässt sich die Definition der Magie von Mauss anknüpfen: „Wir benennen so jeden
Ritus, der nicht Teil eines organisierten Kultes, sondern privat, heimlich, geheimnisvoll ist und
zum verbotenen Ritus als seinem Extrem tendiert“ (Mauss 1978, S. 58; Herv. im Orig.).
232 3 Émile Durkheims Welt

mit den Ursachen in Verbindung stehen, die alle Variationen der Religion her-
vorbringen. Daher weisen sie den Weg, um die Ursachen aufzuspüren, und zwar
auch diejenigen des Totemismus.
Durkheim nimmt selbst keine Erhebungen vor, sondern er bedient sich am
umfangreichen Material ethnographischer Studien (vgl. Durkheim 2010a, S.
139), deren Gegenstand der Totemismus in Australien und Nordamerika ist. Die-
se Religion verzeichnet auf den beiden Kontinenten ausreichend Übereinstim-
mungen, um Ergebnisse mit Hilfe von Vergleichen generieren zu können. Für
das Verständnis des Totemismus sind zunächst die folgenden Elemente nen-
nenswert: das Totem, der Clan, die Phratrien, die drei liturgischen Instrumente
und das Individualtotem. Als erstes das Totem, dessen Stelle durch Tiere, Pflan-
zen, Dinge der unbelebten Natur und ab und an auch Ahnen oder Ahnengruppen
besetzt wird (ebd., S. 154 ff.). Ist es der Tier- oder eine Pflanzenwelt entnom-
men, so dient hierfür die gesamte Gattung oder Art und nicht ein einzelnes
Exemplar. In der Regel sind es äußerlich bescheidene Tiere oder Pflanzen. Die
Größe ist kein Kriterium.
Ausschlaggebend ist aber der Clan, für den das Totem konstitutiv ist (ebd.,
S. 151 f.). Innerhalb eines Stammes ist der Clan eine Gruppe, dessen Bezeich-
nung sich vom Totemding ableitet, denn auch mit diesem haben die Clanangehö-
rigen die Abstammung gemeinsam. Ein Clan kann nicht über mehr als ein zent-
rales Totem verfügen. Neben dem Totemding sind es auch Verhaltensvorschrif-
ten, von denen die Angehörigen des Clans im Besonderen betroffen sind und die
somit diesen abschließen. Das Totem gibt also dem Clan einen Namen, es ist
aber nicht dadurch bedingt, territorial verankert zu sein. Nur die gemeinsame
Verehrung eines Totems legt die Grenzen eines Clans fest. Die Zugehörigkeit ist
entweder matri- oder patrilinear geregelt oder sie ergibt sich durch Regeln für die
Fertilisation durch mythische Wesen (ebd., S. 161).
Der Totemismus ist also nicht nur eine Religion, sondern er regelt auch die
Einteilung der Menschen. Ein Stamm besteht aus maximal zwei Phratrien, die
dem Clan übergeordnet sind, wobei auch ihre Grenzen aus gemeinsamen Verhal-
tensvorschriften resultieren, die u.a. das Konnubium betreffen (ebd., S. 163 ff.).
Er kann nicht mehr als einer Phratrie angehören. Jeder Clan verfügt über ein
meist aus Holz oder Steinen hergestelltes Gerät, mit dem sich Geräusche durch
rasche Umdrehungen erzeugen lassen. Man nennt es Churinga und er kommt
während bestimmter Zeremonien zum Einsatz (ebd., S. 178). Jeder Clan besitzt
ein dauerhaftes Exemplar eines Churinga, wohingegen der Nurtunja und der
Waninga zwei Instrumente sind (ebd., S. 186), die eigens für eine Zeremonie
angefertigt werden. Ist sie beendet werden sie wieder vernichtet. Die totemisti-
schen Kulte werden planmäßig von den Gläubigen durchgeführt, so dass sie eine
Voraussetzung dafür schaffen, die Clanangehörigen zu versammeln.
Schließlich das Individualtotem, das sich erstens nur aus einem einzelnen
Exemplar einer Gattung und nicht aus dieser ergeben kann und zweitens jeweils
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 233

nur einem Clanangehörigen gehört, der sich zum einen für dessen Schutz ver-
antwortlich fühlt und zum anderen auf den Schutz durch sein eigenes Totem
zählt (ebd., S. 235 ff.). Der Individualtotemismus erlaubt Durkheim zu belegen,
warum er nicht untersucht, ob Religion ihren Ursprung im Individuum hat. Das
schließt er sogar aus, und hierfür verweist er nicht nur darauf, dass das Individu-
altotem erst nachträglich erworben wird, während man mit der Geburt einem
Kollektivtotem zugeordnet wird (ebd., S. 264). Dass der Individualtotemismus
auf dem Kollektivtotemismus beruht, begründet er ferner durch die einge-
schränkte Auswahlmöglichkeit, denn der einzelne Clanangehörige kann sich
nicht ein Exemplar irgendeiner Gattung aussuchen, sondern ist darauf festgelegt,
aus den Dingen zu wählen, die mindestens ein Untertotem des eigenen Clans
sind (ebd., S. 267). Die Studie richtet sich also an den Kollektivtotemismus und
nicht an den Individualtotemismus, denn dieser setzt jenen voraus. Religion ist,
schließt Durkheim, keine rein individuelle Angelegenheit, weil der Kollektivto-
temismus nicht nach dem Individualtotemismus entstanden sein kann. Stattdes-
sen verhält es sich umgekehrt.
Anhand der genannten Elemente analysiert Durkheim den Totemismus im
Hinblick auf die Ursachen der Merkmale, mit denen er die Religion definiert.
Als erstes geht er den totemistischen Glaubensvorstellungen nach, damit er die
Quelle der heiligen Dinge erklären kann. Einem Clan sind u.a. die folgenden
Dinge heilig: Das Wesen, das als Totem dient, die Angehörigen eines Clans und
einige ihrer Organe und die drei Instrumente, auf die man für verschiedene Ze-
remonien zurückgreift. Sein Vorhaben, aus den heiligen Dingen ihren Ursprung
zu ersehen, beeinträchtigen jedoch die folgenden Schwierigkeiten: Zum einen
sind die Verbote zum Schutz der Heiligkeit für unterschiedliche Angehörige des
Clans, aber auch des Stamms ungleich ausgelegt. Zum anderen sind die heiligen
Dinge hinsichtlich ihrer Sakralität ungleich. Essverbote, die Totemtiere oder -
pflanzen betreffen, sind im Alltag gültig, während einiger religiöser Zeremonien
ist der Verzehr aber verpflichtend, ausgenommen für die profanen Angehörigen
des Clans (ebd., S.192). Verzehr und Ernte des Totems sind anderen Clanen ei-
ner Phratrie erlaubt, solange dabei Regelungen befolgt werden (ebd., S. 194).
Verhaltensvorschriften, die den Verzehr oder die Ernte des Totems betreffen,
gelten also auch für die Angehörigen der Nachbarclane, nur dass sie ihnen im
Gegensatz zu den Gläubigen des Totems weniger Beeinträchtigungen zumuten.
Der Konsum des Totems ist jedoch auf vorgeschriebene Weise erlaubt, wenn es
sich um ein lebenswichtiges Nahrungsmittel handelt. Schließlich ist ein generel-
les Verbot, das Totem zu konsumieren, in den Phratrien nicht möglich, ohne die
Versorgung der Angehörigen aller Clane zu gefährden (ebd., S. 208). Kontakt-
oder Berührungsverbote gibt es für die heiligen Tiere oder Pflanzen nicht. Insge-
samt verlangen die Verhaltensvorschriften, die das Benehmen gegenüber Totem-
tier oder -pflanze regeln oder dieses schützen, unterschiedliche Resonanzen. Die
234 3 Émile Durkheims Welt

erste Anmerkung lautet daher: Die Verhaltensvorschriften sind nicht geradlinig


gültig.
Die unterschiedlichen Zumutungen gehen auf die Sakralität des Gläubigen
zurück, die ebenfalls ungleich verteilt ist. Während Greise von den wenigsten
Verboten betroffen sind, müssen sich Frauen und nicht-initiierte Männer am
meisten einschränken. Letztere sind von Zeremonien ausgeschlossen (ebd., S.
206). Die überlegene Sakralität des Mannes wird ihrerseits von dessen Blut und
Haaren übertroffen. Beide sind Gegenstände bestimmter Zeremonien und müs-
sen vor profanen Dingen in Entfernung gehalten werden. Muss während einer
religiösen Feier das Blut eines Beteiligten fließen, so dürfen Frauen es nicht se-
hen (ebd., 204). Heilig sind die Menschen aber insgesamt deswegen, weil sie
einem Clan angehören. Dazu entnimmt Durkheim dem Material totemistische
Mythen, denen zufolge die Gläubigen in einer verwandtschaftlichen Beziehung
mit Tier oder Pflanze des Totems stehen (ebd., S. 200). Die Gläubigen sind also
zwar allesamt heilig, nur gibt es eine Stufenleiter der Sakralität, die an den Ver-
boten erkennbar wird, von denen die einen mehr als die anderen eingeschränkt
werden.
Zu einem Clan gehören aber nicht nur seine Angehörigen und das Totem.
Anhand der Daten stellt Durkheim fest, dass alle den Menschen bekannten Dinge
der belebten und unbelebten Natur auf die Clane eines Stammes verteilt sind.
Das liegt im Falle des Totemismus in Australien und Nordamerika vor (ebd., S.
215). Durkheim geht noch weiter, er konstatiert auf Seiten der Clanangehörigen
die Orientierung daran, dass zwischen allen zum Clan gehörenden Dingen eine
harmonische Verwandtschaft besteht, bei der allesamt, also die Menschen und
die belebten und unbelebten Dinge der Natur im Wesentlichen etwas mit dem
Totem gemeinsam haben. „Ein Band mystischer Sympathie verbindet auf diese
Weise jedes Individuum mit den lebenden oder toten Dingen, die mit ihm ver-
bunden sind“ (ebd., S. 223). Das kann er feststellen, weil sich aus der im Tote-
mismus vorgenommenen Zuordnung der Dinge nicht nur der jeweilige Bestand
eines Clans ergibt, doch auf die Moral entsprechend ausgeweitet wird. Verhal-
tensvorschriften, die zum Schutz des Totems bestehen, gibt es auch für die übri-
gen zum Clan gehörenden Dinge. Das geht schließlich so weit, dass sich Respekt
seitens der Angehörigen der anderen Clane für jene Dinge beobachten lässt
(ebd., S. 231).
Darüber hinaus verweist er auf Beobachtungen von Entfaltungen innerhalb
eines Clans. Wann immer sich in einem Clan eine Gruppe bildet, suchen sich
deren Angehörigen ein Untertotem, nur können sie hierbei lediglich aus den zu
ihrem Clan sortierten Dingen auswählen. Was die Stelle einnimmt, an die der
neue Unterclan die Verehrung richtet und für das er Kulte initiiert, kann nur aus
dem Kreis der integrierten Dinge kommen (ebd., S. 228). Die Entfaltung kann
sogar dazu führen, dass sich ein neuer Clan bildet, wobei deren Totem das ur-
sprüngliche Totem seiner Angehörigen an Heiligkeit übertrifft. Das ethnographi-
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 235

sche Material gibt außerdem her, dass die Sortierung der Dinge nicht ohne Ver-
ständigung zustande kommt, da ein Clan kein Element seines Bestands mit ei-
nem anderen Clan teilt. Jedes Ding ist einmalig eingeteilt. Durkheim schließt
daraus, dass im Totemismus alle Dinge der belebten und unbelebten Natur einen
bestimmten Grad der Sakralität aufweisen, da sie ebenfalls Gegenstand von Ver-
haltensvorschriften sind und ihre Existenz jeweils einem Clantotem verdanken,
an dessen Natur sie teilhaben. Zudem zeigt die Kenntnis der heiligen Dinge in-
nerhalb eines Stammes, dass Sakralität nicht an den Grenzen einer Gruppe halt-
macht. Ist beispielsweise ein Baum dem Känguru-Clan zugeordnet, so ist das
Känguru das Totem des Baumes (ebd., S. 211). Dessen Heiligkeit beruht darauf,
an Merkmalen des Kängurus teilzuhaben, genauer: Seinen Ursprung in ihm zu
haben. Die Nachbarclane werden ihn zwar nicht in ihre Ordnung aufnehmen, den
Respekt, der ihm zuteil wird, nehmen sie aber teilnehmend zur Kenntnis.
Heilig ist auch die Totemabbildung. Sie wird auf Unterkünfte, Waffen,
Gräber und Leichen gezeichnet oder die Angehörigen eines Clans lassen sich ihr
Totem tätowieren (ebd., S. 172). Anlässlich bestimmter Zeremonien wird sie auf
den Boden gemalt. Nurtunja und Waninga werden in einer normierten Weise
hergestellt, so dass die verschiedenen hierfür verwendeten Materialien das To-
tem abbilden (ebd., S. 184). Mit dem Bild wird auch der Churinga verziert, der
maximal heilig ist. „[…] es gibt nichts, was ihn an religiöser Würde übertrifft“
(ebd., S. 178). Für dieses Gerät gelten besondere Vorschriften, die zwar erneut
nicht für alle gleich sind, aber insgesamt an Strenge allen anderen Vorschriften
überlegen sind. Churinga, aber auch Nurtunja und Waninga dürfen von Frauen
und nicht-initiierten Männern weder gesehen noch berührt werden (ebd., S. 198).
Sein Aufbewahrungsort ist geheim und nur heilige Männer dürfen sich ihm nä-
hern. Durkheim konstatiert, dass die liturgischen Instrumente heiliger sind als
Totemtier oder -pflanze. Der Ursprung ihrer Sakralität interessiert ihn daher.
Dass es das Material oder die natürliche Form der liturgischen Instrumente sein
kann, aus dem sich die Heiligkeit schöpft, stellt sich deshalb für ihn als unzutref-
fend heraus, weil zum einen die sonstigen Gegenstände, deren Material eins mit
dem des Churinga ist, rein profaner Natur sind. Zum anderen spricht die Ver-
weildauer der anderen beiden Instrumente dagegen, da sie nur für die Zeitspanne
der Zeremonien hergestellt und anschließend ordnungsgemäß vernichtet werden.
Ihre Materialien sind nicht dauerhaft heilig. Er folgert:
„Die churinga sind Gegenstände aus Holz oder Stein wie tausend andere. Sie unter-
scheiden sich von profanen Dingen nur durch eine Eigenschaft: auf sie ist das To-
temzeichen graviert oder geschnitzt. Dieses Zeichen und nur dieses allein gibt ihnen
den heiligen Charakter“ (ebd., S. 182; Herv. im Orig.).
Nurtunja und Waninga unterstützen seinen Schluss, denn deren Herstellung be-
ruht auf Vorgaben, die den Zweck erfüllen, das Totem in seiner Erscheinung
abzubilden. Weiter schreibt er:
236 3 Émile Durkheims Welt

„So verdanken der churinga, der nurtunja, der waninga ihre religiöse Natur einzig
und allein dem Totemzeichen, das sie tragen. Dieses Zeichen ist heilig. Es behält
diese Eigenschaft, wo auch immer es dargestellt ist“ (ebd., S. 187; Herv. im Orig.).
Durkheims bisheriger Schluss beruht also auf Folgendem: Die Verhaltensvor-
schriften sind heterogen ausgelegt. Gegenüber religiösem Gesetz sind die tote-
mistischen Gläubigen nicht gleich. Die Über- und Unterordnung der Clanange-
hörigen beruht auf dem unterschiedlichen Grad ihrer Sakralität, denn sie sind je
nach Alter und Geschlecht nicht gleich heilig. Die Klassifizierung der Dinge
entlang der Clan- und somit der Totemgrenzen lässt die Verwandtschaft zwi-
schen all den Dingen erkennen, die dem Totem zugeordnet sind und das bedeu-
tet, dass sie nicht profaner Natur sind. Das Wesen, das eigentlich das Totem
stellt, weist zwar einen höheren Grad an Heiligkeit auf, als es die übrigen Dinge
tun, die in der Ordnung des Stammes zum Clan des betreffenden Totems sortiert
und damit ebenfalls heilig sind, es ist aber weniger heilig, als es die liturgischen
Instrumente sind und es ist sogar weniger heilig als seine eigene Abbildung.
Weil die Verbote zur Abwehr der profanen Dinge immer dann die höchste Inten-
sität aufweisen, wenn sie etwas schützen, was die Totemabbildung enthält, ist die
Sakralität von Totemtier oder -pflanze ihr gegenüber geringer und somit ruft sie
andere Wirkungen hervor, als es diese tun können (ebd., S. 197 f.). Außerdem
sind die Verbote zu deren Schutz relativ, wohingegen es für die Verbote zum
Schutz des Churinga keine Ausnahmen gibt.
Angesichts der maximalen Sakralität von Churinga, Nurtunja und Waninga,
die darauf beruht, dass das Totem entweder auf dem Instrument abgebildet ist
oder durch das Instrument abgebildet wird, folgert er: Erst die Totemabbildung
bringt den unvereinbaren Gegensatz zwischen den maximal heiligen Dingen,
nämlich den liturgischen Instrumenten und der profanen Welt hervor, da ihr Ma-
terial ansonsten nichts aufweist, was sie zu ihrer heiligen Stellung begünstigt.
Ihre Sakralität ist ihnen nicht inhärent. Einzig eine Sache haben die liturgischen
Instrumente unterschiedlicher Clane gemeinsam, wohingegen zwischen ihren
materiellen Bestandteilen keine Überschneidungen bestehen. Ihre Gemeinsam-
keit ist die Totemabbildung, die sie im Falle des Churinga allesamt aufweisen
oder im Falle von Nurtunja und Waninga selbst darstellen.
Allerdings belastet eine weitere Schwierigkeit die Suche nach dem Ur-
sprung der heiligen Dinge. Die Qualität der Zeichnung muss nicht in jedem Fall
genügen, um das Totemwesen tatsächlich zu identifizieren. Das trifft außerdem
auch für Nurtunja und Waninga zu, deren Formen nicht erkennen lassen, ob sie,
so Durkheim, vom Clan des Gummibaums oder des Emus verehrt werden (ebd.,
S. 188). Man erkennt nicht, ob die Instrumente einen Gummibaum oder ein Emu
abbilden. Weil also schwer erkennbar ist, was eigentlich der Gegenstand einer
Totemabbildung ist und somit ausschließlich die Angehörigen des Clans der
Willkür der Totemabbildung die Zeichen eines heiligen Dings entnehmen kön-
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 237

nen, folgert er im Weiteren, dass sich die Verehrung nicht auf ein und dasselbe
Konterfei eines Totems zurückführen lässt, sondern sie ist auf eine Vorstellung
gerichtet, deren Repräsentation die Totemabbildung ist (ebd., S. 189). Auf die
Sakralität kann man also erstens nicht stoßen, wenn man nach der Übereinstim-
mung der empirischen Züge aller heiligen Dinge sucht. Zweitens geben jene kei-
ne Auskunft über die Ursache der Sakralität, da es beliebig ist, was die To-
temabbildung illustriert. Somit kann Durkheim ausschließen, dass weder die
heiligen Dinge noch die Abbildung des Totems für sich die Sakralität suggerie-
ren. Bislang kann er den Ursprung der Sakralität nicht ausfindig machen. Sie ist
also arbiträr, weil nicht nur prinzipiell alles in das Sortiment der Dinge, die hei-
lig sind, aufgenommen werden kann, sondern weil auch die Identifikation der
Totemabbildung nicht auf eindeutig gezeichneten Zügen beruht. Insofern sich
Totemtier oder -pflanze mit der Totemabbildung nicht gleichsetzen lassen und
sie ohnehin das, was sie darstellt, in der Sakralität übersteigt, muss Durkheim
zunächst die Vorstellung auftun, die sich hinter der Totemabbildung verbirgt,
bevor er untersucht, was die Trennung zwischen heilig und profan verschuldet.
Ethnographische Daten über die Glaubensvorstellungen in Samoa, Nord-
amerika und Melanesien helfen ihm weiter. Auf Samoa werden Götter verehrt,
die, entsprechend den Grundzügen des Totemismus, zum einen jeweils in Bezug
zu einer lokalen Gruppe stehen und sich zum anderen von einer Tiergattung ver-
treten lassen (ebd., S. 285). Hingegen lassen sich Götter in Nordamerika und
Melanesien nicht feststellen, dafür aber eine anonyme Kraft, die man je nach
Kirche wakan, orenda oder mana nennt (ebd., S. 286 ff.). Was dem Totemismus
in Australien nicht gelingt, ist die Abstraktion dieser Kraft von den heiligen Din-
gen. Im Denken der Gläubigen auf Samoa und in Australien tut es der Sakralität
keinen Abbruch, wenn ein Exemplar des verehrten Tieres stirbt, nur sind erstere
in der Lage, die Vorstellung zu bezeichnen und zu beschreiben, die sie von der
Tiergattung filtern. Diese Abstraktion gelingt auch den Kirchen, denen die ano-
nyme Kraft bekannt ist, aber man stellt sie sich nicht in Umrissen vor. In Austra-
lien jedoch erfolgt die Verehrung nicht losgelöst von der Totemabbildung, d.h.
die zu ihr gehörende Vorstellung wird nicht konkretisiert (ebd., S. 282). Dass das
Denken der australischen Gläubigen anders beschaffen ist, nämlich der Abstrak-
tion nicht gewachsen ist, weist Durkheim zurück. Stattdessen nennt er die sozia-
len Bedingungen, die sie daran hindern, sich über jene anonyme Kraft zu ver-
ständigen, denn eigentlich sollte die geglaubte Wesensgleichheit zwischen den
sinnhaft heterogenen Dingen, die dem Clan zugeteilt sind, die Abstraktion er-
möglichen. Solange die Clane innerhalb eines Stammes autonom sind und sich in
nebeneinander liegende Welten durch je einzelne Totems teilen, gibt es, so
Durkheim, keinen Anlass, um das eigene und von den anderen Clanen verehrte
Totem von einer gemeinsam anonymen Kraft betroffen zu denken (ebd., S. 292).
Diese ist dem australischen Totemismus zwar unbekannt, weil aber die we-
sentlichen Eigenschaften der heiligen Dinge seiner Kirche keine Überschneidun-
238 3 Émile Durkheims Welt

gen aufweisen, kann es nur die Betroffenheit von der anonymen Kraft sein, die
ihnen gemeinsam ist. Die Absicht des Vergleichs, den Durkheim mit den unter-
schiedlichen Daten vornimmt, ist es, offen zu legen, dass die anonyme Kraft
losgelöst von den heiligen Dingen besteht.
„Der Totemismus ist keine Religion dieser oder jener Tiere, dieser oder jener Men-
schen oder dieser oder jener Bilder, sondern einer anonymen und unpersönlichen
Kraft, die sich in jedem dieser Wesen befindet, ohne mit einem von ihnen zusam-
menzufallen. Keiner besitzt sie ganz, aber alle sind daran beteiligt. Sie ist von den
einzelnen Trägern, in denen sie sich inkarniert, derart unabhängig, dass sie ihnen vo-
rangeht und sie überlebt“ (ebd., S. 281).
Alles, was im Totemismus zum Gegenstand der Ehrfurcht wird, muss von etwas
betroffen sein, das gegenüber allem, was heilig ist, anders und selbständig ist, da
sich nur so erklären lässt, dass erstens die heterogene Beschaffenheit der heiligen
Dinge ansonsten keinen gemeinsamen Nenner zulässt, ihnen also nichts an sich
eigen ist, was veranlasst sie zu verehren. Schließlich reicht es aus, eine Position
im Clan zugewiesen zu bekommen. Zweitens ist es nur dann möglich, die Identi-
fikation der Totemabbildung einer relativen Beliebigkeit zu überlassen. Obwohl
sich dem ethnographischen Material für Australien nicht entnehmen lässt, dass
sich die Gläubigen etwas vorstellen, das der Totemabbildung übergeordnet ist,
lässt der Vergleich mit den anderen totemistischen Kirchen, deren Gläubigen die
Abstraktion von den heiligen Dingen möglich ist, die anonyme Kraft hervortre-
ten. Verehrt werden nicht die heiligen Dinge, sondern das, was die Dinge heilig
macht und was sie repräsentiert. Nur das erklärt, warum Exemplare der heiligen
Dinge vergehen können, ohne dass die entsprechenden Glaubensvorstellungen
an Geltung verlieren und warum ein Abbild heilig ist, das augenscheinlich auch
die Wiedergabe vielfältiger und untereinander verschiedener Dinge sein kann.
Wenn die anonyme Kraft im Denken der Clanangehörigen alles befällt, was
ihrem Clan zugeordnet ist, aber von allen zugeordneten Dingen verschieden ist,
dann, so Durkheim, ist sie dermaßen vage, dass sie keine Eigenschaften hat. Was
sie aber kann, ist hinter allem zu stehen, was ist und lebt.
„[…] mana sitzt nirgends und ist doch überall. Alle Lebensformen, alle Leistungen
der Menschen oder lebender Wesen, selbst der Mineralien werden seinem Einfluss
zugeschrieben“ (ebd., S. 290; Herv. im Orig.).
In der Abstraktion der anonymen Kraft, die sich auf den heiligen Dingen nieder-
lässt, konstatiert Durkheim das Prinzip der Kausalität. Sie ist in den totemisti-
schen Kirchen die Ursache aller Dinge. Was glückt und was misslingt, ist mehr
oder weniger von ihr berührt. Sie muss für die Erklärung des physischen Lebens
herhalten, aber auch für die Rechtfertigung der Verbindlichkeiten, die zwischen
den Angehörigen einer Kirche bestehen (ebd., S. 283).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 239

Jedes heilige Ding ist von ihr belebt, auch das Individuum. Der Clanange-
hörige hat die anonyme Kraft in sich, denn in der Ordnung des Totemismus ist
auch er heilig.131 Im Individuum ist also etwas, was vom Organismus verschie-
den ist, nämlich das, was man andernorts die Seele nennt. Der Umgang mit dem
Tod und die Erklärung für den Nachwuchs lässt die anonyme Kraft im Individu-
um hervortreten. Für die Verstorbenen sind nämlich eigens Trauerriten einge-
richtet, die nicht den sinnhaften Teil, also nicht den Leichnam des Clanangehöri-
gen zum Gegenstand haben (ebd., S. 360). Vom Toten bleiben zwei Teile übrig,
wovon eins, so Durkheim, vom Körper losgelöst ist. Die ethnographischen Auf-
zeichnungen über die Empfängnismythen geben weitere Auskunft, und zwar: Im
Denken der Gläubigen weist jedes Neugeborene eine Verbindung zu den Ahnen
des Clans auf, die für jede Schwangerschaft verantwortlich gemacht werden.
„Die Geburt ist die Verkörperung der Ahnenperson“ (ebd., S. 373). Die unfass-
bare Seite des Individuums steht für das übertragene Wesen der Ahnen, das sich
gegenüber dem Körper selbständig verhält. Mit dem Totem waren diese aber zur
Ursprungszeit des Clans nicht ungleich. Aus den dokumentierten Mythen geht
hervor, dass Totemtier oder -pflanze anfangs mit den Ahnen vermengt waren.
Weil sie zusammenfallen, ist auch die Seele des Neugeborenen mit ihnen we-
sensgleich. „Aber nicht als empirisches und sinnhaftes Wesen“ (ebd., S. 382).
Sind Ahnen und Totem vermischt, so gilt das auch für die Seele des Individu-
ums. Die Gläubigen nehmen insgesamt an, mit dem Totem in einem tatsächli-
chen Verwandtschaftsverhältnis zu stehen, und das obwohl die empirischen Un-
vereinbarkeiten nicht zu leugnen sind. Weil sie ebenso wie das Totem von der
anonymen Kraft belebt werden, sind sie allesamt miteinander verwandt, die ver-
storbenen, die lebenden und die kommenden Clanangehörigen und das Totem
(ebd., S. 329). Im Totemismus ist somit auch das Individuum als Angehöriger
des Clans heilig, aber das gilt nur für eine der beiden Seiten, nämlich die, die
nicht an den Körper gebunden ist und mit dem Wesen der Ahnen übereinstimmt.
Die anonyme Kraft befällt die Dinge einschließlich der Menschen, die in
der Ordnung des Stammes einem Clan zugeordnet werden, sie steht hinter der
Totemabbildung und mit ihr lässt sich für das Geschehen und Leben eine Ursa-
che angeben. Durkheim muss nun eine Erklärung dafür finden, warum sich die
anonyme Kraft auf Dingen fixiert, die hiernach heilig sind. Im Hinblick darauf
muss er berücksichtigen, die totemistischen Glaubensvorstellungen nicht als Irr-
tum zu entlarven. Anders ausgedrückt: Wenn ein Ding, dessen empirischen Züge
von bescheidener Natur sind oder sich nur von Eingeweihten überhaupt erkennen
lassen, so dass es von sich aus weder ein erhabenes Gefühl noch Furcht und Be-
drohung hervorruft, dann muss sich seine Sakralisierung keiner Illusion, aber
einer Wirklichkeit verdanken, und die lässt sich ausfindig machen, wenn man

131 Daher nennt Peter Berger das Chaos als die „Gegenkategorie“ des Heiligen (vgl. Berger 1988,
S. 27).
240 3 Émile Durkheims Welt

ihre Gründe zum Vorschein bringt. Gelingt das, so ist jeder Vorwurf ungebühr-
lich, der eine Kirche wegen seltsamer Glaubensvorstellungen der Selbsttäu-
schung bezichtigt. Durkheim verfährt in dieser Hinsicht so, dass er der Quelle
der heiligen Dinge, aber auch den Auswirkungen nachgeht, die von Seiten der
anonymen Kraft die Kirche und den einzelnen Gläubigen treffen. Ihn interessiert,
was die Gläubigen veranlasst, sich an einer anonymen Kraft zu orientieren und
wofür die heiligen Dinge stellvertretend stehen, denn weil sich deren Status auf
die anonyme Kraft zurückführen lässt, sind sie ein Symbol für etwas anderes.
Die ethnographischen Beobachtungen über die Corrobbori helfen ihm weiter.
Zeremonien sind Anlässe für die Versammlung der Angehörigen des Clans
und Corrobbori sind Zeremonien, an denen es den Frauen und Nicht-Initiierten
eines Clans erlaubt ist, sich zu beteiligen (ebd., S. 319). Durkheim stellt eine
Beobachtung besonders hervor, nämlich die beträchtliche und sich selbst ver-
stärkende Erregung, die er Efferveszenz nennt (ebd., S. 320). Die aufwallenden
Emotionen, so das ethnographische Material, nehmen zu, während die Beteilig-
ten die rhythmischen Bewegungen des Rituals zu Ehren des Totems durchfüh-
ren. An ihnen lassen sich intensive Gefühle der Erregung beobachten, die in ei-
nem Zusammenhang mit den Verhaltensweisen der Zeremonie stehen, d.h. die
Erregung bildet sich heraus, weil die Beteiligten, und das bemerkt Durkheim,
unter sozialem Einfluss stehen. Ansonsten steht keine Kraft zur Verfügung, die
während der Zeremonie den Organismus der Beteiligten beeinflusst. „Nun wirkt
aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel“
(ebd.). Für die Gläubigen gehen die heftigen Gefühle zwar auf die anonyme
Kraft zurück, von der sie sich betroffen glauben und die sich im verehrten und
für die Zeremonie zentralen Totem symbolisiert, tatsächlich aber gewinnt der
Clan durch seine außeralltägliche Vollversammlung eine Kraft. Ursprung der
Efferveszenz ist für Durkheim die Zeremonie, denn sie veranlasst, dass sich die
gesamte Kirche im Hinblick auf die gleichmäßige Verehrung des Totems ver-
sammelt (ebd., S. 325). Hinter der Erregung stehen dichte Interaktionen. Es sind
also erstens die anonyme Kraft, die sich in der Totemabbildung symbolisiert und
zweitens die Wirkungen, die durch gleichmäßige Verhaltensweisen versammel-
ter Menschen hervorgerufen werden, besonders intensiv. Die Sakralität der To-
temabbildung ist während der Zeremonie erschöpfend, da es jene ist, an die sich
das Ritual richtet, nur ist es nicht sie, sondern das Soziale, das die Erregung her-
vorruft. Weder dem einzelnen Gläubigem noch der verehrten Totemabbildung
kann die beobachtete Efferveszenz entspringen. Die Ursache ist dem zwar Gläu-
bigen äußerlich, aber er macht das heilige Ding dafür verantwortlich. Die allseits
erlebte Erregung wird auf die Totemabbildung zurückgeführt, an die sich das
gemeinsame Handeln während der Zeremonie richtet. Durkheim konstatiert:
„Der heilige Charakter, der eine Sache bekleidet, liegt also nicht in den inneren Ei-
genschaften der Sache selbst: er ist dazugekommen. Die Welt des Religiösen ist also
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 241

kein besonderer Aspekt der empirischen Natur, er ist ihr immer aufgesetzt“ (ebd., S.
339; Herv. im Orig.)
Er führt also die anonyme Kraft auf die faktisch gegenwärtige Versammlung der
Beteiligten zurück, nur gründet sie sich nicht auf der Menge, sondern auf den
sozialen Wechselwirkungen, die sich während der Zeremonie ereignen. Weil die
Sakralität der Totemabbildung sozialer Natur ist, sind Zeremonien unerlässlich.
Die Sakralität verkümmert sonst. Bleibt die Durchdringung der Clanangehöri-
gen, wie sie beim Corrobbori besonders intensiv erfolgt, langfristig aus, so
schreibt man einem heiligen Ding nicht mehr die anonyme Kraft zu und es bleibt
auf seine empirischen Komponenten reduziert. Somit kann man den Gläubigen
einer seltenen Kirche, unabhängig davon wie irrwitzig ihre heiligen Dinge sind,
nicht vorwerfen, dass sie sich einer Illusion hingeben.
Was tatsächlich die Effekte der Versammlung hervorruft, ist dem Gläubigen
nicht zugänglich. In seinem Denken sind es die heiligen Dinge, denen er die Ef-
ferveszenz verdankt. Die Sakralität der heiligen Dinge entspringt einer Zuschrei-
bung. Durkheim nimmt folgenden Vergleich vor: Neben Dingen, die für eine
Kirche heilig sind, gibt es weitere Dinge, die zwar religiös belanglos sind, aber
Gegenstand der Verehrung sind. Ihre sinnlichen Eigenschaften sind allerdings
ebenfalls nicht in der Lage, ihre Verehrung hervorzurufen. Hierfür nennt Durk-
heim Herrscher, Adlige, Prinzen und politische Führer, er verweist auf Ideen wie
wissenschaftlichen Fortschritt, Vaterland oder Freiheit. Darüber hinaus bemerkt
er, dass eine Fahne und sogar eine abgestempelte Briefmarke, deren Nutzen ein
für alle Mal dahin ist, zum Gegenstand der Apotheose werden können, und das
obwohl ihre materialen Bestandteile keine Veranlassung hierzu geben (ebd., S.
317 ff.).132
Was die Dinge demnach gemeinsam haben, ist die fehlende Kraft in ihren
konstitutiven Eigenschaften, auf die man den ihnen gebührenden Respekt zu-
rückführen kann. Nichtsdestoweniger stehen sie in Verbindung mit einer Kraft,
die, so Durkheim, das Verhalten des Individuums einem physikalischen Phäno-
men gleichen lassen kann (ebd., S. 337). Nur eine Kraft, die von der Naturkraft,
aber nicht von der anonymen Kraft des Totemismus grundverschieden ist, kann
das Individuum unterordnen, und das ist die Kraft des Sozialen. Wenn die Dinge,
die Ehrfurcht auf sich ziehen können, deswegen das Individuum veranlassen

132 Fustel de Coulanges, von dem ein Einfluss auf Durkheim ausging, kommt am Beispiel des in
der Antike verehrten Herdfeuers auf ein ähnliches Ergebnis: „Das Herdfeuer ist also eine Art
moralisches Wesen. Zwar leuchtet es, erwärmt und kocht die heiligen Speisen, aber es ist zu-
gleich Gedanke, Bewusstsein; es ersinnt Pflichten und wacht darüber, dass sie erfüllt werden.
Man könnten es einen Menschen nennen, denn es hat die doppelte Natur des Menschen: Mate-
riell betrachtet, glüht es, bewegt sich, lebt, spendet Fülle, hilft die Mahlzeiten bereiten und
nährt so den Körper; moralisch betrachtet, hat es Gefühle und Neigungen, gibt dem Menschen
die Reinheit, befiehlt das Schöne und Gute, nährt die Seele“ (Fustel de Coulanges 1988, S. 49
f.).
242 3 Émile Durkheims Welt

können, sich ihnen ungeachtet von Kosten und Nutzen hinzugeben, weil sie über
etwas verfügen, was ihnen nicht inhärent ist, dann sind sie bloß der Träger einer
ihnen äußerlichen Macht. Sie kann das Individuum so beeinflussen, wie es den
Zwängen der Natur gelingt, nur übt sie keine natürliche, doch eine moralische
Macht aus, die sich an den Gegenständen der Ehrfurcht objektiviert, ohne dass
diese in der Lage sind, eine Kraft aus ihrer Beschaffenheit entspringen zu lassen
(ebd., S. 308). Gibt man sich der Macht der verehrten Dinge hin, so geschieht
das nicht unter der Bedingung, dass sie die physische Widerstandskraft des Men-
schen brechen oder er deren physische Überlegenheit einsieht. Kann jemand
trotz seiner physischen Unterlegenheit anderen erfolgreich verordnen, gegen
ihren Nutzen zu handeln, so geht das auf eine Kraft zurück, die nicht von ihm
abhängt, denn sie ist sozialen Ursprungs.
Durkheim veranschaulicht auf diese Weise die Wirkung der „Meinung“,
d.h. die Gegenstände der Ehrfurcht objektivieren die Macht des Sozialen, mit der
sie auf der einen Seite den von ihr Betroffenen zu verstehen geben, dass diese
von einer ihnen äußerlichen Instanz unterworfen werden und ohne die sie auf der
anderen Seite auf ihre konstitutiven Eigenschaften reduziert sind. „Die Meinung,
ein primär soziales Phänomen, ist also die Quelle der Autorität […]“ (ebd., S.
309). Schließlich folgt auf ein Vergehen, mit dem verehrte Gegenstände verletzt
werden, keine natürliche Reaktion gegen den Übeltäter, sondern ein sozialer
Vorgang, nämlich die Missbilligung, bei der man zueinander findet, wenn man
Ehrfurcht für den verletzten Gegenstand teilt.
Die moralische Kraft des Sozialen und die anonyme Kraft des Totemismus
stimmen also wie folgt überein: Verhaltensvorschriften, für die man eigene Inte-
ressen zurückstellen muss, können sich dem Individuum durch Zwang aufdrän-
gen. Für ihren Erfolg ist es ausreichend, wenn man sich die eigene Unterlegen-
heit gegenüber dem Zwang vorstellt, ohne dass einem tatsächlich eine physische
Nötigung widerfährt. Im Denken des Betroffenen kann eine Weisung, die nicht
mehr als die isolierte Erfindung eines Einzelnen ist, nicht die Durchsetzungsfä-
higkeit einer sozialen Verhaltensvorschrift erreichen. Stattdessen gleicht die mo-
ralische Kraft im Hinblick auf ihre Wirkung heiligen Dingen, die auf sich ge-
stellt untauglich sind, Ehrfurcht auf sich zu ziehen. Insofern ihre Sakralität arbit-
rär ist, sind sie von sich aus nicht befähigt, sich den Gläubigen aufzudrängen.
Durkheim schreibt:
„Wenn die Gesellschaft von uns diese Zugeständnisse und Opfer nur durch einen
materiellen Zwang erhielte, so könnte sie in uns nur den Gedanken einer physischen
Kraft erwecken, der wir gezwungen weichen würden, und nicht den einer morali-
schen Macht, die den Mächten gleicht, die die Religionen verehren“ (ebd., S. 308).
Beide also, die Macht des Sozialen und die anonyme Kraft sind in der Lage, das
Verhalten des Menschen so zu verursachen, als ob sie ihn körperlich bedrängten.
Neben der Bedrängung kennzeichnet die Selbsterhöhung des Individuums das
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 243

Soziale. In der Art liegt das auch im Fall der Religion vor. Dass sich ein wohl-
wollender Effekt auf Seiten dessen beobachten lässt, der sich einer moralischen
Macht unterordnet, ist für Durkheim an der Wertschätzung und Anerkennung
infolge von vorschriftsmäßigem Verhalten erkennbar. Bleiben diese bei morali-
scher Harmonie aus, so geht dem Individuum die Voraussetzung dafür ab, das
eigene Selbstbewusstsein hervorzubringen. Ohnehin ist es ausgeschlossen, dass
dieses einer reinen Schöpfung des Individuums entspringt. Für dessen Selbstbe-
wusstsein stehen seiner Initiative, so Durkheim, vorgefertigte Zivilisationsgüter
jeglicher Art zur Verfügung (ebd., S. 315). Das Individuum wird somit von ver-
schiedenen moralischen Kräften durchdrungen, die für seine Stärkung unent-
behrlich sind.
Obendrein macht Durkheim diese Durchdringung auch für die unfassbare
Seite des Individuums, nämlich die „Seele“ verantwortlich. So nennt er auch die
totemistische Glaubensvorstellung über die Sakralität des Individuums, von der
nur die eine von dessen zwei Seiten, nämlich die von dem Totem- und Ahnen-
wesen herstammende Seite betroffen ist, weil sie den Ursprung mit jener abend-
ländischen Idee teilt. Ohne transzendiert zu sein, geht dem Individuum die Dua-
lität ab. Wenn Durkheim also von der Seele spricht, so reduziert er sie nicht auf
die im Denken des Abendlandes gleichnamige Idee. Stattdessen will er auf diese
Weise die Zweiheit des Individuums aufgreifen, von der er denkt, dass sie zu
allen Zeiten vorkommt (ebd., S. 354): An jedem Körper, der für die profane Sei-
te des Individuums steht, schließt eine heilige Seite an. Die klassische Idee der
Seele beruht zuletzt nicht darauf, dass sie sich den Sinnen entzieht. Ihr eigentli-
ches Wesen ist die Sakralität, was aus dem radikalen Gegensatz zum Profanen
herrührt. Für die totemistischen Gläubigen ergibt sich, den oben erwähnten My-
then zufolge, die heilige Seite des Individuums aus der Verwandtschaft mit den
Ahnen des Clans und dem Totem, wobei dieses und jene nicht verschieden sind.
Das Individuum hat eine Seele, weil es von der anonymen Kraft betroffen ist.
Die global bekannte Idee der Seele ist also, sofern ihr die Sakralität wesentlich
ist und sie Ehrfurcht auf sich ziehen kann, keine Illusion, sondern sie hat Ursa-
chen und sie erfüllt eine elementare Funktion. Durkheim erklärt das folgender-
maßen: Auf der einen Seite weist die Seele eine Verbindung zu nur einem Indi-
viduum auf und auf der anderen Seite findet man sie in den Vertretern aller Ge-
nerationen eines Clans wieder. Beides kann sie, so Durkheim, weil sie vom Kör-
per des Individuums unabhängig ist. Anders ausgedrückt: Die anonyme Kraft
lässt sich in den einzelnen Clanangehörigen nieder, ohne ihrem eigenen Wesen
einen Schaden zuzufügen (ebd., S. 391).
„So wie man in der Seele die charakteristischen Attribute des mana findet, so genü-
gen zweitrangige und oberflächliche Veränderung, dass sich das mana als Seele in-
dividualisiert“ (ebd.; Herv. im Orig.).
244 3 Émile Durkheims Welt

Wenn sich die anonyme Kraft im Individuum festsetzt, wird sie die Ehrfurcht
bewirken, die ihr auch ansonsten eigentümlich ist. Von den zwei Seiten der Dua-
lität lässt sich die heilige Seite auf die anonyme Kraft zurückführen. Was aber
der anonymen Kraft gelingt, ist auch der Macht des Sozialen möglich. Das Indi-
viduum verinnerlicht das Soziale, ohne das es keine Aussicht auf Selbstbewusst-
sein hat. Insofern es hinter den Verhaltensvorschriften des Sozialen steht, hat es
zuvor Ziele in sich eingemeindet, die nicht aus seiner eigenen Schöpfung her-
vorgehen. Das verinnerlichte Soziale löst auf Seiten des betroffenen Individuums
das aus, was es eigentümlicherweise bewirkt: Man wird sich der eigenen Unter-
ordnung gegenüber einer äußeren Instanz bewusst, die sich ohne Einsatz physi-
schen Zwangs einen Vorrang verschaffen kann (ebd., S. 388). Es besteht also
äußerste Andersartigkeit zwischen dem Sozialen im Individuum und dessen kör-
perlicher Konstitution,133 weil letztere an der Geltung der verinnerlichten Ziele
unbeteiligt ist. Darauf stützen sich die zwei Seiten des Individuums. Auf diese
Weise kann Durkheim erklären, dass von der einen Seite außer dem Körper
nichts übrig bleibt, zieht man das verinnerlichte Soziale ab. Er schreibt:
„Wenn wir tatsächlich in uns den Begriff der moralischen und religiösen Imperative
nicht hätten, wäre unser psychisches Leben nivelliert, alle unsere Bewusstseinszu-
stände stünden auf der gleichen Ebene und jedes Gefühl der Dualität wäre ver-
schwunden“ (ebd., S. 389).
Durkheim geht aber noch weiter. Er legt den Zusammenhang zwischen der Idee
der Seele und der modernen Idee der „Persönlichkeit“ offen. Würde das Soziale
nicht für die Dualität des Individuums sorgen, dann büßte es jede Chance auf
eine Persönlichkeit ein, denn schließlich ist es nicht in der Lage etwas hervorzu-
bringen, was dessen reine Erfindung ohne den Zusatz vorgefertigter Dinge ist.
Auf die eine Seite der Dualität hat es Zugriff. Obwohl die Macht des Sozialen, so
Durkheim, das Individuum zwar unterwirft, bleibt die individuelle Initiative üb-
rig, die das Soziale in einer je einzigartigen Weise umsetzt (ebd., S. 398).134 Die
Dualität ist daher ein universelles Phänomen, denn das Soziale gibt es nicht ohne
Individuen, in denen es sich niederlässt und somit ist die Seele keine errungene
Idee einer zivilisatorischen Etappe, sondern ein logische Folge von Gesellschaft

133 Peter Berger verknüpft Durkheims Ergebnisse über die Faktoren des anomischen Selbstmords
mit den Überlegungen zur Seele, ohne die dem Individuum die Möglichkeit abgeht, die subjek-
tiven Erfahrungen zu ordnen. Er schreibt: „Der heilige Kosmos, der den Menschen übergreift
und in seine Wirklichkeitsordnung einschließt, bietet ihm so den Schutz des Absoluten vor
dem Grauen der Anomie“ (Berger 1988, S. 27).
134 Aus dem Grund schließt Peter Berger die „totale Sozialisation“ aus (vgl. Berger 1988, S. 16).
Die einzigartige Umsetzung des Sozialen lässt Habermas in seiner Kritik an Durkheim aus,
wenn er Folgendes schreibt: „Das Individuum verdankt seine Identität als Person ausschließ-
lich der Identifizierung mit, bzw. der Verinnerlichung von Merkmalen der kollektiven Identi-
tät; die persönliche Identität ist eine Spiegelung der kollektiven […]“ (Habermas 2006, S. 91
f.).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 245

(ebd., S. 393). Das bedeutet wiederum: Insofern die eine Seite der Dualität aus
dem individualisierten Sozialen besteht und sie an der Vergänglichkeit der ande-
ren Seite nicht teilhat, ist es die moralische Kraft, die das Individuum überlebt.
Weil sich das Soziale im Individuum integriert, haben alle, die davon be-
troffen sind, etwas gemeinsam, was davon ausgeschlossen ist zu vergehen. In
jedem Individuum ist einer externe, transzendente Macht eingelassen, die sich in
jeder Generation aufs Neue verkörpert. Durkheim führt darauf den Glauben an
die Unsterblichkeit der Seele zurück (ebd., S. 396). Die persönliche Seite der
Seele hat in der Initiative im Umgang mit dem verinnerlichten Sozialen ihren
Ursprung. Hingegen ist die Seite der Seele, die Durkheim das „moralische Be-
wusstsein“ nennt (ebd., S. 412), die Verlängerung des Sozialen im Individuum,
der es Stärkung und Schutz verdankt.
Aus den totemistischen Mythen liest er heraus, was als Symbol für das mo-
ralische Bewusstsein dient. Die äußere Instanz, mit der sich die totemistischen
Gläubigen angeschlossen fühlen, wenn sich ihr moralisches Bewusstsein be-
merkbar macht, wird durch die Ahnenwesen des Clans symbolisiert. Das konsta-
tiert Durkheim anhand der mythischen Funktionen und Merkmale der Ahnen,
und zwar glauben sich die Clanangehörigen geschützt und gestärkt, weil sie die
eigene Abstammung auf die Ahnenwesen zurückführen bzw. sich selbst bloß als
deren „Double“ ansehen (ebd., S. 408). Durkheim führt somit den Glauben an
die Verwandtschaft mit den Ahnen des Clans auf die eigensinnige Interpretation
der moralischen Kraft zurück, von der die Clanangehörigen betroffen sind. Es
sind die verinnerlichten Imperative und nicht die persönliche Seite der Seele,
deren Höherwertigkeit das Individuum sich selbst gegenüber einsieht. Der un-
persönliche Teil der Seele ist bei allen Angehörigen des Clans nicht verschieden,
weil er seinen Ursprung im Sozialen hat. Er ist das verinnerlichte Soziale, das
einen kontrollierenden Einfluss auf die Persönlichkeit ausübt. Die Befolgung des
moralischen Bewusstseins stärkt schließlich die Clanangehörigen in der Weise,
wie er sich durch Verwandtschaft mit den Ahnen des Clans gestärkt fühlt (ebd.,
S. 412), d.h. im Denken der Clanangehörigen ist die Quelle für die Selbsterhö-
hung in den Ahnenwesen repräsentiert. Die Ahnen sind das Symbol für die
Macht des Sozialen im Clan, die jeden verstorbenen Angehörigen überlebt. Die
Höherwertigkeit der Ahnen beruht aber nicht auf der geglaubten Verwandtschaft.
Stattdessen verhält es sich umgekehrt (ebd., S. 329): Die Unterwerfung löst den
Verwandtschaftsglauben aus, weil sie gegenüber der moralischen Kraft erfolgt,
die sich auf alle Angehörigen des Clans auswirkt. Voraussetzung ist die Unter-
werfung, an die der eigensinnige Verwandtschaftsglaube anknüpft.
Was sich also im Individuum radikal von der körperlichen Konstitution un-
terscheidet, ist das verinnerlichte und trotz individueller Gestaltung in seinem
Wesen nicht veränderte Soziale. Es individualisiert sich, bleibt den Sinnen ent-
zogen und wird im Falle, dass das Individuum verstirbt, nicht unmittelbar mit
dessen Körper verschwinden. An der Seele drückt sich das individualisierte So-
246 3 Émile Durkheims Welt

ziale aus, wenn das Individuum die eigene Tatkraft für geltende Orientierungs-
möglichkeiten einsetzt.135 Die stets vom Körper andersartige Seele geht demnach
auf die Durchdringung des Individuums durch das Soziale bzw. durch das Ah-
nen- und Totemwesen zurück und deswegen ist diese jeweils einzigartige Appli-
kation, nämlich die Seele das, was das Individuum zu einem heiligen Wesen
macht. Die Sakralität ist also dem Individuum hinzugefügt, da es in seiner kon-
stitutiven Beschaffenheit nichts aufweist, was suggeriert, dass es heilig ist. Seele
und Persönlichkeit sind nicht das eigenständige Werk des Individuums, sondern
beruhen darauf, dass sich das Individuum dem verinnerlichten Sozialen unter-
wirft. Die Selbsterhöhung und das Selbstbewusstsein überhaupt lassen sich los-
gelöst vom Sozialen nicht bewerkstelligen.
Die Macht des Sozialen ist also, obwohl ihre Wirkungen denen natürlicher
Kräfte vergleichbar ist, weder eine physische Macht, noch wird sie als solche
vorgestellt. Der Widerstand des Individuums bereitet ihr nicht allenthalben
Komplikationen, weil es sich in der Hinsicht ehrfürchtig zeigt, als dass es sich
ihretwegen Opfer auferlegt. Ferner entnimmt es ihr, wenn sie es durchdringt,
eine Stärkung, auf die es nicht verzichten kann. Darin stimmt sie mit der anony-
men Kraft überein, die sich im totemistischen Glauben auf den heiligen Dingen
niederlässt. Nur das Soziale ist in der Lage, Ehrfurcht gegenüber bestimmten
Dingen einzufordern, die an sich nichts aufweisen, was die außerordentliche
Bewunderung mobilisieren kann. In ihren wesentlichen Eigenschaften ist an-
sonsten nichts, was die Ehrfurcht rechtfertigt. Die moralische Kraft kann ein
profanes Ding sakralisieren, wobei nichts, gleich wie nutzlos es ist, davon ausge-
schlossen ist, in den Kreis der heiligen Dinge aufgenommen zu werden (ebd., S.
62). Heilige Dinge haben moralische Züge und sie haben empirische Züge, aber
nur die Ersten erschaffen Sakralität. Das Material der Dinge kann die anonyme
Kraft nicht ins Leben rufen. Sie transzendiert sie in der Weise, wie sie in das
Individuum eindringt, nur schreibt dieses sie einem äußeren Objekt zu.
Wenn die totemistischen Gläubigen die Efferveszenz der Zeremonie erklä-
ren wollen, dann täuschen sie sich, wenn sie nur das Totemabbild zum Urheber
der Erregung machen. Ihnen ist aber bewusst, dass sie die Wirkung einer ihnen
äußerlichen Ursache trifft, denn schließlich erleben sie Gefühle, die sie alleine
nicht hervorrufen können. Was sich den heiligen Dingen sinnhaft entnehmen
lässt, reicht nicht aus, deren Sakralität und die registrierte Selbsterhöhung herlei-
ten zu können. Durkheim macht die Komplexität des Sozialen dafür verantwort-
lich, dass die anonyme Kraft materiellen Trägern zugeordnet wird. Es ist um-
ständlich, einen Zwang zu erklären, der zudem mit behaglicher Unterwerfung

135 Diese Erleichterung ist eine unverzichtbare Funktion der Religion, die Thomas Luckmann wie
folgt kennzeichnet: „Das Vorhandenseins eines Bedeutungsreservoirs enthebt den Einzelnen
der so gut wie unerfüllbaren Aufgabe, auch nur ein rudimentäres Bedeutungssystem zu erzeu-
gen“ (Luckmann 1967, S. 192).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 247

verbunden ist und der aus synthetischen Handlungen hervorgeht, insbesondere


auch aus solchen, die sich bereits vor der eigenen Zeit abspielten (ebd., S. 311).
Angesichts dieser Überforderung werden Götter, Totemwesen oder Bezeichnun-
gen für die anonyme Kraft erfunden, namentlich mana, wakan und Co. Hierfür
steht das Ding zur Verfügung, dass den Ursprung der Selbsterhöhung vertritt. Im
Falle der totemistischen Zeremonie heißt das: Wenn von der versammelten Kir-
che besonders intensive Wirkungen ausgehen, dann ist es für die Gläubigen eine
Erleichterung, für die erlebte Erregung die Abbildung verantwortlich zu machen,
deren Verehrung am größten ist und welche die Kirche repräsentiert (ebd., S.
327). Im Gegensatz zur Wirklichkeit hinter der Efferveszenz bereitet ein Symbol
kaum kognitive Schwierigkeiten. Die Hinzufügung der Sakralität steht also im
Schatten der Komplexitätsreduzierung der Wirklichkeit.
Durkheim bemerkt aber, dass das Symbol der Kirche nicht nachträglich zu-
stande kommt, denn es kann bei ihrer Konstitution nicht fehlen. Das erklärt er
wie folgt (ebd., S. 341): Das Individuum kann ein Befinden oder einen Gedan-
ken nicht anders als mittels Zeichen zum Ausdruck bringen. In diesem Fall löst
das Zeichen das Befinden aber nicht aus. Das ist in der Interaktion anders, denn
hier lösen Zeichen eine Wirkung aus und somit kann die für die Interaktion we-
sentliche Synthese zwischen den Beteiligten überhaupt erfolgen. In dieser Hin-
sicht bringt das Zeichen also nicht nur ein Befinden oder einen Gedanken zum
Ausdruck, sondern es bewirkt diese auf Seiten der miteinander Handelnden. Oh-
ne Zeichen ist eine Interaktion nicht machbar. Das Zeichen ist, so Durkheim,
darüber hinaus eine wesentliche Bedingung für ein Kollektiv, da es nicht anders
möglich ist, sich die Zugehörigkeit zu ihm zu vergegenwärtigen. Gibt es kein
Zeichen, das bereits als Anker für die Orientierung an der Kollektivzugehörig-
keit verstetigt ist, so fehlt dem Kollektiv die Grundlage. Durkheim spricht von
einem stereotypisierten Zeichen, das ein Abbild, ein Wort, ein Laut oder eine
Geste sein kann und mit dem sich in der Interaktion zwischen den Angehörigen
das Kollektiv repräsentieren lässt, wobei die Benutzung dieses Symbols nicht
nur das Kollektiv zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Befinden oder einen
Gedanken bewirkt. „Genau die Gleichartigkeit dieser Bewegung gibt der Gruppe
ihr Selbstgefühl und ruft es folglich hervor“ (ebd.). Das Symbol, das zunächst
ein gewöhnliches Zeichen ist, wird aber nicht von einem bereits bestehenden
Kollektiv ausgewählt, denn für seine Konstitution, die sozialer Natur ist, sind
Zeichen unentbehrlich, die sich zu Symbolen kristallisieren. Anders ausge-
drückt: Ein Kollektiv geht sozial hervor, d.h. es kann nur entstehen, wenn eine
Synthese erfolgt, für die es aber materielle Vermittler, nämlich Zeichen braucht.
Erst der stereotype Rückgriff auf Zeichen, die etwas zum Ausdruck bringen, aber
auch einen Effekt auf Seiten der Angehörigen haben, veranlassen die elementare
Orientierung an der kollektiven Einheit. Somit ist das Symbol dem Kollektiv
nicht hinzugefügt. Es trägt wesentlich zur Konstitution des Kollektivs bei und
konserviert darüber hinaus die Orientierung an der Zugehörigkeit, wenn es nicht
248 3 Émile Durkheims Welt

versammelt ist (ebd., S. 327). Das Symbol steht schließlich zur Stelle, wenn die
Interaktionen der Angehörigen in der Versammlung des Kollektivs efferveszie-
rend wirken und die individuelle Tatkraft dadurch zunimmt. Für die Angehöri-
gen ist es das Symbol, das die Effekte der Versammlung anrichtet und die verur-
sachende Eigenschaft, um die der materielle Träger des Symbols ergänzt ist,
erneuert sich. Ein Kollektiv kann also nicht entstehen, ohne dass sich Symbole
entwickeln. Sind Dinge attribuiert, so erhalten sie Eigenschaften, die sie faktisch
nicht aufweisen und die somit durch die Erfahrung nicht erreichbar sind. Über-
sinnliches ist daher für Durkheim unvermeidbar, es ist eine logische Folge des
sozialen Lebens (ebd., S. 618). Er schreibt:
„Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Idea-
les zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit
der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich
bildet und periodisch erneuert“ (ebd.).
Die Totemabbildung sucht man nicht aus, damit sie an die kognitiv bequeme
Stelle der Kirche tritt, d.h. das Symbol wird der Kirche nicht hinzugefügt. Statt-
dessen erfüllt sie den Zweck, den Gläubigen bewusst zu machen, dass sie einer
Moral unterstehen. Vor diesem Hintergrund tritt der Ursprung der Sakralität her-
vor. Weil nämlich ein heiliges Ding ein Symbol ist, das für etwas anderes steht
und das Symbol, das zuallererst ein gewöhnliches Zeichen ist, nicht anders als
aus der mittels Zeichen möglich gemachten Synthese der Interaktion entsteht,
kann die Sakralität nur arbiträr entstanden sein. Durkheims Ergebnis ist nun re-
konstruierbar: Die Totemabbildung symbolisiert zweierlei, und das sind zum
einen das Totem und zum anderen die Kirche. Sie ist das Zeichen, mit dem sich
die Clane unterscheiden und mit dem sie ihre Einzigartigkeit sichtbar machen.
Die Kirche verehrt sich also selbst.
„Es ist, ganz allgemein gesprochen, nicht zweifelhaft, dass eine Gesellschaft alles
hat, um in den Geistern, allein durch ihre Wirkung auf sie, das Gefühl des Göttli-
chen zu erwecken; denn sie ist für ihre Mitglieder das, was ein Gott für seine Gläu-
bigen ist“ (ebd., S. 307).136

136 Stephan Moebius (2004) untersucht eine Initiative im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von
Seiten einiger französischer und deutscher Intellektueller, die sich u.a. und insbesondere von
Durkheims Arbeiten zur Religion inspirieren lassen. Ihr Vorhaben, die Sakralsoziologie, so ihr
Stichwortgeber George Bataille, (ebd., S. 3251) sieht die Erforschung, aber auch die Initiierung
sakraler Zeiten in modernen Gesellschaften vor. Man beabsichtigte die in nicht-modernen Ge-
sellschaften erforschte Integration durch Efferveszenz und Selbsterhöhung in modernen Ge-
sellschaften ausfindig zu machen und zu bewirken, um damit die Integrationsdefizite durch In-
dividualisierungsfolgen aufzufangen, bevor das faschistischen Bewegungen gelingt (ebd., S.
3256). Dass sich Durkheims Überlegungen dafür eignen, überrascht Adorno nicht (vgl. Adorno
1976, S. 15).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 249

Insofern die Sakralität der Totemabbildung während eines Kults die maximale
Intensität erreicht, geht von der Versammlung eine integrative Kraft aus. Auf
Seiten der Gläubigen erhöht sie nicht nur die Kräfte, sondern sie aktualisiert die
Besinnung auf die Zugehörigkeit zur Kirche, weil das Symbol, das für sie steht,
deren Geistesgegenwart beherrscht. Die Apotheose der Gemeinde ermutigt das
Individuum und integriert die Kirche und das macht jede Glaubensvorstellung so
widerstandsfähig gegen rationale Widerlegungen. Schließlich verhindern diese
Wirkungen, die Wissenschaft gegen Glaubensvorstellungen in Stellung zu brin-
gen, um Religion zu falsifizieren und als Illusion bloßzulegen (ebd., S. 610).
Wer solch eine Enthüllung betreibt, der kann das nur, wenn er sich blind zeigt
für die Kausalzusammenhänge. Die Wirklichkeit der Religion lässt sich weder
durch Überredung, den Glauben zu verwerfen, noch durch Widerlegung der
Glaubensvorstellungen ausschalten. Stattdessen kann das Ausbleiben der Kulte
die Religion gefährden, denn aufgrund ihres sozialen Ursprungs ist sie darauf
angewiesen, dass ihre Symbole zum Gegenstand des Handelns ihrer Gläubigen
werden. Durkheim will daher anhand der Kultpraktiken die Gültigkeit seiner
Ergebnisse bestätigen. Das kann er mittels der verborgenen Wirkungen der Kul-
te, die deren bekundeten Zwecken nicht entsprechen müssen. Kulte für die Initia-
tion, die Vermehrung des Totemwesens, die Erinnerung an die Taten der Ahnen,
die Trauer um die Verstorbenen und die Unglücke, die den Clan heimsuchen,
erzielen Wirkungen, die unentbehrlich sind. Wenn nämlich die Sakralität sozia-
ler Natur ist, dann lassen sich die periodischen Versammlungen im Hinblick auf
die Effekte untersuchen, die sich am Gläubigen und an der Kirche zeigen.
Mit der Initiation werden die Clanangehörigen durch eine Reihe von nega-
tiven Kulten in die Kirche eingeführt, damit sie sich anschließend an den positi-
ven Kulten beteiligen können. Die Riten sehen vor, dass der Neuling sich in Un-
terlassungen übt. Er muss eine Zeit lang isoliert im Wald leben, darf keine Frau-
en sehen, muss streng fasten, darf nicht reden etc. (ebd., S. 455 ff.). Die Initiation
beruht ausschließlich auf Verzichtleistungen. Durkheim greift darüber hinaus auf
Material zurück, das die Riten infolge von Todesfällen, Missernten, Dürreperio-
den und anderen Unglücken beschreibt. In diesen Fällen zeichnen sich die Kult-
praktiken vor allem dadurch aus, dass man sich Wunden zufügt und allgemein
Schmerzen erleidet oder diese in einer besonders erregten Weise zum Ausdruck
bringt (ebd., S. 572 ff.). Der Intichiuma ist ein positiver Kult, mit dem die
Fruchtbarkeit von Totemtier oder -pflanze entfacht werden soll. Er teilt sich in
zwei Phasen: Als erstes werden heilige Orte aufgesucht, an denen die Clanahnen
als Felsen oder Bäumen verkörpert sind. Meist wird der Staub, der sich auf den
Naturkörpern befindet, in verschiedene Richtungen verstreut, um die Vermeh-
rung zu initiieren (ebd., S. 481 ff.). Im zweiten Akt findet die eigentliche Zere-
monie statt, bei der nach strengen Regeln einige Teile eines zubereiteten Totems
gemeinsam verzehrt werden. Wer sich am Mahl nicht beteiligt, setzt seine
Fruchtbarkeit aufs Spiel (ebd., S. 490 ff.). Ein Intichiuma kann ferner auch als
250 3 Émile Durkheims Welt

mimetischer Kult durchgeführt werden. Man imitiert entweder typische Gebär-


den des Totemtieres oder die Erntebewegungen der Totempflanze, um die
Furchtbarkeit anzuregen (ebd., S. 515 ff.). Neben dem mimetischen Intichiuma
gibt es einen Darstellungskult, der nicht die Vermehrung bezweckt, sondern bloß
zu Ehren der Ahnen durchgeführt wird, deren berühmten Taten man während der
Zeremonie nachahmt.
Mittels der Kulte will Durkheim die Kraft des Sozialen im Hinblick auf die
bislang erzielten Ergebnisse rekonstruieren. Das kann er, indem er den Nachweis
dafür erbringt, dass weder das Individuum noch die Kirche und auch nicht die
heiligen Dinge auf die Effekte der Kulte verzichten können. Erwiesen ist das,
wenn sich deren bekundeten Zwecke den verborgenen Wirkungen nachordnen
lassen, und das bringt Durkheim folgendermaßen fertig.
Der negative Kult bewirkt die Objektivierung des Sozialen im Individuum.
Die Initiationsprüfungen testen wie folgt das moralische Bewusstsein: Weil die
heiligen Dinge auf der Andersartigkeit gegenüber dem Profanen beruhen, gibt es
Riten zur Bewahrung dieser Andersartigkeit. Der aus Enthaltungen bestehende
Kult soll die Vermischung der unvereinbaren Dinge gewährleisten, d.h. die
Gläubigen müssen Pflichten befolgen, die keine ausführenden Tätigkeiten, son-
dern Verzicht fordern. Die negativen Akte sind vor allem anlässlich des Initiati-
onskults zahlreich, bei dem (sich) die jungen Clanangehörigen beweisen müssen,
dass sie zum Verzicht in der Lage sind. Am Beispiel dieses Kults zeigt Durk-
heim, wie sich der unfassbare Teil des Individuums durch negative Akte be-
merkbar macht. Mit den Enthaltungen, die seitens des Initiierten geleistet werden
müssen, erprobt der Clan, ob der junge Mann das mittels der Verbote bewirkte
Leid ertragen kann. Wer erfolgreich verzichten kann, leidet geduldig und zeigt,
dass er von der anonymen Kraft betroffen ist und sich ihr unterordnet kann, d.h.
der Initiationskult ist eine Prüfung, die, wenn sie bestanden wird, die Folgerung
erlaubt, dass sie wirksam war (ebd., S. 462). Die Prüfungen der Initiation werden
im Falle der bestandenen Verzichtleistung als Beweis dafür gelesen, dass sich
die anonyme Kraft erfolgreich im Prüfling niedergelassen hat. Der Initiierte ist
schließlich nicht nur in den Augen der anderen Gläubigen als heiliger Clanange-
höriger arriviert, sondern sein Erfolg verursacht, dass er die eigene Selbsterhö-
hung spürt. „Der Mensch, der sich“, schreibt Durkheim, „den vorgeschriebenen
Verboten unterwirft, ist nicht mehr das, was er vorher war“ (ebd., S. 454). Mit
negativen Akten bringt man zwar nicht die Verehrung der heiligen Dinge zum
Ausdruck, aber durch die erfolgreiche Verzichtleistung entfernt man sich vom
profanen Leben, denn indem man sich hemmt, ordnet man sich einer Kraft unter,
die nicht einem selbst entspringt. Während der Initiation stellen die negativen
Akte die radikale Andersartigkeit zwischen heilig und profan innerhalb des Indi-
viduums her. Die Zufriedenheit des Publikums der Initiation einerseits und des
moralischen Bewusstseins des Individuums andererseits verursacht den Glauben
daran, von der anonymen Kraft betroffen zu sein. An der sonstigen Beschaffen-
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 251

heit des Initiierten hat sich hingegen nichts geändert, an dem sich die neue Zu-
weisung in der Ordnung des Clans und die Selbsterhöhung ablesen ließen.
Zu den negativen Akten, die unabhängig von der Initiation und von den ne-
gativen Kulten überhaupt bestehen, gehören schließlich sämtliche Verbote, um
die heiligen Dinge von allem Profanem fernzuhalten. Neben Verboten, die ent-
weder das Material der heiligen Dinge schützen oder ihre Thematisierung ein-
schränken, gibt es Imperative zur Unterlassung profaner Tätigkeiten während der
Tage, an denen man die Aufmerksamkeit auf die heiligen Dinge konzentrieren
muss (ebd., S. 444 ff.). Da es einerseits Verbote zum Schutz des Materials heili-
ger Dinge sind, andere Verhaltensvorschriften aber in keinem Bezug zu deren
materiellen Beschaffenheit stehen, zeigt sich, dass die negativen Akte nicht die
heiligen Dinge an sich betreffen, sondern die anonyme Kraft, genauer: ihr Trans-
zendenzvermögen. Durkheim folgert daher ein weiteres Wesensmerkmal der
heiligen Dinge, nämlich ihre Ausdehnungsfähigkeit und somit erklärt er, dass die
Verbote die anonyme Kraft beeinflussen.
„Wegen der innewohnenden Ansteckung all dessen, was heilig ist, kann ein profanes
Wesen ein Verbot nicht verletzen, ohne dass sich die religiöse Kraft, der er sich un-
berechtigt genährt hat, auf ihn ausdehnt und ihn beherrscht“ (ebd., S. 471).
Man kann die Verbote aber nicht erklären, wenn man bloß ihren schützenden
Dienst für die heiligen Dinge offenbart. Ihre eigentliche Funktion tritt zwar des-
wegen hervor, weil sie mehr als nur die konstitutive Beschaffenheit der heiligen
Dinge isolieren. Die Verbote überschreiten die heiligen Dinge, weil sie im
Dienste der anonymen Kraft stehen, von der die heiligen Dinge ihrerseits betrof-
fen sind. Im Falle des Vergehens aber, bei dem das Material der heiligen Dinge
entweder verletzt wird oder durch das Delikt faktisch nicht berührt wird, dehnt
sich, so Durkheim, die anonyme Kraft auf den Täter aus, denn es ist ausschließ-
lich sie, die durch die Verbote isoliert wird. Da die Sakralität der heiligen Dinge
in keinem Zusammenhang mit ihren empirischen Merkmalen steht, ist auch die
Ursache für ihre Verehrung von diesen losgelöst. Sonst müssten die Verbote
einzig die heiligen Dinge vor dem profanen Kontakt schützen. Was die Vereh-
rung hervorruft, sind „hypostasierte kollektive Kräfte, d.h. moralische Kräfte“
(ebd., S. 474), die ihrerseits nicht in den heiligen Dingen ihren Ursprung haben
und somit braucht es nicht erst ein Vergehen, das einen materiellen Schaden an
den heiligen Dingen anrichtet, damit sich die anonyme Kraft ausdehnt. Wer das
Sakrileg verübt, wird, wenn man ihn nicht physisch bestraft, mindestens missbil-
ligt (ebd., S. 441), d.h. was ihn befällt, ist, wie im Falle der Sakralisierung der
heiligen Dinge, keine physische Kraft. Heiligen Dingen und dem Täter wird et-
was hinzugefügt, das an der jeweiligen empirischen Beschaffenheit keine Ände-
rung bewirkt. Dehnt sich also die anonyme Kraft auf den Täter aus, so erlebt er
eine Schande. „Das Sakrileg beleidigt die allgemeine Meinung, die dagegen rea-
252 3 Émile Durkheims Welt

giert“ (ebd.). Das Objekt der Sakralisierung und der Missbilligung wird im einen
wie im anderen Fall von einer externen Kraft durchdrungen.
Mit Missbilligung konfrontiert man auch diejenigen Clanangehörigen, die
anlässlich von Todesfällen und anderen Unglücken nicht bereit sind, sich die
rituellen Schmerzen anzutun. Dass die Trauer an solchen Anlässen verordnet ist,
erkennt Durkheim an der Kluft der Emotionen, von denen die ethnographischen
Studien berichten. An den Trauernden beobachtet man neben dem betrübten
Klagen auch durchaus fröhliche Szenen, die sich mit dem Jammer abwechseln
(ebd., S. 581).137 Für die Bedrängung der Gläubigen zur Trauer spricht auch die
Überschneidung der Kultpraktiken, denn die Pflicht zur Verwundung besteht,
einerlei ob ein Angehöriger des Clans verstirbt oder der Churinga gestohlen
wird. Ferner gleichen sich die Kultpraktiken trotz der unterschiedlichen Anläs-
sen, weil sich jeweils Szenen abspielen, die Durkheim der Efferveszenz zuord-
net. Die Gläubigen treffen sich, um gemeinsam ihre Körper zu verwunden und
die Erregung steigt, den Beobachtungen zufolge, zunehmend an (ebd., S. 587).
Die Mythen über die Trauerriten spiegeln, so Durkheim, die verborgene Wir-
kung der erregenden Selbstverstümmelung. Die Clanangehörigen glauben näm-
lich die Seele des Verstorbenen, der man unmittelbar nach dem Tod eine gemei-
ne Laune zuschreibt, im Laufe der Zeremonie besänftigen zu können (ebd., S.
588). Dieser Wandel der Gefühlslage entspricht dem der Trauernden, nachdem
der Kult fortgeschritten ist. Die im Kollektiv erlebte Erregung wirkt moralisch
erholend. „Man lässt die Trauer hinter sich, und dies gelingt gerade dank der
Trauer selbst“ (ebd.).
Nun die positiven Kulte. Weder der Kult, der mit dem gemeinsamen Mahl
endet, noch die Imitation des Totems ist faktisch in der Lage, den Nachwuchs
von Tieren oder Pflanzen zu erzielen. Gemäß dem formellen Zweck aber sind sie
dafür da. Stattdessen erneuern sich aber mit dem Intichiuma, so Durkheim, die
Sakralität und die Kirche. Wenn sich die Clanangehörigen im Totem repräsen-
tiert sehen und das Totem die Mahlzeit während des Vermehrungskultes ist, so
führt sein Verzehr dazu, auch das in sich aufzunehmen, was es symbolisiert,
nämlich die anonyme Kraft. Somit fügt man sich das zu, was die Seele des Indi-
viduums ausmacht und allen Clanangehörigen gemeinsam ist, d.h. durch die
Nahrungskommunion wird die Wesensverwandtschaft zwischen den Gläubigen

137 Daran knüpft Mauss in seinen Überlegungen zum sozialen Drang an, der den Ausdruck von
heftigen Gefühlen anlässlich von Todesfällen vorschreibt. Er notiert: „Doch alle diese kol-
lektiven, simultanen Ausdrucksformen, die moralischen Wert und obligatorische Kraft haben,
sind mehr als bloße Äußerungen der Gefühle des Individuums und der Gruppe, es sind Zei-
chen, verstandene Ausdrücke, kurz, eine Sprache. Diese Schreie sind gleichsam Sätze und
Wörter. Man muss sie sagen, doch wenn man sie sagen muss, so deshalb, weil die ganze Grup-
pe sie versteht. Man äußert seine Gefühle also nicht nur, man äußert sie an die Adresse der an-
deren, da man sie ihnen äußern muss. Man äußert sie sich selbst, indem man sie den anderen
und für die anderen zum Ausdruck bringt“ (Mauss 2012, S. 614).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 253

und der anonymen Kraft aktualisiert (ebd., S. 496). Weil die Quelle der Seele
dem Individuum äußerlich ist und das verzehrte Totem sie vertritt, durchdringt
die Mahlzeit und somit die anonyme Kraft das Individuum, so dass nicht nur die
Seele, sondern auch sein Platz in der Kirche erneuert wird. Schließlich unter-
stützt der Intichiuma das symbolische Überleben des Totems. Obwohl der Kult
nicht die biologische Fortpflanzung garantieren kann, setzt er die Sakralität des
Totems fort, weil es das Kultobjekt ist, zu dessen Ehren die Versammlung veran-
staltet wird: Auf der einen Seite wird ein Exemplar des Totems geopfert, um die
anonyme Kraft, die darin gehütet ist, für die Vermehrung des Totems aufzuwen-
den (ebd., S. 501). Die damit geleistete Gabe wird dafür investiert, ihr Symbol zu
erhalten. Auf der anderen Seite wiederholt sich der abseits der heiligen Dinge
liegende Ursprung der Sakralität, denn man macht das Totem für die Folgen der
Interaktionen des Intichiuma verantwortlich. Der Kult ernährt also die Glaubens-
vorstellung über das Totem. Durkheim schreibt:
„Was der Gläubige in Wirklichkeit seinem Gott gibt, sind nicht die Nahrungsmittel,
die er auf den Altar niederlegt, noch das Blut, das er aus seinen Adern fließen lässt:
es ist sein Denken“ (ebd., S. 509).
Das ist insbesondere an den mimetischen Intichiuma erkennbar. Das ethnogra-
phische Material gibt her, wie erwartungswidrige Folgen des Kults erklärt wer-
den (ebd., S. 489): Gelingt der Nachahmungskult nicht und die Vermehrung
bleibt aus, so verschulden das magische Eingriffe von Feinden des Clans.
Kommt es bereits vor der Durchführung des Kults zur Fortpflanzung, so ver-
dankt man das einem insgeheim von den Clanahnen durchgeführten Intichiuma.
Durkheim schließt daraus, dass ein Scheitern des Vermehrungskults im Denken
der Gläubigen nicht vorgesehen ist. Das lässt sich erklären, indem man die ei-
gentliche Wirkung berücksichtigt, die in der Tat eine Versammlung zur Folge
hat. Was die Kultpraktiken in jedem Fall bewirken, ist ein moralisches Wohlbe-
hagen aufgrund der kollektiven Aufmerksamkeit für die Glaubensvorstellungen,
die während der ökonomischen Tätigkeiten des profanen Alltags weniger präsent
sind (ebd., S. 527). Die Nachahmung des Totems hat also eine schöpferische
Kraft, nur wirkt sie nicht auf das verehrte Tier oder die Pflanze, sondern auf die
Moral. Noch mehr tritt das im Falle der Erinnerungsriten hervor. Wenn ein Kult
bloß anlässlich der Ahnen durchgeführt wird und man deren Leben und Taten
imitiert, so erhebt man nicht den Anspruch auf die Vorgänge der Natur einzu-
wirken.
Durkheim kann die moralische Funktion, die er für den Vermehrungskult
ausfindig gemacht hat, anhand des Darstellungskults bekräftigen. Die totemisti-
schen Gläubigen geben, den erhobenen Daten zufolge, keinen bekundeten
Zweck für die Nachahmung der Ahnen an, die mit dem Totemwesen zusammen-
fallen (ebd., S. 544). Alles, was während des Kults geschieht, hat das Leben der
Ahnen zum Gegenstand. Die Darsteller rekonstruieren berühmte Taten und die
254 3 Émile Durkheims Welt

Gesänge berichten von ihnen, so dass der Kult schlichtweg zur Pflege der Erin-
nerung dient (ebd., S. 546 f.). Auffällig ist für Durkheim, dass die Kultpraktiken
weitestgehend denen gleichen, die man ausführt, um die Vermehrung des To-
tems herbeizuführen.
Die „Grundfunktion des positiven Kults“ kann er nun benennen (ebd., S.
556): Weil die gleichen Kultpraktiken in einem Fall einen materiellen Dienst
erweisen, während mit ihnen in einem anderen Fall keine Nützlichkeitsvorstel-
lungen verbunden sind und sie stattdessen bloß die Vergegenwärtigung der Ver-
gangenheit erzielen, überschneiden sich die Kulte in einer Wirkung: der Erneue-
rung der Sakralität und der kirchlichen Integration. Der soziale Ursprung der
Sakralität hat zur Folge, dass die Glaubensvorstellungen verkümmern, wenn die
Versammlungen der Gläubigen ausfallen.138 Die positiven Kulte, die keinen
wirklichen Anlass beanspruchen, haben trotzdem eine Wirklichkeit. „Sie sind für
unser moralisches Leben genauso notwendig wie die Nahrungsmittel für unser
psychisches Leben“ (ebd., S. 561). Der Vermehrungskult und der Erinnerungs-
kult sorgen also deswegen für das Fortwirken der anonymen Kraft, weil sie dazu
beitragen, dass sie sich in den Gläubigen und in ihrem materiellen Träger erneu-
ert. Somit kann Durkheim eine umgekehrte Abhängigkeit erklären, d.h. nicht nur
das Individuum ist vom Sozialen abhängig, sondern auch dieses von jenem.
Die Kulte haben also andere als von den Mythen behauptete Wirkungen.
Während sich der Initiierte äußerlich nicht wandelt, bewirkt die moralische
Harmonie die Selbsterhöhung und den Aufstieg im Clan. Die Schande erlebt
man nicht, wenn man die heiligen Dinge an sich verletzt, sondern das, was sie
repräsentieren. Schließlich die positiven Kulte, die allesamt nicht in der Lage
sind, die Konstitution der heiligen Dinge zu fördern, weil sie den Gesetzen der
Natur unterstehen. Die Kulte können aber, wenn sich schon ihre Intention nicht
realisieren lässt, erreichen, die Sakralität der heiligen Dinge und somit auch die
Integration der Kirche zu fördern. Was Durkheims Untersuchung der Kulte auf-
tut, ist also Folgendes: Beachtet man nur die bekundeten Zwecke, so entbehren
die Kulte die Widerspruchsfreiheit, denn sie verletzen das Prinzip der Kausalität.
Im Denken der Gläubigen kann ein und dieselbe Ursache, die mittels der ver-
schiedenen Kulte ins Werk gesetzt wird, unterschiedliche Wirkungen erzeugen.
Beachtet man hingegen die verborgenen Funktionen der Kulte, dann wird die
Aktualisierung der Symbole erkennbar und es lässt sich, ohne gegen das Prinzip
der Kausalität zu verstoßen, konstatieren, dass die einzelnen Riten auf die Gläu-
bigen und die Kirche wirken. Wenn ein identischer Kult für verschiedene Zwe-
cke eingesetzt wird, dann zeigt sich, dass seine eigentliche Funktion die Moral
des Individuums und die moralische Einheit des Kollektivs betrifft.

138 Werden Kulte nicht mehr durchgeführt, so entspricht das der Säkularisierung ihrer formellen
Zwecke (vgl. Berger 1988, S. 27).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 255

Alles in allem: Der Totemismus hat mit dem Selbstmord etwas gemeinsam.
In Durkheims Studie spielt er im Gegensatz zur Kraft der Moral eine minimale
Rolle. Im Hinblick auf das, was das Soziale bewegen kann, verzichtet Durkheim
darauf, die Auskunft der Gläubigen einzuholen. Gleichwohl rechnet er das Han-
deln der Gläubigen an. Insbesondere ihre Beteiligung an den Kulten, mit der sie
das Sakrale zwar auch verlautbaren und verehren, es vor allem aber wiederher-
stellen. Sie sind also deshalb keine unerhebliche Marginalie, weil sie die Symbo-
le eines Kollektivs nähren, die ihrerseits nicht aus dem nichts resultieren. Inso-
fern mit der Studie eine Demonstration der Kraft der Moral139 vorliegt, zählt
auch sie zu Durkheims Beiträgen, die Konsolidierung der von ihm vertretenen
Disziplin zu unterstützen. Die Studie leistet daher eine Offenbarung, indem sie
das Soziale als die Kausalität einer Kraft freilegt, die ansonsten von dem Glau-
ben lebt, die Dinge ins Werk zu setzen, ohne hierfür ihrerseits von einer Kraft
betroffen zu sein. Indem er zum einen auf die Ursachen der heiligen Dinge stößt
und zum anderen zeigt, dass sich die Kraft der Moral wie eine Naturkraft verhält,
ohne aber tatsächlich eine physische Kraft auszuüben, macht er das erfahrbar,
was es andernfalls fertig bringt, als unhintergehbar zu gelten. Er schreibt: „Die
Moral besteht zwar nur aus Begriffen, aber diese Begriffe sind Kräfte, welche
die Menschen bewegen und beherrschen“ (Durkheim 1995, S. 260). An anderer
Stelle schreibt er: „[…] there is no morality that is not infused with religiosity“
(Durkheim 1960a, S. 335). Weil er das Dafürhalten widerlegt, dass es etwas gibt,
was aus sich heraus besteht, er somit ermittelt, wie die Dinge, deren autonome
Wirklichkeit man nicht abstreitet, auf Kräfte, und zwar auf soziale Kräfte ange-
wiesen sind, berechtigt er, diese Kräfte erforschen zu können.

3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts)

Wissenschaft hilft Durkheim, um praktische Empfehlungen für gesellschaftliche


Krisenzustände zu konstruieren. Zum einen nutzt er seine Studien, um „Störun-
gen der kollektiven Ordnung“ (Durkheim 1973, S. 278) konstatieren zu kön-
nen140 und zum anderen setzt er sie, sobald er sich von Gegenstand der For-
schung hat belehren lassen (vgl. Durkheim 1984, S. 163), folgerichtig ein.141

139 Durkheims Religionslehre zeigt, so William Pickering, dass man eine Gesellschaft untersuchen
kann, wenn man ihre Religion in den Mittelpunkt stellt (vgl. Pickering 2002, S. 29).
140 Durkheim erwähnt, dass sich vor allem Frankreich für die Entwicklung der Soziologie als
Disziplin eignet, weil sich dort die Auflösung traditioneller Ordnungen beobachten lässt (vgl.
Durkheim 1960b, S. 383).
141 Durkheims Engagement zu Konsolidierung der Soziologie auf der einen Seite und zur Refor-
mierung der Gesellschaft auf der anderen Seite besteht für Hans-Peter Müller nicht so isoliert
voneinander wie es andere auslegen und Durkheim selbst stets betont hat. Das lässt sich daran
erkennen, dass sich sein Reformprogramm ohne seine Konzeption der Soziologie als Wissen-
schaft nicht entwickeln lässt (vgl. Müller 2009, S. 231).
256 3 Émile Durkheims Welt

Gehen praktische Empfehlungen nicht auf die Wissenschaft, sondern auf politi-
sche Leidenschaften zurück, so sind grundsätzlich grenzenlos. Wer ohne Rück-
griff auf die Wissenschaft weiß, was für etwas gut ist, der wird nicht ausschlie-
ßen können, einen Irrtum zu begehen, da er auch nicht garantieren kann, die Lei-
denschaft beiseite zu lassen (vgl. Durkheim 1976, S. 119). Bei der Erforschung
der Ursachen eines Gegenstands muss man, so Durkheim, vermeiden, dass ihm
diese hinzugefügt werden (ebd., S. 156). Hält man das ein, so lässt sich in Erfah-
rung bringen, wie sich ihm helfen lässt. Wird aber die Entscheidung über das,
was für einen Gegenstand erstrebenswert ist, nicht ihm selbst entnommen, son-
dern dem Menschen überlassen, dann wird das als erstrebenswert gelten, was mit
viel Verve vorgetragen wird. Durkheim schreibt:
„Das Ziel der Humanität verfließt also ins Unendliche, entmutigt die einen durch
seine Entfernung und stachelt dagegen die andern an, die die Gangart beschleunigen
und sich in Revolutionen stürzen, um sich ihm ein wenig zu nähern“ (Durkheim
1984, S. 163).
Hingegen sind wissenschaftliche Erkenntnisse für die Entscheidung über Erstre-
benswertes von Vorteil, weil man, wenn sich zuvor feststellen ließ, was einen
Gegenstand erhält, weiß, in welche Richtung er sich im Hinblick auf seine Be-
wahrung verändern lässt. „Wichtig ist, das Wesen der Gesellschaft zu erkennen
und nicht die Art, in der sie sich selbst begreift, denn diese kann falsch sein“
(Durkheim 1976, S. 118).
Seine Studien stellt Durkheim in den Dienst der Krisenerkennung und deren
Bewältigung.142 Dieses Engagement ist auch in seiner unvollständig überlieferten
Vorlesung Physik der Sitten und des Rechts (1991) erkennbar. In der moralsozio-
logischen Vorlesung lotet er aus, welche Bedingungen erforderlich sind, damit
partikulare Moralen der gesellschaftlichen Krise gerecht werden. Er untersucht
aber auch, was dazu führt, dass eine zentrale Voraussetzung für universelle Mo-
ral gegeben ist, und das ist die Schwächung partikularer Moralen, mit denen der
Anspruch verbunden ist, dass sie universeller Moral übergeordnet sind. Im Kern
beruht letztere für Durkheim darauf, dass Moralen, die dem Individuum zumu-
ten, mehr sie als sich selbst zu respektieren, so geschwächt werden, dass sie über
den Respekt für das Individuum an sich nicht dominieren können. Während er in
der Arbeitsteilung in erster Linie ungeplanten Faktoren für die Möglichkeit der
Individualität, also für die Schwächung von kollektiven Homogenitätszumutun-
gen nachgeht, deckt er in der Physik wiederum auf, dass kollektive Homogeni-
tätszumutungen ihrerseits dazu beitragen, den Respekt und den Schutz für das
Individuum, uns zwar unabhängig von Partikularitäten zu ermöglichen. Die Re-
konstruktion dieses Verhältnisses zwischen partikularen Moralen und der univer-

142 König sieht in Durkheims Einsatz der Erkenntnisse für den Entwurf von praktischen Konse-
quenzen das, was Karl Popper die Stückwerk-Sozialtechnologie genannt hat (vgl. König 1973,
S. 480).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 257

sellen Moral erfolgt auf den nächsten Seiten. Das Verhältnis lässt sich im Zu-
sammenhang mit Durkheims Einschätzung der Wirksamkeit von partikularer und
universeller Moral hinsichtlich Minderung von Orientierungslosigkeit erfassen.
Daher sollen die folgenden Arbeitsschritte helfen, die Rekonstruktion durchzu-
führen: Durkheims Rückgriff auf die Selbstmordraten erlauben ihm, einen empi-
rischen Befund über die „Störung der kollektiven Ordnung“ vorzulegen. Eine
knappe Wiederholung seines Zugangs zum Phänomen des Selbstmords im Hin-
blick darauf, an ihm Erscheinungen der Krise abzulesen, steht als erstes an. Die
Skizze ist erforderlich, weil seine Empfehlung, die Berufsgruppen zu stärken,
von den festgestellten Ursachen hergeleitet wird. Die Darstellung seiner Empfeh-
lung erlaubt, auf einige Bedingungen für partikulare Moral in modernen Gesell-
schaften zu stoßen. Das lässt sich insbesondere an den Vorteilen der beruflichen
Moralen gegenüber anderen partikularen Moralen erarbeiten. Durkheims Ausei-
nandersetzung mit der Dreyfus-Affäre verhilft im nächsten Schritt, den von ihm
erkannten Nutzen des Kults des Individuums zu verstehen. Seiner Interpretation
von Mordstatistiken lässt sich zunächst entnehmen, dass das sakrale Individuum
die Zurückdrängung von Moralen voraussetzt, für die das Individuum sekundär
ist. Inwiefern diese Zurückdrängung in bestimmten Maßen und in einem Balan-
ceverhältnis erfolgen muss, verrät im letzten Schritt die Staatslehre Durkheims.
Dass sich moderne Gesellschaften zu seinen Lebzeiten in der Krise befan-
den, stellt er insbesondere in der Selbstmord-Studie anhand von statistischen
Daten fest.143 Statistiken über die dokumentierten Selbstmorde entnimmt er, dass
die Zahl der Freitode in Preußen, Frankreich, Österreich, Sachsen, Belgien,
Schweden, Dänemark und Italien im Längsschnitt um bis zu 411% zunehmen
(vgl. Durkheim 1973, S. 434). Die außergewöhnlich hohe Selbstmordrate ist ihm
ein Indikator für den abnormen Zustand der Normen (ebd., S. 20). Die Ergebnis-
se der Studie zeigen: Während zunehmender Egoismus und Anomie in den Da-
ten sichtbar werden, verringert sich der Altruismus. Mit anderen Worten: Zum
einen bringen sich die Menschen über das gewöhnliche Maß weit hinausgehend
um. Zum anderen aber nehmen sie sich nicht das Leben, weil sie ihre Schuldig-
keit tun müssen oder den Tod einer unrevidierbaren Ehrverletzung vorziehen.
Wenn man nun den individuellen Anlass des Einzelfalles unberücksichtigt lässt
und stattdessen die Gesamtzahl der Selbstmorde während einer bestimmten Zeit
betrachtet, dann lässt die Selbstmordrate eines Landes unter Berücksichtigung
von u.a. Konfessionen, Familienstand, Geschlecht und Berufsgruppe die Ursa-
chen hervortreten, zu denen man anhand der subjektiven Gründe für den Freitod
nicht gelangen kann (ebd., S. 378). Vor diesem Hintergrund lassen der Anstieg

143 Während sich Durkheim, so Müller, in der Arbeitsteilung nur theoretisch mit Anomie und
gesellschaftlichen Krisen beschäftigt, entwickelt er auf der Grundlage der Studie zum Selbst-
mord eine „empirische Krisenhypothese“ (vgl. Müller 1983, S. 139). Hans Joas sieht im
Selbstmord einen Beitrag zur Suche nach Möglichkeiten für eine Moral, die sich, anders als in
der Arbeitsteilung untersucht, nicht zu entwickeln schien (vgl. Joas 1999, S. 89).
258 3 Émile Durkheims Welt

des egoistischen und anomischen Typus und der Schwund der altruistischen
Selbstmorde erkennen, wie es um die Kraft überindividueller Ziele bestellt ist.
Durkheims Schlussfolgerung lautet: Die gesellschaftliche Krise ist Realität, weil
die hohe Selbstmordrate nur eine der Folgen von Egoismus und Anomie ist. Die
zahlreichen Toten sind ein Indikator eines pathologischen Zustands und keine
Folge des individualistischen Zeitgeistes. Er schreibt: „Die steigende Flut der
Selbstmorde ist daher nicht als Zeugnis für den Vormarsch unserer Zivilisation
zu betrachten, sondern als Signal für eine Krise, eine Störung [...]“ (ebd., S. 437).
Weil sich in den Daten über die Suizide das umgekehrte Verhältnis von Alt-
ruismus einerseits und Egoismus und Anomie andererseits ablesen lässt, schließt
Durkheim auf die Orientierungslosigkeit als wesentlichen Herd der Krise. Maß-
lose Beschäftigung mit sich selbst, die den Egoismus kennzeichnet, folgt auf den
Sinnverlust und begünstigt die Vereinzelung. Die Orientierung an überindividu-
ellen Zielen bleibt aus, so dass sich die Handlungserfahrungen des Egoisten re-
duzieren, der sich selbst zunehmend zum Gegenstand des Nachdenkens macht.
Überindividuelle Ziele sind in modernen Gesellschaften den Auswirkungen der
Wissenschaft und insbesondere ihres Impetus ausgesetzt, nach dem das Bestehen
von grundsätzlich allen Dingen infrage gestellt wird (ebd., S. 325). Alles, was
einst fraglos hingenommen wurde und stabile Orientierung anbot, kann der Kri-
tik unterzogen werden. Infolgedessen gewinnt die Reflexion an Bedeutung und
Orientierungen werden unsicher. Einen „nahen Verwandten“ nennt Durkheim
den anomischen Selbstmord (ebd., S. 454), weil auch ihn die Schwächung der
überindividuellen Ziele verschuldet. In der Arbeitsteilung erwähnt er die unzu-
längliche Entwicklung der organischen Solidarität im Wirtschaftsleben, auf die
er die Anomie zurückführt (vgl. Durkheim 2008a, S. 437). Fehlen regelmäßige
und dichte Interaktionen bei der Ausübung spezialisierter Funktionen, weil sich
die Wirtschaftsmärkte unbegrenzt ausdehnen, so werden sich die moralischen
Regeln, die sich der zunehmenden Arbeitsteilung verdanken, nicht verstetigen
können (ebd., S. 439). Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, dass sich
Kollektive bilden, aus denen heraus sich Verhaltensregeln zum Vorteil von kol-
lektiven Interessen formen (ebd., S. 47). Vor allem die Interaktionen in der Wirt-
schaft sind aber, so Durkheim, im Besonderen auf geltungsstarke Verhaltensre-
geln angewiesen, da es die wirtschaftlichen Funktionen sind, die infolge der In-
dustrialisierung die früher im Vordergrund stehenden Tätigkeiten des Militärs,
der Verwaltung und der Religion überholen (ebd., S. 44). In modernen Gesell-
schaften nimmt also das Berufsleben eine herausragende Rolle im Leben der
Individuen ein und daher folgert er, dass der Bedarf an Verhaltensregeln für die
wirtschaftlichen Funktionen besonders wichtig ist. Hier sind Regelungen zudem
deswegen angebracht, weil sich die Vorschrift zur Vermehrung des Wohlstands,
die die Industrialisierung begleitet, nachteilig auf die einstigen Verhaltensregeln
in der Wirtschaft auswirken. Sie werden dem Streben nach Wohlstand unterge-
ordnet (vgl. Durkheim 1973, S. 292). Dass Regelungsbedarf besteht, erschließt
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 259

sich ihm aufgrund der hohen Rate an anomischen Selbstmorden, die in mehreren
Ländern von denen verübt werden, die einen Beruf in Handel und Industrie aus-
üben. Es sind die wohlhabenden Menschen, deren Freitod auf die Wirkungen der
Anomie zurückgeht (ebd., S. 295).
Seine Ergebnisse veranlassen ihn, sich dafür stark zu machen, eine besonde-
re Sekundärgruppe zu begünstigen, nämlich die Berufsgruppe (ebd., S. 449). Ihre
Sträkung begründet er wie folgt: Weil sie ein „moralisches Milieu“ darstellt, das
anschlussfähig ist an die Dominanz des Wirtschaftslebens, ist sie ein geeignetes
Mittel gegen die schadhafte Orientierungslosigkeit. Auf moralische Milieus kön-
nen, so Durkheim, weder das Individuum noch Moral überhaupt verzichten. Das
erklärt er wie folgt: Innerhalb eines Herrschaftsverbands entsteht ein Kollektiv,
wenn es Individuen gibt, deren Interessen und Tätigkeiten gleich und abgeson-
dert sind (vgl. Durkheim 2008a, S. 55) und in deren Interaktionen bestimmte
Zeichen regelmäßig wiederkehren, so dass sich unter ihnen die Orientierung an
der Zusammengehörigkeit ausbilden kann (vgl. Durkheim 2010a, S. 341). Gibt
es ein Kollektiv, so gibt es auch Interessen, die es allein betreffen und deren Un-
terstützung die Angehörigen als Zumutung erfahren. Durkheim schreibt:
„Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Un-
terordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle
jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestim-
men und auf die gewöhnlichen oder bedeutsamen Umstände auswirken kann, über-
trägt es sich in bestimmte Formeln; und infolgedessen entsteht ein Korpus morali-
scher Regeln“ (Durkheim 2008a, S. 56).
Wenn also die Angehörigen des Kollektivs seine Interessen berücksichtigen und
pflegen, ordnen sie sich ihnen unter. Diese Unterordnung ist es, die für Moral
unverzichtbar ist. Das moralische Milieu ist nicht das Kollektiv, denn der Zweck
der moralischen Regeln ist etwas, was sich qualitativ von der Summe seiner An-
gehörigen unterscheidet, schließlich entsprechen die Interessen des Kollektivs
nicht den summierten Interessen der Angehörigen, denn sie sind sozialen Ur-
sprungs. In Durkheims Suche nach dem Zweck der Moral wird zum einen der
individuelle Eigennutz und zum anderen der Eigennutz anderer ausgeschlossen,
aber auch die Summe individueller Interessen bleibt außen vor. Anders ist das,
wenn man die Interessen eines Kollektivs berücksichtigt, die sich aus der Syn-
these seiner Angehörige ergeben (vgl. Durkheim 1976, S. 104). Durkheim dazu:
„Die Moral beginnt also dort, wo das Gruppenleben beginnt, weil erst dort
Selbstlosigkeit und Hingabe einen Sinn erhalten“ (ebd., S. 105). Ziele, die das
Individuum veranlassen, eigennützige Ziele zurückzustellen, sind synthetisch
entstanden. Ohne ihre Befolgung geht dem Individuum die Quelle dafür ab, Ob-
jekt der Verbundenheit anderer zu sein, denn durch die überindividuellen Ziele
eines moralischen Milieus ist dafür gesorgt, dass diejenigen zueinander finden,
denen sie erstrebenswert sind (vgl. Durkheim 2008a, S. 57).
260 3 Émile Durkheims Welt

Die Moral der Berufsgruppen gehört zum Typus der Moral, deren Befol-
gung nicht unterschiedslos allen zugemutet wird. Während universelle Moral das
Verhalten gegenüber anderen einzig auf der Grundlage des Menschseins regelt,
beruhen die weitaus häufiger vorkommenden partikularen Verhaltensregeln auf
spezifischen Qualitäten wie Alter, Geschlecht, Generation, Verwandtschaftsgrad
oder Staatsangehörigkeit (vgl. Durkheim 1991, S. 13). Partikulare Moralen sind
aber für diejenigen, die die jeweiligen Qualitäten aufweisen, universell geltend
und sie verhalten sich relativ autonom gegenüber anderen Verhaltensregeln die-
ses Typus. Widersprüche zwischen den partikularen Moralen sind sogar gewöhn-
lich. Zum Beispiel ist die Infragestellung in der Wissenschaft verbindlich, wo-
hingegen sie dem Priester und dem Soldaten untersagt ist (ebd., S. 14). Durk-
heim trennt die Moralen, weil es seine Absicht ist, auf den „moralischen Poly-
morphismus“ hinzuweisen, der für moderne Gesellschaften kennzeichnend ist.
Die wachsende Spezialisierung der Arbeitstätigkeiten und die Herausbildung
neuer Funktionen führt nämlich zur Vermehrung der durchaus auch wider-
sprüchlichen partikularen Moralen (ebd., S. 18). Weil aber die partikulare Moral
im Allgemeinen keine ungewöhnliche Erscheinung ist, – denn schließlich beru-
hen die Verhaltensregeln, die je nach Alter, Generation und Verwandtschafts-
grad gelten, auf organischen Qualitäten und somit sind sie zwar eingeschränkt,
aber darin wiederum auch universell geltend – ergibt sich die Eigenart der mo-
dernen Gesellschaften aus dem Anwachsen der partikularen Moralen und nicht
überhaupt aus ihnen.
Was aber die Moral der Berufsgruppen im Besonderen gegenüber anderen
partikularen Moralen unterscheidet, ist die Indifferenz bei Vergehen von Seiten
derjenigen, die nicht die spezifischen Qualitäten aufweisen, um von den partiku-
laren Verhaltensregeln betroffen zu sein. „Fehler, die nur die Ausübung eines
Berufes betreffen, erfahren jenseits des eigentlichen Berufsmilieus allenfalls
einen unbestimmten Tadel“ (ebd., S. 15). Weil die Verhaltensregeln eines Beru-
fes nur Ordnung für die speziellen Tätigkeiten und für das Verhältnis der Betei-
ligten des moralischen Milieus schaffen, haben sie abseits des Berufes keine Gel-
tung. Durkheim stellt das wesentliche Merkmal der partikularen Moral der Be-
rufsgruppen in den Vordergrund, weil vor allem ihre Indifferenz die Kraft der
Sanktion gefährdet, die schließlich für Moral überhaupt wesentlich ist (ebd., S.
10). Sofern also der mit der Selbstmord-Studie aufgedeckte Regelungsbedarf die
moderne Wirtschaft belastet und ihre globale Ausdehnung außerdem dazu führt,
dass die einstigen Berufsgruppen an ihrer lokalen Bindung, die sich mit der Aus-
richtung der Wirtschaft nicht mehr vereinbaren ließ, zugrunde gegangen sind
(ebd., S. 59), wirkt sich die Gleichgültigkeit im Falle von Regelverstößen güns-
tig für die bereits von ihm festgestellte Anomie aus.
„Sie [Arbeitnehmer und Arbeitgeber; C.A.] werden allenfalls durch eine diffuse
Meinung sanktioniert, und da diese Meinung sich nicht auf regelmäßige Beziehun-
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 261

gen zwischen den Individuen stützt, da sie aus demselben Grund keine ausreichende
Kontrolle über das individuelle Handeln auszuüben vermag, fehlt es ihr an Konsis-
tenz und Autorität. Daher lastet die Berufsmoral nur mit einem sehr geringen Ge-
wicht auf dem Gewissen des Einzelnen und schrumpft letztlich zu einem Nichts zu-
sammen“ (ebd., S. 21).
Nun lässt sich der Effekt verstehen, den sich Durkheim mit seinem Vorschlag für
die Minderung der Anomie voraussieht, denn wichtig ist ihm an „der Berufs-
gruppe vor allem die moralische Kraft“ (Durkheim 2008a, S. 51). Die Berufs-
gruppe stellt ein Orientierungsangebot zur Verfügung und schützt mit Verbun-
denheit gegen Vereinzelung. Das Individuum ist davor bewahrt, Sinnvorgaben in
sich selbst zu suchen und ist im Berufsleben, das in modernen Gesellschaften
den Alltag und den Lebenslauf überhaupt dominiert, von Verhaltensregeln be-
troffen (vgl. Durkheim 1973, S. 450). Das Defizit an Regeln in der modernen
Wirtschaft kann Durkheim somit erschließen, indem er zunächst die Bedingun-
gen des moralischen Milieus skizziert, um anschließend auf ihren rudimentären
Bestand aufgrund der rasanten und ausgedehnten Wirtschaftsentwicklung zu
stoßen. Seinen Vorschlag verteidigt er aber, indem er Unzulänglichkeiten ande-
rer Lösungen für die Krise offenbart, um sie mit den Wirkungen der Berufsgrup-
pen zu kontrastieren. Der spezifische Nutzen der Berufsmoral wird also kennt-
lich, indem er zeigt, was sie im Gegensatz zu anderen Lösungen erzielen kann.
Worin sie sich als unzulänglich erweisen, soll als nächstes erarbeitet werden,
denn das gibt zu erkennen, wovon partikulare Moralen in modernen Gesellschaf-
ten überhaupt betroffen sind.
Eine andere Lösung ist mit dem Appell von Seiten des Staates verbunden,
sich die Zusammengehörigkeit zu vergegenwärtigen (vgl. Durkheim 2008a, S.
429). Gegen diese Lösung wendet er ein, dass die Orientierung an der Vorstel-
lung der Zusammengehörigkeit, die Differenzen überwölbt, nicht ausreicht, um
im Alltag präsent zu sein. Abseits politischer Großereignisse kann sich das Ge-
bot der Zusammengehörigkeit gegen die Vielfalt der alltäglichen Zumutungen
nicht durchsetzen (vgl. Durkheim 1973, S. 443).
„Jedem Individuum“, fragt er, „begreiflich zu machen, dass es nicht allein bestehen
kann, sondern ein Teil des Ganzen ist, von dem es abhängt? Aber eine derartige
Vorstellung, die wie alle komplexen Vorstellungen abstrakt, vage und im Übrigen
nur kurzfristig wirksam ist, kann gegen die lebhaften, konkreten Eindrücke nichts
erreichen, die die Berufstätigkeit beständig in uns hervorruft“ (Durkheim 2008a, S.
429).
Die Distanz zwischen Individuum und Staat erkennt Durkheim auch an den Fol-
gen der Zentralisierung der Herrschaft. Indem hierfür der Staat zunehmend die
Sekundärgruppen entmachtet, schwächt er auch ihre moralischen Milieus, was
wiederum den Egoismus und die Anomie fördert, statt sie zu reduzieren. Auf der
einen Seite entzieht also der Staat dem Individuum die moralischen Kräfte und
262 3 Émile Durkheims Welt

auf der anderen Seite mutet er ihm solche Ziele zu, die sich, weil sie umfassend
sind und das Besondere überschreiten, nur schwer vorstellen lassen und sich
gegen die alltäglichen Pflichten nicht durchsetzen können (vgl. Durkheim 1973,
S. 463 f.).
Dass der Staat gegen Egoismus und Anomie nicht viel ausrichten kann, er-
klärt Durkheim darüber hinaus, indem er auf die fortschreitende Spezialisierung
der wirtschaftlichen Tätigkeiten verweist, die sich dadurch auch dem staatlichen
Einflussbereich entziehen. Die Kompetenz des Staates reicht, ihm zufolge, für
den zunehmenden und immer spezifischer werdenden Regelungsbedarf in der
Wirtschaft nicht aus (vgl. Durkheim 2008a, S. 46). Was den Verhaltensregeln
gelingen kann, die sich aus den verschiedenen Berufgruppen schöpfen, das ist
dem Staat nicht möglich. Weder kann er also eine moralische Einheit auf der
Grundlage von Gemeinsamkeiten herstellen, der Differenzen gegenüber unterle-
gen sind, noch kann er für Verhaltensregeln sorgen, für die es Fachwissen
braucht, das er angesichts fortschreitender Ausdifferenzierung nicht aufbringen
kann.
Die Stärkung der Berufsgruppen zieht Durkheim auch gegenüber der Reli-
gion vor. Ihre Unzulänglichkeit lässt sich ohnehin am Nachlassen des altruisti-
schen Selbstmordes ablesen, d.h. befinden sich Gesellschaften in Krisen, die sich
Egoismus und Anomie verdanken, so wird man dort wenig Individuen vorfinden,
deren Individualität nur gering ausgebildet ist. In diesem Fall liegen keine güns-
tigen Bedingungen für den altruistischen Selbstmord vor. Auf die geringe Indi-
vidualität beruhen aber auch Religionen. Vor den Folgen der Krise ist man ge-
schützt, wenn man die eigene Tatkraft abrufen und in Bahnen lenken kann. Wer
gläubig ist, dem stehen Verhaltensregeln zur Verfügung, die Orientierung für
den Alltag spenden und deren Rechtfertigung sich aus dem Symbol ihrer Schöp-
fer herleitet, und das ist Gott (vgl. Durkheim 1973, S. 444). Der göttliche Ur-
sprung der Verhaltensregeln lässt aber nicht zu, nach anderen Gründen für ihre
Befolgung zu suchen. Nur erweisen sich der Kritik entzogene Verhaltensregeln
als nicht mehr zeitgemäß.
„Die Religion verringert also den Hang zum Selbstmord, nur soweit sie dem Men-
schen das Recht zur Gedankenfreiheit entzieht. Aber es ist heutzutage schwierig,
dem Verstand des Individuums Fesseln anzulegen und es wird immer schwieriger
werden“ (ebd.).
Neben der Gedankenfreiheit macht auch die Wissenschaft der Religion zu schaf-
fen, denn für alles, was man auf Gott zurückführt, gibt sie alternative Antworten,
die jenen Zusammenhang infrage stellten. Die zunehmende Autorität der Wis-
senschaft mindert insofern die Geltung jener auf religiösen Ursprung beruhenden
Verhaltensregeln, weil sie sich nicht mehr darauf beschränkt die Phänomene der
Natur, sondern auch die religiösen und moralischen Handlungen und die
menschliche Psyche zu ihren Gegenständen macht (vgl. Durkheim 2010a, S.
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 263

631). Die Religion erweist sich für Durkheim also deshalb als unzulänglich, weil
man zum einen anhand der beiden in der Krise vorherrschenden Selbstmordty-
pen auf Bedingungen schließen kann, die den religiösen Altruismus beeinträchti-
gen. Zum anderen wird die Rechtfertigung der religiösen Verhaltensregeln zu-
nehmend instabil.
Obwohl Durkheim die Berufsgruppen als Antwort auf die gesellschaftliche
Krise gegenüber Staat und Religion vorzieht, schließt er Auswirkungen der Letz-
teren nicht aus. Allerdings zählt er weniger auf die konfessionellen Religionen,
sondern es ist die Sakralisierung des Individuums, mit deren integrativen Kraft er
rechnet. Der Kult des Individuums ist neben der Stärkung der Berufsgruppen die
andere Antwort auf die Krise. Während im Fall der Berufsmoral partikulare Ver-
haltensregeln helfen, bietet das Individuum die Möglichkeit, der Krise mit Effek-
ten universeller Verhaltensregeln beizukommen. Erste Aussagen zur heiligen
Eigenart des Individuums kommen bereits in der Arbeitsteilung vor, wo Durk-
heim aber die Integrationsleistung dieses Kults geringer einschätzt als die Kraft
der organischen Solidarität (vgl. Durkheim 2008a, S. 228). Er konstatiert zwar
einen Kult für die „Würde der Person“ (ebd., S. 227), nur schließt er noch aus,
dass ihre Sakralität ausreicht, um die Funktion auszuüben, die ansonsten von
einer Kirche erzielt wird.144
Seine spätere Skepsis gegenüber dem Solidaritätstypus, der sich mit der Ar-
beitsteilung entwickelt, korrespondiert mit der Neueinschätzung der Heiligkeit
der Person, der er nun zutraut, für moralische Einheit sorgen zu können. Das
bringt er in seiner Positionierung zur Dreyfus-Affäre zum Ausdruck, die er in
Der Individualismus und die Intellektuellen (1986b) kundtut. Dieser Sachverhalt
spielt sich wie folgt ab: Der Französische Hauptmann Alfred Dreyfus wird 1894
wegen Spionage und Staatsverrat verurteilt, was zu einer Spaltung zwischen Be-
fürwortern und Gegnern der Verurteilung führt. Letztere führen das später auf-
gehobene Urteil auf Dreyfus Zugehörigkeit zum Judentum zurück (vgl. hierzu
Schulze 2004, S. 249). Ohne sich explizit auf die eine oder andere Seite zu
schlagen, nimmt sich Durkheim den Vorwurf der Unterstützer der Verurteilung
vor, die Frankreich von Desintegration145 bedroht sehen, wenn die Würde der
Person gegenüber allen anderen Ideen dominiere (vgl. Durkheim 1986b, S.

144 Martin Sellmann führt Durkheims Einschätzung auf seinen Fortschrittsoptimismus zurück, der
in seinem frühen Werk dadurch erkennbar wird, dass er auf die Arbeitsteilung als Quelle der
Integration setzt. Erst die spätere Definition der Religion unter Berücksichtigung der Abgren-
zung zur Magie, so Sellmann, macht es Durkheim möglich, den Individualismus wie eine Reli-
gion zu behandeln (vgl. Sellmann 2007, S. 308 f.). Zu Durkheims gewandelter Einstellung ge-
genüber dem Kult des Individuums vgl. auch König 2002, S. 47.
145 Für Anti-Dreyfusards fallen Individualismus und Anarchie zusammen (vgl. hierzu Lukes 1999,
S. 333 ff.), und genau die Widerlegung dieser besonderen Identifikation ist Durkheims Anlie-
gen (vgl. Durkheim 1986b, S. 62).
264 3 Émile Durkheims Welt

54).146 Dreyfus Unterstützer wehren sich nämlich gegen die Verurteilung, weil
sie bereits in der Vorverurteilung von Seiten der Medien und der Massen die
Persönlichkeitsrechte des Betroffenen nicht gewahrt sehen. Die andere Seite
macht ihnen jedoch den Vorwurf, mit der Vergottung der menschlichen Würde
die Einheit des Landes zu gefährden, weil sie auf diese Weise den individuellen
Selbstbezug und die Minderung von kollektiven Bindungen vorantriebe. Mit
seiner Wortmeldung ergreift Durkheim Partei für den Individualismus, den er
anhand seiner unverzichtbaren Wirkungen verteidigt.147
Der konkrete Sachverhalt ist für sein Anliegen belanglos, da er vielmehr um
eine Richtigstellung des Individualismus bemüht ist. Er schreibt: „[…] vergessen
wir die Geschichte selbst und die traurigen Schauspiele, deren Zeuge wir waren“
(ebd.). Darüber hinaus konstatiert er, dass der Fall Dreyfus in der Debatte ohne-
hin in den Hintergrund geraten ist, wohingegen der Individualismus und die Un-
terstellung der von ihm ausgehenden Gefahr für die moralische Einheit eines
Landes zum Gegenstand des Streits geworden sind. Es wird erkennbar, „[…]
dass die Geister sich viel eher an einer Prinzipien- als an einer Faktenfrage ge-
schieden haben“ (ebd.). Durkheim beabsichtigt, die Irritation aufzulösen, die auf
die sprachliche Ähnlichkeit zwischen dem Individualismus und der Vorstellung
von der übergeordneten Orientierung an dem individuellen Eigennutz zurückgeht
(ebd., S. 66). Lässt man letztere mit dem Individualismus als einer geltenden
kollektiven Vorstellung zusammenfallen, so schließt man folglich aus, dass es
überindividuelle Ziele einer individualistischen Moral überhaupt geben kann. Im
Denken der Gegner des Individualismus ist er dafür verantwortlich, die Orientie-
rung an Erstrebenswertem zu beeinträchtigen. Diese Identifikation lehnt Durk-
heim jedoch ab. „Aber“, erwidert er, „unannehmbar ist die Unterstellung, dieser
Individualismus sei der einzige, der existierte oder möglich wäre“ (ebd., S. 55).
Sogar die Instrumentalisierung des von ihm befürworteten Individualismus zur
Rechtfertigung des Eigennutzens kann die Sakralisierung des Individuums nicht
diskreditieren (ebd., S. 60), d.h. wenn man auf die Würde des Individuums ver-

146 Eine Wortmeldung des Literaturkritikers Ferdinand Brunetières veranlasst Durkheim, seinen
Beitrag zu schreiben. Der aktive Anti-Dreyfusard, Brunetière griff in seinem Text die auf der
Seite von Dreyfus stehenden Intellektuellen an, weil sie sich weigerten ein Gerichtsurteil zu
akzeptieren. Es waren Rationalismus, Individualismus und Liberalismus, die in Denken
Brunetières in einer überheblichen Weise von den Intellektuellen vorangetrieben werden.
Durkheim selbst schließt sich deren Unterstützung an (Richter 1960, S. 179). Für ihn wiederum
haben die Zweifel am Gerichtsurteil nichts mit Arroganz zu tun, sondern es liegt in der Natur
der Sache, dass Intellektuelle ihr Urteil erst dann aussprechen, wenn es keinen Grund zum
Zweifeln gibt (vgl. Durkheim 1986b, S. 62). Im Ganzen nimmt Durkheim vor dem Hinter-
grund der Dreyfus-Affäre Notiz von einen Anstieg des Antisemitismus, den er als ein gesell-
schaftliches Krisensymptom deutet (vgl. Durkheim 2008c, S. 322). Brubaker konstatiert, dass
sich das Ethnische der französischen Nation im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre verfes-
tigt (vgl. Brubaker 1994, S. 141).
147 Steven Lukes und Devyani Prabhat sehen in Durkheims Wortmeldung handlungsorientierte
Vorschläge zur Bekämpfung von Rassismus (vgl. Lukes/Prabhat 2013, S. 175).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 265

weist, um das Handeln zugunsten des eigenen Wohls zu kaschieren, liefert man
zwar den Gegnern des Individualismus solche Beispiele, die ihren Vorwurf un-
terstützen, aber man nivelliert nicht seine eigentliche Funktion, die Durkheim
aufzudecken gewillt ist. Im Kontext der Dreyfus-Affäre ist es sein Anliegen, die
moralischen Kräfte des Individualismus zu präsentieren. Der Verleumdung des
Individualismus tritt er nämlich entgegen, indem er den Nachweis bemüht, dass
ausgerechnet die Apotheose des Individuums für moralische Einheit sorgt, statt
ihr gefährlich zu werden.
Dieser andere Individualismus ist mit der Orientierung am individuellen Ei-
gennutzen sogar unvereinbar, weil er sich nicht von den partikularen Qualitäten
eines Individuums herleitet, sondern auf der Qualität beruht, die keinem Indivi-
duum abgehen kann, und das ist das Menschsein an sich.
„Denn der Mensch, der auf diese Weise Liebe und Achtung des Kollektivs genießt,
ist nicht das beeindruckbare, empirische Wesen, wie wir es in jedem von uns sehen;
es ist der Mensch schlechthin, die ideale Humanität […]“ (Durkheim 1973, S. 395).
Es ist dem Individualismus nur dann möglich, das Gebot über den Respekt vor
der Würde des Individuums zu universalisieren, wenn er diese nicht auf eine
Qualität zurückführt, die nicht unterschiedslos alle aufweisen (vgl. Durkheim
1986b, S. 56). Ordnet man das Individuum an sich allem anderen über, so lässt
sich zwischen ihm und der Orientierung am individuellen Eigennutz insofern
nicht vermitteln, als diese um ihretwegen, wenn sie also über allem steht, den
Respekt vor der Würde des Individuums übergehen kann. Die Vergottung des
Eigennutzes des Individuums auf der einen Seite und des Individuums an sich
auf der anderen Seite schließen sich also gegenseitig aus. Das ist für Durkheim
ein Grund für die Unzulässigkeit von jener Identifikation des Individualismus,
denn die Orientierung am Individuum an sich als einem finalen Zweck schließt
aus, dass man, einerlei welcher Anlass besteht, über es hinwegsieht. „Der so ver-
standene Individualismus ist definitiv die Glorifizierung nicht des Ichs, sondern
des Individuums im Allgemeinen“ (ebd., S. 60).
Der Respekt richtet sich an die Qualitäten des Individuums, die abstrakt und
allgemein sind, was zur Folge hat, dass ihnen Partikularitäten untergeordnet
werden. Wenn also nicht das einzelne Individuum, sondern das verehrt wird, was
das Individuum mit ausnahmslos allen teilt, dann erfolgt zwangsläufig die eigene
Zurückstellung (ebd., S. 59). Das schafft nur die moralische Überlegenheit, die
von Individuum an sich ausgeht (vgl. Durkheim 1973, S. 394). Es aber als einen
erstrebenswerten Zweck durchzusetzen, kann nur auf einen sozialen Ursprung
zurückgehen. Durkheim dazu:
„Weit davon entfernt, nur unseren Instinkten zu schmeicheln, weist sie uns ein Ideal
zu, das unendlich weit über die Natur hinausgeht; denn wir haben nicht von Natur
aus diese weise und reine Vernunft, die, frei von jeglichen persönlichen Beweg-
266 3 Émile Durkheims Welt

gründen, ins Abstrakte hinein Gesetze über ihr eigenes Verhalten erlassen würde“
(Durkheim 1986b, S. 59).
Somit ist eine Voraussetzung für die Sakralisierung des Individuums gegeben,
denn der Respekt für die allgemeinen Qualitäten des Individuums transzendiert
das Individuum (vgl. Durkheim 1973, S. 392) und macht es achtsam dafür, das
Individuum vor dem profanen Zugriff zu bewahren. Das verhält sich als „[…]
eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (vgl. Durk-
heim 1986b, S. 57). Durkheim stützt sich auf seine Definition der Religion, da-
mit er konstatieren kann, dass die moralische Überlegenheit des Individuums
und die integrative Kraft, die ihm entspringt, im Wesentlichen für seine Sakrali-
sierung und die Religion der Menschheit verantwortlich sind (ebd., S. 62).148
Wo eine Religion ist, da gibt es auch Frevel. Auch der Kult des Individu-
ums kennt Sakrilege, wozu auch der Selbstmord gehört. Wer Hand an sich legt,
verfügt auf der einen Seite zwar über sich selbst, aber er verletzt auch etwas, was
ihn überschreitet und worüber er nicht frei verfügen kann (vgl. Durkheim 1973,
S. 396). Die zunehmende Missbilligung des Selbstmords im Laufe der Geschich-
te korrespondiert, so Durkheim, mit den zunehmenden Rechten des Individuums
(ebd., S. 390), d.h. wo der altruistische Selbstmord weniger vorkommt, dort ist
das Individuum nicht der strengen Pflicht zur Angleichung ausgesetzt, es verfügt
stattdessen über mehr Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf die eigene Biogra-
phie und somit wird ihm der Freitod auch nicht zugemutet. Das Individuum ist
zwar vor Angriffen auf seine Würde geschützt, es muss aber auch das, was diese
konstituiert, mit Respekt behandeln und schützen (ebd., S. 396). Schließlich lässt
sich der altruistische Selbstmord dann seltener beobachten, wenn statt der Pflicht
zum Tod die Missbilligung des Selbstmords vorherrscht.
Der Fall Dreyfus ist nicht anders. Weil das Allgemeine des Individuums
wie ein heiliges Ding verehrt wird, erfolgt die Missbilligung im Falle der Verlet-
zung seiner Freiheit und seines Ansehens nicht deswegen, weil ein bestimmtes
Individuum betroffen ist, sondern weil nicht die Qualitäten respektiert werden,
die es mit allen teilt. Durkheim erklärt, dass nicht die Anteilnahme für Dreyfus
für den Widerstand gegen seine Verurteilung sorgt, sondern die Verletzung sei-
ner Würde. Bleibt die Erhebung aus, wenn man mit einem heiligen Ding despek-
tierlich umgeht, so ist es auch um seine Sakralität geschehen (vgl. Durkheim
1986b, S. 65). Dass sich die Faktenfrage im Fall Dreyfus in eine Prinzipienfrage
gewandelt hat, wird nun verständlich. Wenn sich die Würde aus dem Spezifi-
schen eines Individuums herleitete, dann wäre die Missbilligung einer Verlet-
zung nicht kategorisch zu erwarten. Weil man jede Verletzung eines Individu-
ums missbilligt, gleich was es von anderen unterscheidet, ist es die Sakralität des
Individuums an sich, die man verteidigt. Insofern zudem das Symbol, für das die

148 Hans Joas wendet dagegen ein, dass es Durkheim nicht gelingt, die Außeralltäglichkeit der
Religion des Individuums aufzuzeigen (vgl. Joas 2004, S. 71).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 267

Bereitschaft abverlangt wird, Opfer zu bringen, nicht wie sonst den Gläubigen
äußerlich ist, nützt ihnen der Kult des Individuums mehr als nur für die übliche
Selbsterhöhung. Obendrein gilt nämlich jedem einzelnen Gläubigen der Respekt,
der die Profanierung verhindern soll (vgl. Durkheim 2008a, S. 478).
Die Sakralität des Individuums ist sogar in der Lage, für die Übereinstim-
mung trotz Vielfalt von Verhaltensregeln zu sorgen, da sie sich besonders in
modernen Gesellschaften dafür eignet, sich gegenüber der Heterogenität der ver-
ehrten Dinge durchzusetzen. Der Bedarf an Individualität, der sich der Arbeits-
teilung verdankt und das ungestrafte Hervortreten der Individualität lassen er-
kennen, dass Zumutungen, die Homogenität vorsehen, weniger Geltungskraft
aufweisen. Die zunehmende Heterogenität verhindert aber auch die Dominanz
einer Kollektivvorstellung und daher konstatiert Durkheim, dass das für die
Überwölbung der vielfältigen Unterschiede übrig bleibt, was keinem Individuum
abgeht, nämlich die Würde. Sie taugt dafür, für alle zum Gegenstand der Vereh-
rung zu werden.
„Der Individualismus bedeutet nicht nur keine Anarchie, sondern stellt fortan das
einzige Glaubenssystem dar, das die moralische Einheit des Landes sicherstellen
kann“ (Durkheim 1986b, S. 62).
An dem Widerstand gegen die Behandlung von Dreyfus wird also für Durkheim
deutlich, dass das Individuum an sich zur kollektiven Vorstellung wird, mit der
sich die für moderne Gesellschaften übliche Indifferenz gegenüber den Gescheh-
nissen in den verschiedenen Handlungsbereichen überwinden lässt.
Durkheim favorisiert demnach den Kult des Individuums, da er, anders als
die partikulare Moral der Berufsgruppen, den Zweck erfüllt, Abhilfe gegen die
gesellschaftliche Krise zu leisten, indem er dem moralischen Polymorphismus
als eine umfassende Größe überwindet. Auf der einen Seite
„[...] findet sich infolge einer weitergehenden Arbeitsteilung jeder Kopf auf einen
anderen Punkt des Horizonts gerichtet, jeder reflektiert einen anderen Gesichtspunkt
der Welt; infolgedessen unterscheiden sich die Einstellungen von einem Subjekt
zum nächsten“ (ebd., S. 63).
Auf der anderen Seite ist das Individuum dafür qualifiziert, das heilige Ding des-
jenigen Kollektivs zu sein, dem sich die Angehörigen aller spezifischen Kollek-
tive zuordnen lassen, d.h. es ist als das Symbol geeignet, um den sakralen Kern
moderner Gesellschaften zu bilden. Weil hier keines der spezifischen Kollektive
den moralischen Polymorphismus dominieren kann, bleibt nur noch das Indivi-
duum an sich übrig.
Damit Durkheim aber den Kult des Individuums gegen die Krise in Stellung
bringen kann, ist es vonnöten, zum einen die Bedingungen für die Verhaltensre-
gel zu nennen, die den Schutz des Individuums vorsieht und zum anderen zu
erklären, wie dieser Schutz funktioniert. In der Physik der Sitten und des Rechts
268 3 Émile Durkheims Welt

greift er auf statistische Daten zurück, um die Faktoren zu untersuchen, die für
das Ausmaß des Schutzes maßgeblich sind. Er kann zeigen, dass die Verehrung
des Individuums nicht dafür ausreicht, um auch für dessen Schutz und für die
Minderung der Vergehen gegen das Individuum zu sorgen. Schließlich stößt er
darauf, dass die universelle Moral des Individuums partikulare Moral, allen vo-
ran die staatsbürgerliche Moral, nicht entbehren kann. Dieses Balanceverhältnis
soll nun anhand Durkheims Interpretation der Mordstatistiken und seiner Staats-
lehre rekonstruiert werden.
Die Geltungskraft der Verhaltensregel, die das Individuum schützt, liest
Durkheim am Vergleich von Mord- und Kriminalitätsstatistiken ab. Zunächst die
Daten: Innerhalb von 55 Jahren reduziert sich in Frankreich die Zahl der Morde
um 62 %. Ähnliches lässt sich in anderen fortgeschrittenen Gesellschaften be-
obachten, während es in den weniger fortgeschrittenen Gesellschaften und in den
ruralen Regionen im Allgemeinen zu keinem Rückgang kommt (vgl. Durkheim
1991, S. 161). Die Zahl der Morde ist vor allem in den Ländern hoch, in denen
der Katholizismus dominiert (ebd., S. 168). In Kriegszeiten und im Kontext von
politischen Krisen bleibt die rückläufige Tendenz der Mordfälle aber aus. Unmit-
telbar nachdem die französische Justiz nach Ende des Krieges im Jahr 1871 ihre
Arbeit wieder aufnimmt, lässt sich eine Zunahme der Morde um 45 % feststellen
(ebd., S. 167). Obwohl weniger Morde verzeichnet werden, steigt die Zahl der
Delikte wie Diebstahl und Körperverletzung in den fortgeschrittenen Gesell-
schaften um bis zu 400 % (ebd., S. 162).
In den Ländern, denen der Rückgang in der Mordstatistik fehlt, hat sich die
Minderung solcher Kollektivgefühle noch nicht ereignet, die auch während eines
Krieges im Vordergrund stehen. Das sind Zumutungen zur Verteidigung der
Ehre von Kollektiven, gegenüber denen das Individuum an sich zurücksteht
(ebd., S. 163). Die verlangten Eingeständnisse gehen insofern über das Maß des
gewöhnlichen Selbstverzichts hinaus, als sich das Individuum mit einer Opferbe-
reitschaft konfrontiert sieht, für die sein Leben gleich ist. Wo das der Fall ist, da
gelten darüber hinaus für Vergehen gegen die Ehre der Kollektive gewalttätige
Antworten als angemessen. Unter diesen Bedingungen liegt der Respekt für das
Individuum an sich nur rudimentär vor. Mit der Interpretation der Zahlen beab-
sichtigt Durkheim aber nicht, den weniger fortgeschrittenen Gesellschaften die
Pflicht zum Mord anzuhängen. Durkheim folgert, dass hier die Empfindlichkeit
für das individuelle Leid gering ist, weil das Individuum sein Leben für das Kol-
lektiv einsetzen muss, d.h. es gelten moralische Zwecke, die dem individuellen
Leid übergeordnet sind (ebd., S. 165). Er notiert:
„Wenn Ruhm und Größe des Staates als das höchste Gut erscheinen, wenn die Ge-
sellschaft etwas Heiliges und Göttliches darstellt, dem alles andere unterzuordnen
ist, dann steht sie so hoch über dem Einzelnen, dass die Sympathie und das Mitleid,
das der Einzelne einflößen mag, nichts gegen die gebieterischen Forderungen der
verletzten Gefühle ausrichten können. Wenn es darum geht, einen Stammvater zu
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 269

verteidigen oder einen Gott zu rächen, was zählt da schon das Leben eines Men-
schen“ (ebd., S. 163 f.).
Durkheim führt auch den Anstieg der Morde infolge von Kriegen und politi-
schen Krisen auf die erhöhte Leidenschaft zurück, der die Würde des Individu-
ums und die Ablehnung des Leids unterliegen (ebd., S. 166).
Die ausbleibende Reduzierung der Morde in den weniger fortgeschrittenen
Gesellschaften und ihre kriegsbedingte Zunahme haben also ihre Ursache in dem
Gewicht der Kollektive und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum.
Für Durkheim ist das an die frühe Antike anschlussfähig, in der Mord nicht be-
straft werden musste, wohingegen die schwersten Strafen für Asebie gegenüber
religiösen Wesen verhängt wurden (ebd., S. 158). Individuelles Leid war gegen-
über der Ehre der Götter belanglos. Mit dem Rückgriff auf die Mordstatistiken
will er aber nicht darauf hinaus, die zunehmende Missbilligung individuellen
Leids für den Rückgang der Morde in fortgeschrittenen Gesellschaften verant-
wortlich zu machen. Die Unterstellung, der zufolge der Schutz für das Individu-
um an sich dadurch bewirkt wird, dass es zum Gegenstand der Verehrung wird,
nimmt er nicht an.
„Zweifellos besteht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Individua-
lismus und dem Rückgang der Morde, aber ersteres hat letzteres nicht unmittelbar
herbeigeführt“ (ebd., S. 162).
Die Daten über Delikte abseits des Mordes dienen ihm hierfür als Beleg. Verbre-
chen, die hinterlistig durchgeführt werden, ein mehr an Kalkulation erfordern
und nicht den Leidenschaften entsprechen, in deren Schatten auch die Morde
stehen, nehmen zu, ohne jedoch die Abwehr hervorzurufen, auf die ein Mord
trifft. Weil die Delikte zahlenmäßig nicht wie die Morde nachlassen, folgert
Durkheim, dass die zunehmende Verehrung des Individuums nicht die Ursache
für die Verringerung der Morde ist. Schließlich schafft es dieser Respekt nicht,
die Zahl der anderen Delikte zu mindern. Sein Ergebnis lautet daher: Der Schutz
des Individuums an sich verdankt sich dem Geltungsverlust der Kollektive und
ihrer Zumutung, sich ihnen nicht nur unterzuordnen, sondern auch die Bereit-
schaft aufzubringen, sich tatsächlich für sie zu opfern. Das Individuum an sich
wird sich nämlich nicht durchsetzen können, solange die Pflicht dominiert, für
die Ehre eines Kollektivs einzustehen.
„Wie wir gesehen haben, kam es parallel zu den Fortschritten jener kollektiven Ge-
fühle, die den Menschen schlechthin, das menschliche Ideal, das materielle und
geistige Wohl des Einzelnen zum Gegenstand haben, zu einer Abschwächung jener
kollektiven Gefühle, die der Gruppe, der Familie oder dem Staat auch unabhängig
von dem Nutzen gelten, welche der Einzelne aus ihnen ziehen mag“ (ebd., S. 163).
Also verschuldet nicht der Respekt für die Sakralität des Individuums dessen
Schutz, sondern die Minderung der Pflichten, die von Individuum verlangen,
270 3 Émile Durkheims Welt

keine Rücksicht auf das Individuum an sich zu nehmen. Wenn die Zumutung,
sich für kollektive zu opfern, nicht zwischenzeitlich wieder an Geltung gewinnt,
ist die universelle Moral stark. Nur weil sich aber das Individuum als heiliges
Ding durchsetzt, schreckt man nicht davor zurück, einem anderen Leid anzutun.
Im Hinblick darauf wirkt sich stattdessen die Einbuße der Moral aus, die einen
schonungslosen Einsatz für Kollektive vorsieht, denn für Durkheim gehört zu
dieser Bereitschaft die Disposition, sich nur in geringem Maße gegen gewalttäti-
ges Handeln zu hemmen. Wenn eine partikulare Moral solches Verhalten ver-
langt, dem man sogar das eigene Wohlergehen unterzuordnen hat, bewirkt sie
auch, dass man sich gleichgültig zeigt gegenüber menschlichem Leid überhaupt
(ebd., S. 165).
Auf den Geltungsverlust einer solchen partikularen Moral ist aber auch das
Individuum angewiesen, damit es möglich ist, es mit der Würde des Heiligen
auszustatten. Der Schutz des Individuums ist demnach über allem verbindlich,
solange der Schutz von Kollektiven nur eine der vielen nebensächlichen Verhal-
tensregeln ist. Zwar ist der Respekt für das Individuum schlechthin von der
Schwächung der Verhaltensregeln abhängig, die unerbittliche Selbstaufopferung
nicht ausschließen, auf partikulare Moral überhaupt zu verzichten, kann sich die
universelle Moral wiederum nicht leisten. Mit dem Nachweis hierfür kann Durk-
heim einen Widerspruch auflösen, der in seinen Anregungen zur Erwiderung der
Krise enthalten ist. Er besteht wie folgt: Auf der einen Seite favorisiert Durk-
heim die partikulare Moral der Berufsgruppen. Das sind Verhaltensregeln, die im
Allgemeinen die Gestaltung der Individualität einschränken und darüber hinaus
für die in der Biographie und im Alltag des Individuums dominanten Interaktio-
nen zuständig sind. Auf der anderen Seite setzt er auf die integrative Kraft, die
von der Religion der Menschheit ausgeht, weil sich ansonsten keinerlei Sakrali-
tät anbietet, um der modernen Heterogenität Herr zu werden. Wie kann Durk-
heim also eine partikulare Moral befürworten, obwohl er auch auf Verhaltensre-
geln zählt, mit denen das Individuum im Hinblick auf ein Ziel homogenisiert
wird, das aber zugleich die Heterogenität der Individuen unterstützt? Die Ant-
wort liefert er mit seinen Überlegungen zu einer weiteren partikularen Moral,
und das ist die staatsbürgerliche Moral.
Durkheim kann zeigen, dass der Staat solche Effekte hervorruft, die das In-
dividuum an sich braucht. Obwohl auch der Staat dem Individuum zumutet, sich
Zwecken unterzuordnen, die an eine partikulare Zugehörigkeit gebunden sind
und eben nicht das Individuum an sich betreffen, trägt er für dieses Sorge, aber
nicht indem er sich um das Ausbleiben von Vergehen gegen das Individuum
kümmert. Insofern sich infolge der Schwächung der rückhaltlosen Pflichten für
Kollektive die partikularen Zugehörigkeiten dem Individuum an sich unterord-
nen und dafür nicht allein der ihm entgegengebrachte Respekt ausreicht, unter-
sucht Durkheim die Funktion des Staates im Hinblick auf jene Schwächung. Er
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 271

kann sie aufdecken, aber hierfür braucht er zunächst Definitionen der politischen
Gesellschaft, des Staates und der Demokratie.
Als erstes die politische Gesellschaft, die er nicht mit dem Staat zusammen-
fallen lässt. Durkheim sucht die spezifischen Merkmale, die sie von anderen
Dingen unterscheidet. Die stabile und rechtmäßige Über- und Unterordnung ist
zunächst das Merkmal, das keiner politischen Gruppe, also auch der politischen
Gesellschaft nicht fehlen kann (ebd., S. 64). Die Macht der politischen Gesell-
schaft ist keiner weiteren Macht untergeordnet. Sie kann weitere Gruppen integ-
rieren, ohne aber ihrerseits von einer politischen Gesellschaft umfasst zu werden
(vgl. Durkheim 1996b, S. 208). Weil die dauerhafte Macht ein Merkmal ist, das
ebenfalls andere Dinge wie z.B. die antike Familie aufweisen, prüft er, ob es
zulässig ist, das Territorium und die Anzahl der Untergeordneten für die Defini-
tion der politischen Gesellschaften zu veranschlagen. Die Einwände gegen diese
Merkmale helfen ihm, das weitere Merkmal der politischen Gesellschaft an die
dauerhafte Macht anzuschließen. Das Territorium kann kein Merkmal sein, weil
es zum einen politische Gesellschaften ausschließt, die umherziehen und an kein
festes Territorium gebunden sind. Zum anderen wird das Merkmal politischen
Gesellschaften der Vergangenheit nicht gerecht, denen das fixe Territorium un-
bekannt war (vgl. Durkheim 1991, S. 66). Die Anzahl der Untergeordneten lässt
sich ebenfalls nicht zu den Merkmalen zählen, da es nicht möglich ist, das Mi-
nimum derjenigen festzulegen, die von der dauerhaften Macht betroffen sein
müssen. Nichtsdestoweniger ist die Quantität der Untergeordneten nicht unwe-
sentlich, da sie eine Voraussetzung der Über- und Unterordnung erfüllt. Diese
ist, so Durkheim, schließlich erst dadurch anerkannt, dass sich verschiedene Kol-
lektive aneinander binden. Hört diese Vereinigung auf, so verschwindet auch die
dauerhafte Macht. Er notiert:
„Da politische Gesellschaften die Existenz einer Autorität voraussetzen und da solch
eine Autorität nur dann entsteht, wenn die Gesellschaft mehrere elementare Gesell-
schaften in sich vereint, bestehen politische Gesellschaften notwendig aus mehreren
Zellen oder Segmenten“ (ebd., S. 70).
Die gemeinsame Unterordnung verschiedener Gruppen unter eine Macht ist für
diese grundlegend und mit diesem Merkmal kann man die politische Gesell-
schaft von anderen Dingen unterscheiden.
Durkheim besteht darauf, auch einen Unterschied zwischen dem Staat und
der politischen Gesellschaft zu machen, obwohl sich sein Wirken von dieser
nicht vollkommen isolieren lässt. Der Staat ist für ihn „die spezielle Gruppe von
Funktionsträgern“, die für die Macht der politischen Gesellschaft steht (ebd., S.
72). Ferner trennt er den Staat von Instanzen wie der Verwaltung oder dem Mili-
tär, die seine Entscheidungen in die Tat umsetzen, da er sonst das wesentliche
Merkmal des Staates verzerrt (vgl. Durkheim 1996a, S. 45). Was dem Staat un-
tergeordnet ist und eine ausführende Funktion ausübt, dem geht ein ausschließ-
272 3 Émile Durkheims Welt

lich auf den Staat zutreffendes Merkmal ab. Das Soziale und der Staat sind
mächtig, beide können das Individuum bedrängen, nur lässt dieser seine inneha-
bende Macht mit Bedacht wirksam werden. „Thus the State is above all an organ
of reflection“ (ebd., S. 46). Während die Macht des Sozialen nicht bewusst pla-
nend und kalkulierend eingesetzt werden kann, ist das im Wesentlichen dem
Staat möglich. Das Reflexionsvermögen ist das Merkmal für die Definition des
Staates, das weder die ihm untergeordneten Instanzen noch die politische Gesell-
schaft aufweisen. Letztere kann es zwar ohne einen Staat und basierend auf der
mechanischen Solidarität geben, der Staat aber ist ohne die politische Gesell-
schaft nicht möglich, denn schließlich zeichnet ihn die Rationalität seiner Macht
aus, die er im Besonderen auf einen Gegenstand richtet, und das ist die politische
Gesellschaft. Die Entscheidungen des Staates sind aber, weil sie die politische
Gesellschaft betreffen, von dieser nicht losgelöst. Aus diesem Grund lehnt es
Durkheim ab, nicht zwischen ihr und dem Staat zu unterscheiden.
„Der Staat ist ein spezielles Organ, das die Aufgabe hat, bestimmte Vorstellungen
zu entwickeln, die für die Gemeinschaft bindend sind. Diese Vorstellungen unter-
scheiden sich von den übrigen kollektiven Vorstellungen durch ein höheres Maß an
Bewusstheit“ (Durkheim 1991, S. 75).
Anders als die Macht des Sozialen übt der Staat seine Macht aus, indem eigens
hierfür qualifizierte Funktionsträger die Kosten und Ziele der Machtausübung
bedenken. Die Funktion der Verfassungen und der kodifizierten Ordnungen
überhaupt besteht schließlich darin, die Macht des Staates der Macht des Sozia-
len überzuordnen und die Reflexion und Diskussion über ihren Einsatz zu regeln
(vgl. Durkheim 1996a, S. 47). Die Versammlungen der Funktionsträger erfüllen
demnach den Zweck, Diskussionen über die Entscheidungen des Staates zu füh-
ren, um somit seine Macht, anders als sich die Macht des Sozialen verhält, in
rationale Bahnen zu lenken.
Neben politischer Gesellschaft und Staat definiert Durkheim auch die De-
mokratie im Hinblick darauf, den Voraussetzungen des Individuums an sich
nachzugehen. Die Definition des Staates bereitet jedoch Schwierigkeiten, sie mit
einer bestimmten Vorstellung von Demokratie zu vereinbaren. Durkheim lehnt
es ab, die Machtausübung des Staates als deckungsgleiche Resonanz der Macht
der politischen Gesellschaft zu begreifen. Demokratie kann nicht die Staatsform
sein, deren wesentliches Merkmal die getreue Wiedergabe dieser Macht ist (vgl.
Durkheim 1991, S. 131). Das weist er zurück, weil sich auf dieser Grundlage
eine Definition der Demokratie folgewidrig zur Definition des Staates verhält.
Ein Staat liegt vor, insoweit er sich anhand seines Reflexionsvermögens von der
politischen Gesellschaft abhebt und daher kann es nicht möglich sein, die Demo-
kratie als Reflex von jener zu kennzeichnen, ohne dass sich diese Definition zu-
gleich als Nachteil für das Wesensmerkmal des Staates erweist. Obwohl der
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 273

Staat unter dem Einfluss der politischen Gesellschaft steht und sich seine Macht
wiederum auf diese auswirkt, fallen beide nicht zusammen.
„Man sollte also nicht sagen, die Demokratie sei die politische Verfasstheit einer
Gesellschaft, die sich selbst regiert und in der die gesamte Nation an der Regierung
teilhat. Solch eine Definition wäre ein Widerspruch in sich. Genauso gut könnte
man sagen, die Demokratie sei eine politische Gesellschaft ohne Staat. In Wirklich-
keit ist der Staat entweder ein von der übrigen Gesellschaft unterschiedenes Organ,
oder er ist gar nicht“ (ebd., S. 119).
Wenn die Demokratie darauf basiert, dass der Staat auf die Macht der politischen
Gesellschaft reduziert wird, büßt er seine eigentümliche Macht ein. Das bemerkt
Durkheim wie folgt:
„Denn die Demokratie setzt einen Staat, ein Regierungsorgan, voraus, das von der
übrigen Gesellschaft unterschieden ist, wenngleich es in enger Beziehung zu ihr
steht, und die genannte Sichtweise ist die Negation jeglichen Staates im eigentlichen
Sinne des Wortes, weil sie den Staat in der Nation aufgehen lässt“ (ebd., S. 132).
Was aber den Staat kennzeichnet, das hilft Durkheim dabei, die Definition der
Demokratie zu entwickeln. Der Staat beruht auf der reflektierten Machtausübung
und kein Staat kann abgesondert von der politischen Gesellschaft bestehen, da
seine Macht von der Vereinigung der Untergruppen in jener abhängt. Insofern es
nicht ausbleiben kann, dass der Staat an die politische Gesellschaft angeschlos-
sen ist, ist es möglich, die Staatsformen anhand dieser Verbindung zu differen-
zieren. Belässt der Staat seine Reflexionen im Verborgenen, so wird die politi-
sche Gesellschaft nicht über die Abwägungen und Motive seine Machtausübung
in Kenntnis gesetzt. Macht er sie hingegen transparent, so ermöglicht er, dass es
auch auf Seiten der politischen Gesellschaft zu Diskussionen und Reflexionen
über seine Machtausübung kommt, nur hat das zur Folge, dass er seinerseits von
diesen Vorgängen in der politischen Gesellschaft betroffen ist.149 Ein wesentli-
ches Merkmal der Demokratie ist für Durkheim demnach die Aufmerksamkeit
für die Reflexionen des Staates und ihre Wirkung auf diese (ebd., S. 119). Die
Kommunikation zwischen Staat und politischer Gesellschaft grenzt die Demo-
kratie von anderen Staatsformen ab. In ihr gibt es Institutionen, die nur deswegen
bestehen, damit es zur Kommunikation kommen kann und deren Zweck ist, dass
die politische Gesellschaft über die Reflexionen des Staates in Kenntnis gesetzt
wird. Wo der Staat hingegen primär nach außen orientiert ist und die Repräsen-
tanten der politischen Gesellschaft als sakral gelten und somit keinen Kontakt zu
profanen Menschen haben, da ist die Kommunikation zwischen Staat und politi-
scher Gesellschaft gering entwickelt (ebd.). In der Demokratie ist das anders:

149 Einen Vergleich zwischen Durkheims Überlegungen zu Demokratie und zeitgenössischen


Theorien deliberativer Demokratie führt Yves Sintomer durch, um Unzulänglichkeiten auf bei-
den Seiten nachzugehen (vgl. Sintomer 2009, S. 221 ff.).
274 3 Émile Durkheims Welt

„Die Bürger werden über das Tun des Staates auf dem laufenden gehalten, und der
Staat informiert sich von Zeit zu Zeit oder sogar laufend über das, was in den Tiefen
der Gesellschaft geschieht“ (ebd., S. 124).
Darüber hinaus ist die Macht eines Staates im Falle minimaler Kommunikation
mit der politischen Gesellschaft geringer, als es die Macht eines demokratischen
Staates ist. Das deckt Durkheim anhand des zweiten Merkmals für die Definition
der Demokratie auf. Die Anregung des staatlichen Reflexionsvermögens geht,
ihm zufolge, von der politischen Gesellschaft aus. Erschöpft sich die mechani-
sche Solidarität infolge der im größer werdenden Gesellschaften, so werden die
Traditionen immer weniger zweckdienlich und „der Geist des Prüfens und der
freien Kritik“ nimmt zu (ebd., S. 134). Indem immer mehr Dinge, deren Prüfung
einst untersagt war, zum Gegenstand der Reflexion werden und die politische
Gesellschaft dies dem Staat aufdrängt, nimmt auch dessen Macht zu. Sind hin-
gegen Dinge davon ausgeschlossen, einer Kritik unterzogen zu werden, so wer-
den, da man sich ihre Ursachen und Folgen nicht vergegenwärtigt, Initiative zu
ihrer Änderung ausbleiben. Die Kommunikation zwischen Staat und politischer
Gesellschaft ist demnach gering ausgeprägt, denn auf Seiten letzterer dominieren
die Traditionen, während sich die Aufmerksamkeit des Staates mehr nach außen
als nach innen richtet. Durkheim konstatiert also, dass die Reflexion des Staates
in geringem Maße genutzt wird, wenn er wenig mit der politischen Gesellschaft
kommuniziert (ebd., S. 124). Weil es in modernen Gesellschaften nicht vor-
kommt, dass Dinge davon ausgeschlossen sind, ihren Ursachen und Folgen
nachzugehen, ist auch der Horizont des Staates größtmöglich ausgeweitet.
„Heute dagegen sind wir der Ansicht, dass es in der öffentlichen Ordnung nichts
gibt, was dem Zugriff des Staates prinzipiell entzogen wäre. Wir glauben, dass
grundsätzlich alles beständig infrage gestellt und einer Überprüfung unterzogen
werden kann und dass wir hinsichtlich der Entscheidungen, die getroffen werden,
nicht durch die Vergangenheit gebunden sind. In Wirklichkeit ist die Einflusssphäre
des Staates heute sehr viel größer als früher, weil der Bereich des klaren Bewusst-
seins heute größer ist“ (ebd., S. 121).
Vor allem auf Dinge, die man der Erziehung, Gesundheit und Wirtschaft zuord-
net, richten Staat und politische Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit. Nehmen die
Dinge zu, die zum Gegenstand der Reflexion werden, so führt das zu einem
Mehr an Plastizität. Die Widerstandskraft gegen Änderungen der Dinge sinkt,
wenn gefragt wird, welchen Faktoren sie sich verdanken und was sie ihrerseits
hervorrufen. Im Hinblick auf den Staat hat das folgende Konsequenz: Wenn die
sozialen Regelmäßigkeiten nicht mehr der Gestaltung durch den Staat entgehen
können, so ist er ihnen gegenüber nicht mehr so machtlos wie einst, d.h. indem
er sich um die Regelung von immer mehr Dingen kümmern kann, nimmt auch
seine Macht zu (ebd., S. 126). Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck,
dass der Staat in der Lage ist, demographische Daten über die politische Gesell-
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 275

schaft zu sammeln. Vor diesem Hintergrund tritt insgesamt das Mehr an Macht
auf Seiten des modernen Staates gegenüber seinem absoluten Vorgänger hervor.
Mit dem Wesensmerkmal der Demokratie ist somit auch ein Machtzugewinn
verbunden, der dadurch entspringt, dass immer mehr Dinge dem Verstand zu-
gänglich gemacht werden.
Zusammengenommen legt sich Durkheim drei Definitionen vor. Die politi-
sche Gesellschaft besteht aus verschiedenen Gruppen, die sich einer stabilen
Macht unterordnen, wobei ihre gemeinsame Unterordnung eine Bedingung der
Macht ist. Die Gruppe der Funktionsträger, die im Namen der politischen Ge-
sellschaft ihre Macht mit Bedacht ausübt, ist der Staat. Die Demokratie ist
schließlich die Staatsform mit enger Kommunikation zwischen Staat und politi-
scher Gesellschaft und ausgedehnter Besinnung des Staates für die Gegenstände
im Innern. Auf dieser Grundlage lässt sich nun erklären, wie der Staat dem Indi-
viduum an sich einen Dienst erweist.
Durkheim geht der Frage nach, welche Sorge der Staat gegenüber dem In-
dividuum zu leisten hat und er schließt im Hinblick darauf aus, dass sich die
Aufgabe des Staates bereits erschöpft hat, wenn er eine negative Gerechtigkeit
gewährleistet. Wenn der Staat das Individuum davor beschützen muss, Opfer
eines Vergehens von Seiten seinesgleichen zu werden, dann ist damit noch nicht
gesagt, was das Schützenswerte am Individuum hervorgebracht hat. Stattdessen
setzt diese Aufgabenzuweisung sogar voraus, dass das, was der Staat zu beschüt-
zen hat, bereits mit dem Individuum gegeben ist. Weil aber die Erklärung über
dem Ursprung des zu beschützenden Werts fehlt, erachtet Durkheim die Be-
schreibung dieser Aufgabe des Staates als unzulänglich (ebd., S. 78). Geht man
also davon aus, dass sich der Staat nur darum kümmern muss, willkürliche Ver-
gehen gegen das Individuum abzuwehren, so ist damit einbegriffen, dass der
Wert des Individuums unabhängig vom Wirken des Staates ist. Die Begründun-
gen der negativen Gerechtigkeit führen lediglich aus, warum der Staat das Indi-
viduum schützen soll und rekurrieren darauf, dass der Wert des Individuums mit
dessen Geburt gegeben ist oder aus sich dessen Beschaffenheit als moralisches
Wesen herleitet (ebd., S. 98). Durkheim wendet dagegen ein, dass ein mit dem
Individuum gegebener Wert mit der sukzessiven Achtung in Widerspruch steht,
die dem Individuum im Laufe der Zeit entgegengebracht wird. Die Entwicklung
der Achtung für das Individuum kann nicht begrenzt sein. Schließlich gibt es
Taten, die in der Gegenwart als Angriff auf das Individuum gedeutet werden, in
der Vergangenheit aber nicht als ein Vergehen galten. Wenn also die Achtung
mit dem Individuum gegeben wäre, dann wäre sie fest umrissen, nur wächst sie
mit der Zeit an, was somit einen Widerspruch darstellt. Ausgeschlossen ist auch,
die Verfestigung der Achtung durch ethische Begründungen hervorzubringen,
denn anstelle einer fundierten Argumentation braucht es die Macht des Sozialen,
damit sich die Achtung durchsetzt (ebd., S. 88). Er fasst zusammen:
276 3 Émile Durkheims Welt

„Als Basis des individuellen Rechts dient nicht der Begriff des Individuums, wie es
ist, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit ihm umgeht, wie sie das In-
dividuum begreift und welchen Wert ihm beimisst. Entscheidend ist nicht, was das
Individuum ist, sondern was es wert ist, und umgekehrt, was es sein soll“ (ebd., S.
98).
Die zunehmende Achtung für das Individuum führt ferner die Schwierigkeit her-
bei, es an eine partikulare Moral des Staates anschlussfähig zu machen, die vor-
sieht, dass sich das Individuum ohne Rücksicht auf sich selbst den Zwecken des
Staates hingibt. Das scheint sich außerdem widersprüchlich mit dem bereits auf-
gezeigten Machtgewinn des Staates zu verhalten. Zum einen steigt der Wert des
Individuums und zum anderen verbucht der Staat mehr Macht für sich. Die einst
von Seiten des Staates an das Individuum gerichtete Zumutung, sich schonungs-
los für ihn einzusetzen, lässt sich nunmehr nicht aufrechterhalten, ohne zugleich
die Achtung für das Individuum zu missachten (ebd., S. 84). Für diese partikula-
re Moral des Staates ist vielmehr ein Individuum notwendig, dem die Freiheit,
Entscheidungen für sich selbst zu treffen, unbekannt ist. Anspruch auf ein eige-
nes Leben abseits der kollektiven Vorstellungen darf in diesem Fall nicht beste-
hen (ebd., S. 83).
Durkheim konstruiert also zwei Probleme. Erstens legt er offen, dass man
den Zweck des Staates nicht darin sehen kann, das Individuum vor Angriffen
anderer zu schützen, ohne Angaben darüber zu machen, wie es überhaupt dazu
gekommen ist, dass das Individuum zu schützen sei. Zweitens sieht er eine Dis-
krepanz zwischen der Aufforderung des Staates an das Individuum, Opfer für ihn
zu bringen und der Verehrung, die man an das Individuum an sich richtet. Seine
Lösung lautet: Es wächst zum einen die Macht des Staates an und das Individu-
um wird zum anderen zu einem heiligen Ding. Die Entwicklungen von Staat und
Individuum verlaufen nicht nur parallel, sondern sie stehen in einem Zusammen-
hang. Da es nicht sein kann, dass dem Individuum ein Schutz gebührt, dessen
Grund ihm selbst entspringt, bedarf es hierfür einer Kraft, und das ist der Staat.
Zwischen Staat und Individuum lässt sich vermitteln,
„[…] wenn wir das Postulat aufgeben, wonach die Rechte des Individuums mit dem
Individuum gegeben sind, und stattdessen davon ausgehen, dass erst der Staat diese
Rechte einsetzt“ (ebd., S. 85).
Das Individuum an sich ist den einstigen Zwecken des Staates entgegengesetzt,
jedoch lassen sich die beiden miteinander in Einklang bringen, wenn man in
Rechnung stellt, dass jenes vom Staat abhängt. Durkheim leitet das her, indem er
nachweist, dass mit der Macht des Staates auch die Achtung des Individuums
wächst. Das macht er folgendermaßen: Erst die Zügelung jedes moralischen Mi-
lieus lässt überhaupt Individualität zu, da ansonsten das Individuum seinerseits
nicht den Anspruch erheben wird sie zu bilden. Abseits der Wirkungen des Sozi-
alen mangelt es dem Individuum an Handlungsfähigkeit, zu der er von sich aus
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 277

nicht kommen könnte. Ihr Urheber sind zwar die moralischen Milieus, in denen
das Individuum handelt, nur hat seine Beteiligung auch eine Schattenseite. Der
Nachteil eines jeden moralischen Milieus ist die Homogenität, die es von den
Angehörigen verlangt, wobei sie nicht als Belastung empfunden wird, solange
das moralische Milieu souverän ist. Das nennt Durkheim das Gesetz der morali-
schen Mechanik. „Jede Gesellschaft ist“, schreibt er, „despotisch, soweit nicht
etwas von außen hinzutritt, das ihren Despotismus in Grenzen hält“ (ebd., S. 90).
Zunächst verhindert schlechterdings die Größe der Gesellschaft, dass sich die
Homogenitätsanforderung eines moralischen Milieus durchsetzt. Trifft jedoch
die Dominanz eines moralischen Milieus zu, so greift das Kollektivbewusstsein
um sich, ohne dass es dem Individuum möglich ist, sich der Angleichung zu wi-
dersetzen. Wenn sich partikulare Moralen nicht gegenseitig schwächen, so wirkt
sich das zulasten der Individualität aus. Gegen die moralische Mechanik leistet
der Staat das Folgende:
„Es ist also notwendig, dass über all diesen Mächten lokaler, familialer, kurz: se-
kundärer Art eine allgemeine Macht steht, die allen ihr Gesetz aufzwingt und jede
dieser Mächte daran erinnert, dass sie nicht das Ganze ist, sondern ein Teil des Gan-
zen, und dass sie nicht für sich behalten darf, was grundsätzlich dem Ganzen gehört“
(ebd., S. 92).
Die Funktion des Staates ist demnach nicht negativ, denn er verhindert nicht
einen Vorgang, der erfolgt wäre, wenn dem Individuum die Wirkungen des mo-
ralischen Milieus abgingen. Indem der Staat nicht zulässt, dass sich ein morali-
sches Milieu souverän gegen andere abhebt, erzielt er, was dem Individuum ge-
mäß der tatsächlichen Achtung gebührt (ebd., S.101). Durkheim folgert sogar,
dass dem Staat vorwiegend der Kult des Individuums zur Verfügung steht, um
dem Zweck nachzukommen, auf den er nicht verzichten kann, er muss nämlich
für Einheit abseits aller Differenzen sorgen, d.h. er muss sich bemühen, „den
Kult zu organisieren“ (ebd., S. 102). In dieser Hinsicht ist es für Durkheim aber
ausgeschlossen, dass der Staat einen Kult ins Werk setzt, da ein solcher seinen
Ursprung im Sozialen hat. Stattdessen hat der Staat dafür zu sorgen, dass das,
was für die Ausrichtung eines bestehenden Kults erforderlich ist, auch verfügbar
ist (vgl. Durkheim 1972, S. 39).
Der Staat steuert somit einen unentbehrlichen Beitrag zur Individualität bei,
indem er moralischen Milieus im Weg steht, wenn ihre partikulare Moral in un-
eingeschränkter Weise das Individuum bedrängt. Obwohl Durkheim in der Vor-
lesung eine Begründung dafür liefert, dass es sich bei dieser Wirkung um eine
staatsbürgerliche Pflicht des modernen Staates gegenüber dem Individuum han-
delt und ihm der individualistische Staat nützt, den Widerspruch zwischen des-
sen zunehmenden Macht und dem zum moralischen Gegenstand aufgestiegenen
Individuum aufzulösen, ist die Individualität nicht nur ein Resultat, das sein soll.
Vielmehr ist das Individuum eine Folge seiner Definitionen von politischer Ge-
278 3 Émile Durkheims Welt

sellschaft und Staat. Insoweit jene nämlich auf der stabilen Macht beruht, die
wiederum durch die Vereinigung unterschiedlicher Gruppen zustande kommt
und schließlich der Staat ihre Macht rational ausübt, setzt das Individuum sie
voraus. Sind die unterschiedlichen Gruppen stark, so ist die Macht des Staates
herabgesetzt und umgekehrt. Liegt aber ersteres vor, so halten die Gruppen ge-
mäß dem Gesetz der moralischen Mechanik die Individualität zurück. Hingegen
bringt die Macht des Staates, die er daraus schöpft, dass er die Gruppen nieder-
hält, wertvolle Effekte für das Individuum an sich mit und es wird verständlich,
warum Durkheim schreibt: „Je stärker der Staat, desto größer die Achtung vor
dem Individuum“ (vgl. Durkheim 1991, S. 85).
Daran schließt Folgendes an: Weil sich die Macht der Staates einerseits der
Zurückhaltung der Gruppen verdankt und andererseits dadurch gesteigert wird,
dass sich die politische Gesellschaft in der Demokratie zunehmend selbst zum
Gegenstand der Reflexion macht und somit die Aufmerksamkeit für die Vorgän-
ge im Innern verstärkt, wird auch das Individuum an sich gefördert. Der demo-
kratische Staat verlangt vom Individuum, sich an der Reflexion zu beteiligen und
sich die Gründe und das Abwägen der Gründe für die Machtausübung des Staa-
tes zu vergegenwärtigen. Durkheim dazu: „Die Demokratie, wie wir sie definiert
haben, ist in der Tat die Staatsform, die unserer heutigen Auffassung vom Indi-
viduum am besten entspricht“ (ebd., S. 130).
Andererseits warnt Durkheim auch davor, die Macht des Staates einer dau-
ernden Kommunikation mit der politischen Gesellschaft zu opfern. Wenn sie
sich ihm allzu sehr aufdrängt, kommt es zu einer „Fehlform der Demokratie“ auf
Kosten seiner rationalen Machtausübung (ebd., S. 136). Demnach ist es erforder-
lich, dass die Reflexion auf Seiten der politischen Gesellschaft und die Kommu-
nikation mit ihr von Seiten des Staates in Maßen erfolgen.
Und schließlich kann es sich selbst der moderne Staat nicht leisten, ganz
von seiner partikularen Moral abzusehen. „Sie zielt nicht auf das Individuum,
sondern auf die nationale Gemeinschaft“ (ebd., S. 103). Solange der Staat nicht
vor seinesgleichen, also vor äußeren Gefahren geschützt ist, kann er, so Durk-
heim, nicht darauf verzichten, auch den Kult um sich selbst zu pflegen. Darüber
hinaus leistet auch dieser Kult einen Beitrag dafür, das Individuum vor Egoismus
oder Anomie zu bewahren, denn auch die politische Gesellschaft ist eine „mora-
lische Autorität, deren Joch für ihn so heilsam ist“ (ebd., S. 107). Folgendes
muss man dabei bedenken: Zum einen stimmen der Kult des modernen Staates
insofern mit dem Kult des Individuums überein, als dass auch letzterer wie jener
in der Lage ist, die Verehrung seitens der Angehörigen der politischen Gesell-
schaft in eine gemeinsame Richtung zu kanalisieren. Zum anderen ist der Kult
des Staates dem Individuum an sich nützlich, da er eine von dessen Vorausset-
zungen sicherstellt. Durkheim erklärt daher, dass man sich nicht bloß zu einem
Instrument des Staates macht, wenn man seiner partikularen Moral folgt, denn
man unterstützt Zwecke, von denen das Individuum nicht auszuschließen ist
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 279

(ebd., S. 102). In dieser Hinsicht lässt sich, ihm zufolge, sogar zwischen Natio-
nalismus und Kosmopolitismus vermitteln. Weil die Funktionen in modernen
Gesellschaften zunehmen und diese somit störanfällig werden, kann der Staat die
inneren Belange nicht mehr wie früher vernachlässigen. Somit wird ein nach
innen gerichteter Nationalismus erforderlich, der statt auf Animositäten nach
außen auf dem Individuum an sich beruhen kann. Sobald der Nationalismus in
individualistische Bahnen gelenkt wird, hört der Widerspruch zwischen ihm und
dem Kosmopolitismus auf. Die beiden lassen sich harmonisieren, wenn der Staat
sich im Hinblick darauf engagiert, im Innern dafür zu sorgen, dass es angemes-
sene Prämienverteilungen für spezifische Leistungen gibt, dass es also „eine
immer enger werdende Beziehung zwischen den Verdiensten der Bürger und
ihrem Stand gibt“ (vgl. Durkheim 2006, S. 126). Was aber Durkheim postuliert,
ist kein Plädoyer, sondern er leitet die Begründung für den Nationalismus nach
innen von den Faktoren der Anomie her. Indem der Staat nicht nur Vergehen
gegen das Individuum an sich verhindert, sondern den Kult pflegt, der das Indi-
viduum zum Gegenstand hat, fördert er die Bedingungen für zufriedene Indivi-
duen, die mit angemessenen Prämien für erbrachte Leistungen rechnen können.
Der nach außen gerichtete Nationalismus lässt sich hingegen nicht mit dem
Kosmopolitismus verbinden, weil er ein partikulares Ziel vorgibt, das auf Kosten
des weitestgehend abstrakten Gegenstands der Moral verfolgt wird. Mit ihm ist
es ausgeschlossen, die verschiedenen Staaten auf ein gemeinsames Ziel auszu-
richten, wie es dem Nationalismus nach innen gelingt (ebd., S. 127). Durkheim
notiert:
„Wenn der Staat kein anderes Ziel hat, als seine Bürger zu Menschen im vollsten
Sinne des Wortes zu machen, dann werden die staatsbürgerlichen Pflichten nur noch
einen Sonderfall der allgemeinmenschlichen Pflichten darstellen“ (Durkheim 1991,
S. 109).
Insbesondere der innere Nationalismus pflegt also die Voraussetzung, dem das
Individuum seine Individualität verdankt.
Nichtsdestoweniger wirkt sich auch die Macht des Staates nachteilig auf das
Individuum aus. Durkheim versäumt es nicht, die Gefahr eines mächtigen Staa-
tes außer Acht zu lassen. Dessen Wirkungen unterscheiden sich, wenn er seiner-
seits nicht gezügelt wird, nur in einer Hinsicht von denen der Gruppen einer poli-
tischen Gesellschaft: Das Individuum ist einer partikularen Moral ausgesetzt, die
es nicht wie sonst diffus, sondern rational bedrängt (ebd., S. 92). Die Schlussfol-
gerung lautet:
„die Kollektive Macht, die der Staat verkörpert, bedarf ihrerseits eines Gegenge-
wichts, wenn sie der Befreiung des Individuums dienen soll; sie muss von anderen
kollektiven Mächten im Zaum gehalten werden, und zwar von jenen Sekundärgrup-
pen […]. Wenn es auch nicht gut ist, dass sie allein wären, so muss es sie dennoch
280 3 Émile Durkheims Welt

geben. Erst aus diesem Konflikt der gesellschaftlichen Kräfte erwachsen die indivi-
duellen Freiheiten“ (ebd., S. 93).
Erneut zieht er die Berufsgruppen allen anderen vor, um diese Funktion auszu-
üben. Gegen territoriale Gruppen wendet er ein, dass ihre partikulare Moral an-
gesichts der wachsenden Mobilität und der zentralen Stellung des Berufes nicht
mehr die Kraft hat, das Individuum an lokale Belange zu binden (ebd., S. 147).
Territoriale Verbundenheiten sind der partikularen Moral der Berufe unterlegen.
Die Berufsgruppen erweisen sich für Durkheim in zweifacher Weise als nützlich:
Sie verhindern die Vereinnahmung des Individuums durch den Staat und sie be-
wahren den Staat davor, dass ihn die politische Gesellschaft vereinnahmt (ebd.,
S. 139).
Alles in allem: Mit den reformpolitischen Einlassung bleibt Durkheim sei-
ner Methodologie treu. Er empfiehlt erstens, die Bildung von Berufsgruppen zu
unterstützen und er spricht sich zweitens dafür aus, dass der Staat für regelmäßi-
ge Ehrerweisungen gegenüber dem Individuum sorgt, das in der modernen Ge-
sellschaft zum Gegenstand der Präferenz aufgestiegen ist. Die beiden Vorschläge
üben keinen Einfluss auf seine Studien aus, da er sie erst auf der Grundlage von
Untersuchungsergebnissen entwickelt. Indem er Wissenschaft abseits der Politik
betreibt und sich für letztere an jener bedient, schützt er seine Untersuchungen
davor, durch politische Willensrichtungen verzerrt zu werden. Insofern er die in
seinem Denken dominierenden Missstände der modernen Gesellschaft aus empi-
rischen Ergebnissen über die schwachen oder starken Ursachen der Solidarität
abliest, ist es ferner schwer, ihm den Vorwurf zu machen, dass seine Krisendiag-
nose kulturpessimistisch gefärbt ist. Der Selbstmord hilft ihm dabei besonders,
eine empirisch hergeleitete Krisendiagnose vorzulegen. Was nämlich die empi-
risch häufigen Selbstmordtypen veranlasst, und das sind der egoistische und der
anomische Freitod, das zieht auch andere desintegrative Folgen nach sich.
Sogar seine Reformvorschläge kommen ohne Drang aus. Weder die Stär-
kung der moralischen Milieus im Allgemein und speziell in der Wirtschaft noch
der Kult des Individuums, den Durkheim zu pflegen auffordert, entspringen sei-
nen persönlichen Sympathien. Vielmehr handelt es sich um Schlussfolgerungen
auf der Grundlage seiner Studien. Das moralische Milieu der Berufsgruppe soll
die festgestellte Orientierungs- und Regellosigkeit auffangen und der favorisierte
Kult des Individuums ist ein zweckmäßig erfolgreicher Nexus gegen den morali-
schen Polymorphismus, der wiederum angesichts der zunehmend erforderlichen
Individualität eine unvermeidliche Folge ist. Jedoch wird die Verehrung des In-
dividuums nicht nur durch diesen in der Arbeitsteilung aufgedeckten Bedarf an
Individualität möglich, sondern auch durch die immer mehr ins Abseits gerate-
nen Kollektivvorstellungen, welche die unnachsichtige Aufopferung für einzelne
Kollektive vorsehen, erringt das Individuum seine zentrale Stellung. Er beruft
sich daher auf die Sakralität des Individuums, weil sonst nichts anderes übrig
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 281

bleibt, was allen Individuen gemeinsam ist und weil den Pflichten zum Schutz
der Ehre von Kollektiven die Souveränität abgeht. Die Krisendiagnose auf der
einen Seite und seine Empfehlungen auf der anderen Seite entspringen also nicht
Durkheims Meinung. Die Stellungnahme stellt hingegen eine konsequente Fort-
setzung der wissenschaftlichen Ergebnisse für die Praxis dar.
Durkheim kann schließlich die partikulare Berufsmoral und zugleich die
universelle Moral des Individuums unterstützen, ohne sich in einen Widerspruch
zu verstricken. Obwohl letztere die Schwächung der partikularen Moralen zur
Voraussetzung hat, ist die Sakralität des Individuums von diesen abhängig. Be-
rufsmoral und staatsbürgerliche Moral üben Einfluss aufeinander aus, so dass die
Kraft beider nur in Maßen wirkt. Indem der Staat die partikularen Moralen mä-
ßigt, schafft er eine Voraussetzung für das Individuum überhaupt. Er verhindert,
dass die zugemutete Bewahrung der jeweiligen kollektiven Eigenheiten die Indi-
vidualität unterbindet. Nichtsdestoweniger halten die Kollektive die partikulare
Moral des Staates in Schranken, die schließlich in der Lage ist, ihren Drang rati-
onal auszuüben. Schließlich lässt sich Durkheims zweiter Widerspruch auflösen.
Seine Folgerung, der zufolge der Staat sich um den Kult des Individuums sorgen
muss, ermöglicht, die staatbürgerliche Moral, die er ebenfalls zu den partikularen
Moralen zählt, mit der universellen Moral des Individuums zu vereinbaren. Inso-
fern die Aufgabe des Staates, für moralische Einheit in der politischen Gesell-
schaft zu sorgen, allgemein ist, denn er kann seinerseits nicht auf sie verzichten,
wird aus der staatsbürgerlichen Moral, die auf dem Kult des Individuums beruht,
eine universelle Moral. Anders als die sonstigen moralischen Einheiten bietet der
Kult des Individuums dem Individuum weit mehr als den gewöhnlichen Schutz,
denn in diesem Fall muss sich der Gläubige notfalls nicht für die Solidarität op-
fern, denn das wäre ein Sakrileg. Darüber hinaus kann das Individuum die Grün-
de dafür, dass das Individuum an sich als erstrebenwert gilt, zum Gegenstand der
eigenen Reflexion machen, da dieser Kult nicht wie andere die Reflexion seiner
Sinnhaftigkeit untersagt. Denn schließlich ist er „[…] eine Religion, in der der
Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Durkheim 1986b, S. 57).
4 Nation, Individuum und moralischer
Polymorphismus

4.1 Weber, Ziegler und Durkheim

Durkheims Studien werden nun im Hinblick auf die moralische Wirksamkeit der
Nation in modernen Gesellschaften untersucht. Vorab werden als erstes die bis-
herigen Arbeitsschritte rekapituliert und als zweites wird die folgende Auseinan-
dersetzung skizziert.
Zur Erinnerung: Weber tut sich schwer damit, die Definition der Nation auf
einem oder mehreren Gemeinsamkeitsmerkmalen abzustellen, zu denen er u.a.
Sprache, Konfession, Rasse und die alltägliche Lebensführung zählt. Was empi-
risch für eine Nation das exklusive und besondere Gemeinsamkeitsmerkmal ist,
kann eine andere Nation ihrerseits aufweisen, nur dass beide nicht eine einzige
Nation bilden. Allenfalls teilen verschiedene Nationen somit ein und dasselbe
Gemeinsamkeitsmerkmal. Das wiederum können deren Angehörigen, die in ei-
nem anderen Land zwar als Minderheit leben, folgerichtig auch besitzen, jedoch
teilen sie mit dessen Nation ein Gemeinsamkeitsmerkmal anderer Art, so dass sie
sich letzterer zurechnen. Webers bevorzugtes Beispiel hierfür sind diejenigen
Deutsch-Elsässer, welche die politische Erinnerung, also das für die französische
Nation als ausschlaggebend geltende Gemeinsamkeitsmerkmal teilen. Indes gibt
es ethnische Gruppen, deren favorisiertes Gemeinsamkeitsmerkmal das ist, was
eine Nation auch für sich beansprucht, nur dass jene für sich nicht verlangen, sie
deswegen als Nationen einzustufen. Dann nennt er unbestritten etablierte Natio-
nen, denen dieser Status einst von Pionieren der Ethnographie als indiskutabel
erschien. Sein Beispiel hierfür ist China. Schließlich berücksichtigt er das vor-
zugsweise gesetzte Gemeinsamkeitsmerkmal von Nationen, nämlich die Spra-
che, die er aber ebenfalls nicht als Definitionsmerkmal akzeptiert, weil es nicht
selten vorkommt, dass eine Sprache von vielen verschiedenen Nationen gespro-
chen wird oder weil ihre Exklusivität modernen Ursprungs ist, ohne dass aber
die sprachliche Heterogenität innerhalb einer Nation nivelliert ist. Sprache erach-
tet er somit als unzulänglich für die Definition der Nation, da sie in der Realität
nur als fragwürdiges Gemeinsamkeitsmerkmal vorkommt, wozu er auch Kultur-
güter der Kunst zählt, deren Verstehen durchaus überfordern kann und Angehö-
rige einer Nation eher zu etischen Beobachtern macht. Weber ausdrücklich dazu:
„Es gibt keinen soziologisch eindeutigen genetischen Begriff von Nation und

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
284 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Nationalität, der an den Begriff Kultur anknüpft“ (Weber 1913, S. 72; Herv. im
Orig.). Insgesamt insistiert er, dass sich kein Gemeinsamkeitsmerkmal ausfindig
machen lässt, das davon ausgeschlossen ist, als dasjenige in Anspruch genom-
men zu werden, was eine Nation als das ihr Eigentümliche erachtet. Die Hetero-
genität und Inkonsistenz der wirklichen Nationen schließt daher aus, auf die De-
finition der Nation anhand von Gemeinsamkeitsmerkmalen zu schließen. Wenn
ein Gemeinsamkeitsmerkmal deshalb für die Definition der Nation nicht aus-
reicht, weil es andernorts empirisch zu besonderen Gruppen gehört, die von sich
aus nicht die Nation hervortreiben, somit eine solche zu sein, überhaupt nicht
beanspruchen, oder stattdessen auf ein anderes Gemeinsamkeitsmerkmal zu-
rückgreifen, dann ist die Schlussfolgerung ausgeschlossen, dass für Nation das
Gemeinsamkeitsmerkmal unmittelbar wesentlich ist. Zu den Zwecken des ersten
Kapitels gehörte zunächst, Webers Einwände gegen solche Definitionen der Na-
tion plausibel zu machen, für die besondere Gemeinsamkeitsmerkmale elementar
sind. Man kann der Nation nicht anhand empirisch gemeinsamer Qualitäten –
wie beispielsweise Sprache, Rasse, Kultur oder Sitte – ihrer Angehörigen auf die
Spur kommen.
Webers Widerlegung lässt sich für einen weiteren Zweck des ersten Kapi-
tels aufgreifen, und das sind seine Angaben zur Erforschung der Nation. Er be-
merkt, dass die ethnische Gruppe nicht mit der Nation zusammenfällt. Daher
braucht es ein Wesensmerkmal, das sie von jener abhebt. Die Gemeinsamkeits-
merkmale, die für eine Vergemeinschaftung bedeutsam sind, können nicht das
besondere Merkmal der Nation sein, denn im Gegensatz zur ethnischen Gruppe,
welche die in üblichen und von Weber abgelehnten Definitionen der Nation ins
Gewicht fallende Gemeinsamkeitsmerkmale aufweist, ist ihr die Nation um et-
was voraus, das ihr wesentliches Merkmal ausmacht, und das ist der Staat. In
Webers Manuskript Gemeinschafen laufen die Aufzeichnungen zu ethnischen
Gemeinschaften auf die Schwierigkeit hinaus, die mit den partiell für die Verge-
meinschaftung der ethnischen Gruppe schuldigen Qualitäten verbunden sind. Für
ethnische Gruppen wirken sich Gemeinsamkeitsmerkmale aus, die sich unter-
schiedlichen Kategorien unterordnen lassen und deren Kraft zur Mobilisierung
von Opposition und Vergemeinschaftung sich in jeweils unterschiedlichen Grö-
ßen bemessen lässt. Daher folgert er, dass eine Sortierung der betreffenden Zu-
sammenhänge die ethnische Gemeinschaft obsolet werden ließe. Das ist im Falle
der Nation nicht anders:
„Der bei exakter Begriffsbildung sich verflüchtigende Begriff der `ethnischen´ Ge-
meinschaft entspricht nun in dieser Hinsicht bis zu einem gewissen Grade einem der
mit pathetischen Empfindungen für uns am meisten beschwerten Begriffe: demjeni-
gen der `Nation´, sobald wir ihn soziologisch zu fassen suchen“ (Weber 2009, S.
50).
4.1 Weber, Ziegler und Durkheim 285

Will man Nation erforschen, so steht man vor ähnlichen Problemen, da sich, so
Weber, für die jeweiligen Gemeinsamkeitsmerkmale nicht nur innerhalb der Na-
tion, sondern auch im Vergleich zwischen Nationen mit jeweils einer Kategorie
entstammenden Gemeinsamkeitsmerkmalen unterschiedliche Auswirkungen
beobachten lassen (ebd., S. 76). Viel wichtiger ist aber etwas anderes: Nation
und ethnische Gruppe lassen sich auf der Grundlage von Gemeinsamkeitsmerk-
malen ohne Weiteres nebeneinander stellen. Damit aber auf Seiten der Ersteren
das für sie Ausschlaggebende übrig bleibt, muss man den erfolgreichen oder
ersehnten Anspruch auf einen Staat veranschlagen. Stellt man beispielsweise die
Nation auf die Sprache ab, so kann sie keinen Kontrast bilden, denn:
„Was sie [die Nation; C.A.] gegenüber der bloßen Sprachgemeinschaft inhaltlich
mehr besitzt, kann dann natürlich in dem spezifischen Erfolg, auf den ihr Gemein-
schaftshandeln ausgerichtet ist, gesucht werden, und dies kann dann nur der geson-
derte politische Verband sein“ (ebd., S. 50; Herv. im Orig.).
Die Zwecke des ersten Kapitels lassen sich nun um einen weiteren ergänzen:
Weber stößt auf die Nation, indem er einen bestimmt gearteten Ablauf sozialen
Handelns ausfindig macht. Soziales Handeln, das an gefühlter Zusammengehö-
rigkeit auf der Grundlage von gleich welchen Gemeinsamkeitsmerkmalen orien-
tiert ist, kennzeichnet die Nation, wenn sie auf den eigenen Staat gerichtet ist.
Mit dem ersten Kapitel sollte ermittelt werden, dass der Vergemeinschaftung der
Nation der Staat und nicht die gemeinsamen Qualitäten wesentlich ist, wobei die
Ausrichtung auf den eigenen Staat keine unmittelbare Folge der gemeinsamen
Qualitäten ist, denn das lässt u.a. die Heterogenität der nationalen Gemeinsam-
keitsmerkmale nicht zu. Weber bemerkt:
„Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur so definieren: Sie ist eine gefühlsmä-
ßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also nor-
malerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervor zu treiben. Die kausalen
Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne füh-
ren, können grundverschieden sein“ (Weber 1913, S. 50).
Daran lässt sich etwas anderes anschließen, das für das erste Kapitel bedeutsam
ist. Weber legt zugrunde, dass jeder politische Verband die Anmaßung disponi-
bel macht, sich dessen Machtprestige anzurechnen, was wiederum Auswirkun-
gen auf das Handeln derjenigen hat, die sich dergestalt gleichsetzen: Sie verwen-
den sich für den Herrschaftsverband. Das Machtprestige ist auch im Falle der
Nation gegeben. Auf die Initiative der Intellektuellen führt Weber es zurück,
dass sich das prätendierte Machtprestige nunmehr in die Nation abändert (vgl.
Weber 2009, S. 74). Intellektuelle propagieren, schreibt er, besondere Kulturgü-
ter als nationale Gemeinsamkeitsmerkmale, die mit Machtprestige ausgestattet
sind und ihrerseits die Hingabe ihnen gegenüber durch das Sich-Gleichsetzen
bewirken können. Im Falle dieser Personengruppe sieht er die Anmaßung her-
286 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

vortreten, sich das Machtprestige der Nation zuzuschreiben, da die besonderen


Kulturgüter zum spezifischen Arbeitsbereich der Intellektuellen gehören (ebd.,
S. 77). Weber stellt für die Angehörigen der Nation insgesamt fest, dass die
durch das staatliche Machtprestige ausgelöste Hingabe für den Herrschaftsver-
band durch das nationale Machtprestige unterstützt wird. Vor diesem Hinter-
grund gehören das Machtprestige der Nation und die mit ihm verbundenen Ef-
fekte, nämlich die beschriebene „Machtdynamik“ (ebd., S. 65) zum Ertrag des
ersten Kapitels.
Noch ein Zweck dieses Kapitels lag darin, eine Erklärung für die Orientie-
rung an gemeinsamen Qualitäten zu liefern. Für Weber reichen sie nicht aus,
damit eine „Gemeinschaft“ vorliegt (vgl. Weber 2002, S. 22). Weil sich auf Sei-
ten der Angehörigen einer Nation nicht nur Begeisterung, sondern auch Ableh-
nung oder Gleichgültigkeit ihr gegenüber beobachten lassen – hinsichtlich des-
sen Weber auch Variationen zwischen Nationen feststellt (vgl. Weber 2009, S.
76) –, war es vonnöten, der Veranlassung für die gefühlte Zusammengehörigkeit
entlang der Gemeinsamkeitsmerkmale nachzugehen. Ein Anliegen Webers ist es,
die unmittelbare Rückführung der Vergemeinschaftung auf gemeinsame Qualitä-
ten gegenstandslos zu machen, und das vor allem, weil seine Methodologie, de-
ren Grundlage das Handeln ist, diese Widerlegung zwingend macht, denn an-
dernfalls sind es nicht die Handelnden, sondern es sind die Qualitäten, die aus
eigener Kraft für Vergemeinschaftung sorgen. Allen voran wehrt er sich gegen
die Rasse, durch die sein Begriff des Handelns gefährdet ist. Sobald sich schließ-
lich das menschliche Handeln von Gemeinsamkeitsmerkmalen des Körpers ab-
leiten lässt, kann man einen Erkenntnisgewinn durch das Verstehen nicht mehr
bewerkstelligen. So und nicht anders erklärt Weber auch die Gemeinschaft der
Rasse, die es ohne die subjektive Berücksichtigung körperlich gemeinsamer
Merkmale nicht gibt; wobei es zur gemeinschaftsbildenden Berücksichtigung
ausschließlich dann kommt, wenn die, die sich einer Rasse zurechnen, gegen
„sinnlich“ Andere oppositionell gestimmt sind (vgl. Weber 2009, S. 41). Fehlt
die „Abstoßung“, so kann man, dem Denken Webers zufolge, nicht mit Verge-
meinschaftung rechnen und deswegen konstatiert er, dass es für die Vergemein-
schaftung von Rasse unerheblich ist, ob ihre Gemeinsamkeitsmerkmale körperli-
cher oder kultureller Art sind, und dafür macht er gelten, dass die Opposition bei
ausreichend „auffälliger“ Abweichung entlang jener wie dieser verlaufen kann.
Mit Zieglers Überlegungen ließen sich Webers Vorgaben ergänzen. Seine
Untersuchung der Nation eröffnet, dass sich die „gefühlsmäßige Gemeinschaft“
der Nation nicht kraft der Gemeinsamkeitsmerkmale auf einen eigenen Staat
ausrichtet, sondern im Zusammenhang mit den gewandelten Voraussetzungen
der Herrschaft steht. Zu den Zwecken des ersten Kapitels gehörte es somit, er-
kennbar zu machen, dass die Qualitäten der Nation nicht unmittelbar und ohne
Umschweife das besondere Ziel hervorrufen, mit dem Weber die Heterogenität
und Inkonsistenz der empirischen Wirklichkeit der Nationen auf einen Nenner
4.1 Weber, Ziegler und Durkheim 287

bringt, nämlich den eigenen Staat. Zieglers Studie erwies sich als hilfreich, weil
sie Auskunft über die notwendige Ausrichtung der Nation gibt, die Heller in sei-
ner Interpretation Hegels als „Aussöhnung“ zwischen Herrschenden und Be-
herrschten kennzeichnet (vgl. Heller 1963, S. 68). Es ist der Zusammenhang
zwischen Nation und Legitimität, den Ziegler in seiner Studie über die Nation
auslotet, wobei ihn vor allem die Irrationalität im Wandel der Herrschaft interes-
siert, der mit dem Hervortreten der Nation verbunden ist. Zum einen untersucht
er am Beispiel Frankreichs, wie sich durch die Nation das Defizit an Rechtmä-
ßigkeit der staatlichen Herrschaft beseitigt und Letzterer ein Mehr an proaktiver
Legitimitätspflege aufgebürdet wird. Diese Zunahme an Betriebskosten für den
Herrschaftsverband bringt aber einen Ertrag an Macht, weil die Nation eine we-
senseigene Voraussetzung dafür schafft, der Herrschaft die Fügsamkeit anzubie-
ten. Zum anderen will Ziegler erfahren, was dafür sorgt, dass die Nation das
„Primat der sozialen Verbindlichkeit“ erringt, auf das sie angesichts der gewan-
delten Legitimitätspflege angewiesen ist. Er stellt fest, dass die „metaphysizier-
te“ Nation die Vorrangstellung verschuldet, mit der die Orientierung an ihre
selbständige Wirksamkeit hinsichtlich des Geschehens in Geschichte und Gesell-
schaft verbunden ist. Für das erste Kapitel waren die Ergebnisse Zieglers inso-
fern behilflich, als sie zu rekonstruieren erlaubten, welche Konsequenzen mit
dem von Weber erarbeiteten Wesensmerkmal der Nation verbunden sind.
Legitimitätspflege ist kein Sachverhalt, der mit dem Hervortreten der Nati-
on auftaucht, aber ihre Unabkömmlichkeit wird durch diese explizit und schließ-
lich wirken sich ihre Folgen unter der Bedingung der Nation besonders effizient
aus. Angesichts der im ersten Kapitel erarbeiteten Zusammenhänge der Nation
sollte das zweite Kapitel insbesondere ergänzende Auskünfte über den Einfluss
der Nation auf den Wandel der Herrschaft liefern. Ist der eigene Staat das Ziel,
dem sich die Nation unterordnet und der ihr elementar ist, dann sind, so Ziegler,
damit Folgen für die verstetigte Macht des Staates verbunden. Mit einem selek-
tiven Rückgriff auf Webers Herrschaftslehre sollte das idealtypische Herr-
schaftshandeln rekonstruiert werden, um Zieglers Erklärung derjenigen Folgen
zu ergänzen, die sich aus dem Hervortreten der Nation ergeben. In dieser Hin-
sicht sind die Überlegungen Webers hilfreich, weil er, statt eine Begründung für
die Geltung von Herrschaft zu liefern, den spezifischen Hergang des sozialen
Handelns ausfindig macht, der grundlegend dafür ist, dass eine Herrschaftsbe-
ziehung vorliegt. Der Nutzen seiner Herrschaftslehre ist, dass er die allseitige
Beteiligung an der Herrschaft zum Vorschein bringt, womit sich aufzeigen lässt,
dass Herrschaft idealtypisch weder ein mechanisch und ohne bewusste Steue-
rung funktionierender noch ein erzwungener Vorgang ist.
Zentraler Zweck des zweiten Kapitels war es somit, die für Herrschaft uner-
lässliche Beteiligung der Untergeordneten zu erarbeiten. Insbesondere hierfür
eignet sich Webers Herrschaftslehre, weil er nicht erklärt, warum die Unterord-
nung sein soll, sondern welche sozialen Orientierungen vorliegen, damit sie ge-
288 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

schieht. Die Voraussetzung für diese idealtypische Konstruktion der Herrschaft


ließ sich einigen methodologischen Überlegungen Webers entnehmen, die sich
auf dem Begriff des Handelns gründen. Für die Annäherung an diesen diente
Webers Ablehnung einer wissenschaftlichen Aufgabe, die vorsieht, dass sich
Wissenschaft daran beteiligen soll, die Geltung von Werten zu begründen. Hin-
gegen will er es dabei belassen, die Entscheidung über die Geltung dem Indivi-
duum zu überlassen. Vor diesem Hintergrund konstruiert er das idealtypische
Handeln auf Seiten der Herrschenden und der Untergeordneten, so dass Herr-
schaft vorliegt. Man kann sodann ausschließen, dass nur die Ersteren handeln,
während die Letzteren als passive Akteure beteiligt sind. Hilfreich ist ihm dafür
der Kontrast zur Macht, durch den sich das Wesentliche der Herrschaft aufde-
cken lässt. Sie ist idealtypisch dadurch gekennzeichnet, dass nicht der gewohn-
heitsmäßige Trott oder eine Nützlichkeitserwägung auf Seiten der Untergeordne-
ten im Vordergrund steht, aber diese sich stattdessen für die rechtmäßige Ver-
bindlichkeit der Herrschaftsbeziehung entscheiden, die in diesem Fall maximal
stabil ist. Anders die Macht, die sich, statt die erwartungssichere und gewollte
Fügsamkeit aufzuweisen, dadurch kennzeichnet, dass die Durchsetzung einer
Entscheidung gegen Widerstreben nicht ausgeschlossen ist. Der unverzichtbare
Beitrag der Untergeordneten lässt schließlich erkennen, dass die Herrschenden in
ihrem Tun nicht unabhängig sind, sondern sich hinsichtlich der Erwartungssi-
cherheit, die sie hegen, gegenüber jenen nicht gleichgültig verhalten können.
Nun zu Durkheim. In der Hauptsache interessieren ihn Funktionen, denen
sich Gesellschaft verdankt, wobei er sich mit unterschiedslos starker Aufmerk-
samkeit auch den Bedingungen zuwendet, die Schuld an der Zunahme der indi-
viduellen Entscheidungsfreiheit und an der Sakralität des Individuums tragen. In
einem nur kaum geringeren Grad an Interesse beschäftigt er sich in seinen
Schriften damit, die pathologischen Symptome der modernen Gesellschaft zu
erklären, die ihn schließlich dazu veranlasst, solche Empfehlungen zu generie-
ren, mit denen sie sich kurieren lässt, freilich ohne in Widerspruch zu den Er-
gebnissen seiner Studien und seines methodischen Regelwerks zu stehen. Ob-
wohl er insbesondere die Schattenseiten der schwindenden Kraft von überwöl-
benden Verbindlichkeiten berücksichtigt, macht er Empfehlungen, die darauf
ausgerichtet sind, die neuen Bedingungen von Gesellschaft zu gestalten, statt
sich dafür einzusetzen, sie wieder rückgängig zu machen. Das lässt sich darauf
zurückführen, dass es für ihn ausgeschlossen ist, gesellschaftlichen Wandel zu
revidieren, und zwar weil er wiederum ausschießt, dass dieser durch bewusste
Initiative und Planung verschuldet wird.
Zu Durkheims Werk gehören: Kriterien geeigneter Methoden für die Erfor-
schung sozialer Phänomene, Kriterien der Moralerziehung, Voraussetzungen für
die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit, ein objektives Zeugnis
über gesellschaftliche Krisenzustände mittels über dem Durchschnitt liegender
Selbstmordraten, ein Beweis über die Unvergänglichkeit der Religion und ein
4.1 Weber, Ziegler und Durkheim 289

Grundriss für die Vermittlung zwischen partikularer und universeller Moral. Mit
dem Nachweis über die kausale Bedeutung des Sozialen trägt er dazu bei, die
von ihm vertretene Disziplin zu etablieren. Das gelingt ihm, indem er zeigt, wie
sich Gründe für verbindliche Verhaltensregeln abseits ihrer argumentativ erwie-
senen Richtigkeit zugänglich machen lassen. Sie treten mit einer Kausalität auf,
die das Individuum in gewisser Weise nicht nötig hat. Daran lässt sich seine pä-
dagogische Vorlesung anknüpfen, mit der er widerlegt, dass die Moral zu den
menschlichen Dispositionen gehört, die ihm aber auch zu zeigen hilft, dass das
Individuum der Moral unterlegen ist, sie nicht entbehren kann und diese wiede-
rum auf das Individuum angewiesen ist. Ihren Wandel macht er sich an anderer
Stelle zum Gegenstand, indem er ihre Voraussetzungen klassifiziert, um sie so-
dann im Hinblick darauf zu nutzen, erstens die erhöhten Gelegenheiten für die
eigenen Initiativen des Individuums zu erklären und zweitens einfache von mo-
dernen Gesellschaften idealtypisch unterscheiden zu können. Weil er die Vor-
raussetzungen der einen Moral in der Leistung nachlassen sieht und er für dieje-
nigen der anderen Moral eine nur unvollkommene Entfaltung feststellt, kann er
zudem eine Analyse für die gesellschaftliche Krise anbieten, deren Abbild er in
Selbstmordraten zum Vorschein bringt. Die Selbstmordstatistiken zeigen Fol-
gendes an: Auf der einen Seite wird die Maxime, Hand an sich zu legen, zuneh-
mend von solchen Menschen befolgt, die man mittlerweile zu den randständigen
Nonkonformisten zählen kann. Auf der anderen Seite zeichnen sich Suizidanten
vermehrt dadurch aus, dass sie zuvor entweder ihre Betriebsamkeit hoffnungslos
zum Erliegen bringen oder die eigene Zufriedenheit einer hypertrophen Regsam-
keit opfern. Was sie jeweils dazu führt, das belastet, so Durkheim, auch diejeni-
gen, die gewillt sind, am Leben zu bleiben. Einen Schutz vor diesen beiden Ar-
ten der Sinnlosigkeit sieht Durkheim in der Religiosität, die er sich gesondert
zum Gegenstand macht. Um ihre behütende Wirkung zum Vorschein zu bringen,
nimmt er keine Exegese theologischer Schriften vor. Stattdessen interessieren
ihn die Bedingungen der heiligen Dinge einer Kirche, aber auch deren Wirksam-
keit auf die Gläubigen. Weil beide, die heiligen Dinge und die Gläubigen in glei-
cher Weise einander bedürfen, schließt er auf die erholsamen Kräfte der Religio-
sität gegen die Auswirkungen der Krise. Nur ist jene für Durkheim keine aus-
schließlich zu den Kirchen gehörende Qualität. Das zu untersuchen, macht er
sich in der Vorlesung über die Moral unter den Bedingungen zunehmender par-
tikularer Moralen zur Aufgabe. Zwei der signifikanten Ergebnisse lauten: Zum
einen macht es die Dominanz der wirtschaftlichen Tätigkeiten erforderlich, die
auf diese zugeschnittene Berufsmoral zu stärken. Zum anderen eignet sich vor-
wiegend die Sakralität der menschlichen Qualität, sich von den partikularen Mo-
ralen abzuheben. An der Vorlesung lässt sich in toto Durkheims Thema über-
haupt ablesen, und das sind die mutualen Bedingungen der Moral und des Indi-
viduums.
290 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Nun zu den anstehenden Arbeitsschritten: Weber und Durkheim machen


sich für die Wissenschaft der Kultur im Allgemeinen das zum Grundsatz, woran
sich Ziegler im Speziellen für den Gegenstand seiner Studie orientiert, und das
ist: Man muss ausschließen, dass Nation etwas ist, das sich der Wissenschaft
entzieht. Die Nation hat Ursachen und zieht Folgen nach sich, denen Wissen-
schaft nachgehen kann. Mein eigenes Vorhaben soll hierfür einen nicht-
erschöpfenden Beitrag leisten. Durkheims Arbeiten werden vor dem Hintergrund
der Vorgaben Webers und Zieglers zur Nation und im Hinblick darauf unter-
sucht, einen Zusammenhang zwischen dem Hervortreten der Nation und der Zu-
nahme der individuellen Entscheidungsfreiheit zu erarbeiten und den Hergang
ihrer moralischen Wirksamkeit zu rekonstruieren. Letztere soll schließlich vor
dem Hintergrund des moralischen Polymorphismus und der Sakralität des Indi-
viduums im Hinblick darauf berücksichtigt werden, inwiefern die Voraussetzun-
gen gegeben sind, damit sie hervorgerufen werden kann. Es soll ferner überprüft
werden, inwiefern das, was nationale Moral leistet, in modernen Gesellschaften
erforderlich ist. Für die nächsten Arbeitsschritte ist Folgendes vorgesehen:
a) Ziegler konstatiert, dass das Primat der sozialen Verbindlichkeit für die
Nation wesentlich ist. In seiner Analyse kommt er u.a. zum Ergebnis, dass die
Vorrangstellung der Nation durch die Zuschreibung begünstigt wird, die besagt,
dass von der Nation, die selbst nicht von Kräften betroffen zu sein braucht, die
kausale Kraft allen Geschehens ausgeht. Er untersucht aber auch die Folgen der
Modernisierung der Herrschaft, und hierzu zählt, dass der Herrschaftsverband
den Untergeordneten nicht mehr als fremde Macht, sondern als ihr eigen gegen-
übertritt. Während also im Falle von nicht-nationalen Herrschaftsverbänden die
Orientierung auf Seiten der legitimen Herrschenden ausgeschlossen ist, dass sie
sich ihrerseits den Untergeordneten unterordnen müssen, trifft das für die Nation
zu. Diese neuartige Prominenz macht das Primat der sozialen Verbindlichkeit
erforderlich. Aus diesem Grund wird zunächst berücksichtigt, inwiefern die Zu-
nahme individueller Entscheidungsfreiheit für die Nation kausal bedeutsam ist.
Als erstes wird dem nationalen Primat der sozialen Verbindlichkeit im Hinblick
darauf nachgegangen, einen Zusammenhang mit der Zunahme der individuellen
Entscheidungsfreiheit zu erkennen. Untersucht wird, inwieweit die von Durk-
heim ausfindig gemachte Grundlage für die Zunahme der individuellen Ent-
scheidungsfreiheit auch über das Auskunft gibt, was gemäß der Studie Zieglers
für die Nation unabdingbar ist. Im ersten Schritt soll anhand der Studien Durk-
heims aufgedeckt werden, welche Voraussetzung gegeben sein muss, damit das
von Ziegler erarbeitete Wesensmerkmal der Nation ermöglicht werden kann.
b) Eine Nation liegt für Weber erst dann vor, wenn sich die Ausrichtung ei-
ner Vergemeinschaftung auf den eigenen Staat kanalisiert, und zwar unabhängig
von den Gemeinsamkeitsmerkmalen dieser Gemeinschaft. Das Ziel der Gemein-
schaft der Nation ist, ihm zufolge, ungeachtet der jeweiligen Gemeinsamkeits-
merkmale der eigene Herrschaftsverband. Diese Gemeinschaft und die Gemein-
4.1 Weber, Ziegler und Durkheim 291

schaft überhaupt sollen im zweiten Schritt untersucht werden. Ein Schlüssel hier-
für sind die Heterogenität und Inkonsistenz nationaler Gemeinsamkeitsmerkma-
le, die für Weber das Hindernis dafür sind, die Nation ohne den Herrschaftsver-
band zu definieren. Er schreibt: „Nation ist ein Begriff, der, wenn überhaupt ein-
deutig, dann jedenfalls nicht nach empirisch gemeinsamen Qualitäten der ihr
Zugerechneten definiert werden kann“ (Weber 2009, 74). Weil nationale Ge-
meinsamkeitsmerkmale entweder innerhalb der Nation von Seiten unterschiedli-
cher Gruppen mit schwankenden Interesse zur Kenntnis genommen werden, oder
einmal als ausschlaggebend für nationale Gemeinschaft und Gemeinschaft über-
haupt gelten, während ein- und dieselben Gemeinsamkeitsmerkmale im Falle
anderer Nationen belanglos sind, legt ihre Heterogenität und Inkonsistenz nahe,
dass Gemeinschaft nicht an sich besteht, und dass Gemeinsamkeitsmerkmale von
sich aus nicht vermögend sind, Gemeinschaft zu bewirken. Ein Zweck des zwei-
ten Schritts ist es, anhand von Überlegungen Durkheims zur „moralischen Ge-
meinschaft“ der Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale
nachzugehen, um auf den sozialen Ursprung der Gemeinschaft und somit auch
der Nation zu stoßen. Zu diesem Zweck gehört es demnach, einen Nachweis
dafür zu erbringen, dass Gemeinschaft nicht aus Gemeinsamkeitsmerkmalen
entspringt. Sie ist nicht an sich gegeben. Die Erklärung für die Heterogenität und
Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale einerseits und für die Gemeinschaft
andererseits hilft, um zu zeigen, dass die Nation nicht voraussetzungslos besteht.
Ein weiterer Zweck des zweiten Schritts besteht darin, diejenige Gemeinschaft
der Nation zu untersuchen, durch die sie sich erst von anderen, nicht-nationalen
Gemeinschaften unterscheidet. Der Anspruch auf den eigenen Herrschaftsver-
band ist nur der Nation vorbehalten, während anderen Gemeinschaften, die über
sonst von Nationen beanspruchte Gemeinsamkeitsmerkmale verfügen, dieser
Anspruch fehlt oder vorenthalten bleibt. Anderen Gemeinschaften wie der Ras-
se-, Sprach- und Kulturgemeinschaft und der ethnischen Gruppe ist die mobili-
sierte Gemeinschaft der Nation um etwas voraus, nämlich um den Anspruch auf
den eigenen Herrschaftsverband. Die Ausrichtung der nationalen Gemeinschaft
auf den eigenen Staat ist nicht nur wesentlich dafür, dass sich eine Gruppe mit
bestimmten Gemeinsamkeitsmerkmalen von anderen ihresgleichen unterschei-
det, sondern jener ist zudem eine gemeinsame Qualität für die nationale Gemein-
schaft. Weber macht diesen Anspruch obendrein für die „letzte entscheidende
Note“ (Weber 2009, S. 59) der nationalen Gemeinschaft geltend. Angesichts
dessen gehört es zum zweiten Zweck, die besondere Gemeinschaft nachzuwei-
sen, die nicht nur ausschließlich auf Seiten der Nation umsetzbar ist, sondern
einzelne Nationen überhaupt erst unterscheidet. Das ist die mittels des nationalen
Staats entstandene Gemeinschaft. Erst die Ausrichtung auf den eigenen Staat
unterscheidet die Nation von Gemeinschaften, die nicht auf den eigenen Staat
kanalisiert sind, sich aber auf Gemeinsamkeitsmerkmale berufen, die auch von
Nationen beansprucht werden. Auf diese Weise heben sich darüber hinaus Nati-
292 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

onen mit identischen Gemeinsamkeitsmerkmalen, nämlich nicht selten die Nati-


onalsprache, voneinander ab. Der Rückgriff auf Durkheim soll hinsichtlich des
anderen Zwecks des zweiten Schritts dahingehend eine Hilfestellung bieten, den
sozialen Hergang derjenigen Gemeinschaft zu untersuchen, die der Nation eigen-
tümlich ist. Eine Hilfestellung hierfür werden Webers Angaben zum Machtpres-
tige und zum Verwandtschaftsglauben bieten. Mit beiden ist, ihm zufolge, vor
allem dann und nicht nur im Falle der nationalen Gemeinschaft zu rechnen,
wenn der Herrschaftsverband einer Gefahr ausgesetzt ist. Diese Gemeinschaft
kraft Opposition legt den sozialen Ursprung der Gemeinschaft und der nationa-
len Gemeinschaft im Speziellen nahe. Ingesamt geht es im zweiten Schritt somit
ebenfalls darum, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass die Nation nicht vo-
raussetzungslos gegeben ist, und das geschieht, indem erstens die an sich beste-
hende und zweitens die an sich bestehende Gemeinschaft der Nation widerlegt
wird.
c) Während mit den ersten beiden Schritten solche Wirklichkeiten zum
Vorschein gebracht werden sollen, die das Hervortreten der Nation unterstützen
und offen legen, dass sie abhängt, sollen im dritten Schritt bestimmte von der
Nation hervorgerufene Wirkungen untersucht werden. Wichtig ist, dass Durk-
heim keine vorsätzlich zum Einsatz gebrachten Faktoren für die Zunahme der
individuellen Entscheidungsfreiheit verantwortlich macht. Insofern diese also
nicht geplant hervorgerufen ist, kann auch die im ersten Schritt untersuchte indi-
viduelle Entscheidungsfreiheit hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf die Nation
kein absichtlich bewirkter Nutzen für das nationale Primat der sozialen Verbind-
lichkeit sein. Sollte ein Zusammenhang zwischen beiden bestehen, so ist ausge-
schlossen, dass er geplant ist. Weil es also nicht um der Nation willen zur Zu-
nahme der individuellen Entscheidungsfreiheit kommt, soll der Verträglichkeit
zwischen diesen beiden nachgegangen werden. Durkheims Studien bieten sich
dafür an, weil er die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit insofern
unvoreingenommen untersucht, als er sie weder befürwortet noch zu verhindern
versucht, und das ermöglicht ihm, auf der einen Seite den Wirksamkeit des An-
stiegs der individuellen Entscheidungsfreiheit für die Arbeitsteilung und auf der
anderen Seite die Verehrung des Individuums überhaupt aufzudecken. Diese
beiden Ergebnisse sind somit von Durkheim nicht subjektiv gewollt, und daher
bieten sich seine Studien an, um zu untersuchen, inwiefern sich die Gemein-
schaft der Nation einerseits und die Zunahme der individuellen Entscheidungs-
freiheit, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus
andererseits vereinbaren lassen.
4.2 Die Initiative des Individuums 293

4.2 Die Initiative des Individuums

Das Primat der sozialen Verbindlichkeit muss, so Ziegler, die Nation erfolgreich
behaupten, wenn sich ihr Anspruch auf den eigenen Herrschaftsverband durch-
gesetzt hat. Weil es notwendig keine Unterschiede im Grad des Anspruchs geben
kann, ist mit diesem auch die Gleichheit der Angehörigen einer Nation verbun-
den. Mit dem Primat der sozialen Verbindlichkeit ist die Gleichheit gewährleis-
tet, denn auf diese Weise ist ausgeschlossen, dass sich die Angehörigen durch
die sonstigen Verbindlichkeiten anderer Kollektive innerhalb einer Nation von-
einander abheben. Was diesen nationalen Vorzug der sozialen Verbindlichkeit
verschuldet, macht sich Ziegler zur Problemstellung seiner Studie, und hierfür
lässt er die grundsätzliche Vielfalt der Verbindlichkeiten gegenüber Kollektiven
nicht unberücksichtigt. „In jedem Individuum kreuzen sich so die verschiedenst
ausgerichteten Verhaltensweisen, es ist nicht monistisch, sondern pluralistisch
sozial determiniert“ (Ziegler 1931, S. 66). Folglich interessiert ihn nicht, welche
theoretische Argumentation den Vorzug der Nation hervorbringt und wie er sich
ideell ergibt, sondern woraus die empirische Geltung hervorgeht, was also die
Orientierung an der erstrangigen Verbindlichkeit bewirkt. Ziegler untersucht vor
dem Hintergrund der Vielfalt der Kollektive, wie sich die Nation anderen Kol-
lektiven überordnet. Auf der einen Seite der Wandel in der Legitimität im An-
schluss an die Französische Revolution und auf der anderen Seite die von der
Geschichtsphilosophie vorangetriebene Entdeckung der autonom ausübenden
Wirkungskraft von Kollektiven und insbesondere der Nation sind für Ziegler
dafür verantwortlich, dass sich diese gegenüber rivalisierenden Verbindlichkei-
ten durchsetzt.
Sein Anliegen ist es nicht, den Ursachen nachzugehen, auf denen sich im
Allgemeinen die Ausbildung der Geltung von Verbindlichkeiten zurückführen
lässt. Stattdessen befasst er sich damit, den Vorgang zu untersuchen, der dazu
führt, dass sich ein Kollektiv mitsamt seinen wesentlichen Zumutungen gegen-
über anderen Kollektiven in der Hinsicht als überlegen erweist, als es andere
nicht unterwirft, aber die Geltung ihrer besonderen Verbindlichkeiten zurück-
stellt. Dass diese Gemeinschaft, mit der innere Differenzen überwunden werden,
im Falle der Nation unerlässlich ist, steht auch für Weber außer Zweifel. Die
Nation setzt im Innern voraus, dass sich, schreibt er, Angehörigen verschiedener
Gruppen untereinander Solidarität abverlangen lässt (vgl. Weber 2009, S. 74).
Kraft des ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens und des Machtprestiges des Herr-
schaftsverbands lassen sich, und zwar nicht nur auf Seiten der Nation, überwöl-
bende Zusammengehörigkeit verwirklichen, in deren Zusammenhang das für die
Nation notwendige Primat der sozialen Verbindlichkeit steht. Weder für Ziegler
noch für Weber ist damit inbegriffen, dass die Nation infolge ihrer Gemeinschaft
die Vielfalt der Kollektive nivelliert. Im Denken beider unterstützt die Oppositi-
on die Orientierung an der vorrangigen Verbindlichkeit der Nation (vgl. Ziegler
294 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

1931, S. 107), wobei die Abstoßung für Weber im Hinblick auf den Hergang der
Gemeinschaft primär ist (vgl. Weber 2009, S. 41 ff.). Die Opposition ist somit
nicht nur dem Hergang der nationalen Gemeinschaft vorbehalten. Insbesondere
Weber erklärt, dass Opposition, die zum Machtprestige des Herrschaftsverbands
gehört, die Bildung politischer Gemeinschaft unterstützt, bevor die Nation über-
haupt bekannt war. Insofern es also zum einen durch die Nation nicht zur Nivel-
lierung der sonstigen Vielfalt kommt – andere Kollektive sind zwar der Nation
untergeordnet, bleiben aber bestehen – und zum anderen sich im Allgemeinen
verschiedene Kollektive durch Opposition in Einklang bringen lassen, kann man
weiteren Bedingungen nachgehen, durch die das nationale Primat der sozialen
Verbindlichkeit begünstigt wird. Für die Entstehung des Vorrangs der Nation
rechnet Ziegler die Konstruktion der treibenden Kraft von Kollektiven an, und
nur für diese Voraussetzung veranschlagt er nicht die Wirkung der Opposition.
Angesichts ihrer ansonsten überwiegenden Mitwirksamkeit hinsichtlich der her-
ausragenden Verbindlichkeit der Nation liegen keine weiteren Angaben darüber
vor, wie sich das nationale Primat bildet, ohne von Opposition unterstützt zu
sein. Die Differenzen überwölbende Gemeinschaft dank Opposition nützt zwar
dem Primat der sozialen Verbindlichkeit, ist ihm aber nicht eigentümlich, weil
sich solche Gemeinschaft auch sonst durch Abstoßung hervorrufen lässt. Somit
kann man einer Voraussetzung für die nationale Vergemeinschaftung nachgehen,
zu der nicht die Opposition gehört und die spezifisch für die Nation ist. Das ist
eine Voraussetzung, die das Primat der sozialen Verbindlichkeit auf Seiten der
Nation frei von Opposition möglich macht.
Damit die allem anderen übergeordnete Verbindlichkeit der Nation abseits
der Kraft der Opposition von Seiten ihrer Angehörigen vorrangig berücksichtigt
wird, braucht es die Initiative des Individuums. Das lässt sich mithilfe der Moral-
lehre Durkheims wie folgt erklären: Als erstes soll berücksichtigt werden, wel-
che Effekte Durkheim der Opposition zuschreibt. Im zweiten Schritt soll seine
Morallehre im Hinblick darauf befragt werden, wann individuelle Entschei-
dungsfreiheit überhaupt möglich ist und wann dem Individuum die Aspiration
abgeht, Individualität für sich zu beanspruchen. Schließlich soll gezeigt werden,
warum sich das nationale Primat der sozialen Verbindlichkeit nicht durch Über-
zeugungsarbeit durchsetzen lässt. Die Schritte sollen insgesamt ermöglichen, auf
den für die Nation willkommenen Effekt der Initiative des Individuums zu sto-
ßen.
Die Wirksamkeit der Opposition stellen nicht nur Ziegler und Weber fest,
denn auch Durkheim konstatiert, dass sie für Kohäsion sorgt, aber anders als jene
beiden entnimmt er ihr Vermögen quantitativen Daten. Die Opposition verschul-
det, so Durkheim, die Bewahrung vor Selbstmordanfälligkeit auf Seiten derjeni-
gen, die dem Typus für die Betroffenheit von uferloser und ineffizienter Sinnsu-
che und daraus resultierender Abgeschiedenheit am nächsten kommen. Zum ei-
4.2 Die Initiative des Individuums 295

nen außeralltägliche Ereignisse,150 in deren Folge sich politische Leidenschaften


regen (vgl. Durkheim 1973, S. 225 ff.) und zum anderen die Diskreditierungser-
fahrungen von Juden, aufgrund derer sie sich auf die eigene Kirche besinnen
(ebd., S. 172), schützen davor, einen – dem Typus nach – egoistischen Selbst-
mord zu begehen. Die Ergebnisse für diesen Typus zieht er vom Selbstmord ab,
so dass seine Folgerung lautet: Die Opposition veranlasst sich für überindividu-
elle Ziele einzusetzen und sich vom Egoismus fernzuhalten und anstatt sich also
auf ergebnislose Sinnsuche zu begeben, solche Ziele zu verfolgen, die man im
Kern nicht selbst erfunden hat (vgl. Durkheim 2006, S. 119). Angesicht des le-
benserhaltenden Schutzes durch die Hingabe für überindividuelle Ziele stellt
auch Durkheim fest: Vor allem die Opposition nach außen ist vermögend, den
Egoismus zu verdrängen, weil sie die Kohäsion beschafft, in der, wie im Falle
der politischen Leidenschaften und im Falle der Diskreditierungsabwehr, unter-
schiedliche Kollektive eingeschlossen sind.
Fehlt aber die Opposition, so bleibt, ihm zufolge, auch die Differenzen
überschreitende Gemeinschaft aus. Durkheim dazu:
„Nur wenn schwerwiegende Belange auf dem Spiel stehen, wird das Gefühl unserer
Abhängigkeit vom politischen Gesellschaftskörper stark sein. Bei denen, die die mo-
ralische Elite der Bevölkerung bilden, ist der Gedanke an das Vaterland zweifellos
selten ganz abwesend; aber in normalen Zeiten bleibt er im Halbdunkel, einen
schemenhafte Vorstellung, und es geschieht sogar, dass er ganz erlischt. Es bedarf
außergewöhnlicher Umstände wie einer großen nationalen oder politischen Krise,
dass er wieder an die erste Stelle tritt, unser Bewusstsein durchdringt und zur unmit-
telbaren Triebfeder unseres Handelns wird“ (Durkheim 1973, S. 443).
Die Nation tritt somit auch in seinem Denken in Zeiten der Opposition in den
Vordergrund. Wenn aber diese Veranlassung nicht vorkommt, braucht es Fol-
gendes für die nationale Gemeinschaft: Die Orientierung an der Verbindlichkeit
der Nation setzt voraus, ihre gegenüber den spezifischen Qualitäten der ver-
schiedenen Kollektive allgemeinen Qualitäten zu abstrahieren. Letztere müssen
jene überschatten. Solange aber das Individuum nicht über ausreichend Ent-
scheidungsfreiheit verfügt, ist die Orientierung an Verbindlichkeiten nicht mög-
lich, die Abstraktion erfordern, weil Qualitäten vergegenwärtigt werden müssen,
die Gemeinsamkeit zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kollektive betref-
fen.
Dass diese Abstraktion blockiert ist, macht Durkheims Gesetz der morali-
schen Mechanik verständlich. Zwischen dem Individuum und einem moralischen
Milieu besteht, so Durkheim, kein Antagonismus. Es macht das Individuum
nicht nur lebensfähig, indem es ihm Grenzen setzt, kraft derer es überhaupt han-
deln kann, denn neben dieser unverzichtbaren Selbstbeherrschung erfüllt es die

150 Das sind für Durkheim solche Ereignisse, die zu einem Anstieg der „Dichte“ führen. Dabei
richten sich die synthetischen Orientierungen verstärkt auf moralische Ziele.
296 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Voraussetzung, dass sich Individualität anhand von Ideen, Gefühlen und Prakti-
ken entwickelt, die das auf sich gestellte Individuum sich selbst nicht entnehmen
kann, denn „[…] in uns gibt es eine Menge Zustände, die in uns etwas anderes
ausdrücken als uns selbst, nämlich die Gesellschaft“ (Durkheim 2006, S. 121).
Das moralische Milieu erfüllt die Funktionen, sich zum einen im Individuum zu
individualisieren und es handlungsfähig zu machen und zum anderen lässt es
sich im Individuum nieder, dem es als Homogenitätszumutung begegnet und es
auf diese Weise an die anderen im moralischen Milieu angleicht (vgl. Durkheim
2010a, S. 413). Durkheim bemerkt, und somit nivelliert er den Antagonismus
zwischen Individuum und Moral, dass es für das Individuum keine Belastung ist,
vom Drang eines moralischen Milieus betroffen zu sein. In seinem Denken ist es
nicht unterdrückt, denn lässt sich das moralische Milieu nicht in ihm nieder, geht
ihm die Persönlichkeit ab (vgl. Durkheim 2006, S. 122). Das schließt Durkheim
aber in Wirklichkeit aus:
„Der absolute Egoismus ist eine unerfüllbare Abstraktion. Denn um ein rein egoisti-
sches Leben zu führen, müssten wir unsere soziale Natur ablegen, was uns genauso
unmöglich ist, wie über unseren Schatten zu springen“ (ebd., S. 121).
Die von Seiten des moralischen Milieus bewirkte Homogenität braucht dieses für
die eigene Dauerhaftigkeit, die vor allem dadurch gewährleistet ist, dass jedes
Vergehen gegen die geteilten Kollektivvorstellungen zu Interaktionen zwischen
denen führt, die vom moralischen Milieu betroffen sind (vgl. Durkheim 2008a,
S. 156). Die aufgrund der Interaktionen sanktionierte Geltungskraft der Kollek-
tivvorstellungen, die dem moralischen Milieu entspringt, gewährleistet schließ-
lich dessen Homogenität (ebd., S. 157).
Damit sich das Individuum an allgemeinen Qualitäten orientieren kann, die
solche Homogenität überschreiten, muss es sich vom moralischen Milieu lösen
können, das wiederum gemäß dem Gesetz der moralischen Mechanik das Indivi-
duum von sich aus nicht freisetzen wird. Sogar das Individuum wird von sich aus
nicht die Initiative ergreifen, sich von einem moralischen Milieu zu sondern,
dem es seine Seele verdankt (vgl. Durkheim 2006, S. 121). Die Nation ist ihrer-
seits jenseits der Opposition nicht vermögend, die moralischen Milieus anderer
Kollektive zu schwächen. Durkheim sieht zwar die Vielfalt und die einvernehm-
liche Hierarchie der Kollektive vor, aber er schließt nicht aus, dass es zu Streit
um die Höherwertigkeit bestimmter Kollektive kommt oder dass die Homogeni-
tätszumutungen einzelner moralischer Milieus die Ausbildung von Individualität
niederhalten. Auf der einen Seite erwähnt er die Familie und die Nation, deren
jeweiligen Verbindlichkeiten einander nicht ausschließen und auf der anderen
Seite berücksichtigt er die Diskrepanz zwischen Nation und Kosmopolitismus
(ebd., S. 124). In diesem Fall sind Widersprüche zwischen den jeweiligen Ver-
bindlichkeiten möglich. Zu moralischen Milieus mit solitärer Disposition zählt er
territoriale Gruppen und Berufsgruppen. Er schreibt:
4.2 Die Initiative des Individuums 297

„Nun ist es aber unvermeidlich, dass sich solche Sekundärgruppen herausbilden,


denn in einer großen Gesellschaft gibt es stets auch partikulare Interessen lokaler
oder berufsbezogener Art, die ganz von selbst dafür sorgen, dass die betreffenden
Menschen einander näher rücken. Diese Sonderinteressen führen zur Bildung von
Vereinigungen, Zünften und Cliquen aller Art, und wenn ihre Aktivität kein Gegen-
gewicht findet, wird jede von ihnen danach streben, ihre Mitglieder völlig zu absor-
bieren“ (Durkheim 1991, S. 91).
Sofern also die moralische Mechanik das Individuum so an Kollektive bindet,
dass es von sich aus nicht das Verlangen vorbringt, sich den Homogenitätszumu-
tungen zu entziehen, reicht es nicht aus, solche Kollektive mit der Nation zu
konfrontieren, um das nationale Primat der sozialen Verbindlichkeit zu behaup-
ten. Das liegt daran, dass die Kollektivvorstellungen moralischer Milieus eine
verdeckte Funktion erfüllen, sie aufgrund einer „indirekten Zweckmäßigkeit“
(Durkheim 1984, S. 160) bestehen, aber nicht um des Inhalts ihrer Zumutungen
willen aufkommen. Durkheim dazu:
„Schließlich ist es ein in der Soziologie wie in der Biologie als wahr erkannter
Grundsatz, dass das Organ von der Funktion unabhängig ist, d.h. sich selbst gleich
bleiben und doch verschiedenen Zwecken dienen kann. Das heißt also, dass die Ur-
sachen, auf denen sein Dasein beruht, von den Zwecken, denen es dient, unabhängig
ist“ (ebd., S. 177).
Aus diesem Grund lehnt es Durkheim schließlich auch ab, soziale Phänomene
hinsichtlich der angebrachten Begründungen der Handelnden zu untersuchen.
Wenn jene zu den Funktionen des moralischen Milieus gehören, ist es für die
Wissenschaft unergiebig, sich mit den Auskünften auseinanderzusetzen, die dar-
über informieren, warum ein soziales Phänomene sein oder vermieden werden
soll (vgl. Durkheim 1981, S. 88). Umgekehrt lassen sich die Antriebe sozialer
Phänomene nicht entkräften, wenn sie in einen auffälligen Kontrast mit sinnvol-
leren Beweggründen gebracht werden. Der Durchsetzung der Nation und ihres
Primats der Verbindlichkeit ist vor diesem Hintergrund mit der theoretischen
Sanktionierung ihrer Geltung nicht geholfen. Anders ausgedrückt: Es ist nicht
möglich, moralische Milieus zu schwächen, indem man einen Nachweis über
den höherwertigen Nutzen der nationalen Verbindlichkeit erbringt. Weil das mo-
ralische Milieu die Funktionen hat, dem Individuum zu Substanz zu verhelfen
(vgl. Durkheim 2006, S. 121) und die Geltungskraft der Kollektivvorstellungen
und den Zusammenhalt eines Kollektivs aufrecht zu erhalten (ebd., S. 112 f.), ist
es aussichtslos, ein moralisches Milieu mit einem anderen seinesgleichen zu
kontrastieren, um einen höheren Nutzen zum Vorschein zu bringen. Andere Kol-
lektive lassen sich der Nation nicht unterordnen, weil sie ihr gegenüber einen
geringeren Nutzen erweisen. Mittels Belehrungen über die Höherwertigkeit der
Nation lassen sich zwar die formellen Zwecke von Kollektivvorstellungen, aber
nicht die Wirkungen von moralischen Milieus konterkarieren.
298 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Die Nation kann das Individuum so „bedrängen“, dass sie ihm auferlegt,
die Merkmale der ihr Zugerechneten zu berücksichtigen, wofür es von den spezi-
fischen Merkmalen der vielfältigen Kollektive abstrahieren muss. Sofern aber
weder das Individuum von sich aus dem Gesetz der moralischen Mechanik wi-
derstehen wird, noch die Nation ihre eigenen Homogenitätszumutungen von sich
aus durchsetzen kann, verbleibt die Entscheidungsfreiheit des Individuums, auf
der das Primat der Verbindlichkeit auf Seiten der Nation beruhen kann. Das
setzt voraus, dass moralische Milieus nicht in der Lage sind, das Individuum mit
kollektiven Homogenitätszumutungen zu „absorbieren“. Für die Minderung ihrer
Geltung macht Durkheim in erster Linie nicht Emanzipationskämpfe verantwort-
lich, denn das Individuum wird nicht die Initiative ergreifen, die moralische Me-
chanik zu verhindern, solange es von ihr abhängt. Dass Individualität die anfäng-
liche Ursache für die Geltungsminderung kollektiver Homogenitätszumutungen
ist, erachtet Durkheim daher als widersinnig (vgl. Durkheim 2008a, S. 314).
Stattdessen führt er das auf Ursachen zurück, die keiner Planung unterliegen:
„Es handelt sich also um rein mechanische Gründe, die bewirken, dass die individu-
elle Persönlichkeit von der kollektiven Persönlichkeit absorbiert wird; und Ursachen
gleicher Natur sind es, infolge derer sie sich davon befreit“ (ebd., S. 365).
Individualität ist für Durkheim ein unvermeidbares Resultat, das sich zunächst
dem Bevölkerungsanstieg und den zunehmenden Möglichkeiten für Interaktio-
nen von moralisch nicht getrennten Individuen verdankt (ebd., S. 321). Infolge-
dessen geht aus der zunehmenden Konkurrenz zwingend Individualität hervor,
die sich als berufliche Spezialisierung äußert. Nun erst kann die Individualität
dazu beitragen, moralische Milieus zu schwächen, die darüber hinaus vom Ein-
deutigkeitsverlust ihrer Kollektivvorstellungen betroffen sind, und auch dieser
beruht auf mechanischen Gründen. Individualität wird nämlich deswegen durch
die Bevölkerungszunahme unterstützt, weil man ihretwegen mit mehr Gleichgül-
tigkeit rechnen kann und sich somit die Aufmerksamkeit für die Einhaltung der
Homogenitätszumutungen, aber auch für Abweichungen von ihnen verringert.
Der Präzisionsverlust von Homogenitätszumutungen wirkt sich insofern sach-
dienlich aus, als er zur Folge hat, dass nichts anderes übrig bleibt, als sie der Re-
flexion auszusetzen. Liegen eindeutige Verhaltensvorgaben vorgefertigt vor, so
besteht kein Anlass zum Nachdenken, aber konträr dazu wird die Reflexion mo-
bilisiert, um
„[…] die entstandene Leere auszufüllen, auch wenn es sie nicht geschaffen hat. So
wie es einschläft, wenn Gedanken und Handlungen automatisch und gewohnheits-
mäßig ablaufen, so wacht es auf, wenn sich vertraute Gewohnheiten auflösen“
(Durkheim 1973, S. 170).
Unter der Voraussetzung der eigenständigen Auslegung und Diskussion schwin-
det zunehmend die Autorität der Homogenitätszumutungen, und da ihre Kraft
4.2 Die Initiative des Individuums 299

nicht physischer, sondern moralischer Art ist, wirkt sich vornehmlich die Refle-
xion verderblich für den Drang der moralischen Kraft aus. Neben den Ursachen
der Individualität, die in einem Zusammenhang mit Neuschöpfung von Berufen
steht, rechnet Durkheim hierfür auch die wechselseitige Schwächung von Staat
und moralischen Milieus an. Indem der Staat das Individuum an die Nation bin-
det, verhindert er, dass die sonstigen kollektiven Homogenitätszumutungen der
Individualität im Weg stehen und die moralischen Milieus der Kollektive abseits
der Nation tragen ihrerseits zu deren Schwächung bei, was insgesamt die Vo-
raussetzung für Individualität unterstützt, und das ist eine jeweils in Maßen wir-
kende moralische Mechanik von Nation und anderen Kollektiven (vgl. Durkheim
1991, S. 92 f.).
Nichtsdestoweniger schreibt es Durkheim in erster Linie den mechanischen
Gründen der Arbeitsteilung und nicht der gezielt von Seiten des Staates herbei-
geführten Schwächung der von der Nation unterschiedenen Kollektive zu, die
zur Individualität führen. Er insistiert aber auch darauf, dass es nicht nur den
wettbewerbsbedingten Bedarf an Individualität braucht, denn ausschlaggebend
für die zunehmende Entscheidungsfreiheit ist die Verdrängung der Homogeni-
tätszumutungen:
„Die individuellen Verschiedenheiten, die zunächst in der Masse der sozialen Ähn-
lichkeiten verloren und aufgegangen waren, lösen sich ab, bekommen Relief und
vervielfältigen sich. Eine Vielfalt von Dingen, die außerhalb des Bewusstseins ge-
blieben waren, weil sie das Kollektivwesen nicht berührt hatten, wird nun Gegen-
stand der Vorstellung. Während die Individuen anfangs nur gehandelt haben, wenn
sie sich gegenseitig mitrissen […], wird nun ein jedes eine Quelle spontaner Tätig-
keiten. Einzelpersönlichkeiten bilden sich heraus, werden sich ihrer selbst bewusst“
(Durkheim 2008a, S. 413).
Schließlich tritt mit der zwangsläufigen Initiative des Individuums auch der Res-
pekt für das Individuum an sich hervor. Er schreibt:
„Manchmal verurteilte das Gesetz, indem es in gewisser Weise die Ergebnisse der
natürlichen Auslese vorwegnahm und legitimierte, die kranken und schwachen
Neugeborenen zum Tod, und selbst Aristoteles fand diesen Brauch ganz natürlich.
In den fortgeschrittenen Gesellschaften ist das völlig anders. Ein Behinderter kann
in den komplexen Kadern unserer sozialen Organisationen einen Platz finden, wo es
ihm möglich ist, Dienste zu leisten“ (ebd., S. 330).
Die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit geht also zunächst darauf
zurück, dass mechanische Gründe die Abschwächung der moralischen Milieus
bewirken, denn die Kollektive werden ihrerseits das Individuum nicht entlassen
und dieses ist nicht veranlasst, sich gegen sie zu wenden. Die für die Nation spe-
zifische Voraussetzung für das von ihr beanspruchte Primat der sozialen Ver-
bindlichkeit lässt sich nun konkretisieren: Das Individuum muss sich an nationa-
len Qualitäten orientieren, die gegenüber den spezifischen Qualitäten der ihr
300 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

untergeordneten Kollektive allgemein sind. Mit ihnen lassen sich die Grenzen
der Letzteren verwischen. Daher ist mit der Orientierung am nationalen Ver-
bindlichkeitsvorrang eine Abstraktionsleistung geknüpft. Damit sie erbracht
werden kann, reicht es nicht aus, das Individuum von der Richtigkeit des Primats
zu überzeugen und auch die Wirksamkeit des moralischen Milieus der Nation
genügt nicht. Zunächst müssen die ihr untergeordneten Kollektive dem Individu-
um ihre Homogenitätszumutungen nicht übergewichtig aufdrängen können. Aus
Einsicht in die Höherwertigkeit der Nation wird das aber nicht geschehen, denn
das kann der moralischen Mechanik der Kollektive keine Schwächung zufügen.
Was schließlich dazu führt und infolge dessen auch mehr individuelle Entschei-
dungsfreiheit hervorbringt, das macht es möglich, überhaupt zwischen Verbind-
lichkeiten abzuwägen und spezifische Merkmale unterschiedlicher Kollektive
straflos zugunsten der nationalen und überwölbenden Merkmale zu überschrei-
ten. Insofern die Nation also im Ursprung auf die Initiative des Individuums an-
gewiesen ist, tritt ihre Modernität hervor.

4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale,


Machtprestige und Verwandtschaftsglaube

Sprache, Kultur, Konfession, Migrationserinnerung oder Erinnerungen an politi-


sche Ereignisse oder eine andere Qualität kommen für Weber nicht dafür infrage,
wesentlich für die Nation zu sein. Diese und weitere Gemeinsamkeitsmerkmale
können im Hinblick darauf verwendet werden, den Anspruch auf den eigenen
Herrschaftsverband gelten zu machen, jedoch braucht es mehr, um die Nation zu
definieren. Die auf Qualitäten abgestellte Nation scheitert sodann an der Hetero-
genität und Inkonsistenz der empirisch wirklichen Nationen. Aufgrund dieses
beständigen Missverhältnisses ist es zudem haltlos, eine Gesetzmäßigkeit zu
konstatieren, die Kollektiven mit einem bestimmten Gemeinsamkeitsmerkmal
die zwangsläufige Genese zur Nation unterstellt. Weber insistiert, dass sich die
Nation nicht auf der Grundlage von gemeinsamen Qualitäten definieren lässt, da
solche einmal als ausschlaggebend für eine Nation gelten können, während sie
für andere Kollektive kein Anlass sind, sich als Nation zu behaupten. Nicht jedes
Kollektiv richtet sich auf den eigenen Staat aus, selbst wenn es über die Gemein-
samkeitsmerkmale verfügt, die von Nationen verwendet werden, um den An-
spruch auf den eigenen Staat zu rechtfertigen. Somit lässt sich daraus schließen,
dass eine Vergemeinschaftung, deren Gemeinsamkeit die Sprache, die Konfessi-
on oder sonst eine Qualität ist, keinem Entwicklungsprogramm unterliegt, in
dem zwingend die Ausrichtung auf den eigenen Herrschaftsverband vorgesehen
ist. Im Denken Webers fällt für den Begriff der Nation ausschließlich eins ins
Gewicht, und das ist die intime Beziehung einer Gemeinschaft zu ihren Herr-
schaftsverband.
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 301

Für die Gemeinschaft ist, so Weber, die Interaktion konstitutiv. Damit die
subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit erfolgt, die der Vergemeinschaftung
wesentlich ist, braucht es mehr als die bloße Übereinstimmung von bestimmten
Qualitäten auf Seiten der Handelnden. Sobald es zur wechselseitigen Orientie-
rung infolge gefühlter Zusammengehörigkeit kommt, liegt eine Gemeinschaft
vor. (vgl. Weber 2002, S. 22). Der ethnische Gemeinsamkeitsglaube kann
schließlich die Vergemeinschaftung unterstützen, was aber nicht besagt, dass die
Orientierung an der vermeintlichen Verwandtschaft mit ihr zusammenfällt (vgl.
Weber 2009, S. 44). Die Nation als „gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adä-
quater Ausdruck ein eigener Staat wäre“ (Weber 1913, S. 50), kann zum einen
Sprache, Konfession etc. als gemeinsame Qualität(en) aufweisen, muss aber
nicht. Ihre gemeinsame Qualität kann zum anderen aber auch der Staat sein. Was
zunächst für die Nation zählt, ist der eigene Staat. Ihre Gemeinschaft ist auf ihn
ausgerichtet. Sobald ein Kollektiv, das Sprache, Konfession, Erinnerung etc.
prononciert, eine Nation wird, gehört neben diesen Qualitäten auch der Staat zu
ihren Qualitäten. Die nationale Gemeinschaft ist von nun an auch mit dem Staat
als einem Gemeinsamkeitsmerkmal möglich. Die damit verbundene Gleichheit
unter denjenigen, die der Nation zugerechnet werden, garantiert, dass eine natio-
nale Gemeinschaft nicht exklusiv ist. Das können die anderen Qualitäten nicht
sicherstellen. Auf der einen Seite kann es Sprache und Konfession nicht gelin-
gen, die restlose Gemeinsamkeit aller Angehörigen einer Nation herzustellen
(vgl. Weber 2009, S. 75) und auf der anderen Seite scheitern Migrationserinne-
rungen und Erinnerungen an politische Ereignisse daran, dass nicht alle an den
zu erinnernden Ereignis beteiligt waren. Dieser Unzulänglichkeit ist der Staat
insofern voraus, als alle, die zur Nation gehören, einen fundierten Anspruch auf
ihn erheben können. Für die Identifikation mit ihm, ist es weder erforderlich,
einen bestimmten Sprachstand erreicht zu haben, noch muss man über ein Inter-
pretationsvermögen für den Zugang zu bestimmten Kulturgütern verfügen. So-
mit wird der Staat nach der Kollektivierung der Herrschaft eine Qualität der Na-
tion, und das gilt auch für die Nationen, die Sprache, Konfession, Erinnerung
etc. als eigentümliche Gemeinsamkeitsmerkmale in den Vordergrund stellen.
Das schließt aber auch Folgendes ein, was noch nachzuweisen ist: Gleich was
das Gemeinsamkeitsmerkmal der Nation ist, es wirkt sich erstens das Machtpres-
tige des Herrschaftsverbands aus und mit diesem ist zweitens der Verwandt-
schaftsglaube verbunden, d.h. sogar im Falle, dass Sprache, Konfession, Erinne-
rung etc. ausschlaggebendes Gemeinsamkeitsmerkmal einer Nation sind, kann
der Herrschaftsverband die Vergemeinschaftung auf eine ihm eigentümliche
Weise erleichtern.
Durkheims Werk leistet eine Hilfestellung, um auf der einen Seite der Hete-
rogenität und der Inkonsistenz der nationalen Gemeinsamkeitsmerkmale und auf
der anderen Seite dem mit dem nationalen Herrschaftsverband in einem Zusam-
menhang stehendem Machtprestige und Verwandtschaftsglaube nachzugehen.
302 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Mit der Erklärung von jenen und diesen beiden soll der soziale Vorgang offen
gelegt werden, ohne den Gemeinschaft nicht hervorgehen kann, wobei insbeson-
dere das Machtprestige und der ethnische Gemeinsamkeitsglaube jeweils ein
Indikator dafür sind, um speziell die zur Nation gehörende Gemeinschaft ver-
ständlich zu machen. Die beiden Rekonstruktionen sollen zu belegen helfen, dass
die Gemeinschaft überhaupt und die nationale Gemeinschaft nicht dem nichts
entspringen. Für die Erklärung der Heterogenität und Inkonsistenz der Gemein-
samkeitsmerkmale braucht es Durkheims Überlegungen zur Moral und seine
Befunde zur Herkunft des Sakralen. Vor allem an den Folgen der intransparenten
Herkunft der Moral, die er in der Religionsstudie untersucht, lässt sich die funk-
tionelle Wirksamkeit derjenigen Dinge im Hinblick auf die Gemeinschaft ent-
nehmen, denen die Schuld an der Ergebenheit zugeschoben wird. Auf dieser
Grundlage sollen die folgenden Schritte die kausale Bedeutung der Berücksich-
tigung gemeinsamer Qualitäten für Gemeinschaft erarbeitet werden. Es soll auf-
gedeckt werden, inwiefern diese Berücksichtigung eine latente Kraft preisgibt,
aber auch mobilisiert. Daran schließt sich der zweite Teil an, indem eine Erklä-
rung der mittels des nationalen Staats hergestellten Gemeinschaft erarbeitet wer-
den soll. Als hilfreich erweisen sich hierfür erstens Webers Überlegungen zur
Eitelkeit des Politikers, wovon das berücksichtigt werden soll, was auch auf die
Untergeordneten in einem Herrschaftsverband zutrifft. Als zweites leisten seine
Angaben zum Verwandtschaftsglauben einen Dienst, der im Denken Durkheims
aufgesucht werden soll. Man trifft ihn explizit in der Religionsstudie, woran sich
einige Aspekte der Morallehre anknüpfen lassen, und das sind der Zusammen-
hang zwischen der Seele des Individuums einerseits und der Fortdauer eines
Kollektivs andererseits und umgekehrt. Die Berücksichtigung des Machtpresti-
ges und des Verwandtschaftsglaubens soll zeigen, welche Schuld der Anspruch
auf den eigenen Staat an der nationalen Gemeinschaft hat.
Zum Ursprung der Gemeinsamkeitsmerkmale: Der Morallehre Durkheims
lässt sich entnehmen, worauf die Gemeinsamkeitsmerkmale zurückgehen. Sie
gibt darüber Auskunft, dass ein Kollektiv nicht (allein) von seinen Gemeinsam-
keitsmerkmalen hervorgebracht wird. Seine relative Unabhängigkeit von ihnen
ist schließlich ein Grund für die Heterogenität und Inkonsistenz der nationalen
Gemeinsamkeitsmerkmale.
Dieser Sachverhalt lässt sich auflösen, wenn man die von Durkheim ent-
deckten Bedingungen der freiwilligen Unterordnung in Rechnung stellt: Die
Kraft der Moral vergleicht er mit „physikalisch-chemischen Kräften, deren Ein-
wirkung wir unterliegen“ (Durkheim 1973, S. 360). Ihr wesentliches Merkmal ist
der nicht-physische Zwang, der das Individuum wie die Kräfte der Natur von
außen bedrängt, da er nicht ihm selbst entspringt (vgl. Durkheim 1984, S. 107).
„Zweifellos sind diese Kräfte nicht materielle; aber wenn sie auch die Körper
nicht bewegen, so bewegen sie doch die Geister“ (Durkheim 2006, S. 94). Selbst
wenn das Individuum diesen Zwang akzeptiert und ihn aus innerer Überzeugung
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 303

befolgt, kann es ihn nicht erfinden. Es findet ihn bereits vollständig vor (ebd., S.
81). Weil die Moral sich nicht aus dem Individuum herleitet und sie ihrer Kraft
nach der Natur zwar gleicht, aber ihren Ursprung auch nicht in ihr hat, schließt
Durkheim darauf, dass sie das Werk von Kollektiven ist. Über den sozialen
Zwang schreibt er: „Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen
wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt“ (vgl. Durkheim 1984, S. 111), und das
ist der Zustand, der aus Wechselwirkungen entsteht. Was den sozialen Drang so
komplex macht, ist, dass er nicht aus der Addition einzelner Beiträge im Kollek-
tiv, sondern aus deren Synthese resultiert. Das Individuum ist an der Entwick-
lung und Bewahrung der Kollektivvorstellungen beteiligt, jedoch unterliegen
seine Beiträge den Wirkungen anderer, so dass sie nicht mit solchen überein-
stimmen, die es abseits von Wechselwirkungen leistet. Daraus geht der nicht-
physische und Kollektivvorstellungen begleitende Zwang hervor:
„Der Druck, den ein oder mehrere Körper auf andere Körper oder sogar auf den
Willen ausüben, darf mit dem, den das Bewusstsein einer Gruppe auf das Bewusst-
sein seiner Mitglieder ausübt, nicht vermengt werden“ (ebd., S. 99).
Neben der eigenständigen, also auf das Individuum nicht angewiesenen und der
nur mühsam nachvollziehbaren Realität, aus welcher der soziale Zwang hervor-
geht, sind auch dessen Effekte substanziell, um auf den Ursprung der Gemein-
samkeitsmerkmale zu stoßen.
Wirkt sich der soziale Zwang auf das Individuum aus, so transzendiert er es,
d.h. dem Individuum macht sich eine Kraft bemerkbar, die sich als überlegen
erweist, gleich ob es sich ihr widerstrebend, affirmativ oder devotional unter-
wirft. Das Individuum registriert, dass es von einer ihm äußerlichen, aber nicht-
physischen Kraft betroffen ist. Für Durkheim ist das ausschlaggebend:
„Gleich mit welcher Unmittelbarkeit wir der Stimme gehorchen, die uns diese Ent-
sagung diktiert, fühlen wir sehr wohl, dass sie in einem Befehlston zu uns spricht,
der nicht unseres Instinktes ist“ (Durkheim 1973, S. 393).
Die eindringende und nicht ihm selbst entstammende Kraft bemerkt das Indivi-
duum entweder, weil es sich, so Durkheim, daran orientiert, dass andere dessen
Unterwerfung gegenüber dem sozialen Zwang gutheißen werden, oder weil es
den missbilligenden Widerhall antizipiert, mit dem es rechnen muss, wenn es
den sozialen Zwang missachtet (vg. Durkheim 1976, S. 93). Beide Fälle lassen
jeweils eine Resonanz erkennen, die dem Individuum äußerlich ist, aber insbe-
sondere die Folgen der Missachtung des sozialen Zwangs bringen den sozialen
Ursprung der Moral zum Vorschein, denn anders als die Folgen missachteter
Hygieneregeln, muss ein moralisches Vergehen nicht immer und überall mit
schädlichen Folgen verbunden sein. Ein Vergehen gegen eine Verhaltensregel
liegt erst vor, wenn es dazu führt, dass es zu Interaktionen kommt, mit denen
jene einträchtig anerkannt werden. Die Transzendenz des Individuums deckt
304 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Durkheim schließlich in dessen Individualität auf, die es auf sich gestellt nicht
ausbilden kann. Zieht man das „System von Ideen, Gefühlen, Gewohnheiten und
Tendenzen“ (Durkheim 2006, S. 122) ab, die keine reinen Erfindungen des Indi-
viduums, sondern soziale Syntheseprodukte sind und sich ihm aufgedrängt ha-
ben, ohne sich als Duplikat niederzulassen, so liegt dem Individuum nichts vor,
um seine Individualität zu bilden. Im Sozialen liegt die Quelle jeder Individuali-
tät. Ganz im Gegenteil der durkheimsche Egoismus:
„Das Individuum an sich gibt keinen hinreichenden Sinn für Leben und Handeln. Es
ist zu gering. Es hat seine engen Grenzen nicht nur im Raum, sondern auch in der
Zeit. Wenn wir also keinen anderen Lebenszweck als uns selber haben, drängt sich
uns immer wieder die Vorstellung auf, dass alle unsere Wege schließlich ins Nichts
führen müssen, da wir ja dahin zurückkehren“ (Durkheim 1973, S. 234).
Alles, was dem Individuum richtungweisend ist, verantwortet es im Ursprung
nicht selbst. Verhaltensregeln und Ideen bieten Orientierung, verlangen aber
auch Verzicht, den das Individuum leistet, solange es ihnen nicht mit Indifferenz
begegnet, was schließlich sichert, dass es transzendiert wird. Hingegen ist die
eigenständige und isolierte Suche nach Orientierung prinzipiell aussichtslos.
Die moralische Kraft konfrontiert das Individuum, wenn es sich an Verhal-
tensregeln und Ideen orientiert. Es registriert, dass sie überlegen, aber nicht phy-
sisch überlegen ist. Zum einen ist das, was darüber informiert, wie es sich zu
verhalten hat, zunächst nichts mehr als eine verbale Formel und zum anderen
kommt das, was verehrt wird, ohne physische Überwältigung aus. Über beides
äußert sich Durkheim wie folgt:
„Dort erscheint sie uns wie eine Autorität, die uns zurückhält und uns Grenzen setzt,
die sich unseren Übergriffen widersetzt und vor der wir uns mit einem Gefühl reli-
giösen Respekts verneigen; hier sie es die freundliche und beschützende Macht, die
einer Nährmutter, von der wir den Hauptteil unserer Intellektuellen und moralischen
Substanz erhalten und der sich unser Wille in Dankbarkeit und Liebe zuneigt“
(Durkheim 2006, S. 140).
In beiden Fällen ist es entscheidend, dass nicht nur die Wirkung der moralischen
Kraft der Unterwerfung durch eine sinnliche Kraft entbehrt, sondern diese auch
ihre Genese nicht zu unterstützen braucht. Weil die moralische Kraft darauf be-
ruht, dass sich das Individuum ihre Höherwertigkeit zwar eingesteht, sich hierfür
einer tatsächlichen, aber keiner natürlichen Kraft beugt, bleibt ihre Wirksamkeit
intransparent und sie entzieht sich der Erklärung.
„Es ist nur natürlich“, schreibt Durkheim, „dass ein Wesen, das über übermenschli-
che Kräfte verfügt, den Verstand des Menschen verwirrt und darum etwas Geheim-
nisvolles hat“ (ebd., S. 137).
Diese Intransparenz lässt sich dank der Hypostasierung der moralischen Kraft
beherrschen. Sie wird, so Durkheim, Dingen zugeschrieben, deren empirische
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 305

Konstitution nichts aufweist, was Quelle für den nicht-physischen Zwang sein
kann (vgl. Durkheim 1973, S. 363). Die Hypostasierung der Moral arbeitet
Durkheim in der Religionsstudie heraus, um den Nachweis zu erbringen, dass
die Ursachen der Religion nicht im Menschen angelegt sind, sondern eine Kon-
sequenz des „kollektiven Lebens“, also der synthetisch erzeugten Kraft sind.
Dass sich hinter jeder Hypostasierung ein diesseitiger Kausalzusammenhang
verbirgt, kommt trefflich durch die Kultfeierlichkeiten, also der religiösen Ver-
sammlung zum Vorschein, aus der Efferveszenz resultiert. Die äußerst intensive
Erregung, die das Individuum anlässlich der Versammlung macht und die es in
die sozialen Wechselwirkungen der Versammelten hineinträgt, lässt die exaltie-
rende Begeisterung insgesamt anschwellen.
„Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich aufgrund dieses Tatbe-
stands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erre-
gung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewusstsein
eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist. Jedes Bewusstsein
findet sein Echo in den anderen“ (Durkheim 2010a, S. 320).
Zur Erklärung, dass das synthetische Handeln der Versammelten die Schuld an
der Efferveszenz trägt, gelangt, so Durkheim, das Individuum nicht. Stattdessen
macht es das heilige Ding verantwortlich, dem zu Ehren sich eine Kirche ver-
sammelt. Wichtig ist für Durkheim, dass die heftigen Gefühle während der Ver-
sammlung nicht irrtümlich zustande gekommen sind. Gleichwohl sich den ver-
ehrten Dingen nicht nachweisen lässt, dass die einfachen Sinneseindrücke, die
man von ihnen hat, die Efferveszenz verursachen, gibt es innerhalb der Ver-
sammlung tatsächliche, nämlich soziale Ursachen, und auch das heilige Ding der
Versammlung ist kausal bedeutsam. Der von Durkheim anhand der außeralltäg-
lichen Versammlung aufgedeckten Objektivierung lässt sich entnehmen, was im
Allgemeinen die verehrten und heiligen Dinge hervorbringt. Sie weisen in ihrer
Beschaffenheit nicht nur kein partikulares Element auf, woraus ihre Sakralität
entspringen kann, denn es lässt sich aufgrund ihrer Verschiedenheit auch kein
allen gemeinsames Element ihrer Beschaffenheit ausfindig machen, das ihre be-
sondere Würde verschuldet. Daher schließt Durkheim, dass die heiligen Dinge
die moralische Kraft des Kollektivs repräsentieren, die dieses auf das Individu-
um wirken lässt. Die heiligen Dinge sind Symbole des Kollektivs und sie werden
ihrerseits von ihm transzendiert, um ihnen ihre Sakralität hinzuzufügen. „Sie
drücken nicht die Art aus, wie die physischen Dinge unsere Sinne berühren, son-
dern die Weise, wie das Kollektivbewusstsein auf das Individualbewusstsein
wirkt“ (ebd., S. 330). Wichtig ist Folgendes: Weil das, dessen Funktion ist, ein
Kollektiv zu symbolisieren, nicht um dieser Funktion wegen besteht, kommt
alles infrage, diesen Dienst zu erfüllen. „Im Prinzip gibt es nichts, was von der
Natur unter Ausschluss aller übrigen Dinge dazu ausersehen wäre; es gibt aber
306 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

auch nichts, was eine solche Rolle notwendigerweise nicht spielen könnte“ (ebd.,
S. 339).
Was jeweils zum Symbol eines Kollektivs, und zwar nicht nur eines konfes-
sionellen Kollektivs wird, das gelangt deswegen dazu, weil, so Durkheim, die
synthetischen Wechselwirkungen, aus denen die moralische Kraft entsteht, nicht
ohne Zeichen geschehen können. Wenn ein Kollektiv durch bestimmte Zeichen
symbolisiert wird, dann können sie das deswegen leisten, weil sie ihm zu seiner
Konstitution verholfen haben, indem sie die Interaktionen ermöglicht haben,
denen sich jede moralische Kraft im Ursprung verdankt. Ohne Zeichen geht die
Synthese, aus der die moralische Kraft entspringt, nicht vonstatten.
Die Dinge, in denen sie sich hypostasiert, sind für Durkheim „wissenschaft-
lich wertlos“ (Durkheim 1973, 394), denn, obwohl sie ihrerseits Produkte sozia-
ler Synthese sind, stimmen sie mit den tatsächlichen Ursachen der moralischen
Kraft nicht überein. Die Interpretationen der moralischen Kraft von Seiten derje-
nigen, die von ihr betroffen sind, sind hinsichtlich ihrer Entstehung und ihrer
Effekte nicht aussagekräftig. Der von den Betroffenen ermittelte Ursprung des
nicht-physischen Zwangs muss mit dem tatsächlichen Ursprung nicht überein-
stimmen. Im Denken Durkheims ist diese Seite der Kultur im Hinblick auf die
Wissenschaft der Moral von sekundärer Bedeutung, da sich bereits aufgrund der
grenzenlosen Hypostasierungen der moralischen Kraft keine Erkenntnisse über
sie erzielen lassen.
Durkheims Überlegungen lassen sich nun als erstes nutzen, um die Hetero-
genität und Inkonsistenz der nationalen Gemeinsamkeitsmerkmale aufzulösen.
Das ist wie folgt möglich: Wegen jener Heterogenität und Inkonsistenz weigert
sich Weber, die Nation auf der Grundlage bestimmter Gemeinsamkeitsmerkmale
zu definieren. Ohnehin können die Gemeinsamkeitsmerkmale von sich aus we-
der Handeln noch eine Gemeinschaft bewirken. Ersteres ist ihm der Grund, wa-
rum Gemeinsamkeitsmerkmalen die Ausrichtung auf den eigenen Staat nicht
inhärent ist, d.h. das Vorliegen bestimmter Gemeinsamkeitsmerkmale schließt
nicht unmittelbar ein, dass ein Kollektiv eine Nation ist oder sein wird. Weil er
ausschließt, dass Gemeinsamkeitsmerkmale vermögend sind, eine Gemeinschaft
zu mobilisieren, stuft er die „Abstoßung“ als primär ein. Wesentlich ist ihm näm-
lich die Orientierung an den Gemeinsamkeitsmerkmalen für die Interaktion, und
die Opposition liefert einen Anstoß für diese Besinnung. Die Gemeinsamkeits-
merkmale sind also im Denken Webers hinsichtlich des Hergangs einer Gemein-
schaft nicht wesentlich. Das lässt sich noch deutlicher der Rasse entnehmen. Für
deren Gemeinschaft veranschlagt Weber nicht nur körperliche Gemeinsamkei-
ten, denn für die gefühlte Zusammengehörigkeit reicht es aus, wenn sich die
Handelnden an „auffälligen“, also sinnlich wahrnehmbaren Gemeinsamkeits-
merkmalen orientieren, wobei es sogar zu Oppositionen zwischen Kollektiven
kommen kann, deren Angehörigen hinsichtlich körperlicher Gemeinsamkeits-
merkmale keine Unterschiede aufweisen. Er notiert:
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 307

„Die Frage aber, ob die als auffällig abweichend und also scheidend empfundenen
Differenzen auf `Anlage´ oder `Tradition´ beruhen, ist für ihre Wirksamkeit auf die
gegenseitige Anziehung oder Abstoßung normalerweise gänzlich bedeutungslos“
(Weber 2009, S. 42 f.).
Das lässt erkennen, dass die Gemeinsamkeitsmerkmale für die Rasse sekundär
sind, d.h.: Die für eine Rasse als eigentümlich geltenden Gemeinsamkeitsmerk-
male sind nicht dafür geschaffen, um die Gemeinschaft der Rasse zu bewirken.
Mit diesen Vorgaben Webers lässt sich die „Rassenidee“ konterkarieren,
aber darüber hinaus tragen sie ein Anzeichen in sich, der auf den Ursprung von
Gemeinsamkeitsmerkmalen überhaupt verweist. Konkret: Sofern also die Orien-
tierung an bestimmten Gemeinsamkeitsmerkmalen auf Seiten derjenigen, die an
der Gemeinschaft eines Kollektivs beteiligt sind, im Ursprung nicht durch die
Gemeinsamkeitsmerkmale verschuldet wird, lässt sich auch der Ursprung dafür,
dass Gemeinsamkeitsmerkmale zu einem bestimmten Kollektiv gehören, nicht in
diesen auffinden, d.h. die Zugehörigkeit von Gemeinsamkeitsmerkmalen zu ei-
nem Kollektiv lässt sich nicht allein auf die Gemeinsamkeitsmerkmale zurück-
führen. Nur weil letzteres zutrifft, kann es überhaupt vorkommen, dass zum ei-
nen Kollektive einander abstoßen, die über gleiche Gemeinsamkeitsmerkmale
verfügen und zum anderen Gemeinschaft unter Berücksichtigung von bestimm-
ten Gemeinsamkeitsmerkmalen erfolgen, die auch auf Seiten anderer Kollektive
vorkommen, aber für deren Gemeinschaft belanglos sind. Dass das, was einem
Kollektiv als Gemeinsamkeitsmerkmal gilt, sekundär ist, kommt auch im Den-
ken Durkheims vor. Das Symbol „gibt der Gruppe ihr Selbstgefühl“ (Durkheim
2010a, S. 341), hat aber diesen Zweck nachträglich erhalten. Indem es vormals
als Zeichen die moralische Kraft eines Kollektivs mitgenerierte, trägt es zu des-
sen Bildung bei und hält es aufrecht, weil es seinen Drang vergegenständlicht,
aber ohne dass dem Symbol diese Funktionen inhärent sind. Das wiederum er-
klärt die Heterogenität und Inkonsistenz der nationalen Gemeinsamkeitsmerkma-
le, an denen sich Weber stößt. Sofern das, was das Symbol eines Kollektivs ist,
hierzu nicht vorherbestimmt ist, bleibt nichts davon ausgeschlossen, dafür einge-
setzt zu werden. Ein oder mehrere spezifische Gemeinsamkeitsmerkmale beglei-
ten die Gemeinschaft einer Nation, sind im Falle einer anderen Nation irrelevant,
kommen selbst bei nicht-nationalen Kollektiven vor und schließlich können ver-
schiedene Nationen auf die identischen Gemeinsamkeitsmerkmale verweisen –
das ist im Falle der Sprache häufig so – und sich trotzdem voneinander abgren-
zen. Also: Die Heterogenität und Inkonsistenz der nationalen Gemeinsamkeits-
merkmale steht in einem Zusammenhang mit der moralischen Kraft, deren kom-
plexer Ursprung nicht zum Vorschein kommt. Die Zugehörigkeit von Gemein-
samkeitsmerkmalen zu einem Kollektiv ist somit arbiträr.
Zwischen den Methodologien Webers und Durkheims lässt sich in der Tat
kaum vermitteln. Beiden ist es jedoch ein Anliegen, einen Nachweis dafür zu
erbringen, dass sich Kultur dem Denken und Handeln verdankt, und sie sich so-
308 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

mit zum Gegenstand einer Wissenschaft machen lässt. Während Weber die Gel-
tung von Vorstellungen auf der sinnhaften Orientierung des Individuums beru-
hen lässt und auf diese Weise das Kollektiv als Handlungssubjekt ausschließen
will, macht Durkheim insofern nicht das Individuum allein für die Geltung von
Vorstellungen verantwortlich, als er hierfür die Synthese der Orientierungen in
den Vordergrund stellt, d.h. das Kollektiv besteht für Durkheim nicht als ent-
scheidendes Subjekt, aber als zu untersuchende Kausalität, und das ist für ihn das
„moralische Leben“, das dem Kollektiv entspringt. Gleichwohl ist auch für
Durkheim die Orientierung von entscheidender Bedeutung für die Geltung von
Vorstellungen, nur kümmert er sich nicht wie Weber um Kulturbedeutungen, die
sich anhand der Orientierungen verstehen lassen, denn er richtet stattdessen die
Aufmerksamkeit auf die Ursachen für die Orientierung und die damit verbunde-
nen Folgen für Moral und Individuum. Die Aufgabe der von Weber vertretenen
Wissenschaft ist es, ihm zufolge, den subjektiven Sinn zu untersuchen, der dem
Handeln mit kulturellen Artefakten unterliegt und der über die Folgen der Sinn-
haftigkeit informiert. Was vor diesem Hintergrund als Gemeinsamkeit eines Kol-
lektivs besteht, hat abseits von dessen Verständlichkeit keine Geltung, und zwar
ungeachtet tatsächlicher, kontrafaktischer oder ansonsten bestehender, aber un-
berücksichtigter Gemeinsamkeit. Der subjektive Sinn der Gemeinsamkeit ist
hingegen in Durkheims Wissenschaft weitestgehend unerheblich, und insofern
gehört es zu seinen erklärten Forschungszwecken, die Funktionen dessen zu un-
tersuchen, was, gleich seiner Kulturbedeutung, die Gemeinsamkeit eines Kollek-
tivs bestimmt, weil es dieses symbolisiert. Beide, Weber und Durkheim interes-
sieren sich trotz abweichender Zugänge für das, was Gemeinschaft stiftet und
setzen für dessen Erforschung voraus, dass sie ohne soziales Zutun nicht vor-
kommt.
Zur wechselseitigen und der Gemeinschaft vorangehenden Orientierung in-
folge gefühlter Zusammengehörigkeit braucht es für Weber „erst die Entstehung
bewusster Gegensätze gegen Dritte“ (Weber 2002, S. 23). Fehlt nämlich die Ab-
stoßung, so ist die emotionale Berücksichtigung der Gemeinsamkeitsmerkmale
ausgeschlossen, bei der sich Zusammengehörigkeit verwirklicht und Interaktio-
nen zustande kommen, die ansonsten nicht eintreten. „Keineswegs jede Gemein-
samkeit der Qualitäten, der Situation oder des Verhaltens ist eine Vergemein-
schaftung“ (ebd., S. 22; Herv. im Orig.). Durkheim hingegen rechnet hierfür
neben den Interaktionen, die anlässlich eines Verbrechens gegen ein Symbol
ausgelöst werden, auch die Kultfeierlichkeit an. Die Verletzung eines Symbols
mobilisiert „öffentlichen Zorn“ (Durkheim 2008a, S. 153), aber indem Durkheim
aufdeckt, dass dieser Widerspruch essenziell für die Asebie ist, legt er auch die
Bedingung des Symbols offen. Bleibt der Widerspruch gegen die Verletzung
eines Symbols von Seiten der Angehörigen desjenigen Kollektivs aus, dem die
moralische Kraft entspringt, so liegt auch kein Verbrechen vor. Weil sich näm-
lich zum einen in der Bestrafung für diese Verletzung kein anderer Zweck als die
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 309

Schädigung des Verbrechers auffinden lässt und zum anderen das Verbrechen an
sich keinen tatsächlich materiellen Schaden anrichtet, besteht das Verbrechen
darin, die moralische Kraft in ihrer Hypostasierung verletzt zu haben. Auf diese
Weise gelingt es Durkheim, Folgendes zu offenbaren: Wenn der Respekt für ein
Symbol keinen sonstigen Mehrwert hat und ausschließlich um des Symbols wil-
len geleistet wird, dann bleibt als Effekt des Respekts nichts anderes übrig als die
moralische Gemeinschaft des Kollektivs, für welches das Symbol steht, denn auf
der einen Seite bewirkt der Widerspruch gegen ein Verbrechen dichte Interaktio-
nen von dessen Angehörigen, in denen die Geltung des Symbols aktualisiert wird
und auf der anderen Seite bleiben im Falle des fehlenden Widerspruchs auch die
Interaktionen aus, so dass dem Symbol die elementare Voraussetzung abgeht.
Durkheims Schlussfolgerung zum besonderen Straftypus der Sühne anlässlich
verletzter Symbole lautet daher: „Ihre wirkliche Funktion ist es, den sozialen
Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewusstsein
seine volle Lebensfähigkeit erhält“ (ebd., S. 159). Somit tritt hervor, dass die
Wirkungen der Sühne denjenigen gleichen, denen sich das Symbol verdankt. Der
Widerspruch gegen das Verbrechen veranlasst die synthetische Besinnung auf
die Gemeinsamkeit (ebd., S. 154), deren Ausdruck das Symbol ist und hinter der
sich die moralische Kraft des Kollektivs verbirgt, die durch das Symbol reprä-
sentiert wird. Daher folgert Durkheim: „Das Verbrechen ist also eine notwendige
Erscheinung; es ist mit den Grundbedingungen eines jeden sozialen Lebens ver-
bunden und damit zugleich nützlich“ (Durkheim 1984, S. 159).
Die Resultate des Kults weichen von den Wirkungen des Widerspruchs
nicht ab. Besonders deutlich ist das anhand Durkheims Analyse der totemisti-
schen Vermehrungs- und Ahnenkulte erkennbar. Die in der Versammlung voll-
zogenen Handlungen zum Zweck der Vermehrung von Pflanzen oder Tieren, die
als Symbol der Kirche dienen, können faktisch keine Fortpflanzung auslösen,
haben aber trotzdem Wirkungen, die auch im Falle des Ahnenkults vorliegen,
obwohl die zu diesen Anlass wiederum vollzogenen Handlungen, die mit denen
des Vermehrungskults übereinstimmen, nicht dessen Zweck verfolgen. Die ritu-
ellen Handlungen des Vermehrungskults sind also hinsichtlich ihres bekundeten
Zwecks, nämlich der Initiierung von Nachwuchs zum Scheitern verurteilt, was
mit ihnen aber gelingt, ist die Ehrfurcht gegenüber dem heiligen Ding zu aktuali-
sieren, das die Kirche repräsentiert. Im Falle des Ahnenkults, der nicht zum
Zweck der Vermehrung durchgeführt wird, aber diesem Kult dem Ablauf nach
gleicht, liegt ebenfalls diese Wirkung vor. Durkheim notiert hierzu folgendes
Ergebnis:
„Die einzige Art, die kollektiven Vorstellungen, die sich auf die heiligen Wesen be-
ziehen, zu verjüngen, besteht darin, sie an der eigentlichen Quelle des religiösen Le-
bens wieder zu stärken, d.h. in den versammelten Gruppen“ (Durkheim 2010a, S.
507).
310 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

In der periodischen Versammlung, die der Kult darstellt, ist die besondere Auf-
merksamkeit für das Kultobjekt ein synthetisches Resultat, d.h. die Geltung da-
für, dass das Symbol, dem zu Ehren der Kult veranstaltet wird, ein Objekt der
Ehrfurcht ist, entspringt den sozialen Wechselwirkungen der Versammlung. Das
Kultobjekt setzt insofern den Kult voraus, weil sich durch ihn, also durch die
Interaktionen der Versammelten die Bedingung für seinen besonderen Status
aktualisiert. Die Suche nach der Quelle dafür, dass etwas Kultobjekt wird, ist
hingegen in dessen natürlichen Konstitution vergeblich. Das Ding, das Symbol
eines Kollektivs wird, hat nicht die Kraft, Ehrfurcht auf sich zu ziehen. Konkret:
Die Kirche schafft sich ihr Känguru selbst: „Das Känguru ist ein Tier wie jedes
andere. Aber für die Leute des Känguru enthält es ein Prinzip, das es aus dem
Kreis der anderen Lebewesen hervorhebt“ (ebd., S. 506). Abseits der Versamm-
lung ist das Kultobjekt durch seine Abbildung präsent, die ihrerseits Gelegenheit
bietet, sich die moralische Kraft des Kollektivs zu vergegenwärtigen.
Die soziale Herkunft des Symbols offenbart sich also nicht nur durch die
Hypostasierung der Ursachen für Efferveszenz. Die Wirkungen, von denen das
Symbol betroffen ist, wenn sich die Angehörigen des von ihm repräsentierten
Kollektivs angesichts seiner Verletzung versammeln, um sich den Widerspruch
zu äußern und die Tat zu ächten, geschehen ebenfalls, wenn das Kollektiv perio-
disch zu rituellen Handlungen um ihres Symbols willen zusammenkommt. Von
der Versammlung geht daher eine Kraft aus, die auch auf die Versammelten
wirkt. Dieser Effekt der Versammlung ist es, für den Weber ausschließt, dass er
an sich vorkommt. Was Weber anzeigt, wenn er für den Hergang der Verge-
meinschaftung die Opposition akzentuiert, ist Folgendes: Gemeinschaft ist das
Handlungsresultat der Vergemeinschaftung und sie ist somit nicht vorausset-
zungslos gegeben, d.h. ohne Interaktion ist sie ausgeschlossen und selbst die
Gemeinsamkeitsmerkmale können sie nicht bewirken. Mehr noch: Letztere kön-
nen von sich aus nicht einmal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn das
erfordert eine Veranlassung – für Weber ist das primär die „Abstoßung“ – für die
Besinnung auf sie und hiernach für das Handeln anderer, woraus schließlich
Gemeinschaft hervorgeht. Im Denken Durkheims ist nicht die Opposition maß-
geblich, denn was der Sühne gelingt, das schafft auch der Kult. Ein Kollektiv
besteht, ihm zufolge, solange es dessen Angehörigen zum Gegenstand ihrer Be-
sinnung machen. Allerdings richtet sich diese Besinnung nicht auf die Summe
der Angehörigen eines Kollektivs, denn für Durkheim reicht das nicht aus, damit
ein Kollektiv vorliegt. Sie richtet sich auf die Verbindlichkeit gegenüber einem
Kollektiv. Der Drang eines Kollektivs wird vom Individuum verinnerlicht und
dessen Quelle wird etwas zugeschrieben, was dem Individuum äußerlich ist.
Versammelt sich das Kollektiv, um die Aufmerksamkeit auf den hypostasierten
Drang, also auf das Symbol seiner selbst zu richten, so lebt die Besinnung auf
das Kollektiv auf. Weil es ein Symbol ist, das Gegenstand dieser Kontemplation
ist und das auf synthetischen Wechselwirkungen zurückgeht, besinnt man sich
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 311

somit nicht auf die Summe der Angehörigen eines Kollektivs, sondern auf des-
sen moralische Kraft. Insofern der Kult die moralische Gemeinschaft verursacht,
die ansonsten durch Widerspruch und Sühne bewirkt wird, ist Opposition für
dieses Ergebnis nicht unerlässlich, d.h. es ist nicht der Opposition allein vorbe-
halten, für Gemeinschaft zu sorgen, da sie auch durch den Kult erzielt werden
kann. Die Bedingung der Gemeinschaft tritt somit an der Übereinstimmung zwi-
schen Kult und Opposition hervor: Gemeinschaft beruht auf der gemeinsamen
Unterordnung, die eine sich synthetisch vollziehende Besinnung ist, gegenüber
einer moralischen Kraft. Sich einer Nation zurechnen, heißt vor dem Hinter-
grund, von einer moralischen Kraft betroffen sein, die sich in ihren Symbolen
hypostasiert. Die moralische Kraft, die sich auf das Individuum auswirkt, findet
es in sich aber nicht fertig vor. Es liegt demnach weder die nationale Gemein-
schaft an sich vor, noch wird Zusammengehörigkeit von Angehörigen einer Na-
tion erfahren, ohne dass sie sich ihrer moralischen Kraft unterordnen, also ohne
eigenes Handeln. Die Beteiligung an dem Handeln, aus dem die Nation hervor-
geht, ist demnach nicht vorbestimmt.
Weber und Durkheim schließen somit jeweils aus, dass Gemeinschaft an
sich besteht bzw. aus dem Nichts kommt, also keine Ursachen hat. Sie ist sozia-
len Ursprungs, und selbst dafür braucht es Anlässe, denn bloße Gemeinsamkeit
eines Symbols bewirkt kein Handeln. Die Nation, und das ist die von Weber ver-
anschlagte Gemeinschaft im Hinblick auf den eigenen Staat, besteht, unabhängig
von den geltend gemachten Symbolen nicht an sich, denn ihre Symbole sind da-
rauf angewiesen, dass sich der synthetische Ursprung dessen wiederholt, wofür
sie stehen. Webers Ablehnung einer auf Gemeinsamkeitsmerkmalen beruhenden
Definition der Nation ist ein Schlüssel, um neben der bereits erarbeiteten Ab-
hängigkeit der Nation von der Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit
ihre Abhängigkeit von Ursachen zu erarbeiten und ihren sozialen Ursprung auf-
zudecken. Es sind zunächst die Heterogenität und Inkonsistenz der nationalen
Symbole, die verraten, dass letztere ohne soziales Zutun nicht für Zusammenge-
hörigkeit sorgen können. Erst das synthetische Handeln der Angehörigen einer
Nation, in deren gemeinsamen Orientierung die Symbole der Nation stehen,
stellt die Gemeinschaft her. Deckt man somit auf, dass die erforderliche Gemein-
schaft der Nation nicht an sich besteht, so erbringt man damit einen Nachweis
dafür, dass die Nation nicht unabhängig von Ursachen ist. Mithilfe Durkheims
lässt sich zwar zeigen, dass die nationalen Symbole im Wesentlichen die morali-
sche Funktion ausüben, die moralische Gemeinschaft der Nation mitzubewirken,
reicht der Hergang der nationalen Gemeinschaft für die Nation nicht aus. Ob-
wohl die sozial herbeigeführte Zusammengehörigkeit für die Nation unerlässlich
ist, liegt darin kein ausreichendes Merkmal vor, um sie auf dieser Grundlage zu
definieren, denn die Gemeinschaft erlaubt nicht, die Nation von nicht-nationalen
Kollektiven abzuheben.
312 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Nun zum nächsten Anliegen des Arbeitsschritts: Gemeinschaft ist nicht das
Wesensmerkmal der Nation, sondern ihre Ausrichtung auf den eigenen Staat ist
es, durch die sich die Nation von anderen Gemeinschaften abhebt. Inwiefern
kann aber der eigene Staat seinerseits die Zusammengehörigkeit mitbewirken?
Der Anspruch der Nation auf den eigenen Staat macht Gemeinschaft möglich,
die sonstigen Gemeinschaften abgeht, und anhand dieses Effekts wiederum lässt
sich das Wesensmerkmal der Nation bekräftigen. Um der Gemeinschaft nachzu-
gehen, die in einem Zusammenhang mit der Orientierung am Anspruch auf den
eigenen Staat steht, lassen sich nun Webers Überlegungen zum Machtprestige
und Verwandtschaftsglauben nutzen. Ungeachtet der Tatsache, dass jeder Herr-
schaftsverband, so Weber, dafür qualifiziert ist, Gelegenheit zur Orientierung an
seinem Machtprestige zu bieten und den Verwandtschaftsglauben auszulösen,
sind letzterer und das Machtprestige dem Anspruch auf den eigenen Staat inne-
wohnend. Im nächsten Schritt soll untersucht werden, wie der Staat die Gemein-
schaft derjenigen Nation mitbewirken kann, die über kein sonstiges Gemeinsam-
keitsmerkmal verfügt und wie ihm das ebenfalls im Falle derjenigen Nation ge-
lingt, für deren Gemeinschaft die eigene Sprache, Religion etc. im Vordergrund
stehen, denn auch die Letztere weist den Anspruch auf den eigenen Staat auf und
kann somit im Hinblick auf die in dessen Schatten stehende Gemeinschaft unter-
sucht werden.
Zum Machtprestige: Die berufliche Beschäftigung in einem Herrschaftsver-
band führt, Weber zufolge, dazu, Machtprestige zu erfahren. Das gilt bereits für
die Mitarbeit in einem Verwaltungsstab und besonders für die Arbeit in der Poli-
tik, die zwar beide jeweils besoldet werden, mit denen aber auch soziale Ehre
verbunden ist (vgl. Weber 1994, S. 48). Vor allem die, die hauptamtlich in der
Politik angestellt sind, müssen sich, so Weber, über die Nachteile des Machtpres-
tiges bewusst werden. Ihnen legt er nahe, das natürliche Geschäft der Politik,
nämlich die Durchsetzung von Zielen und die Bewahrung der Macht gegenüber
der persönlichen Eitelkeit nicht in den Hintergrund zu rücken. Wer Politik be-
treibt, um, statt die sachlichen Aufgaben des Herrschaftsverbands zu erledigen,
den Genuss zu erleben sucht, dass andere Zeuge der eigenen Macht sind, der ist
für diesen Beruf nicht qualifiziert. Weber dazu:
„[…] gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine
der treibenden Kräfte aller Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der
politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle
Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht
rein als solcher“ (ebd., S. 74).
Wird Politik in erster Linie um der eigenen Eitelkeit willen betrieben, so ist das
eine Gefahr für die sachliche Verwendung der Macht. Anders ist das, wenn das
Wohlgefallen der Macht, so Weber, die Tätigkeit mobilisiert, politische Ziele zu
realisieren. Während der eitle Politiker die Bewunderung der eigenen Macht von
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 313

Seiten anderer pflegt, sorgt sich derjenige, der seine Eitelkeit erfolgreich zurück-
stellen kann, um die Sicherung der Macht.
Das Machtprestige betrifft aber auch andere. Auf der einen Seite orientieren
sich Politiker am Machtprestige, weil sie im Dienst des Herrschaftsverbands
stehen (ebd., S. 73) und auf der anderen Seite orientieren sich diejenigen am
Machtprestige, die der Nation zugerechnet werden, weil sie sich wie diejenigen,
die sonst einem Herrschaftsverband untergeordnet sind, mit ihm identifizieren.
„Alle `Macht´ politischer Gebilde“, notiert Weber, „trägt in sich eine spezifische
Dynamik: sie kann die Basis für ein spezifische `Prestige´-Prätension ihrer Angehö-
rigen werden, welche ihr Verhalten nach außen beeinflusst“ (Weber 2009, S. 65).
Diese Machtdynamik ist, ihm zufolge, nicht besonderen Herrschaftsverbänden
eigen, sie gibt es „von jeher“ und sie kann das machtbedingte Prestigegefühl
derjenigen auslösen, die für einen Herrschaftsverband tätig sind, aber auch auf
Seiten der Untergeordneten überhaupt auslösen. Das Machtprestige bietet sich
auch den „Massen“ der Untergeordneten an (ebd., S. 74). Weber bemerkt, dass
es gezielt zur Mobilisierung der Hingabebereitschaft der Untergeordneten zum
Einsatz kommt. Ist diese in der Tat einmal erforderlich, so lässt sich, schreibt er,
die Wirkung des Machtprestiges insbesondere bei den Untergeordneten über-
haupt erfassen, da sie im Gegensatz zu denjenigen, die in einem Herrschaftsver-
band beschäftigt sind, weniger riskieren (ebd.). Während die Letzteren durch die
Gefährdung des Herrschaftsverbands auch ihr Einkommen riskieren, steht im
Fall der mobilisierten Masse der Untergeordneten die Verteidigung des Macht-
prestiges im Vordergrund. Mit anderen Worten: Das Engagement von jenen
kann sich zwar der Macht als solcher verdanken, es kann aber auch im Hinblick
auf die Sicherung der persönlichen Einkommensquelle eintreten, wohingegen bei
diesen die Macht des Herrschaftsverbands vorwiegend um der Macht willen ge-
schützt wird (ebd., S. 66). Weil es zudem für den Herrschaftsverband konstitutiv
ist, sich selbst nach außen behaupten zu können (ebd., S. 65), sind die Orientie-
rung an seinem Machtprestige und Abstoßung unmittelbar ineinandergreifend.
Somit kann zwar zum einen die tatsächliche Opposition nach außen ein Anlass
sein, sich das Machtprestige zu vergegenwärtigen, diesem ist unabhängig von
defensiven Beweggründen, die gelegentlich und unregelmäßig auftreten, die
Ausschließung innewohnend. Im Falle der Nation treffen die Wirkungen des
Machtprestiges des Herrschaftsverbands ebenfalls zu und sie sind, so Weber,
sogar entscheidend:
„Gemeinsame politische Schicksale, d.h. in erster Linie gemeinsame politische
Kämpfe auf Leben und Tod knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker
wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es,
welche […] dem `Nationalitätenbewusstsein´ erst die letzte entscheidende Note ge-
ben“ (ebd., S. 59).
314 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

In der gemeinsamen Bereitschaft, einen Herrschaftsverband zu bewahren, sieht


Weber also eine Wirkung von dessen Machtprestige, welche einen Beitrag für
die Gemeinschaft der Nation leistet.
Webers Aussagen zum Machtprestige eines Herrschaftsverbands im Allge-
meinen und des nationalen Herrschaftsverbands im Speziellen erweisen im Hin-
blick darauf, den Zusammenhang zwischen dem Staat und der Gemeinschaft der
Nation nachzugehen, folgenden Nutzen: Weder auf Seiten der Angestellten, im
Falle derer es zwar nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich um des eigenen Be-
schäftigungsverhältnisses, aber auch um der reinen Macht wegen verwenden,
noch auf Seiten der „Massen“ der Untergeordneten, gleich ob es sich um Ange-
hörige einer Nation handelt, wird die Einsatzbereitschaft durch physischen
Zwang verschuldet. Anders ausgedrückt: Die von Weber beschriebenen Effekte
des Machtprestiges werden nicht durch das einzig dem Staat (vgl. Weber 2002,
S. 30) spezifische Mittel der Gewaltsamkeit herbeigeführt. Das Machtprestige
kann die freiwillige Einsatzbereitschaft auslösen. Die Wirksamkeit des Macht-
prestiges stimmt nicht mit derjenigen des physischen Zwangs überein, der vom
Staat ausgehen kann. Für ihn ist die Freiwilligkeit insofern unerheblich, denn er
kann notfalls Unterordnung erzielen, auch wenn sie nicht aus freien Stücken er-
folgt. Weil also diejenigen, die durch das Machtprestige des Herrschaftsver-
bands bewegt werden, sich freiwillig für ihn einsetzen, steht hinter dem Macht-
prestige eine nicht-physische Kraft, und das ist die moralische Kraft. Somit lässt
sich anhand Webers Überlegungen zum Machtprestige offen legen, dass der
Staat ein Gegenstand der Hypostasierung moralischer Kraft ist, d.h. er ist das
Symbol eines Kollektivs. Die freiwillige Unterordnung ist das wesentliche
Merkmal, das die Schlussfolgerung erlaubt, dass das staatliche Machtprestige
trotz der zum Vermögen des Staates gehörenden Gewaltsamkeit nicht ein physi-
scher Zwang, sondern eine Kraft ist, die deswegen wirkt, weil sie den Staat
durchdringt.
Im Hinblick auf die Nation lässt sich dem Machtprestige noch mehr ent-
nehmen, nämlich: Die Ausrichtung auf den eigenen Staat, also der Anspruch auf
ihn, ist ein Zeichen, das konstitutiv für die moralische Kraft der Nation ist.
Durkheim setzt voraus, dass das, was die moralische Kraft eines Kollektivs sym-
bolisiert, an deren Hervortreten mitbeteiligt war. Der synthetische Ursprung der
moralischen Kraft verlangt „materielle Vermittler“ (Durkheim 2010a, S. 341),
und das können Zeichen von Gegenständen der Natur, Personen oder Formeln
sein (ebd., S. 343). Das Zeichen, das für die Synthese zum Einsatz kommt und
dem sich die moralische Kraft der Nation und somit auch ihr Kollektiv verdankt,
ist der Anspruch auf den eigenen Staat. Insofern der Staat das Symbol der Nation
ist, resultiert die nationale Gemeinschaft daraus, dass Feinde des Staates zu Ob-
jekten des Widerspruchs werden, oder das, was ihn abbildet, Gegenstand eines
Kults ist. Geht freiwillige Unterordnung gegenüber dem Staat auf die Orientie-
rung an seinem Machtprestige zurück, so ist das ein Anzeichen dafür, dass er ein
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 315

Symbol der Nation ist. Somit ist der vermögend, die Gemeinschaft der Nation
mitzubewirken.
Nun zum Verwandtschaftsglauben: Nach Webers Auseinandersetzung im
Manuskript Gemeinschaften ist die Identifikation der ethnischen Gruppe mit der
Nation hinfällig, wenngleich dieser der Verwandtschaftsglaube nicht fremd ist.
Das lässt sich folgendermaßen herleiten: Zu den Interaktionen, die darauf beru-
hen, dass sich die Handelnden an der geteilten, subjektiv für wahr gehaltenen,
aber tatsächlich nicht bestehenden Abstammung orientieren, gehören solche, die
an einem Herrschaftsverband ausgerichtet sind. Erinnerungen, die in einem Zu-
sammenhang mit der erfolgreichen oder misslungenen Behauptung eines Herr-
schaftsverbands stehen, dokumentieren diesen ethnischen Gemeinsamkeitsglau-
ben. Das bringt Weber mehrfach zum Ausdruck:
„Gemeinschaften können ihrerseits Gemeinsamkeitsgefühle erzeugen, welche dann
dauernd, auch nach dem Verschwinden der Gemeinschaft, bestehen bleiben und als
ethnisch empfunden werden. Insbesondere kann die politische Gemeinschaft solche
Wirkungen üben“ (Weber 2009, S. 45).
Daran lässt sich Folgendes anknüpfen:
„Wie außerordentlich leicht speziell politisches Gemeinschaftshandeln die Vorstel-
lung der Blutsgemeinschaft erzeugt, zeigt der Verlauf der ganzen Geschichte“ (ebd.,
S. 48).
Im Weiteren bemerkt er:
„Die Entstehung eines spezifisch blutsverwandtschaftsartig reagierenden Gemeinge-
fühls für rein künstlich abgegrenzte politische Gebilde ist noch heute nichts selte-
nes“ (ebd., S. 49).
Schließlich schreibt er:
„Praktisch aber pflegt die Existenz des `Stammesbewusstseins´ wiederum etwas
spezifisch Politisches zu bedeuten: dass nämlich bei einer kriegerischen Bedrohung
von außen oder genügendem Anreiz zu eigener kriegerischer Aktivität nach außen,
ein politisches Gemeinschaftshandeln besonders leicht auf dieser Grundlage, also als
ein solches der einander gegenseitig subjektiv als blutsverwandte `Stammesgenos-
sen´ (oder Volksgenossen´) Empfindenden entsteht“ (ebd.).
Und endlich:
„Dieser Sachverhalt: dass das `Stammesbewusstsein´ der Regel nach primär durch
politisch gemeinsame Schicksale und nicht primär durch `Abstammung´ bedingt ist,
dürfte nach allem Gesagten eine sehr häufige Quelle `ethnischen´ Zusammengehö-
rigkeitsglaubens sein“ (ebd.).
Webers Äußerungen lässt sich im Ganzen entnehmen, dass es nicht nur Erinne-
rungen an eine Gemeinschaft sind, die aus Interaktionen zugunsten der Verteidi-
316 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

gung eines Herrschaftsverbands hervorgehen, sondern bereits der Hergang eben


dieser Gemeinschaft beruht, wie die Erinnerung an sie, darauf, dass im Denken
der Handelnden die Gemeinsamkeit, und das ist der Herrschaftsverband, eth-
nisch interpretiert wird. Damit erklärt Weber, dass die politische Erinnerung,
aber auch die Unterordnung gegenüber einem Herrschaftsverband als gemeinsa-
me Qualität für den Verwandtschaftsglauben ausreicht. Es braucht nicht erst den
Herrschaftsverband einer Nation, um ihn zu wecken, denn er kommt selbst dort
vor, wo die Herrschaft den Untergeordneten nicht als ihnen gehörend gilt. Be-
reits die versittlichte Unterordnung genügt also, damit zwischen denen, die sich
freiwillig und ohne Rücksicht auf die eigene Person für einen Herrschaftsver-
band einsetzen, die wechselseitige Orientierung an der mutmaßlichen Verwandt-
schaft entsteht. Im Falle der Nation sind zwar die Voraussetzungen für diese
Orientierung gegeben, denn erstens verfügt sie durch den eigenen Herrschafts-
verband über die hierfür zuträgliche Gemeinsamkeit und zweitens gehört die
ethnische Gemeinsamkeit zu den zweckdienlichen Begründungen, um sich als
Nation zu behaupten. Aber nicht nur die Nation kann den ethnischen Gemein-
samkeitsglauben erzeugen, denn er ist in keinem Herrschaftsverband ausge-
schlossen, und daher folgert Weber schließlich, dass er einen hilfreichen Dienst
für die Legitimitätspflege im Allgemeinen erweist (ebd., S. 45 f.). Er hält zwar
daran fest, dass eine ethnische Gruppe nicht mit der Nation zusammenfällt, das
wesentliche Merkmal der Letzteren erfüllt aber die Voraussetzung, um den Ver-
wandtschaftsglauben auszulösen.
Durkheim begegnet dem Verwandtschaftsglauben in der Untersuchung der
australischen Religion. Seine Ergebnisse zur Konsubstanzialität in einer Kirche
sind hilfreich, weil sie sich im Hinblick darauf abstrahieren lassen, in der mythi-
schen Metapher der Verwandtschaft die Bedingungen der Gemeinschaft aufzule-
sen. Die australische Religion weist den Verwandtschaftsglauben wie folgt auf:
In den Mythen der australischen Gläubigen finden sich Schilderungen, aus denen
hervorgeht, dass sie vom Totemtier oder der Totempflanze abstammen (vgl.
Durkheim 2010a, S. 199 ff.), sich selbst einer Wiedergeburt der Ahnen ihrer Kir-
che oder der Befruchtung durch das heiligste Kultinstrument verdanken (ebd., S.
375) und nicht nur mit den übrigen Angehörigen ihrer Kirche, sondern auch mit
all denjenigen belebten und unbelebten Dingen der Natur verwandt sind, die man
der eigenen Kirchen innerhalb einer Phratrie zuordnet (ebd., S. 220).
Die mythisch bekundete Verwandtschaft verdient, so Durkheim, von Seiten
der Wissenschaft beachtet zu werden, wenngleich es sich nicht um zutreffende
Darstellungen handelt. Der Irrtum im Verwandtschaftsglauben lässt sich zwar
offenbaren, jedoch ist dieser für die Untersuchung der moralischen Kraft nütz-
lich. Die tatsächliche Täuschung hinsichtlich der Genealogie von allem, was man
einer Kirche zurechnet, steht im Schatten von Effekten, die in der Tat vorliegen.
Weil sich der Verwandtschaftsglaube objektiv analytisch widerlegen lässt, sind
nicht zugleich auch die Ursachen hinfällig, die sich in dessen verborgenen Tiefe
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 317

für bestimmte Erscheinungen auffinden lassen, und das ist nicht der Ursprung,
aus dem er, der irrtümliche Verwandtschaftsglaube hervorgeht. Mit anderen
Worten: Die fehlerhafte Genealogie ist nicht das Resultat dieser Ursachen, sie
ist, so Durkheim, deren inkorrekte Erklärung. Aus diesem Grund, nämlich weil
die Erklärung für die Wirkung von Seiten derjenigen, die von ihr betroffen sind,
belanglos ist, kann ihnen die Entlarvung des Verwandtschaftsglaubens nichts
anhaben, und somit wird verständlich, warum der Irrtum von denen, die an die
Verwandtschaft glauben, nicht einschließt, dass die Kräfte, die auf sie wirken,
nicht wirklich sind. Erklärungen der Handelnden sind daher für Durkheim unbe-
deutend. Das kommentiert er wie folgt:
„Wenn der Wissenschaftler das Axiom aufstellt, dass die Eindrücke von Wärme und
Licht, die die Menschen empfinden, einer objektiven Ursache entsprechen, so
schließt er doch nicht, dass die Ursache so wäre, wie sie unseren Sinnen erscheint.
Ebenso gilt: Wenn die Eindrücke, die die Gläubigen empfinden, nicht erdichtet sind,
so bilden sie doch keine privilegierte Intuition. Es gibt keinen Grund zur Annahme,
dass sie uns besser über ihr Objekt belehren als die gewöhnlichen Empfindungen
über die Natur der Körper und ihrer Eigenschaften“ (Durkheim 2010a, S. 612).
Weil folglich die Feststellung, dass sich der Verwandtschaftsglaube an eine fak-
tisch nicht bestehende Verwandtschaft richtet, nicht ebenso das gegenstandslos
macht, was die Handelnden mit ihm zu erklären beanspruchen, indiziert der
Verwandtschaftsglaube überall dort, wo man auf ihn stößt, dass bestimmte
Wirkkräfte vorhanden sind. Für deren Erkundung sind Durkheims Überlegungen
zur Seele hilfreich.
Ist ein Individuum einem Kollektiv zugerechnet, so reicht das, ihm zufolge,
nicht als Voraussetzung für den Bestand eines Kollektivs. Die formale Zurech-
nung zu einem Kollektiv, sagt für Durkheim noch nicht aus, was ihm wesentlich
ist. Indessen braucht es die Orientierung seitens des Individuums auf Ziele, die
das Kollektiv betreffen und mit deren Realisierung dessen Erhaltung verbunden
ist. Das lässt sich wie folgt erklären: Mit der Aufrechterhaltung des Kollektivs ist
nicht inbegriffen, eine bestimmte Anzahl an Individuen sicherzustellen, aus de-
nen sich das Kollektiv zusammensetzt, denn was bewahrt wird, ist seine morali-
sche Kraft und nicht „eine arithmetische Summe von Individuen“ (Durkheim
2006, S. 151). Durkheims Herleitung des Objekts moralischer Ziele verrät, in-
wiefern die moralische Kraft einem Kollektiv wesentlich ist. Er konstatiert: Wer
moralisch handelt, tut das weder zum eigenen noch zum Nutzen anderer, und
letzteres schließt ein, dass sich Moral nicht am Effekt zugunsten vieler Individu-
en misst (ebd., S. 111). Moralisches Handeln liegt vor, wenn es sich auf ein kol-
lektives Wesen richtet, das Durkheim folgendermaßen einsichtig macht:
„Die Menschengruppen besitzen also eine Art und Weise zu denken, zu fühlen und
zu leben, die sich von der unterscheidet, die ihren Mitgliedern eigen ist, wenn sie
isoliert denken, fühlen oder leben“ (ebd., S. 113).
318 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Er begreift das Kollektiv insofern als denkend, fühlend und lebend, als dessen
Angehörigen von Vorstellungen und Verhaltensregeln bewegt werden, die im
Ursprung nicht auf ein Individuum zurückgehen, sondern sich „aus der Mitwir-
kung einer Pluralität von vergesellschafteten Individuen gebildet haben“ (ebd., S.
167), d.h. sie sind synthetischen Ursprungs und lassen sich im Individuum nie-
der. Das Kollektiv bewahrt sich somit, wenn es das Handeln seiner Angehörigen
auf Ziele lenkt, die sein Wesen zum Ziel haben, wobei diese Funktion der über-
individuellen Ziele nicht aus ihnen hervorgeht, d.h. die Aufrechterhaltung des
Kollektivs wird mit ihnen nicht explizit gemacht, sie ist nicht offensichtlich,
denn es reicht aus, dass sich die moralische Kraft in den Zielen versinnbildlicht.
Das deckt Durkheim anhand der Immoralität auf, die sich insofern gegen das
Wesen des Kollektivs richtet, als sie zwar keinen empirischen Schaden bewirkt,
aber so behandelt wird, als ob sie einen solchen bewirkt hat (vgl. Durkheim
2008a, S. 159). Wenn die Befolgung der überindividuellen Ziele keinen Nutzen
hat, dann offenbart sich der Nutzen im Falle ihrer Missachtung, nämlich die
Sanktionierung der moralischen Kraft.
Damit also ein Kollektiv gesichert ist, muss das Handeln auf Seiten der An-
gehörigen so ausgerichtet sein, dass sie sich dessen nicht-physischer Kraft unter-
ordnen (vgl. Durkheim 1973, S. 236). Was er das Wesen des Kollektivs nennt,
ist, und das betont er, keine unhintergehbare Substanz (vgl. Durkheim 1984, S.
88). Gegen diese Gleichsetzung wehrt er sich, weil es schließlich sein Anliegen
ist, eine Kausalität freizulegen und nicht von einem autonomen Ursprung des
Kollektivs auszugehen. Dessen Wesen beruht nicht darauf, dass sich seine An-
gehörigen darum sorgen, all diejenigen zusammenzuhalten, aus denen sich das
Kollektiv zusammensetzt, sondern es stützt sich darauf, dass sie sich die Geltung
von Vorstellungen und Verhaltensregeln vergegenwärtigen, die sodann ihre
Wirksamkeit in ihnen entfaltet. „Die Moral beginnt also dort, wo das Gruppenle-
ben beginnt, weil erst dort Selbstlosigkeit und Hingabe einen Sinn erhalten“
(Durkheim 1976, S. 105).
Dass ein Kollektiv denken, fühlen und leben kann, ergibt sich für Durkheim
daraus, dass es im Individuum einen Teil gibt, der von diesem unabhängig ist,
weil es nicht an den Körper des Individuums gebunden ist. Das Individuum lässt
sich in Teile sortieren, von denen ein Teil eine Quelle aufweist, die ihm äußer-
lich ist, so dass dieser Teil nicht das Schicksal von dessen Körper teilt: Durk-
heims Seele steht für die Moral im Individuum, und sie kommt, schreibt er, des-
wegen zu allen Zeiten vor, weil sie für den Bestand des Kollektivs unerlässlich
ist. „Sie reicht über uns hinaus und ist uns zugleich innerlich, da sie nur in uns
und durch uns leben kann“ (ebd., S. 108). Die synthetisch gebildeten Vorstellun-
gen und Verhaltensvorgaben eines Kollektivs setzen, weil sein Wesen freilich
nicht aus dem Nichts kommt, voraus, dass sie im Individuum eine Wirkung aus-
lösen. Die Seele und somit die Dualität des Individuums sind daher, so Durk-
heim, universell: Die mythische Vorstellung von einer immateriellen, sakralen
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 319

und den Sinnen entzogenen Substanz eines jeden Individuums, die vom Körper
verschieden ist und es überlebt, lässt sich zwar nicht nachweisen, sie besitzt aber
trotzdem eine Wirklichkeit, nämlich die elementare Voraussetzung des Kollek-
tivs (vgl. Durkheim 2010a, S. 392). Die moralische Kraft ist synthetischen, also
kollektiven Ursprungs und sie verweilt nur, wenn sie das Individuum bedrängt.
Es nimmt davon Notiz, jedoch ist es nicht vermögend, die Wirksamkeit, von der
es solitär betroffen ist, auf die Synthese zurückzuführen, auf der sie beruht. Da-
rin sieht Durkheim den Ursprung der universellen mythischen Vorstellung des
vom Körper unabhängigen Teils des Individuums. Von der misslungenen Erklä-
rung bleiben aber die tatsächlichen Wirkkräfte unberührt. Er schreibt:
„Um diese Dualität fassbar zu machen, war es zweifellos nicht nötig, sich unter dem
Namen Seele eine geheimnisvolle und nicht darstellbare Substanz vorzustellen, die
dem Körper entgegengesetzt ist. Aber hier, wie beim Begriff des Heiligen bezieht
sich der Irrtum auf den Buchstaben des benützten Symbols und nicht auf die Wirk-
lichkeit der symbolisierten Tatsache. Wahr bleibt, dass unsere Natur doppelt ist: in
uns liegt ein Funke von Gottheit, weil in uns ein Funke jener großen Ideale glüht,
die die Seele der Kollektivität sind“ (ebd., S. 393).
In Durkheims Denken ist es auf der einen Seite nicht vorgesehen, dass das We-
sen des Kollektivs die Individuen, in denen es sich verkörpert, also wirkt, voll-
ständig homogenisiert, da es ausgeschlossen ist, dass es von Seiten des Individu-
ums nicht einzigartig ausgelegt wird, woraus sich schließlich seine Persönlich-
keit schöpft (ebd., S. 398). Auf der anderen Seite hat das Individuum das, was es
für seine Persönlichkeit fruchtbar macht, mit anderen gemeinsam, da es notwen-
dig nicht dessen isolierte Erfindung sein kann. Was es für die Persönlichkeit
braucht, ist ihm äußerlich. Durkheim dazu:
„Zu einem wahrhaft menschlichen Wesen macht uns allein das, was wir von jener
Gesamtheit von Ideen, Gefühlen, Glaubensinhalten und Verhaltensvorschriften, die
man Zivilisation nennt, uns anzueignen vermögen“ (Durkheim 1976, S. 108).
Wichtig ist, dass der vom Körper verschiedene Teil verschwindet, sobald man,
gleichwohl das eine „unerfüllbare Abstraktion“ ist, das Individuum auf sich stellt
(vgl. Durkheim 2006, S. 121). Das schließt nicht nur die daraus konstruierte Per-
sönlichkeit ein, sondern hierzu gehört auch die Voraussetzung für das Selbstbe-
wusstsein einerseits und die Lebensfähigkeit andererseits. Das Erstere wird sich,
so Durkheim, unmöglich entwickeln, wenn dem Individuum die Erfahrung ab-
geht, Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten, für die nur dann die Chance
besteht, wenn es Ziele realisiert, deren Erfinder es nicht ist (vgl. Durkheim
2010a, S. 314). Beides, die Richtung, der das Individuum folgt, und der Applaus,
der ihm gebührt, wenn dieses zielgerichtete Handeln erfolgreich ist, sind ihm
äußerlich, und daher ist jeder Versuch hoffnungslos, Selbstbewusstsein ohne
äußere Zusätze zu generieren. Die Lebensfähigkeit kann das Individuum schließ-
lich insofern nicht eigenständig hervorbringen, als es seine Selbstbeherrschung
320 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

und damit die elementare Voraussetzung für Zufriedenheit der Tatsache ver-
dankt, dass sich die moralische Kraft in ihm niederlässt (vgl. Durkheim 2006, S.
99).
Folglich: Auf der einen Seite erhält sich das Kollektiv, wenn das Individu-
um dessen Wesen zum Gegenstand seines Handelns macht, während auf der an-
deren Seite das Individuum vermöge der Wirksamkeit des kollektiven Wesens in
ihm besteht. Anders ausgedrückt: Die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv wirkt
sich zu dessen Gunsten aus, wenn sie nicht nur formell ist, sondern auch ein-
schließt, dass sich das Individuum überindividuellen Zielen unterordnet,
wodurch es deren Herkunft bekräftigt. Sie besitzen nur insofern Geltung, als ihre
moralische Kraft im Individuum wirkt, was wiederum zu seiner Voraussetzung
gehört. Jedoch ist diese Unterordnung physisch überhaupt nur in der Interaktion
des Individuums mit anderen möglich, die dem Kollektiv zugehörig sind (ebd.,
S. 130). Das zu einem Kollektiv gehörende Individuum befolgt überindividuelle
Ziele, und diese Unterordnung erst hebt es von der bloß formalen Zugehörigkeit
zu einem Kollektiv ab, da es diesem einen unverzichtbaren Dienst erweist. Wirkt
sich die moralische Kraft im Individuum aus, so macht es sich Verpflichtungen
gegenüber anderen bewusst, die dem Kollektiv zugerechnet sind. Diese Verge-
genwärtigung ist ebenfalls qualitativ etwas anderes als sich bloß deren formale
Zugehörigkeit bewusst zu machen, denn mit letzterer ist keine Wirkung im Indi-
viduum verbunden. Die bewusste Verpflichtung gegenüber anderen steht im Zu-
sammenhang damit, dass es eine ihm äußere Kraft registriert, der es unterlegen
ist. Durkheim hebt nun hervor, dass die moralische Kraft, deren Ausdruck die
Verpflichtung gegenüber den Angehörigen des Kollektivs ist, nicht in diesen
ihren Ursprung hat, sich aber in ihnen hypostasiert.
„An der Gesellschaft hängen, heißt am sozialen Ideal hängen. In jedem von uns liegt
ein wenig von diesem Ideal. Jeder von uns nimmt an diesem Kollektivtypus teil, der
die Einheit der Gruppe ausmacht, der die eigentlich heilige Sache ist, und folglich
nimmt jeder von uns an dem religiösen Respekt teil, den dieser Typus inspiriert. Der
Anschluss an die Gruppe beinhaltet also in indirekter, aber fast notwendiger Weise
den Anschluss an die Individuen […]“ (ebd., S. 131).
In den für das Menschsein konstitutiven Eigenschaften der Angehörigen eines
Kollektivs ist nichts vorhanden, was die Verpflichtung ins Werk setzen kann,
d.h. die moralische Kraft geht im Ursprung nicht auf sie zurück. Die Angehöri-
gen, denen gegenüber die Verpflichtung realisiert wird, entfachen nicht die Wir-
kung, sondern das Wesen des Kollektivs. Die Verpflichtung des Individuums
gegenüber anderen schließt ein, dass wiederum diese ihrerseits jenem gegenüber
verpflichtet sind, weil sich auch auf sie die moralische Kraft des Kollektivs aus-
wirkt. Deswegen hypostasiert sich schließlich die Herkunft der Verpflichtung an
ihnen. Somit findet auf beiden Seiten die Hypostasierung der von außen kom-
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 321

menden, nicht-physischen Bedrängung in den Angehörigen des Kollektivs statt,


wobei sie faktisch nicht von den isolierten Einzelnen kommt. Durkheim dazu:
„Da wir alle den göttlichen Stempel tragen, müssen die Gefühle, die uns die Gottheit
eingibt, sich auf natürliche Weise auch auf die übertragen, die mit uns wetteifern,
Gott zu erschaffen. Wir lieben Gott in ihnen, denn nur unter dieser Bedingung hat
unsere Liebe einen moralischen Wert“ (ebd., S. 151).
Eines der zentralen Anliegen in Durkheims Werk ist es, die mutualen Bedingun-
gen von Kollektiv und moralischer Kraft einerseits und Individuum andererseits
zu untersuchen. Während er die wechselseitige Abhängigkeit in den Formen so
zum Gegenstand macht, dass er zeigt, wie die heiligen Dinge, in denen sich die
moralische Kraft hypostasiert, zum einen nicht aus sich selbst hervorgehen und
zum anderen für die Kirche und den Gläubigen unverzichtbar sind (vgl. Durk-
heim 2010a, S. 610 ff.), geht er im Selbstmord den Faktoren nach, die eine
Schwächung der moralischen Kraft und infolgedessen auch eine Belastung für
das Individuum verschulden. Auf diese Weise erbringt er folglich den Nachweis
dafür, dass zwischen jenen beiden kein Antagonismus besteht (vgl. Durkheim
2006, S. 118). Die von ihm konstatierte Universalität der Seele tritt in dieser
Beziehung hervor. In seinem Resümee über die wechselseitige Abhängigkeit von
moralischer Kraft und Individuum bringt er ihre Universalität wie folgt zum
Ausdruck: „Somit kann man sagen, dass sie ein abhängiges Gebilde ist: aber es
handelt sich um ein abhängiges Gebilde im logischen, nicht im chronologischen
Sinn des Wortes“ (Durkheim 2010a, S. 393). Auf der einen Seite wird sich näm-
lich das Individuum darüber bewusst, dass eine fremde Kraft es transzendiert
und auf der anderen Seite tritt ihm in der durch die moralische Kraft veranlassten
Interaktion die Würde der Handlungspartner entgegen, die ihnen insofern fremd
ist, als ihre Schöpfung von ihnen unabhängig ist. Weil die Seele trotz dieser Un-
abhängigkeit für die moralische Kraft unerlässlich ist, aber auch das Individuum
unmöglich auf sie verzichten kann, gibt es keine Zeit, in der sie unbekannt ist.
Mit der Seele erst behauptet sich die moralische Kraft. In der Studie zur Religion
stellt er das wie folgt dar:
„Der Clan aber kann, wie jede Art von Gesellschaft, nur in und durch das individu-
elle Bewusstsein aller leben, die ihn bilden. Wenn also die religiöse Kraft, insofern
sie im Totemwappen verkörpert gedacht wird, als außerhalb der Individuen er-
scheint und durch ihre Beziehung zu diesen als begabt mit einer Art Transzendenz,
so kann sie sich doch andererseits, wie der Clan, dessen Symbol sie ist, nur in und
durch dessen Mitglieder realisieren; in diesen Sinne ist sie ihnen immanent […]“
(ebd., S. 328).
Die Orientierung an der Verwandtschaft, die tatsächlich nicht besteht, lässt sich
wie folgt auf die Ursachen der wechselseitigen Verpflichtungen zurückführen:
Was Durkheim der Wissenschaft unterwirft, das ist zwar ebenfalls mit einer
Sinnhaftigkeit seitens der Handelnden belegt, die allerdings nicht mit dem über-
322 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

einstimmen muss, was die Wissenschaft zum Vorschein bringt, nämlich: Die
Wirkkraft, aus der sich die Verpflichtung überhaupt schöpft, tritt als nicht-
physischer Zwang auf, und das bedeutet, eine Vorstellung bewegt das Individu-
um, die sich nicht erst gegen dessen Widerstand durchzusetzen braucht, denn ihr
Erfolg geht darauf zurück, dass sie das Individuum insofern durchdringt, als es
sich eine ihm fremde und überlegene Kraft vergegenwärtigt, deren Überlegenheit
auf der synthetisch entstandenen Geltung von jener Vorstellung beruht (vgl.
Durkheim 2008a, S. 151 ff.). Das Individuum wird von der moralischen Kraft
transzendiert und sie drängt es, sich solchen Zielen hinzugeben, die den Effekt
haben, ihre Wirksamkeit zu bewahren, d.h. sie bewegt es dazu, sich ihrer Her-
kunft zu ergeben. Somit hält sich die moralische Kraft, solange sie wirkt, und das
schafft sie, wenn sie sich im Individuum niederlässt, welches wiederum regis-
triert, dass es transzendiert wird und somit in sich und unabhängig von seinem
Körper etwas nicht aus sich Gewachsenes enthält, dessen Höherwertigkeit es
anerkennt (vgl. Durkheim 2010a, S. 328).
Wirkt die moralische Kraft im Individuum, so bedeutet das also, sie richtet
sein Handeln zu ihren Gunsten aus, und diese freiwillige Unterordnung schließt
notwendig Interaktionen mit anderen ein, die ihrerseits von jener moralischen
Kraft betroffen sind (vgl. Durkheim 1976, S. 106). Damit macht Durkheim diese
anderen aber nicht zu bloßen Instrumenten, sondern er legt offen, auf welcher
Ursache die Verpflichtungen der Individuen untereinander überhaupt beruhen,
denn für ihn ist ausgeschlossen, dass eine Verpflichtung gegenüber einem Indi-
viduum aus eben diesem hervorgeht (vgl. Durkheim 2006, S. 151). Dass sich
Individuen, die den Wirkungen einer moralischen Kraft unterliegen, jeweils zum
Gegenstand von Verpflichtungen machen, ist schließlich zwangsläufig. Durk-
heim sieht darin die Quelle der „interindividuellen Sympathiegefühle“ (ebd., S.
131), die sich also, ohne dem Drang einer moralischen Kraft ausgesetzt zu sein,
nicht regen können. Er notiert: „Doch was uns moralisch an den Nächsten bin-
det, ist nicht seine empirische Individualität, sondern der höhere Zweck, dessen
Diener und Organ er ist“ (Durkheim 1976, S. 106). Daher repräsentiert derjeni-
ge, der Gegenstand der Verpflichtung ist, das Wesen des Kollektivs, dessen mo-
ralische Kraft tatsächlich aber nicht diesem Individuum entspringt, sondern sich
nur äußerlich an ihm individualisiert. Die Komplexität ihres synthetischen Ur-
sprungs und ihrer Wirksamkeit im Innern des Individuums führt zu Hypostasie-
rungen, die ihre Herkunft vereinfachen. Die Verpflichtung eines Individuums
anderen gegenüber ist durch eine fremde Kraft veranlasst, die ihm sodann inne-
wohnt und sich in denen hypostasiert, denen man verpflichtet ist. Reduziert man
diese auf ihre sinnhafte Beschaffenheit, so weisen sie nichts auf, was der Her-
kunft der moralischen Kraft entspricht. Sie haben empirische und moralische
Züge, die Letzteren sind es aber, durch die sie das Kollektiv repräsentieren, in
dem die moralische Kraft synthetisch hervorgerufen wird. Weil die moralische
Kraft aber darauf angewiesen ist, diejenigen zu beseelen, sich also in denjenigen
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 323

niederzulassen, auf denen sie sich auswirkt, bemerkt das Individuum, das sich
anderen verpflichtet, die Wirkkraft in sich, dessen Herkunft sich an den anderen
hypostasiert, so dass es etwas von ihnen in sich hat. Durkheim führt darauf die
Orientierung an der Verwandtschaft zwischen denen zurück, die von einer mora-
lischen Kraft betroffen sind. Das führt er am Beispiel der australischen Gläubi-
gen aus, die sich, dem ethnographischen Material zufolge, mit denen Totemwe-
sen verwandt glauben, das für die Kirche steht. Er schreibt:
„Man sieht, dass die Bruderschaft eine logische Folge des Totemismus ist und nicht
sein Prinzip. Die Menschen glauben nicht Pflichten gegenüber den Tieren der To-
temsart zu haben, weil sie deren Verwandte sind, sondern sie erfanden diese Ver-
wandtschaft, um sich selber die Natur der Überzeugungen und Riten zu erklären, de-
ren Objekt diese Tiere sind. Das Tier wurde als verwandt angesehen, weil es wie der
Mensch ein heiliges Wesen war; aber man hat es nicht als heiliges Wesen behandelt,
weil man in ihm einen Verwandten sah“ (Durkheim 2010a, S. 329).
Wer sich an der Verwandtschaft orientiert, die tatsächlich keine ist, der ist zuvor
dem Drang ausgesetzt, das Ziel zu verfolgen, das nicht den vermeintlichen Ver-
wandten, sondern dem Kollektiv und der Wirksamkeit seiner moralischen Kraft
nützt. Das, was das Individuum plausibel macht, um die Verpflichtung zu be-
gründen, kann sie nicht hervorrufen. Sie verdankt sich dem Effekt der morali-
schen Kraft im Individuum und nicht der Form, in der sie sich objektiviert, denn
deren physische Beschaffenheit, die den Sinnen vorliegt, weist nichts auf, was
den Selbstverzicht auf Seiten des Individuums auslösen kann, d.h. als bloß empi-
risches Individuum ist der vermeintliche Verwandte nicht vermögend, die Ver-
pflichtung ihm gegenüber ins Leben zu rufen. Was von Seiten der Handelnden
für die freiwillige Unterordnung verantwortlich gemacht wird, lässt sich zwar als
ein Luftschloss überführen, nur das konterkariert nicht zugleich das, was die
freiwillige Unterordnung wirklich macht. Durkheim erklärt daher, dass die Ori-
entierung an der Verwandtschaft unwirksam ist, da sie sich der moralischen
Kraft anschließt, was wiederum bedeutet, dass andere erst dann zu Verwandten
werden, wenn sie zuvor die Herkunft der moralischen Kraft repräsentieren. Also
ist der Verwandtschaftsglaube insofern keine Illusion, als es jeweils hinter der
registrierten Kollektivität des Individuums faktisch eine Wirklichkeit gibt. Durk-
heim dazu:
„Doch insofern der Andere am Leben der Gruppe teilhat, insofern er Mitglied der
Kollektivität ist, an die wir gebunden sind, gewinnt er in unseren Augen etwas von
der gleichen Würde, und wir sind geneigt, ihn zu lieben und zu wollen“ (Durkheim
1976, S. 106).
Insofern das Individuum deshalb auf diejenigen, die es als seine Verwandten
glaubt, das zurückführt, was eine geltende Kollektivvorstellung in ihm bewirkt,
weil in ihnen das Kollektiv widerscheint, dem es angehört, objektiviert sich die-
ses im Denken der vermeintlichen Verwandten auch in ihm. Somit weisen sie in
324 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

der Tat eine Verwandtschaft auf, und das ist die Verwandtschaft der Seelen,
denn ihr Ursprung und das Symbol des Kollektivs, das den Ursprung repräsen-
tiert, sind ihnen gemeinsam. Bleiben die vermeintlichen Verwandten auf ihre
empirischen Komponenten reduziert, so lässt sich an ihnen nichts auffinden, was
die Orientierung an die geteilte Abstammung suggeriert. In der erklärten Kon-
substanzialität irren sie nicht hinsichtlich der unpersönlichen Seite der Seele.
Neben dem Machtprestige zeigt auch der Verwandtschaftsglaube an, welche
Funktion der Herrschaftsverband für moralische Kraft ausübt. Aus den verschie-
denen Äußerungen Webers über den Zusammenhang von Herrschaftsverband
und Verwandtschaftsglauben geht Folgendes hervor: Die „politische Gemein-
schaft“ löst den Verwandtschaftsglauben aus, d.h. die Interaktionen zur Behaup-
tung des Herrschaftsverbands bewirken, dass sich die Handelnden an Verwandt-
schaft untereinander orientieren, die es tatsächlich nicht gibt (vgl. Weber 2009,
S. 45). Wenn die Veranlassung, die für Weber primär die Opposition ist, für
freiwillige Unterordnung gegenüber einem Herrschaftsverband „eine sehr häufi-
ge Quelle `ethnischen´ Zusammengehörigkeitsglaubens“ (ebd., S. 49) ist, dann
lässt sich aus diesem Hinweis Webers mithilfe der Überlegungen Durkheims
eine Funktion des Herrschaftsverbands erschließen. Orientieren sich die Han-
delnden an Verwandtschaft untereinander, die in der Tat aber nicht besteht, so
lässt das angesichts Durkheims Resultat über die erforderlichen Bedingungen
des Verwandtschaftsglaubens darauf schließen, dass der Herrschaftsverband der
Moral einen Dienst erweist: Wenn nämlich der Herrschaftsverband den Ver-
wandtschaftsglauben auslöst, dann ist das ein Anzeichen dafür, dass er das Sym-
bol eines Kollektivs ist, d.h. an ihm hypostasiert sich der Ursprung einer morali-
schen Kraft. Im Falle des von Weber konstatierten Anlasses, sich dem Herr-
schaftsverband freiwillig unterzuordnen, ist es nicht dieser, der die freiwillige
Unterordnung hervorruft. Auf sich gestellt ist der Herrschaftsverband aufgrund
des Gewaltmonopols zwar vermögend, physischen, aber nicht den nicht-
physischen Zwang zu bewirken, aus dem die freiwillige Unterordnung resultiert.
Stattdessen zeigt sich an dem von ihm ausgelösten Verwandtschaftsglauben, dass
er ein Kollektiv symbolisiert, da nur ein Kollektiv – nicht die Summe der Ange-
hörigen eines Kollektivs – moralische Kraft schöpfen kann.
Daran lässt sich das oben bereits Erarbeitete anschließen: Berücksichtigt
man erstens, dass der Konnex zwischen Symbol und moralischer Kraft arbiträr
ist und veranschlagt man zweitens, dass Symbole außerstande sind, eigenständig
für Gemeinschaft zu sorgen, so ist nicht ausgeschlossen, dass der Herrschafts-
verband das Symbol einer moralischen Kraft ist und er bei gegebenen Bedingun-
gen die Gemeinschaft bewirken kann. Diese liegt, gemäß dem vorherigen Ergeb-
nis, vor, wenn sich die Angehörigen eines Kollektivs synthetisch auf dessen
Symbol besinnen, d.h. sie resultiert aus der synthetischen Anerkennung seiner
moralischen Kraft, und die hierfür wesentlichen Anlässe sind die Opposition
oder der Kult. Wenn der Herrschaftsverband, Weber zufolge, den Verwandt-
4.3 Heterogenität und Inkonsistenz der Gemeinsamkeitsmerkmale, 325

schaftsglauben auslösen kann, bedeutet das, er kann für Gemeinschaft sorgen,


denn der Verwandtschaftsglaube ist eine Erklärung seitens der Handelnden für
die Effekte der moralischen Kraft. Der hervorgerufene Verwandtschaftsglaube
lässt somit erkennen, dass der Herrschaftsverband moralische Kraft hyposta-
siert, er also ihren Ursprung symbolisiert, so dass die Gemeinschaft, gemäß dem
Denken Durkheims, auf den Kult, dessen Gegenstand der Herrschaftsverband
ist, oder auf die Opposition folgt, deren Objekt die Gegner des Herrschaftsver-
bands sind. Löst also ein Herrschaftsverband den Verwandtschaftsglauben aus,
dann geschieht das, weil er ein Symbol ist. Der Verwandtschaftsglaube bestä-
tigt, dass er ein Symbol ist. Schließlich erscheint der Verwandtschaftsglaube
nicht als erstes und ruft die Gemeinschaft hervor, denn diese ist eine Folge der
gemeinsamen Betroffenheit durch eine moralische Kraft, als deren Erklärung
jener entsteht. Der Verwandtschaftsglaube erzeugt Verpflichtungen nicht, er tritt
erst auf, wenn sie bereits gelten.
Weil der Herrschaftsverband die moralische Kraft eines Kollektivs verge-
genständlicht, lässt sich mit ihm Gemeinschaft bewerkstelligen. Weber schränkt
die politischen Gemeinschaften, die den Verwandtschaftsglauben wecken kön-
nen, nicht ein, da ihn nicht der Herrschaftsverband an sich verschuldet, sondern
er sich vorwiegend dem Anlass zur Sicherung der Herrschaft verdankt. Im Falle
der Nation ist der Herrschaftsverband geeignet, um das Symbol des nationalen
Kollektivs zu sein, weil die Kollektivierung der Herrschaft das Zeichen ist, das
seine moralische Kraft generiert. Ist die Initiative zur Selbstherrschaft bzw. der
Anspruch auf den eigenen Herrschaftsverband der „materielle Vermittler“
(Durkheim 2010a, S. 341), der die elementaren Teile der Synthese zu ihrer kom-
plexen Vereinigung führt, so bleibt dieses Zeichen, Durkheim zufolge, als Sym-
bol bestehen. Für die Nation ist der eigene Herrschaftsverband, der ihr, so We-
ber, nicht abgehen kann, daher mindestens ein Symbol neben anderen, denn
schließlich ist es für sie konstitutiv, dass sie sich nicht von einer ihr fremden
Herrschaft konfrontiert sieht. Dass der nationale Herrschaftsverband durch Op-
position und Kult den Verwandtschaftsglauben auslösen kann, ist somit durch
den für die Nation konstitutiven Anspruch auf Selbstherrschaft begünstigt. Die
Nation, die sich erst durch die Ausrichtung auf den eigenen Herrschaftsverband
von der bloßen Gemeinschaft unterscheiden lässt, kann vor dem Hintergrund
dessen, dass sich der Verwandtschaftsglauben durch den Kult des Herrschafts-
verbands und durch die Opposition zu seinen Gunsten auslöst, wiederum durch
ihren Herrschaftsverband ihre Gemeinschaft bewirken.
Nicht jede ethnische Gruppe wird unmittelbar zu einer Nation, und darauf
insistiert vor allem Weber, aber die Nation weist die Voraussetzung auf, um den
Verwandtschaftsglauben auszulösen, was sich dahingehend weiterführen lässt,
dass bereits ihr Herrschaftsverband ausreicht, damit sich die Gemeinschaft voll-
zieht. Angesichts dessen hebt sich die Nation nicht nur deswegen von nicht-
nationalen Gemeinschaften ab, weil sie einen Anspruch auf einen eigenen Herr-
326 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

schaftsverband aufweist, sondern auch weil dieser für Gemeinschaft sorgen


kann, deren Hergang anderen Gemeinschaften abgeht. Ist zudem der Herr-
schaftsverband das Symbol der Nation, so ermöglicht das erstens zwischen Nati-
onen überhaupt zu unterscheiden, die deshalb ununterscheidbar sind, weil sie für
ihre Gemeinschaft übereinstimmende Symbole favorisieren. Das trifft vor allem
für das Symbol der Sprache zu. Zweitens lässt der Herrschaftsverband als Sym-
bol die weitestgehende Gemeinschaft zu, die sich dann mit sonstigen nationalen
Symbolen nicht bewerkstelligen lässt, wenn diese auf nicht alle Angehörigen
einer Nation moralische Auswirkungen haben können, wohingegen die morali-
sche Kraft, die sich am Staat hypostasiert, keinen exklusiven Effekt hat.

4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische
Polymorphismus

Heilige Dinge und Kulte verkümmern und verfallen schließlich, aber eine Welt,
in der sie restlos verschwinden, ist schlechterdings illusorisch, da sie nicht losge-
löst von der sozialen Welt, sondern ein Teil von ihr sind, d.h. Kollektive sind
mehr als nur ihre Angehörigen, nämlich das, worin sie ihr Symbol sehen und
worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten, wenn sie sich versammeln (vgl. Durk-
heim 2010a, 619). Während und nach der Versammlung wirken die Kräfte, die
aus den Synthesen des Handelns auf Seiten der Versammelten entstehen, auf das
Kollektiv und das Individuum.
„Um uns sind Geister, die mit Kraft begabt und zum Handeln fähig sind, Bewusst-
seinszentren, unserem eigenen Bewusstsein analog, doch davon verschieden und
ihm überlegen, die dennoch in unser Bewusstsein einzudringen vermögen und unser
Leben bereichern und stärken können. Eben diese Erfahrungen machen Religion
aus“ (Durkheim 1987, S. 106).
Alles andere als die Regel, ausnahmslos keine Religion zu diffamieren, ist ange-
sichts dessen für Durkheim abwegig, wenn man die Religion nach ihren Ursa-
chen und Wirkungen befragt. Die elementare Qualifikation der beliebtesten Re-
ligionen unterscheidet sich nicht von der Leistungsfähigkeit der kirchlichen
Minderheiten, „[…] diese Religionen sind nicht weniger ehrbar als die anderen“
(ebd., S. 16). Das ist jedoch keine von Durkheim unterstützte Verhaltensregel,
sondern eine ebenso zwingende Voraussetzung wie Folge der Definition von
Religion. Die Regel macht er aber nicht über die Wissenschaft hinaus geltend,
schon gar nicht für Gläubige. Ihre Intoleranz wird nicht von einer soziologischen
Methodologie, sondern von der nun zu eruierenden Religion in Grenzen gehal-
ten.
Heilige Dinge und Kollektive werden sich immer dann mit der modernen
Kultur stoßen, wenn sie eine abseits von ihr unbekannte Sakralität übergehen:
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 327

das Individuum. Das ist für Durkheim die mitunter aus der Bevölkerungszunah-
me, Funktionsdifferenzierung, Arbeitsteilung und Monopolisierung der staatli-
chen Herrschaft entstandene und als letztes umfassendes Symbol wirksame idea-
le Humanität, die nicht mit dem einzelnen Individuum zusammenfällt und kei-
nem Individuum abgeht (vgl. Durkheim 1973, S. 395). Neben der Sakralität des
Individuums haben die mechanischen Gründe eine weitere Folge, und das ist der
moralische Polymorphismus (vgl. Durkheim 2008a, S. 430). Er wirkt sich für
heilige Dinge ungünstig aus. Durch die Spezialisierung der beruflichen Tätigkei-
ten vermehren sich die Berufe und zu ihnen gehört eine jeweils relativ autonome
Berufsmoral, d.h. nur innerhalb der moralischen Milieus der Berufsgruppen be-
steht die Kompetenz darüber, die Befolgung der funktionsspezifischen Berufs-
moral zu überwachen (vgl. Durkheim 1991, S. 17 ff.), wohingegen fern dieses
eingeschränkten Bereichs keine Rücksicht auf die Einhaltung der beruflichen
Verhaltensregeln genommen wird und somit kommt Gleichgültigkeit gegenüber
Verletzungen der Moral häufiger vor (vgl. Durkheim 2008, S. 179 f.). Das fasst
er wie folgt zusammen:
„Auf diese Weise bilden sich verschiedene, wenngleich solidarische Horte des mo-
ralischen Lebens heraus und der funktionalen Differenzierung entspricht eine Art
moralischer Polymorphismus (Durkheim 1991, S. 18).
Die Verträglichkeit zwischen der am Staat versinnbildlichten Nation und ihrer
im ersten Schritt erarbeiteten Voraussetzung soll nun untersucht werden. Das
lässt sich durchführen, indem man zunächst zeigt, dass die aus Durkheims Stu-
dien hervorgehende Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit und Sak-
ralität des Individuums keine von ihm subjektiv favorisierten Ergebnisse sind.
Damit lässt sich begründen, warum die Verträglichkeit zwischen der Nation und
dem Individuum ermittelt werden soll, denn sofern dieses von Durkheim nicht
gewollt ist, sondern sich auf der einen Seite nicht verhindern lässt und auf der
anderen Seite zum Gegenstand der Verehrung wird, die unmöglich von einem
Individuum initiiert werden kann, ist es angebracht zu prüfen, ob die Gemein-
schaft der Nation ihm gerecht wird.
Dass die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit kein von Durk-
heim subjektiv konstruiertes Ergebnis ist, lässt sich anhand des Platzes heraus-
stellen, den Individualität in der organischen Solidarität, der Stärkung der Be-
rufsmoral und der Verquickung von Nationalismus und Kosmopolitismus ein-
nimmt. Auf diese Weise soll zunächst der spezifische Bedarf des Individuums
aufgedeckt werden. Ist das erledigt, so lässt sich die erarbeitete Übereinstim-
mung, die zwischen der Moral der Arbeitsteilung und den praktischen Empfeh-
lungen besteht, an der Nation messen, die sich am eigenen Staat symbolisiert. Es
soll geklärt werden, inwiefern sie die individuelle Entscheidungsfreiheit zulässt.
Um dem nachzugehen, ist es hilfreich, als erstes zu prüfen, warum Durkheim die
moralische Funktion der nationalen Gemeinschaft, die ihre moralische Kraft auf
328 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

den eigenen Staat kanalisiert, zwar anerkennt, sie aber nicht in seine praktischen
Empfehlungen integriert. Eine Erklärung hierfür liefert die Dynamik, welche die
moralische Kraft der Nation erlebt, wenn ihr Symbol unter außergewöhnlichen
Umständen auf dem Spiel steht. Es lohnt sich auch, Durkheims Analysen der
Selbstmordraten nach den Gründen zu befragen, warum mit dieser Dynamik
ansonsten nicht zu rechnen ist. Darüber hinaus soll berücksichtigt werden, was
die von Durkheim konstatierte Pathologie der individuellen Entscheidungsfrei-
heit besagt, denn das gibt Auskunft darüber, inwieweit die moralische Funktion
jener nationalen Gemeinschaft zu deren Erholung beiträgt. Ihre moralische Wir-
kung abseits außergewöhnlicher Ereignisse soll am Ende erneut zum Gegenstand
werden, wobei diesmal neben den Ergebnissen der untersuchten Selbstmordraten
auch Durkheims Blick auf Mordraten genutzt werden soll. Zum Abschluss soll
untersucht werden, inwieweit sich Durkheims Erklärung der Dreyfus-Affäre
dafür nutzen lässt, um der Wirksamkeit jener nationalen Gemeinschaft in ge-
wöhnlichen Zeiten nachzugehen.
Der von Durkheim erarbeitete Typus, um die Solidarität zu untersuchen, die
mit der Arbeitsteilung in Verbindung steht und seine praktischen Empfehlungen,
um Egoismus und Anomie zu begegnen, haben etwas gemeinsam, was sie alle-
samt unangetastet lassen. Die moralischen Wirkungen der Arbeitsteilung und die
Empfehlungen, nämlich die Stärkung der Berufsgruppen und die nach innen ge-
richtete Pflege der überwölbenden Gemeinschaft der Nation weisen bei aller
Verschiedenheit bestimmte Übereinstimmungen auf, die rückgängig zu machen,
für Durkheim aussichtslos ist. Während die moralischen Wirkungen der Arbeits-
teilung aus einer Untersuchung hervorgehen, gehen die Empfehlungen über seine
Studien hinaus, denn es handelt sich um praktische Schlussfolgerungen, die aber
nicht seinem subjektiven Gefallen geschuldet sind, da sie erst anhand erzielter
Studienergebnisse generiert werden. Unabhängig von den nun aufzufindenden
Übereinstimmungen gleichen sich Durkheims Empfehlungen insofern, als sie
nicht Strapazen durch materielle Entbehrungen, sondern den Belastungen auf-
grund verkümmerter Sinnhaftigkeiten antworten. Mit ihnen legt er auf diesen
„Zustand der Moral“ (Durkheim 1973, S. 460) eine folgerichtige Replik vor, die
deswegen konsequent hergeleitet ist, weil sie durch die empirisch freigelegte
Schwäche der Orientierungsvorgaben begründet ist, die er vor allem an der
Selbstmordrate abliest. Er nutzt sie als Schablone. Ein Resümee aus dem Selbst-
mord informiert über das, worauf seine Empfehlungen antworten sollen:
„Wir sehen, wie Menschen sich in unsagbarem Unglück behaupten, während andere
wegen einer Geringfügigkeit den Tod suchen. Außerdem haben wir schon gezeigt,
dass die Menschen, die den größten Kummer haben, gerade nicht am häufigsten
Selbstmord verüben. Eher ist Wohlleben dazu geeignet, dem Menschen die Waffe
gegen sich selbst in die Hand zu drücken“ (ebd., S. 344).
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 329

Auf welche Belastungen es ihm eigentlich ankommt und was seine Empfeh-
lungen unterdrücken sollen, signalisiert er mit der Feststellung darüber, dass die
Häufigkeit des Selbstmords zunimmt, obwohl immer mehr Menschen lebens-
notwendige Güter ausschöpfen können (ebd., S. 460): Anstatt materielle Sorgen
zu mindern, richten sich die Empfehlungen an den Mangel an Orientierung, der
folglich dazu führt, dass dem Individuum zunehmend die integrative Kraft des
Selbstverzichts abgeht. Abseits dieser Zielsetzung lassen sich aber weitere Über-
einstimmungen auffinden, an denen sich zeigt, dass es nicht zu Durkheims Vor-
haben gehört, an der Uhr zu drehen.
Zum gemeinsamen Nenner in Durkheims Überlegungen zur Moral mora-
lisch polymorpher Gesellschaften: Die organische Solidarität ist eines der Er-
gebnisse der frühen Schrift Durkheims, deren Gegenstand eben diese Moral mo-
ralisch polymorpher Gesellschaften ist. Das Korrelat der Moral, die unter der
Voraussetzung, dass sich das Schaffen von Individualität zwar durch kein sozial
drängendes, aber durch ein sachliches Gebot herleitet, einen Verlust an Kraft der
für sie elementaren Homogenitätszumutungen hinnehmen muss, ist neben ande-
ren auch dieser Voraussetzung geschuldet. An die spezialisierte Arbeit, die mehr
als bloß eine Komponente zur Erledingung einer gemeinsamen Aufgabe dar-
stellt, nämlich aus abgegrenzten, aber von anderen nicht unabhängigen Aufgaben
besteht (vgl. Durkheim 2008a, S. 175 f.), ist eine Funktion geknüpft, deren
Kennzeichen ist, dass sie nicht mit der erreichbaren wirtschaftlichen Effizienz
zusammenfällt und sich somit aus Wirkungen ergibt, die keiner Planung unter-
liegen (ebd., S. 95). Ihr geht Durkheim nach. Der moralische Funktion der Ar-
beitsteilung begegnet man, wenn man in den berufsspezifischen Tätigkeiten die
dauerhaften und wiederkehrenden Interaktionen berücksichtigt, in denen sich
Abhängigkeiten offenbaren, ohne die sich die Berufe nicht ausüben lassen (ebd.,
S. 284). Wichtig ist für Durkheim, dass sich die mit ihnen verbundenen Leistun-
gen notgedrungen nur mittels Interaktionen erzielen lassen, die regelmäßige
Verbindungen zu anderen Berufen stiften. Aus der Beständigkeit der arbeitsteili-
gen Interaktionen ergeben sich Verhaltensregeln und es konsolidieren sich Ab-
hängigkeiten, so dass die Arbeitsteilung zu einem Ursprung dafür wird, dass das
Individuum den Selbstverzicht leistet, den ihm wie üblich die moralische Kraft
abverlangt (ebd., S. 470). Die Arbeitsteilung leistet daher den Dienst, eine Moral
zu schöpfen, die sich nicht aus Verhaltensregeln zur Aufrechterhaltung des
Sinnbilds eines Kollektivs ergibt. Stattdessen ist das Individuum einem Drang
ausgesetzt, auf den wiederum die Abhängigkeiten der spezifischen Berufe und
der jeweiligen Berufstätigkeiten angewiesen sind, da sonst die Verzahnung der
verschiedenen Berufsleistungen nicht zustande kommt, was eben diese Leistun-
gen verhindert. Arbeitsteilung schafft auf diese Weise eine wichtige Quelle für
Orientierung.
Zum Ergebnis über die moralische Wirkung der Arbeitsteilung gelangt
Durkheim, indem er für seine Untersuchung das Übergewicht der wirtschaftli-
330 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

chen Tätigkeiten in Anschlag bringt, d.h. er berücksichtigt, dass der Beruf das
Leben des Individuums dominiert und es somit in einem erheblichen Zeitab-
schnitt des Tages der Wirkung von geltenden Verhaltensregeln ausgesetzt ist.
„Das berufliche Leben kennt keine Pause; es steht niemals still“ (Durkheim
1991, S. 148). Der Unterschied zur mechanischen Solidarität besteht darin, dass
ein Vergehen gegen diejenige Moral, aus der die organische Solidarität resultiert,
im Wesentlichen nicht darauf beruht, dass es sich mit einem Kollektivbewusst-
sein stößt, sondern die Regelmäßigkeiten der berufsspezifischen Tätigkeiten
stört. Auf der einen Seite zieht das Individuum den allgemeinen Nutzen der Mo-
ral, indem es sich an der Orientierung bereichert, die ihm die Verhaltensregeln
der notwendigen Abhängigkeiten zwischen den Berufen spenden. Auf der ande-
ren Seite nützt die organische Solidarität der Moral überhaupt, denn auch sie
trägt dazu bei, die für Moral bedrohliche Orientierungslosigkeit auf Seiten des
Individuums abzuwenden, was jene am Leben erhält. Daran lässt sich ein Anlie-
gen der frühen Studie Durkheims erkennen. Er beabsichtigt, die Ursachen und
Wirkungen einer Moral zu untersuchen, in der die Sühne nicht nur nicht vor-
kommt, sondern ihr Nachlassen deswegen zu einer der Voraussetzungen der or-
ganischen Solidarität wird, weil sie zunehmend in eine inferiore Stellung ge-
drängt wird. Anders als einem Kollektivbewusstsein erweist das Vergehen der
moralischen Wirkung der organischen Solidarität keinen Nutzen, denn in diesem
Fall erfolgt keine Sühne. Für ihre Moral braucht es keine Symbole, sondern die
Gewährleistung der Regelmäßigkeiten in den Berufen.
Im Vorwort zur zweiten Auflage der Arbeitsteilung räumt Durkheim jedoch
eine Unzulänglichkeit der organischen Solidarität ein, die ihn veranlasst, die
Eignung eines moralischen Milieus im Besonderen hinsichtlich der Folgen von
Egoismus und Anomie zu prüfen, nämlich das der Berufsgruppen. Die Funktion
der organischen Solidarität, ergänzt er, ist erst dann vollständig erklärt, wenn
man für die Genese von Verhaltensregeln die Mitwirkung einer „moralischen
Persönlichkeit“ (Durkheim 2008a, S. 45) bzw. einer „moralischen Individualität“
(Durkheim 1973, S. 465) veranschlagt, und das ist ein Kollektiv im Allgemeinen
und im Speziellen das Arbeitsmilieu, das, ihm zufolge, durch die Bedingungen
begünstigt ist, die für die organische Solidarität von Vorteil und für die mechani-
sche Solidarität von Nachteil sind (vgl. Durkheim 2008a, S. 245). Durkheim
integriert die Berufsgruppe in die Erklärung des Ursprungs der berufsspezifi-
schen Verhaltensregeln, weil ihm hierfür die Regelmäßigkeit der arbeitsteiligen
Interaktionen nicht mehr ausreichend erscheint. Er akzentuiert „in der Berufs-
gruppe vor allem die moralische Kraft“ (ebd., S. 51) und daran zeigt sich, dass er
für die Bildung der Berufsmoral mit dem Ursprung der Moral rechnet, den sie
auch sonst aufweist, also mit der „Grundvoraussetzung jeglicher Moral“ (Durk-
heim 1991, S. 17), mit der er sich in seinen späteren Schriften auseinandersetzt.
„Im Übrigen“, schreibt er, „hängt dieser Charakter der korporativen Organisation
von der Wirkung sehr allgemeiner Ursachen ab, die man auch unter anderen
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 331

Umständen beobachten kann“ (Durkheim 2008a, S. 55). In der Arbeitsteilung


steht der synthetische Ursprung innerhalb eines Kollektivs für die Genese der
Berufsmoral noch nicht im Vordergrund. In den späteren Schriften Durkheims
geschieht das, da er ein Hindernis für ihre Entstehung darin sieht, dass sich Ver-
gehen in den Berufen der öffentlichen Aufmerksamkeit entziehen, wodurch ihr
schließlich die unverzichtbare Resonanz eines Kollektivs abgeht, ohne die es um
die Verhaltensregeln geschehen ist. „Denn nur Berufsgruppen vermögen, das
erforderliche Regelwerk auszuarbeiten“ (Durkheim 1991, S. 31).
Neben der Schöpfung der partikularen Berufsmoral sind die Berufsgruppen
dafür geeignet, eine allgemeine Moral zu unterstützen, die der Staat nicht we-
cken kann, weil er sich im individuellen Bewusstsein gegen die Belange des be-
ruflichen Alltags nicht durchsetzen kann und welche aufgrund des Überschusses
an Allgemeinheit die Berufsgruppen selbst, aber nicht die Nation überschreitet.
Durkheim sieht in den wechselseitigen Abhängigkeiten der Berufe die Gelegen-
heit dafür, dass die Berufsgruppen das Individuum ihrer Moral, aber auch einer
anderen Moral aussetzen, welche die untrennbaren Verbindungen zwischen den
berufsspezifischen Funktionen betrifft. Weil die Berufe nicht isoliert von ande-
ren Berufen ausgeübt werden können, kann die partikulare Moral der Berufs-
gruppen nicht bloß das eigene Kollektiv zum Gegenstand haben. Somit gelingt
den Berufsgruppen das, was der Staat nicht schafft, und das ist die Geltung einer
Moral zu unterstützen, die partikulare Moralen überschreitet (vgl. Durkheim
1973, S. 465).
„Eine Nation“, folgert er, „kann sich nur dann erhalten, wenn sich zwischen den
Staat und den Bürgern eine ganze Reihe von sekundären Gruppen schiebt, die den
Individuen nahe genug sind, um sie in ihrem Wirkungsradius einzufangen und damit
im allgemeinen Strom des sozialen Lebens mitzureißen“ (Durkheim 2008a, S. 71).
Zum einen ist also das moralische Milieu der Berufe, seiner Empfehlung zufol-
ge, aufgrund seiner Dominanz im Alltag ausreichend qualifiziert, um zusätzlich
einer allgemeinen Moral zu ihrer Geltung zu verhelfen. Zum anderen offenbart
die Arbeitsteilung dem Individuum, dass es die beruflichen Tätigkeiten nicht
losgelöst von den Leistungen anderer ausüben kann, und das schafft eine Vo-
raussetzung für die „Solidarität mit dem Ganzen“ (Durkheim 1973, S. 465). Die
Berufsgruppen sind abseits ihrer besonderen Funktion, überhaupt eine Moral ins
Werk zu setzen, zudem vermögend, die Vielfalt der partikularen Moralen be-
wusst zu machen und den Dissens zwischen diesen zu verhindern.
Während sich die organische Solidarität und Durkheims Anregung zur Stär-
kung der Berufsgruppen dem moralischen Partikularismus zuordnen lassen, ver-
eint die nächste Empfehlung partikulare Moral mit einer Moral, die für unter-
schiedslos alle Menschen gilt. Damit gestaltet er eine Moral, mit der er die Gren-
ze einer Antinomie von partikularer und universeller Moral auflöst. Er entwi-
ckelt einen Weg für die Vermittlung zwischen Nationalismus und Kosmopolitis-
332 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

mus, d.h. „zwischen der Bindung an das nationale Ideal, an den Staat, der dieses
Ideal verkörpert, und der Verpflichtung auf das menschliche Ideal, auf den Men-
schen schlechthin“ (Durkheim 1991, S. 106). Die Vermischung der beiden ist
nicht nur so beschaffen, dass sich weder Nationalismus noch Kosmopolitismus
einzuschränken hat, sondern auch Egoismus und Anomie zu verhindern ermög-
licht. Die Antinomie zwischen beiden besteht zunächst deswegen, weil Nationa-
lismus wie Kosmopolitismus jeweils Abstraktion, also die Berücksichtigung von
Allgemeinem erforderlich machen, das moralischen Partikularismus überschrei-
tet, jedoch überragt die notwendige Abstraktion des Letzteren die Moral des an-
deren, wohingegen dieser der Moral des Kosmopolitismus hinderlich ist. „Je
nachdem man die eine oder die andere Gruppe vorzieht, verlagert sich der Pol
der Moralität, und die Moralerziehung wird fast in ihr Gegenteil verkehrt“
(Durkheim 2006, S. 124). Der Kosmopolitismus ordnet sich den Nationalismus
aufgrund von dessen geringerem Abstraktionsvermögen, aber auch wegen der
daraus sich erschließenden Universalität unter, denn es sind „die menschlichen
Ziele noch höher als die höchsten nationalen Ziele“ (ebd., S. 125). Die Überord-
nung des Kosmopolitismus ergibt sich zwar aus seiner Allgemeinheit, der Natio-
nalismus ist ihm gegenüber aber trotzdem im Vorteil, weil er im Gegensatz zu
ihm über ein Kollektiv verfügt, das ihm wiederum fehlt. Durkheim bemerkt, dass
es Moral zwar kennzeichnet, sich im Verlauf der Geschichte zunehmend zu ver-
allgemeinern, indem sie sich von Symbolen lokaler Art löst (vgl. Durkheim
1991, S. 106), nur weist die universelle Moral das Defizit auf, dass es über der
Nation kein weiteres Kollektiv gibt, das dessen Allgemeinheit erreicht. Der
Kosmopolitismus ist somit dem Nationalismus unterlegen, weil die Menschheit
„keine konstituierte Gruppe ist“ (Durkheim 2006, S. 125).
Die Vermittlung zwischen beiden gelingt Durkheim, indem er die Nation
zum Kollektiv des Kosmopolitismus erhebt. Das ist insofern möglich, als die
moralische Gemeinschaft der Nation nicht zwingend die Opposition nach außen
verlangt, sondern sich auch durch Symbole im Innern bewerkstelligen lässt (ebd.,
S. 126). Die moralische Kraft des Nationalismus ist, betont er, nicht ausschließ-
lich auf die Aggression gegen andere Staaten begrenzt; „[…] als könnte man die
eigene Bindung an die nationale Gruppe, der man angehört, nur dann beweisen,
wenn diese Gruppe sich im Streit mit einer anderen Gruppe befindet“ (Durkheim
1991, S. 108). Durkheim macht ferner geltend, dass einer zentralen Aufgabe des
Staates, und das ist die Verteidigung, vom größeren Regelungsbedarf im Innern,
welche die vermehrten Funktionen infolge der zunehmenden Arbeitsteilung be-
trifft, der Rang abgelaufen wird. Allein aufgrund der Komplexität der vielfälti-
gen und voneinander abhängigen Verbindungen in der Wirtschaft steigt das Ri-
siko der Störanfälligkeit an. „Infolge ihrer gegenseitigen Abhängigkeit werden
alle durch das berührt, was jedem einzelnen zustößt, und jede ein wenig ernsthaf-
te Veränderung ist von allgemeinem Interesse“ (Durkheim 2008a, S. 280). Der
ursprüngliche Zweck des Staates wird somit vom inneren Regelungsbedarf über-
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 333

holt, weil die inneren gegenüber den äußeren Gefahren mehr Aufmerksamkeit
auf sich ziehen.
Auf der einen Seite bemerkt Durkheim, dass sich die Wirksamkeit der nati-
onalen Moral nicht unbedingt durch Anfeindungen auslösen lässt und auf der
anderen Seite verweist er auf die sachlich notwendige Berücksichtigung der in-
neren Ordnung von Seiten des Staates. Weil dieser den ursprünglich von ihm zu
verantwortenden Zweck der Verteidigung nicht mehr den Belangen im Innern
überordnen kann, reduziert sich nicht zugleich seine Tätigkeit, sondern nimmt
sogar „aufgrund der Fortschritte der Arbeitsteilung“ (ebd., S. 283) zu. Durkheim
konstatiert zwar, dass die Kompetenz des Staates nicht ausreicht, um insbesonde-
re Regelungen für die störanfälligen Abhängigkeiten in der Wirtschaft zu gene-
rieren (ebd., S. 428), der Staat kann ihnen aber einen Dienst erweisen, indem er
eine moralische Aufgabe erfüllt. Der fehlende Sachverstand des Staates (vgl.
Durkheim 1973, S. 450) ist für ihn schließlich auch der Grund, warum er auf die
größere Wirksamkeit der Berufsgruppen schließt. „Weil das ökonomische Leben
sehr spezialisiert ist und sich jeden Tag weiter spezialisiert […]“ (Durkheim
2008a, S. 46), ist der Staat damit überfordert, der Vielfalt an erforderlichen Ver-
haltensregeln nachzukommen. Während er sich mit der Bildung partikularer Mo-
ralen überbürdet, kann er, so Durkheim, die universelle Moral so unterstützen,
dass sie sich nachhaltig auf die Arbeitsmilieus auswirkt. Der Staat kann die mo-
ralische Gemeinschaft der Nation durch eine kosmopolitische Besinnung auslö-
sen, die sich auf das zum Symbol der Nation erhobene Individuum an sich richtet
(vgl. Durkheim 2006, S. 128).
Das kann er konkret umsetzen, indem er der im Selbstmord festgestellten
Anomie in der Wirtschaft entgegenwirkt. Zu den entdeckten Gründen für die
Anomie gehört vor allem die Intransparenz über den Gegenwert einer jeden Leis-
tung. Angesichts dieses Ergebnisses folgert Durkheim, dass es die Aufgabe des
Staates ist, für die Durchsetzung des relativen Leistungsprinzips zu sorgen (vgl.
Durkheim 1986, S. 68), damit „jeder so behandelt wird, wie er es verdient“
(Durkheim 1991, S. 105). Das wiederum korrespondiert mit dem Respekt für das
Individuum an sich und lässt die Vermittlung zwischen Nationalismus und Kos-
mopolitismus zu. Ist das Individuum das Symbol der Nation, so bewahrt die na-
tionale Moral jedes Individuum davor, verletzt zu werden. Trägt der Staat „als
Organ der moralischen Disziplin“ (ebd.) dafür Sorge, die moralische Gemein-
schaft auf das Individuum zu kanalisieren, so schließt das ein, dass er den ein-
deutigen Wert einer Leistung gewährleistet, da alles andere ein Vergehen gegen
jenes Symbol darstellt. Damit verhindert er, dass die beruflichen Tätigkeiten von
Sinnverlust belastet werden, und das ist zugleich ein Schutz vor Anomie. Diese
Vermittlung „zwischen der nationalen und der allgemeinmenschlichen Moral“
(ebd., S. 108) anhand dieses nach innen gerichteten Symbols der Nation lässt es
schließlich zu, den Widerspruch zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus
aufzulösen. Er notiert:
334 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

„Damit dieser Widerspruch verschwindet und alle Forderungen unseres Moralbe-


wusstseins erfüllt werden, genügt es, dass der Staat sich zur Hauptaufgabe stellt,
sich nicht zum Schaden seiner Nachbarn auszudehnen, nicht stärker und reicher als
sie zu werden, sondern in seinem Schoß die allgemeinen Interessen der Menschheit
zu verwirklichen, d.h. gerechter, moralischer zu sein, sich so zu organisieren, dass es
eine immer engere Beziehung zwischen den Verdiensten der Bürger und ihrem
Stand gibt“ (Durkheim 2006, S. 126).
Trotz der Vermischung der beiden Moralen kommt es weder auf der einen noch
auf der anderen Seite zu einer Beeinträchtigung der jeweiligen Moral. Durk-
heims Vorschlag belässt zum einen der Nation eine Voraussetzung für die mora-
lische Gemeinschaft und liefert zum anderen dem Kosmopolitismus das Kollek-
tiv, das ihm ansonsten fehlt. Die Berechtigung seiner Empfehlung misst sich
darüber hinaus an den von ihm aufgedeckten Belastungen der Anomie in der
Wirtschaft, und das bedeutet, er konstruiert ihn nicht, weil er ihm als subjektiv
erstrebenswert gilt. Das von ihm akzentuierte Leistungsprinzip schützt das Indi-
viduum nicht nur vor Verletzungen dessen, was es mit unterschiedslos allen teilt,
sondern es mindert insofern die Anomie, als es Irritationen über den Sinn einer
Leistung verhindert. Aus diesem im Selbstmord festgestellten Grund der Anomie
veranschlagt Durkheim das Individuum als nationales Symbol, er bemerkt aber
auch, dass insbesondere die Berufsgruppen dafür geeignet sind, die Gewährleis-
tung des Leistungsprinzips zu überwachen (Durkheim 1973, S. 454). Daran zeigt
sich insgesamt, dass der Regelungsbedarf im Innern, der einen einst zentralen,
nach außen gerichteten Zweck des Staates überholt, nicht subjektiv von Durk-
heim akzentuiert wird, sondern sachlich begründet ist.
Der organischen Solidarität, den Berufsgruppen und der Vermittlung zwi-
schen Nationalismus und Kosmopolitismus stehen die Belastungen der unge-
bremsten Tatkraft und des antriebslosen Desinteresses gegenüber, für die Durk-
heim auf seinen Studien gestützte Lösungen anbietet. Was all dem, das er entwi-
ckelt gemeinsam ist, lässt sich aufdecken, wenn man berücksichtigt, was Durk-
heim damit zu hüten beansprucht. Individualität zählt zu den wesentlichen Vo-
raussetzungen der organischen Solidarität, gleichwohl sie zu deren Schöpfung
beiträgt. Ohne sie wird sich die Moral der beruflichen Tätigkeiten nicht regen.
Erst die Ausübung der unterschiedlichen beruflichen Funktionen, die sich ohne
ihre Interdependenz nicht praktizieren lassen, führt zu häufigen Interaktionen
von wechselseitig aufeinander angewiesenen Handelnden. Durkheim liest im
Maß der Verschiedenheit beruflicher Tätigkeit die Intensität der organischen
Solidarität ab. Die Wirksamkeit der aus der Zusammenarbeit entspringenden
Moral steigt mit der Interdependenz der beruflichen Funktionen, deren Anstieg
aber wiederum ein Anzeichen für Individualität ist, da sich, so Durkheim, die
zunehmende Spezialisierung der Berufe der Konkurrenz gleicher Leistungen
verdankt, die ein Abweichen von Homogenitätszumutungen veranlasst (vgl.
Durkheim 2008a, S. 329), wobei die Gründe für diese Konkurrenz ihrerseits zur
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 335

Schwächung der mechanischen Solidarität beitragen. Die Verdichtung der Inter-


aktionen bewirkt die Individualisierung der Leistungen, so dass Individualität ein
zwangsläufiges Ergebnis ist, das also nicht angesichts eines erkannten und er-
strebten Nutzens der Individualität verfolgt wird, sondern durch mechanische
Gründe verursacht wird (ebd., S. 438). Die Entwicklung der Funktionen beruht
somit auf Individualität, und sie ist auch die Grundlage der organischen Solidari-
tät. Diese „[…] ist nur möglich, wenn jeder ein ganz eigenständiges Betätigungs-
feld hat, wenn er also eine Persönlichkeit hat“ (ebd., S. 183). Weil Durkheim die
Wirksamkeit der organischen Solidarität im Wesentlichen auf die Individualität
zurückführt, folgert er auch, dass beide korrelieren. Er schreibt: „Die Moral ar-
beitsteiliger Gesellschaften entwickelt sich im Gegenteil dazu in dem Maß, in
dem sich die individuelle Persönlichkeit verstärkt“ (ebd., S. 286).
Ferner hängt die organische Solidarität nicht nur von der Individualität ab,
denn sie unterstützt diese auch. Weil die Verhaltensregeln nur im Hinblick auf
die berufsspezifischen Tätigkeiten gelten, sind sie nur denen bekannt, die sie
ausüben (ebd., S. 179). Mit der zunehmenden Arbeitsteilung und der Vervielfäl-
tigung der Berufe nimmt schließlich die Zahl derer ab, die über die jeweils spezi-
fischen Verhaltensregeln informiert sind. Damit sind der Individualität will-
kommene Effekte verbunden: Ist die Autorität der spezifischen Verhaltensregeln
gering, weil sie wenigen bekannt ist und weil ihre Geltungskraft von der kol-
lektiven Resonanz dieser wenigen abhängt, so ist im Falle von Vergehen mit
Sanktionen zu rechnen, deren Intensität gering ist und die nicht repressiver Art
sind (ebd., S. 284). Weil sie nur von wenigen anerkennt sind, aber auch weil sie
jüngeren Ursprungs sind, sie sich erst nach der Spezialisierung haben bilden
können (ebd., S. 396), ist es außerdem für die individuelle Initiative leichter, ihre
Änderung zu bewirken (ebd., S. 366). Schließlich ist die individuelle Initiative
im Allgemeinen dadurch begünstigt, dass die spezifischen Verhaltensregeln ab-
seits der beruflichen Tätigkeit keine Geltung haben. „Jenseits dieser Sphäre er-
freut sich das Individuum einer größeren Freiheit […]“ (ebd., S. 365). Ange-
sichts dessen folgert Durkheim, dass die Individualität nicht nur die organische
Solidarität möglich macht, sondern für sich selbst von Vorteil ist, da dieser Ty-
pus der Moral dem Individuum ein mehr an Handlungsfreiheit zur Verfügung
stellt (ebd., S. 474 f.).
Neben der unterstützenden Auswirkung auf ihre eigene Voraussetzung
treibt die organische Solidarität die Zunahme der partikularen Moralen voran:
„Die funktionale Vielfalt zieht eine moralische Vielfalt nach sich […]“ (ebd., S.
430). Dazu kommt es zwar durch die Verhaltensregeln für die Interdependenzen
der arbeitsteiligen Berufsleistungen und im Falle der von Durkheim unterstützten
Bildung von Berufsgruppen sowie der aus ihnen hervorgehenden Moralen, der
moralische Polymorphismus verdankt sich aber nicht nur der Arbeitsteilung und
dem Hervortreten berufsspezifischer Regelwerke und ihrer Kollektive, denn die-
se wiederum gehen im Ursprung auf jene mechanischen Gründe zurück, die Spe-
336 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

zialisierung bewirkt haben. Wo also Individualität überhaupt erst möglich wird,


da entstehen nicht nur neue berufliche Funktionen, denn da vermehren sich ih-
retwegen auch die partikularen Moralen. Das Hervortreten der Individualität
schließt daher auch die Bildung eingeschränkt geltender Verhaltensregeln ein.
Bereits in der Arbeitsteilung sucht Durkheim nach einer Solidarität, die dem
Bedarf an Individualität gerecht wird, und das ist später, als er nämlich für die
Bildung der moralischen Arbeitsmilieus auf die allgemeinen Ursachen der Moral
verweist, nach wie vor der Fall. Der organischen Solidarität und der Empfehlung
Durkheims, die Berufsgruppen zu stärken, sind somit das Individuum und der
moralische Polymorphismus inhärent. Das gilt auch für seine andere Empfeh-
lung: Das Sinnbild, das die moralische Gemeinschaft der kosmopolitischen Nati-
on provoziert, schützt Individualität, was zwangsläufig auch den moralischen
Polymorphismus bewahrt. Durkheims Vermittlung zwischen Nationalismus und
Kosmopolitismus ist schließlich so beschaffen, dass der Aufstieg des Individu-
ums zum nationalen Symbol nicht zugleich die partikularen Moralen nivelliert,
sondern sie nachhaltig unterstützt. Das lässt sich außerdem an der von ihm kon-
statierten moralischen Funktion der organischen Solidarität und der Berufsgrup-
pen erkennen, die das Arbeitsmilieu überschreitet und so wirkt, „ohne die Ein-
heit der Nation aufs Spiel zu setzen“ (Durkheim 1973, S. 465). Diese moralische
Funktion zeigt, dass es partikulare Moralen sind, die Durkheim zur Vorausset-
zung für die moralische Gemeinschaft der Nation macht.
Worin all das übereinstimmt, was für Durkheim gegen die zu Egoismus und
Anomie führende Orientierungslosigkeit hilft, lässt sich nun aufdecken: Die Mo-
ral der Arbeitsteilung, das Arbeitsmilieu und der kosmopolitische Nationalismus
lassen allesamt das Mehr an individueller Entscheidungsfreiheit, die Sakralität
des Individuums und den moralischen Polymorphismus unangetastet. Durkheim
kalkuliert mit ihnen, da sich ansonsten mit den jeweiligen moralischen Funktio-
nen nicht rechnen lässt. Die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit ist
für die von ihm erarbeiteten Quellen stabiler Sinnvorgaben wesentlich. Die
Möglichkeit für Individualität entwickelt sich, ohne dass sie sich verhindern lie-
ße, und Individualität findet in der Schöpfung neuer Berufe ihren Ausdruck. Die
Vielfalt und arbeitsteilige Vernetzung der Berufe treibt schließlich die Entwick-
lung partikularer Moral voran. Die Beförderung des Individuums zum sakralen
Ding der Nation wirkt sich nachhaltig auf partikulare Moral aus, die ihrerseits
der inneren Ordnung der Nation willkommen ist. Durkheim hält somit an der
Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit fest, weil er erkennt, dass sich
Individualität nicht rückgängig machen lässt. Er lässt sie und den moralischen
Polymorphismus daher wegen des sachlichen Bedarfs unangetastet und nicht
weil er den Wert des Individuums verteidigt. Die Unrevidierbarkeit des Anstiegs
der individuellen Entscheidungsfreiheit, der Sakralität des Individuums und des
moralischen Polymorphismus zeigt sich also daran, dass er mit ihren morali-
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 337

schen Wirksamkeiten rechnet, die in modernen Gesellschaften erforderlich sind.


In einer Vorlesung bringt er das wie folgt zum Ausdruck:
„Im Gegensatz dazu [zur mechanischen Solidarität; C.A.] konnten wir die höhere
Solidarität als eine Tochter der Arbeitsteilung, die den Teilen ihre Unabhängigkeit
belässt und dadurch die Einheit des Ganzen verstärkt, in den großen modernen Ge-
sellschaften umso besser beobachten“ (Durkheim 1981, S. 55).
Der Verträglichkeit zwischen der Nation und der modernen Kultur wird im
nächsten Schritt nachgegangen. Weil die Sakralität des Individuums und der
moralische Polymorphismus, gemäß dem ersten Ergebnis, nicht rückgängig zu
machende Effekte der ungeplanten Zunahme der individuellen Entscheidungs-
freiheit sind, schließt Durkheims Empfehlung über die moralische Gemeinschaft
der Nation deren Gefährdung aus. In diesem Fall achtet er darauf, dass mit dem
Individuum an sich, das als nationales Symbol der Gegenstand der synthetischen
Besinnung ist, die Nation die Sakralität des Individuums und den moralischen
Polymorphismus nicht beeinträchtigt. Durkheims Werk lässt sich ferner danach
befragen, inwiefern sich diejenige Gemeinschaft der Nation mit jenen beiden
Effekten vereinbaren lässt, deren Anzeichen das an den eigenen Herrschaftsver-
band gekoppelte Machtprestige und der ebenfalls mit ihm verbundene Ver-
wandtschaftsglaube sind. Das ist die Nation, die ihre moralische Kraft am Staat
symbolisiert. Vertragen sich also die Gemeinschaft der Nation, deren Gemein-
samkeitsmerkmal der Staat ist und die sich somit von nicht-nationalen Gemein-
schaften unterscheidet, mit der Sakralität des Individuums und dem moralischen
Polymorphismus?
Der Nutzen der Nation, für deren Gemeinschaft sich ihre moralische Kraft
am Staat versinnbildlicht, im Hinblick darauf, die von Durkheim festgestellte
Belastung durch Egoismus und Anomie zu nivellieren, gibt eine erste Auskunft
über die Verträglichkeit von Nation und moderner Kultur. In der Tat führt Durk-
heim die entlastende Wirkung durch die gemeinsame Besinnung auf den nationa-
len Staat an. Altruismus kann die für den Egoismus kennzeichnende Antriebslo-
sigkeit schadlos halten, wenn er infolge außeralltäglicher Ereignisse aufkommt
und sich dadurch ausdrückt, dass überindividuelle Ziele über moralische Kraft
verfügen, die über das gewohnte Maß hinausgeht. Die auf Seiten Webers akzen-
tuierte Opposition, mit der er für die aus dem sozialen Handeln verschuldete
Zusammengehörigkeit rechnet, kommt im Denken Durkheims hinsichtlich der
Dichte eines Kollektivs vor. Weil sie für den Altruismus entscheidend ist, er-
wähnt er die heilsame Wirkung, die aus oppositionellen Anlässen entsteht. Die
Selbstmordanfälligkeit schwindet faktisch im Falle eines Geschehens, das die
Verteidigung des Staates verlangt (vgl. Durkheim 1973, S. 230). Die empfohlene
Vermittlung zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus ist nun ausgeschlos-
sen, denn anstelle des Individuums repräsentiert der Staat die moralische Kraft
338 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

des Kollektivs der Nation, die deswegen der universellen Moral nicht mehr ge-
nügt.
Für den zuträglichen Effekt gegen die tatkrafthemmende Sinnlosigkeit des
Egoismus ist aber vorwiegend die Verdichtung und nicht die Opposition verant-
wortlich. Erstere stärkt die moralische Kraft überindividueller Ziele, weil sich
deren Ursprung im synthetischen Handeln wiederholt, das sie zum Gegenstand
hat. Die heilsame Wirkung geht nicht auf die Veranlassung zurück, sich an der
Verteidigung des Staates zu beteiligen, sondern es wirkt sich die moralische
Kraft aufgrund der intensiven Aktualisierung ihres Ursprungs aus. Sie drängt
sich dem Individuum erfolgreich auf, und das bedeutet, es nimmt mehr auf sie
als auf sich Rücksicht, so dass die vergebliche Suche nach Sinn im seinem In-
nern aussetzt. Durkheim zählt den Altruismus auf, denn „der Krieg hat morali-
sche Konsequenzen […]“ (Durkheim 1973, S. 231), die die egoistische Teil-
nahmslosigkeit schwächen und dem Individuum die Möglichkeit schaffen, sich
selbst verständlich machen. Die Umkehrung erhärtet sich schließlich durch das
geringe Vorkommen des Egoismus, das Durkheim in denjenigen Ländern aus-
findig macht, in denen die fakultativ verpflichtenden Selbstmorde insbesondere
von Soldaten häufiger vorkommen, als sich Belastungen durch geltungsschwa-
che Sinnvorgaben und Antriebslosigkeit bemerkbar machen. Der soldatische
Freitod geht nicht auf die Sinnsuche zurück, die ins Nichts führt, denn Durkheim
stellt Ehrverletzungen fest, die eine höhere Selbstmordanfälligkeit auf Seiten der
Soldaten gegenüber derjenigen der Zivilbevölkerung hervorrufen. Die Statistiken
(ebd., S. 256 ff.) zeigen zum einen, dass der Suizidant dort den Tod gegenüber
der Schande vorzieht, wo die Moral von Kollektiven, der er nicht genügt, einen
Selbstverzicht auferlegt, der die individuelle Initiative in nur geringem Maße
zulässt. Zum anderen zeigen Selbstmordraten mit einer hohen Zahl an Suiziden,
die dem fakultativ altruistischen Typus am nächsten kommen, ein geringes Vor-
kommen des egoistischen Typus abseits des Militärs. Die hohe Selbstmordrate
unter Soldaten begleiten Erhebungen, denen sich eine niedrige Selbstmordrate
unter Zivilisten entnehmen lässt. Umkehrt liegt der egoistische Typus dort häufig
vor, wo der Freitod anlässlich einer Ehrverletzung kaum Ästimation nach sich
zieht und daher sinngemäß selten umgesetzt wird.
Durkheim schließt darauf, dass sich die relative Immunität vor dem Freitod
in denjenigen Ländern feststellen lässt, in denen wirksame Kollektivvorstellun-
gen die eigenständige Sinnsuche verhindern. Selbstmorde treten aber auch dort
auf, weil sie im Falle des Scheiterns und der Schande zur Disposition stehen.
Nichtsdestoweniger bietet dieser Altruismus einen Schutz vor der Orientierungs-
losigkeit, die nicht nur den individuellen Lebenswillen beeinträchtigt, sondern
nachhaltige Auswirkungen auf die Moral selbst hat. Daher macht er seine Emp-
fehlungen insbesondere für diejenigen Länder geltend, deren Selbstmordrate
nicht den Altruismus, sondern den Egoismus erkennen lässt. Der oppositionelle
Anlass, der die synthetische Besinnung der Angehörigen einer Nation auf den
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 339

eigenen Staat richtet und damit die soziale Herkunft ihrer Moral iteriert, mobili-
siert einen Selbstverzicht, der die maximale Investition auf Seiten des Individu-
ums nicht ausschließt. Dieser nationale Altruismus verdrängt die sonst überwie-
gende Orientierungslosigkeit, und deswegen erwähnt Durkheim, dass sich neben
der moralischen Gemeinschaft der Nation, die sich nach innen ausrichtet, sich
also am Individuum symbolisiert, auch eine nach außen ausgerichtete Nation, die
sich am Staat symbolisiert, als hilfreich erweist, weil dieser, anders als das Indi-
viduum an sich, die Hingabe für einen höheren Zweck bewegt, mit dem sich das
Individuum an sich zwar nicht mehr gewährleisten lässt, der aber den Egoismus
abwenden kann.
Während Durkheim sich aber dafür ausspricht, die Bildung der Berufsgrup-
pen und die Vermittlung zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus zu initi-
ieren, kann man seinen Äußerungen nicht entnehmen, dass er den nationalen und
oppositionellen Altruismus lanciert. Er deckt dessen moralische Funktion auf,
die aufgrund der nicht auszuschließenden Feindseligkeiten zwischen den Staaten
unwillkürlich ihren Verlauf nimmt (vgl. Durkheim 1991, S. 103), woraus er zu-
dem erschließt, dass der nationale Selbstverzicht nicht vollkommen verschwin-
den kann (vgl. Durkheim 1973, S. 431). Konfrontiert man diese moralische
Funktion des nationalen Altruismus mit der organischen Solidarität und Durk-
heims Empfehlungen, so lassen sich, auch unter Berücksichtigung ihrer hem-
menden Wirkung auf den Egoismus, erste Schlüsse hinsichtlich der Verträglich-
keit zwischen Nation und moderner Kultur folgern.
Der nationale Altruismus ist zum einen auf außeralltägliche Ereignisse an-
gewiesen und entwickelt sich daher nur vorübergehend. Zum anderen hat er es
schwer, sich gegen das Handeln in den Berufen durchzusetzen. Die Abwärtsbe-
wegung in den Selbstmordraten anlässlich von Ereignissen, die die Nation be-
treffen, treten plötzlich und bei Ausbruch des jeweiligen Geschehens ein, halten
sich aber nach dessen Beendigung nicht, denn die Zahlen nähern sich allmählich
dem einst durchschnittlichen Wert an (ebd., S. 224 ff.). Aus den Daten geht das
Schwinden der relativen Immunität gegen den Egoismus hervor, die mit dem
nationalen Altruismus verbunden ist. Fehlt der Anlass aber, den gemeinsamen
Staat zum Gegenstand von Interaktionen zu machen, so tritt er in den Hinter-
grund und damit reduziert sich die moralische Kraft, die zuvor aus den Interakti-
onen entsprungen war und sich am Staat hypostasiert hatte. Für die Abhängigkeit
des nationalen Altruismus von abrupten Vorfällen sind das randständige Vor-
kommen von Staat und Nation in den Sinnen des Individuums und der hierfür
erforderliche hohe Abstraktionsgrad verantwortlich. Neben der Dominanz der
beruflichen Tätigkeiten im Alltag und in der Biographie des Individuums wirken
sich die Schaffung neuer Berufe und die Ausübung beruflicher Funktionen auf
dessen Orientierung aus (vgl. Durkheim 1991, S. 44). Die berufliche Tätigkeit
des Individuums gehört zu einem von vielen und zunehmenden anderen Berufen,
so dass die eigene Spezialisierung durch die Abgrenzung von anderen im Auf-
340 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

fassungsvermögen überwiegt, und das wird ferner dadurch erhöht, dass die
wachsende Arbeitsteilung die Abhängigkeit anderer Berufe von der eigenen Be-
rufsleistung bewusst macht (vgl. Durkheim 2008a, S. 58). Die Vorrangstellung
der Interaktionen im Beruf verweist nicht nur überindividuelle und von den be-
ruflichen Funktionen unabhängige Ziele auf einen nachgeordneten Rang, son-
dern sie erschwert zudem die Abstraktion, die erforderlich ist, um über die Viel-
falt der Unterschiede innerhalb einer Nation hinwegzusehen und sich auf das
Gemeinsame aller Angehörigen der Nation zu besinnen. Die Vorherrschaft der
zu erfüllenden Aufgaben im Beruf, aber auch die Vermehrung der Unterschiede
aufgrund der wachsenden Arbeitsteilung, die den moralischen Polymorphismus
verschuldet, führen dazu, den Grad der Abstraktion zunehmend zu erhöhen, so
dass sich der nationale Altruismus hintanstellen muss. Durkheim dazu:
„Jedem Individuum begreiflich zu machen, dass es nicht allein bestehen kann, son-
dern ein Teil des Ganzen ist, von dem es abhängt? Aber eine derartige Vorstellun-
gen, die wie alle komplexen Vorstellungen abstrakt, vage und im Übrigen nur kurz-
fristig wirksam ist, kann gegen die lebhaften, konkreten Eindrücke nichts erreichen,
die die Berufstätigkeit beständig in jedem von uns hervorruft. Wenn diese Berufstä-
tigkeit also die Wirkung hat, die man ihr zuschreibt, wenn die Beschäftigungen, die
unser tägliches Leben ausfüllen, dazu führen, uns von der sozialen Gruppe, der wir
angehören, zu trennen, dann könnte eine derartige Vorstellung, die nur dann und
wann eingreift und nur einen kleinen Teil unseres Bewusstseinsfeldes einnimmt,
nicht genügen, um uns in ihr festzuhalten. Damit das Gefühl der Abhängigkeit, in
der wir leben, wirkungsvoll sei, müsste es auch dauernd sein; das kann es aber nur
sein, solange es ständig an die Ausübung einer jeden Spezialfunktion gebunden ist“
(ebd., S. 430 f.).
Nur ein irregulärer Anlass kann die Aufmerksamkeit auf Symbole der Nation
richten, wohingegen ihre moralische Kraft, die zunächst gebietet, in den vielen
Besonderheiten das Allgemeine aufzusuchen, an der Macht der beruflichen Auf-
gaben scheitert. Das bedeutet, dass es die Symbole der Nation und daher auch
ihre moralische Kraft nicht schaffen, sich im Alltag des Individuums zu etablie-
ren. Das sie sich aber unter außeralltäglichen Umständen tatsächlich behaupten
kann, stellt das Auf und Ab der Selbstmordraten während und nach Geschehen
von nationalem Belang unter Beweis.
Unabhängig davon ist es für den Staat, so Durkheim, nicht von Vorteil, von
der moralischen Kraft der Nation vereinnahmt zu werden, da dies seine Macht
gefährdet. Das wesentliche Merkmal der Macht des Staates geht aus dem Unter-
schied zur Macht jeglicher moralischen Kraft hervor, nämlich die reflektierte und
bewusst geplante Ausübung der Macht, was für die Macht, die kollektiven Ur-
sprungs ist, nicht zutrifft (vgl. Durkheim 1996a, S. 46). Die Macht des Staates
misst sich daran, was sich der Staat zum Gegenstand seiner Reflexion unterord-
nen kann. Indessen ist sie für Durkheim dann gering, wenn sich der Staat von
einer moralischen Kraft leiten lässt, denn diese ist aufgrund dessen, dass sie syn-
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 341

thetisch zustande kommt, nicht motiviert, sondern diffus. Sie ist „[…] nicht das
Ergebnis bewusster Willensentscheidung“ (Durkheim 1991, S. 75). Daher folgert
er, dass der Staat in dem Maße über Macht verfügt, in dem das Individuum frei
ist, denn daran lässt sich ablesen, dass sich zum einen die moralische Kraft nicht
mit Erfolg dem Staat aufdrängen kann. Zum anderen zeigt sich daran, dass sich
die Gegenstände reduzieren, deren hergebrachte und kollektive Ursprünge nicht
in Zweifel gezogen werden, so dass sich der Staat ihrer annehmen kann (ebd., S.
134). Zu den Zwecken des Staates gehört es demnach, die moralische Mechanik
der Kollektive nur so weit zuzulassen, als sie die individuelle Entscheidungsfrei-
heit nicht beeinträchtigen (ebd., S. 85), jedoch rechnet Durkheim an, dass die
Moral der Kollektive ihrerseits dazu beiträgt, dass weder der Staat das Individu-
um vereinnahmt, noch die Nation die Reflexion des Staates beeinträchtigt (ebd.,
S. 139). Aus diesen Überlegungen geht also hervor, dass dem Staat die Entschei-
dungsfreiheit des Individuums von Nutzen ist, die, gleich ob er oder die Sekun-
därgruppen sie verringern, eine Bedingung seiner Macht ist, weil mit ihr die
Freigabe der Gegenstände verbunden ist, die sich seiner bewussten Handhabung
sonst entziehen. Zügelt er die Kollektive innerhalb der politischen Gesellschaft,
so stärkt das nicht nur ihre Einheit und damit seine Macht, denn diese wird auch
nachhaltig gestärkt, weil die Möglichkeit dieser Individualität auf diese Züge-
lung angewiesen ist. Ferner schützt der moralische Polymorphismus das Indivi-
duum vor dem Staat und wiederum ihn vor der Nation, so dass sich beides zu
seinem Gunsten auswirkt. Insgesamt zeigt sich aber der Vorteil, den das Indivi-
duum dem Staat bereitet.
Anders als der nationale Altruismus ist der nationale Kosmopolitismus, für
den Durkheim vorsieht, dass der Staat den Kult des Individuums pflegt, dahin-
gehend konstruiert, mit der Kanalisierung der moralischen Kraft der Nation auf
das Individuum statt auf den Staat vordergründig nicht gegen die Orientierungs-
losigkeit durch Hingabebereitschaft vorzugehen, sondern die ungeregelte Abwer-
tung und Überbewertung von beruflichen Leistungen, die sich im Falle von un-
erwarteten Krisen und Konjunkturen in der Wirtschaft beobachten lassen (vgl.
Durkheim 1973, S. 273 ff.), durch den nötigen Respekt für das Individuum zu
unterbinden. Es ist daher in erster Linie die Anomie, und daneben erst der Ego-
ismus, auf die der nationale Kosmopolitismus antworten soll, um zu vermeiden,
dass die individuelle Anstrengung durch einen Sinnverlust belastet und damit die
Orientierung beeinträchtigt wird, die einen darüber informiert, mit welchen Ein-
satz man für einen Erfolg rechnen muss und wann ein Erfolg überhaupt vorliegt.
Durkheim schließt, dass der Schutz für das Individuum den sinnlosen Einsatz der
Tatkraft verhindert, der am Anfang der Anomie steht. Der nationale Kosmopoli-
tismus ist gegenüber dem nationalen Altruismus schließlich im Vorteil, weil sei-
ne Wirksamkeit nicht darin besteht, eine höhere Dringlichkeit gegenüber der
Aufmerksamkeit für die Aufgaben des Berufes und die darin sich vollziehenden
Interaktionen zu erzielen, sondern mit dem Respekt für das Individuum eben
342 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

diese Berufstätigkeit überhaupt und die Vernetzung der beruflichen Leistungen


dadurch zu unterstützen, dass das Individuum vor der Unkenntnis darüber be-
wahrt wird, wofür es sich lohnt, eine bestimmte Arbeit zu verrichten. Die Vermi-
schung von Kosmopolitismus und Nationalismus kann zwar die Transparenz
über den Wert einer Leistung nicht hervorbringen, sie kann aber dazu beitragen,
die Verkennung der Leistung eines Individuums zu verhindern, und das ist der
Grund, warum sich Durkheim mit dem nationalen Kosmopolitismus verspricht,
„[…] dass die berühmte Maxime Wirklichkeit wird: Jedem nach seiner Leis-
tung“ (Durkheim 1986, S. 68). Dessen ungeachtet steht für ihn außer Zweifel,
dass die universelle Moral keine Lösung für die Intransparenz in der Prämien-
verteilung bietet, denn was benötigt wird, sind spezifische Regelungen für die
verschiedenen Leistungen in den Berufen, und das lässt sich durch die nationale
Gemeinschaft nicht erzielen. Aufgrund der Vielzahl der Berufe und der jeweils
erforderlichen Fachkompetenz ist, ihm zufolge, selbst der Staat mit der Kon-
struktion der Regelungen überlastet (vgl. Durkheim 2008a, S. 46). Also: Weder
der nationale Altruismus, mit dem sich eine Gemeinschaft aus der Opposition
zugunsten des eigenen Staates herstellen lässt, noch der nationale Kosmopoli-
tismus, bei dem sich der Respekt für das Individuum an sich auch zugunsten des
empirischen Individuums auswirkt, kann dem konstatierten Bedarf an Regelun-
gen die nötige Abhilfe schaffen.
Der organischen Solidarität und der empfohlenen Stärkung der Berufsgrup-
pen ist gemeinsam, wonach Durkheim sucht, und das ist eine Quelle für Verhal-
tensregeln, von denen das Individuum nicht nur anlässlich außeralltäglicher Um-
stände betroffen ist und die keine komplexe Abstraktionsleistung voraussetzen.
Angesichts der Dominanz der beruflichen Interaktionen macht er diese Quelle in
ihnen ausfindig, sei es die interdependente Vernetzung der arbeitsteiligen Inter-
aktionen oder der Ursprung jeglicher Moral, dem die Berufsgruppe genügt. Ver-
haltensregeln, die zum einen ausschließlich für die Berufe gelten und deren
Wirksamkeit zum anderen im Alltag andauert, sind hinreichend, um Egoismus
und Anomie anzugehen. Darin offenbart sich erstens, dass Durkheim die unzu-
reichende Entwicklung partikularer Moralen feststellt, denn solchen entsprechen
schließlich die organische Solidarität und die Moral der Berufsgruppen, und für
diese beiden konstatiert er, rudimentär arriviert zu sein. Mit ihnen gibt sich zwei-
tens Durkheims Festhalten an der Zunahme der individuellen Entscheidungsfrei-
heit zu erkennen. Also: Weil er anhand seiner Studien auf der einen Seite den
Entwicklungsbedarf der partikularen Moralen erschließt, die er dafür qualifi-
ziert erachtet, dem Individuum die endlose Sinnsuche und die ständige Erfolglo-
sigkeit zu ersparen und er auf der anderen Seite ausschließt, dass sich die Zu-
nahme der individuellen Entscheidungsfreiheit rückgängig machen lässt, ergibt
sich aus der Wirksamkeit von ersterer und Durkheims Festhalten an letzterer,
dass es die maßlose Entscheidungsfreiheit des Individuums ist. Er erhebt sie
deswegen zum Problem, weil sie die Handlungsfähigkeit des Individuums beein-
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 343

trächtigt. Sie gehört zum Egoismus und zur Anomie und äußert sich entweder
durch Sinnverlust oder Enthemmung (vgl. Durkheim 1973, S. 296), wobei sich
die beiden Typen empirisch durchaus verschränkt miteinander auffinden lassen.
Vor dem Hintergrund seiner Ergebnisse erschließt sich ihm nicht, dass die Mög-
lichkeit zur Individualität ein Grund für Egoismus und Anomie ist, denn der or-
ganischen Solidarität und der empfohlenen Stärkung der Berufsmoral lässt sich
entnehmen, dass sie die Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit des Individu-
ums durch dessen Entscheidungsfreiheit verhindern sollen, ohne sie zugleich zu
riskieren. Mit dem Effekt der partikularen Moral erwartet er, die individuelle
Entscheidungsfreiheit daran zu hindern, sich selbst zur Gefahr zu werden, d.h.
jene soll sie in normale Bahnen lenken.
Eine erste Antwort auf die Frage nach der Verträglichkeit zwischen der Na-
tion mit dem eigenen Staat als Symbol ihrer moralischen Kraft einerseits und der
Sakralität des Individuums und dem moralischen Polymorphismus andererseits
ist nun angesichts der Prüfung dieser Nation hinsichtlich ihres Beitrags gegen die
Belastungen des Egoismus und der Anomie möglich: Die Bildung der morali-
schen Gemeinschaft der Nation mithilfe des Staats ist im Hinblick darauf unzu-
länglich, die egoistischen und anomischen Krisensymptome aufzuheben. Der
nationale Altruismus ist, wenn er sich kraft außeralltäglich dichten Interaktionen
der nationalen Angehörigen regt, faktisch imstande, für die Nivellierung der
phlegmatischen Desorientierung zu sorgen, die den Egoismus kennzeichnet. Ab-
seits der außeralltäglichen Veranlassung zu dichten Interaktionen lassen ihm die
Verbindlichkeiten der beruflichen Interaktionen keine Chance, das Individuum
so zu bedrängen, wie es ihm angesichts des dringlichen Anlasses gelingt, einen
bis aufs Äußerste gehenden Eifer für die repräsentativ wirkende Ehre des Staa-
tes zu mobilisieren. Die am eigenen Staat versinnbildlichte Nation bringt es nicht
fertig, gegen die Gleichförmigkeit des täglichen Einerleis die heilsam wirkende
Dichte zu erreichen. Darüber hinaus macht ihr angesichts des moralischen Poly-
morphismus die schwer zu bewältigende Reduktion auf das Allgemeine der nati-
onalen Angehörigen zu schaffen. In Anbetracht der schwachen Wirkung des
nationalen Altruismus im Alltag ist ihm der nationale Kosmopolitismus um All-
tagstauglichkeit voraus, weil sich seine moralische Kraft dahingehend auswirkt,
beruflichen Leistungen den gebührenden Wert nicht vorzuenthalten, was die
störungsanfälligen Interaktionen der Arbeitsteilung zwischen den jeweiligen
Berufstätigen vor anomische Folgen bewahrt. Im Gegensatz zum nationalen Alt-
ruismus leistet der nationale Kosmopolitismus eine Hilfestellung gegen die Kri-
sensymptome und er genügt zugleich dem sachlichen Bedarf an Individualität.
Durkheims Vermittlung zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus ist auf
die moderne Kultur zugeschnitten, wohingegen der nationale Altruismus zwar
unter außeralltäglichen Bedingungen dem Egoismus zusetzt, aber damit dem
Individuum nicht gerecht wird. Weil es schließlich die maßlose Entscheidungs-
freiheit und nicht die Entscheidungsfreiheit an sich ist, die im Wesentlichen den
344 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Egoismus und die Anomie hervorruft, schließen weder die organische Solidarität
noch Durkheims Empfehlungen ein, die Entscheidungsfreiheit insgesamt aufzu-
heben. Der nationale Altruismus ist also deswegen unzulänglich, weil er gegen
das, was Durkheim in seinen Arbeiten als Belastung für das Individuum auf-
deckt, nicht angemessen wirkt, d.h. er kann die Entscheidungsfreiheit nicht min-
dern, ohne sie zugleich so zu gewährleisten, wie es die organischen Solidarität,
das Arbeitsmilieu und der nationale Kosmopolitismus erreichen. Stattdessen
schränkt er die Entscheidungsfreiheit unmäßig ein. Der nationale Altruismus
steht nicht nur in Widerspruch mit dem Individuum an sich, sondern er scheitert
auch an den Folgen der Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit, und
das sind die Dominanz der beruflichen Interaktionen und der moralische Poly-
morphismus. Und selbst der Staat hat mehr von der individuellen Entscheidungs-
freiheit, als wenn sich die moralische Kraft der Nation auf ihn kanalisiert.
Der Verträglichkeit zwischen der mittels des Staates (re-)aktivierten Moral
der Nation und der modernen Kultur lässt sich ferner nachgehen, indem man
weitergehend berücksichtigt, wie es abseits oppositioneller Anlässe um den nati-
onalen Altruismus und die gebieterischen Kräfte bestellt ist, denen es unter au-
ßerordentlichen Umständen gelingt, eine bis aufs Äußerste gehende Verausga-
bung und Opferbereitschaft zu stimulieren. Der nationale Altruismus ist mit ei-
ner Moral konfrontiert, die seine Wirksamkeit einschränkt, wenn Animositäten
gegen das Symbol der Nation fehlen.
Die Dichte der Interaktionen mit wechselseitiger Orientierung auf den eige-
nen Staat nimmt zu, wenn dessen Behauptung vonnöten ist. Die „[…] histori-
schen Perioden, in denen die sozialen Interaktionen unter dem Einfluss großer
kollektiver Erschütterungen häufiger und aktiver werden“ (Durkheim 2010a, S.
313), lösen Handlungen zugunsten des Kollektivs aus, bei denen auch der Ein-
satz von Gewalt als rechtens gilt (ebd.). Während einer solchen gärenden, sozial
bewirkten Apotheose des Kollektivs erreicht die moralische Kraft, Durkheim
zufolge, das Ausmaß, um den Selbstverzicht des Individuums so weit zu treiben,
dass er sich im unüberbietbaren Einsatz äußert. Die Ergebenheit gegenüber dem
Kollektiv kommt angesichts außerordentlicher Anlässe nicht nur durch die eige-
ne Opferbereitschaft zum Ausdruck, sondern lässt sich an der Minderung des
Respekts für das Individuum überhaupt beobachten, denn das geht ebenfalls
dann vor sich, wenn sich Anfeindungen gegen die Symbole des Kollektivs rich-
ten.
Die Mordstatistik während eines Krieges oder einer politischen Krise macht
das offenkundig. Durkheim konstatiert: „Den günstigen Nährboden für Morde
bildet also eindeutig ein von Leidenschaften geprägtes öffentliches Bewusstsein,
das sich ganz natürlich auch im Bewusstsein des einzelnen niederschlägt“
(Durkheim 1991, S. 168). Er zeigt an, dass die Zahl der Morde in verschiedenen
Ländern den jeweiligen Durchschnittswert überschreitet (ebd., S. 166 ff.), sobald
es aufgrund jener Anlässe zu einem Anstieg solcher Interaktionen kommt, mit
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 345

denen sich die moralische Kraft eines Kollektivs an seinen Symbolen hyposta-
siert, die zuvor Gegenstand eines Vergehens waren. Gleiches lässt sich an den
Tagen verzeichnen, die den Kollektiven amtlich gewidmet sind. Die Mordrate
reißt nämlich an Sonn- und Feiertagen nach oben aus (ebd., S. 169).
Gewaltbereitschaft und der mangelnde Respekt gegenüber dem Individuum
treten, so Durkheim, entsprechend dem maßlosen Selbstverzicht auf. Ist das Maß
der synthetischen Besinnung auf das Symbol des Kollektivs hoch, so nimmt
nicht nur die Rücksicht auf sich selbst, sondern auch auf andere ab. Er entnimmt
den registrieren Morden, dass die Opferbereitschaft des Individuums eines Kol-
lektivs zuliebe mit einer Schwächung der sanktionierten Achtung gegenüber dem
Individuum an sich korrespondiert. Durkheim notiert: „Die Liebe zum Vaterland
und die Bindung an die Gruppe drängen die Sympathie für das Individuum in
den Hintergrund“ (ebd., S. 166). Steht der Anstieg der Mordrate im Schatten
eines politischen Ereignisses, so regt sich Gewalt und es bleibt die Missbilligung
gegen Verletzungen aus, die das Individuum an sich betreffen. Dessen ansonsten
geltende Unantastbarkeit erleidet einen Verlust an Anerkennung, so dass Durk-
heim politische Ereignisse wie den Krieg und die damit in Gang kommende
Verdichtung eines Kollektivs als Regression derjenigen Moral erachtet, auf der
im Wesentlichen die Protektion des Individuums beruht: „Das Individuum ver-
schwindet; es zählt nicht mehr; die Masse wird zum einzig entscheidenden ge-
sellschaftlichen Faktor“ (ebd.). Der etablierte Respekt für das Individuum er-
schöpft sich, weil die Gewalt als Antwort auf ein Vergehen gegen die emblema-
tische Funktion eines kollektiven Symbols zurückkehrt, wobei diese Reaktion für
Durkheim deswegen gewalttätig ist, weil der Schaden, den das Vergehen anrich-
tet, faktisch nicht materiell ist und sich demnach kein materiell zu leistender
Schadensausgleich anbietet, um das Vergehen zu ahnden (vgl. Durkheim 2008a,
S. 150 f.).
Dem zwischenzeitlichen Anstieg der Morde geht aber die sukzessive Redu-
zierung der Morde voraus. Durkheim konfrontiert die durchschnittliche Mordrate
mit dem Wert, der sich vor dem Hintergrund außerordentlicher Ereignisse ergibt,
um den Nachweis dafür zu erbringen, dass sich die unter diesen Bedingungen
plötzlich eintretende Zunahme der Morde dem schlagartigen Kult des Kollektivs
und dessen Widerhall, nämlich dem geminderten Respekt vor dem Individuum
verdankt. Die Sakralität des Individuums ist aber nicht maßgeblich für die im
Durchschnitt niedrige Mordrate verantwortlich, sondern das, was diesen Respekt
überhaupt erst möglich macht.
Die Kriminalitäts- und Bevölkerungsstatistik dokumentieren, dass sich al-
lein in Frankreich die Morde innerhalb von 55 Jahren um 62 % reduzieren, wäh-
rend sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um ein Fünftel vermehrt (vgl.
Durkheim 1991, S. 161). Indessen zeigen die Erhebungen, dass die Zahl der
Selbstmorde in den Ländern mit einer hohen Mordrate gering ist und umgekehrt
(vgl. Durkheim 1973, S. 413). Länder, in denen häufig Morde begangen werden,
346 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

weisen, den Daten zufolge, eine relative Immunität gegen den Selbstmord auf,
und das trifft auch zu, wenn man die Mord- und Selbstmordrate entlang der Kon-
fessionen betrachtet, denn die Zahl der Morde ist in den katholischen Ländern
höher als in den Ländern mit protestantischer Mehrheit, während hier die
Selbstmorde häufiger und die Morde seltener sind (ebd., S. 416).
Außerdem stellt Durkheim den Anstieg der Morde während der Kriege und
der politischen Großereignisse in einen Zusammenhang mit dem dann ebenfalls
zu verzeichnenden Rückgang der Selbstmorde. Die allgemeine Reduzierung der
Morde abseits des Krieges führt er nicht auf die Zunahme des Respekts für das
Individuum, sondern auf die geringere Kraft der Kollektivgefühle und Homoge-
nitätszumutungen zurück. Die plötzlich zunehmende Mordrate angesichts der
notwendigen Verteidigung kollektiver Symbole gibt zu erkennen, dass, so Durk-
heim, nicht der Respekt für das Individuum dazu führt, jemanden von einem
Mord abzuhalten, sondern der synthetisch hervorgerufene Selbstverzicht, der
keine Grenze kennt, die Morde vervielfacht und den Typus des egoistischen
Selbstmordes einschränkt (ebd., S. 419). Wenn die Morde also aufgrund der ab-
rupten Verdichtung infolge politischer Großereignisse zunehmen, dann ist die
Mordrate sonst nicht deswegen niedrig, weil der Respekt für das Individuum
wirksam ist, sondern weil diejenige Dichte der Interaktionen gering ist, in denen
sich die synthetische Besinnung auf die Symbole des Kollektivs richtet. Diese
schwache Besinnung ist aber erst die Voraussetzung für die Sakralität des Indi-
viduums und den moralischen Polymorphismus. Er schreibt:
„Wenn die Gefühle, die wir an das Individuum als solches knüpfen, eine Stärkung
erfahren, so weil die anderen Gefühle schwächer werden, weil die Gruppen keine
anderen Ziele mehr haben können als die Interessen der menschlichen Person. Wenn
nun die Zahl der Morde abnimmt, so liegt der Grund sehr viel eher darin, dass der
mystische Kult des Staates an Boden verliert, als darin, dass der Kult des Menschen
in seiner Bedeutung zunähme. Denn die Gefühle, die dem Kult des Staates zugrunde
liegen, treiben ihrem Wesen nach zum Mord“ (Durkheim 1991, S. 163).
Während sich die rückläufigen Morde und zunehmenden Selbstmorde in Zeiten
fernab des Krieges feststellen lassen, kommen die jeweils umgekehrten Tenden-
zen der beiden Taten im Falle starker politischer Leidenschaft vor. Weil diese
die hohe Mordrate und niedrige Selbstmordrate verschuldet, schützt also die ge-
ringe Wirksamkeit der Kollektivgefühle vor Mord, statt dass die Sakralität des
Individuums dieses Verbrechen verringert. Dominiert der nationale Altruismus
in einer außeralltäglichen Episode, wie sie die Dauer des Krieges darstellt, so
erschlafft der Respekt des Individuums. Durkheim nennt den Krieg daher eine
„Regression“ (ebd., S. 166), weil er die Sühne und den Selbstverzicht, der selbst
vor dem Leben des Individuums nicht haltmacht, vorübergehend wieder gesell-
schaftsfähig macht. Die Sühne übt schließlich bei demjenigen Solidaritätstypus
eine moralische Funktion aus, der auf der Homogenität der Individuen beruht.
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 347

Der Typus der Gesellschaft, in dem die mechanische Solidarität dominiert,


zeichnet sich dadurch aus, dass die Individualität des Individuums weitestgehend
unbedeutend ist. Wichtig ist aber Folgendes: Durkheim arbeitet heraus, dass In-
dividualität, die berufliche Spezialisierungen begleitet, nicht aus dem Widerstand
gegen die Homogenitätszumutungen erwächst. Sie ist kein geplantes, agonal-
emanzipatorisches Ergebnis. „Sie besteht, weil sie nicht nichtvorhanden sein
kann“ (Durkheim 2008a, S. 365). Dem entspricht, dass dem Individuum des Ge-
sellschaftstypus der ununterscheidbaren Individuen die Aspiration unbekannt ist,
sich von den Homogenitätszumutungen zu emanzipieren und dass Individualität
hier nicht gezielt unterdrückt wird (ebd., S. 182 f.). Das verhält sich jedoch im
Fall der ephemeren Renaissance der Sühne anders, und das ist der Grund, wes-
halb Durkheim konstatiert, dass der nationale Altruismus eine Regression be-
wirkt, aufgrund der die gebotene Achtung der Individualität temporär um ihre
bereits etablierte Kraft gemindert wird. Anders als beim Typus der segmentären
Gesellschaft haben Homogenitätszumutungen dort, wo es bereits zum Anstieg
der individuellen Entscheidungsfreiheit gekommen ist, bereits das Ende der Fah-
nenstange erreicht und somit trifft die vorübergehende Geltung der Zumutung,
sich rücksichtslos zugunsten des Kollektivs hinzugeben, auf Individualität, die
dem Individuum ein vertrautes überindividuelles Ziel ist. Während die Indivi-
dualität für die mechanische Solidarität, wenn diese dominiert, keine einschrän-
kenden Auswirkungen hat, weil sie über keine herkömmliche Geltung verfügt,
zeigen der Anstieg der Morde und die Reduzierung der Selbstmorde als zwi-
schenzeitliche Folgen des auf einmal zu unmäßigen Kräften gekommenen natio-
nalen Altruismus, dass sich dieser gegen die in der Tat geltende Sakralität des
Individuums durchsetzt.
Lässt ein politischer Zwischenfall den nationalen Altruismus für eine be-
stimmte Dauer in den Vordergrund treten, so bedeutet das, er greift dort um sich,
wo ansonsten die Suizide sich in den wenigsten Fällen dem altruistischen
Selbstmordtypus annähern. Ist also der nationale Altruismus auf Außeralltäg-
lichkeit angewiesen, dann gilt der Selbstmord nur selten als Zeugnis einer coura-
giert verfolgten Tugend. Es trifft dann nicht zu, dass der Mensch bei gegebenem
Anlass „[…] die Achtung der anderen verliert, wenn er darauf besteht, am Leben
zu bleiben“ (Durkheim 1973, S. 245). Die moralische Kraft kann nur dort den
Willen zum Tod hervorrufen, wo das Individuum im Kollektiv aufgeht, nur ist in
diesem Fall die Außeralltäglichkeit für den nationalen Altruismus entbehrlich.
Hingegen kommt er nicht ohne sie aus, wenn der Selbstmord kein Schritt zur
posthumen Imagepflege ist, stattdessen nur irrtümlich die Entschlusskraft doku-
mentiert, sie aber tatsächlich einen Schaden erleidet, der auf einen elegischen
Zustand des maßlos unbekümmerten Suizidanten zurückgeht.
Was moralisch geschieht, wenn dem nationalen Altruismus die Außeralltäg-
lichkeit fehlt, das verrät zunächst Durkheims Erklärung für die Schwankungen in
der Rate der Soldatenselbstmorde. Die Zahl der Freitode in der Armee korreliert
348 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

mit der Stärke des altruistischen Militärgeistes, der dort schwach ausgeprägt ist,
wo sich der für ihn charakteristische „Impersonalismus“ (ebd., S. 268) des Sol-
daten nicht mit dem Respekt für das Individuum verträgt. Dementsprechend ist
dort die Zahl der Soldatenselbstmorde relativ gering. Trifft der militärische Alt-
ruismus auf geringe Resonanz in der Zivilbevölkerung, dann kommen hier die
altruistischen Selbstmorde seltener und die egoistischen Selbstmorde häufiger
vor, und das gibt zu erkennen, dass der Individualität weniger Schranken gesetzt
sind. Wo sie weniger an der Entwicklung beeinträchtigt wird, da ist demnach die
unabhängig von politischen Großereignissen hervortretende Wirksamkeit des
nationalen Altruismus gemindert. Daran lassen sich als zweites Durkheims
Zweifel über den Nutzen der Religionsgemeinschaften im Hinblick darauf an-
schließen, die faktisch hohe Zahl der egoistischen Selbstmorde zu reduzieren.
Religion schützt nämlich nur insoweit vor Egoismus, als sich das Individuum
ihren Glaubenssätzen hingibt, ohne sie zum Gegenstand seiner kritischen Prü-
fung zu machen. Die Sinnvorgaben der Religion kennzeichnen sich im Wesentli-
chen dadurch, dass ihre Auslegung von Seiten der Gläubigen nur begrenzt mög-
lich ist. Aber der Anspruch auf die Unhinterfragbarkeit der Glaubenssätze kann
sich zum einen nicht gegen die Autorität der Wissenschaft behaupten, die antritt,
um dem Ursprung aller Dinge nachzugehen und deren kollektiv verliehene Macht
(vgl. Durkheim 2010a, S. 641) zur Folge hat, dass sich nichts verneinen lässt,
was sie feststellt (ebd., S. 631). Daher untergräbt die Wissenschaft die Möglich-
keit, die Religion bereithält, um den Egoismus zu mindern, da sie nicht mehr die
kritiklose Hingabe gegenüber einer Kraft mobilisieren kann, für die im Wesent-
lichen gilt, dass sie keinen Ursprung hat. Zum anderen steht die Religion im Wi-
derspruch zum modernen Zeitgeist bzw. der „modernen Tendenz des Moralbe-
wusstseins“ (Durkheim 2006, S. 153), welches sich dadurch kennzeichnet, dass
sich die „Gedankenfreiheit“ sozial aufdrängt, deren Einschränkung daher als ein
Vergehen verbucht wird (vgl. Durkheim 1973, S. 444). Die Gedankenfreiheit im
Hinblick auf das eigene Handeln ist eine notwendige Folge des Respekts für das
Individuum. Durkheim schreibt: „Dieser Kult des Menschen kennt als oberstes
Dogma die Autonomie der Vernunft und als obersten Ritus die freie Prüfung“
(Durkheim 1986, S. 60). Demnach ergibt sich die Unzulänglichkeit der Religion
dadurch, dass sie mit Individualität in Widerspruch steht, weil sie dem Individu-
um nicht erlaubt, der Herkunft ihrer Glaubenssätze nachzugehen. „Man verwei-
gert der menschlichen Vernunft das Recht, sich ihrer, wie des Restes der Welt zu
mächtigen“ (Durkheim 2006, S. 166). Individualität und damit auch die Freiheit,
den Ursprung des religiösen Zwangs zu erklären, werden aber, so Durkheim,
dort versittlicht, wo ihre Zunahme unbeabsichtigt erfolgt und wo sie für die be-
rufliche Spezialisierung sachlich erforderlich werden und durch diese nachhaltig
gefördert werden. Das schließt ein, dass ihre Einschränkung missbilligt wird.
„Ein erworbenes Recht auf eine größere Autonomie ist entstanden“ (Durkheim
2008a, S. 362).
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 349

Die Höhen und Tiefen des altruistischen Militärgeists und die unergiebige
Heilkraft der Religionsgemeinschaften zur Minderung des Egoismus geben eine
erste Auskunft über die Verfassung der am Staat symbolisierten Nation, wenn
sich nicht der Einfluss der Außeralltäglichkeit auf sie auswirkt: Der nationale
Altruismus kann abseits politischer Großereignisse nur eingeschränkt zur Gel-
tung kommen, denn: Die relativ geringe Zahl der Soldatenselbstmorde beruht
darauf, dass sich auf der einen Seite die moralische Kraft, die sich am Individu-
um an sich hypostasiert, und sich auf der anderen Seite die keiner Planung unter-
liegenden Faktoren, ohne die sich Individualität nicht bilden kann, zum Nachteil
des altruistischen Militärgeists auswirken. Der Respekt für das Individuum ist
zwar, und das ging zuletzt aus Durkheims Erklärung der sich reduzierenden
Mordrate hervor, dort entstanden, wo sich ein Schwund des Altruismus feststel-
len lässt, die Sakralität des Individuums schwächt ihn aber ihrerseits, weil beide
in Widerspruch zueinander stehen. Dieser Gegensatz wird offensichtlich, wo der
Altruismus, zu dessen Kennzeichen gehört, dass Sinnvorgaben davor geschützt
sind, zum Gegenstand der Erörterung zu werden, eben dadurch geschwächt wird,
dass zum einen ihre Richtigkeit einer Prüfung unterzogen wird und dass er zum
anderen in einen Konflikt gerät, wenn er die Unhinterfragbarkeit der Sinnvorga-
ben behauptet, ihre Prüfung also verweigert. Der Respekt für das Individuum,
der die Zulässigkeit der freien Reflexion einschließt, belastet den Altruismus.
Zur Wirkung der Reflexion der Sinnvorgaben äußert sich Durkheim wie folgt:
„Man möchte sich über sie Rechenschaft ablegen, man stellt ihre Daseinsberech-
tigung infrage; wie auch immer sie diese Prüfung bestehen, sie verlieren dabei
einen Teil ihrer Kraft“ (ebd., S. 352). Der Altruismus überhaupt erleidet daher
eine Schwächung, für die auch die Sakralität des Individuums verantwortlich ist,
und das äußert sich im Widerspruch gegen Zumutungen zur unhinterfragten
Hingabe an ein Kollektiv, der sich eben dann nicht formiert, wenn Individualität
unbekannt ist. Abseits der Außeralltäglichkeit stößt sich also der Altruismus an
der Sakralität des Individuums. Nur liegt hier mehr als nur eine Wertantinomie
vor, denn der nationale Altruismus stößt sich an der Wirksamkeit der Sakralität
des Individuums; sie schwächt ihn. Dass dies im Falle des nationalen Altruismus
nicht anders ist, belegt seine Wirksamkeit gegen den Egoismus, die sich erst
dann an der sinkenden Selbstmordrate ablesen lässt, wenn drohendes Unheil den
Staat als Symbol der Nation betrifft.
Der Protest gegen die Heteronomie des individuellen Handelns ist eine Fol-
ge davon, „[…] dass die menschliche Person heilig ist“ (Durkheim 2006, S.
154). Durkheims Beitrag zur Dreyfus-Affäre demonstriert noch mehr den Wider-
spruch zwischen der Sakralität des Individuums und dem unmäßigen Altruismus
und die Belastung des Altruismus durch die Sakralität des Individuums. Zur per-
sönlichen Tragödie des Protagonisten dieses Falls gehört, dass er zum einen
Leidtragender einer fehlerhaften Justizentscheidung und der antisemitischen
Diskreditierung ist. Zum anderen vollzieht sich an ihm ein Vergehen gegen ein
350 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

Symbol, das seine Person überschreitet. Um die Verletzung der Person Dreyfus
kümmert sich Durkheim weniger, da er sich stattdessen dafür einsetzt, den Indi-
vidualismus nicht zu verunglimpfen, indem man ihn mit einem „kleinlichen
Kommerzialismus“ (Durkheim 1986, S. 55) gleichsetzt. Dreyfus Zurückstufung
hat für diesen wiederum aufgrund der Intention Durkheims aber nicht unwill-
kommene Folgen.
Dessen Verteidigung des Individualismus besteht erstens darin, ihn gegen
den Effekt zu wenden, den zu verursachen, man ihm vorwirft. Zweitens legt
Durkheim offen, warum der Individualismus unverzichtbar ist. Mit seinem ersten
Anliegen tritt die Sakralität des Individuums hervor, für die der Individualismus
steht und wovon sich die Verklärung der Eigennützigkeit abhebt. Während eine
Maxime, die den materiellen Gewinn des Individuums vorsieht, unmöglich aus-
schließen kann, dass man für ihre Befolgung auch die Schädigung anderer in
Kauf nimmt, macht der Individualismus dieses Verhalten zum Gegenstand der
Ächtung (ebd., S. 57). Der Widerspruch gegen eine Verletzung, die jener Kom-
merzialismus nicht ausschließt, kommt deswegen auf, weil eine Handlung, mit
der auch der Schaden eines anderen einkalkuliert ist, nicht nur ein empirisches
Individuum, sondern das Individuum an sich verletzt. Mit Dreyfus verhält es sich
nicht anders, denn die Missbilligung seiner Verletzung erfolgt „nicht nur aus
Sympathie für das Opfer“ (ebd., S. 65), sondern weil das, was ihm geschieht, das
diffamiert, was Dreyfus mit allen Menschen gemeinsam hat, nämlich die Sakrali-
tät des Individuums. Durkheim dazu:
„Wer auch immer einem Menschen nach dem Leben trachtet, die Freiheit eines
Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in je-
dem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol pro-
faniert sieht“ (ebd., S. 57).
Ausschlaggebend ist, dass die Verteidiger des Individualismus das Individuum
an sich verehren, was sie konsequenterweise dazu zwingt, sich selbst und andere
so zu überschreiten, dass sie sich die Verletzung jedes Individuums untersagen.
Der Protest gegen Dreyfus Behandlung erfolgt daher nicht aufgrund des Verge-
hens gegen eine „Nützlichkeitsmaxime“ (Durkheim 2010a, S. 442), da sich der
Widerspruch in diesem Fall nur an dem subjektiven Schicksal entzünden würde.
Dieser Respekt für das Individuum, gleich welche einzigartigen Qualitäten es
aufweist, steht in Widerspruch zu einer Maxime, die die individuelle Eigennüt-
zigkeit vorschreibt, denn der Respekt sieht die Zurückweisung der Verletzung
von uneingeschränkt jedem Individuum vor, was der irrtümlicherweise mit dem
Individualismus identifizierte Kommerzialismus nicht einhalten kann. Durkheim
erbringt also den Nachweis darüber, dass der Individualismus nicht das Handeln
zugunsten des persönlichen Mehrwerts favorisiert, indem er zeigt, dass Dreyfus
nur sekundäre Berücksichtigung findet. Im Zentrum des Protests gegen seine
Behandlung befindet sich etwas, das von Dreyfus unabhängig ist, nämlich:
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 351

„Es sind in der Tat nur hypostasierte kollektive Kräfte, d.h. moralische Kräfte. Sie
bestehen aus Ideen und Gefühlen, die das Schauspiel der Gesellschaft in uns er-
weckt, nicht etwa Gefühle, die von der physischen Welt herkommen. Sie unter-
scheiden sich also von den sinnenhaften Dingen, in die wir sie verlegen. Sie können
zwar diesen Dingen die äußerliche und materielle Form borgen, unter denen sie vor-
gestellt werden; aber sie verdanken ihnen nicht ihre Wirksamkeit“ (ebd., S. 474).
Der soziale und in dieser Hinsicht für Durkheim alternativlose Ursprung dieser
besonderen Sakralität offenbart sich durch den eigentlichen Gegenstands der
Missbilligung, der über den empirischen und einzig Dreyfus betreffenden Scha-
den hinausgeht, und „da es das gemeinsame Bewusstsein ist, das verletzt worden
ist […]“ (Durkheim 2008a, S. 153). „Das Verbrechen“, schreibt er an anderer
Stelle, „bringt also das Bewusstsein aller ehrbaren Leute enger zusammen und
verdichtet sie“ (ebd., S. 152 f.). Die Befolgung des überindividuellen Ziels, das
mit Dreyfus Schicksal nicht mehr gewährleistet ist, stiftet eine moralische Ge-
meinschaft, für die das Verbrechen insofern nützlich ist, als die dadurch mobili-
sierten Interaktionen ihre moralische Kraft beleben. Mit dem Symbol, das neben
Dreyfus Person das Opfer der Verletzung ist, ist alles verbunden, was es für eine
Kirche braucht, und das geben nicht zuletzt die synthetischen Folgen zu erken-
nen. „Eine Religion, die Sakrilegien toleriert, gibt jede Herrschaft über die Ge-
wissen auf. Die Religion des Individuums kann sich also nicht widerstandslos
verhöhnen lassen, sonst wird ihre Glaubwürdigkeit zerstört […]“ (Durkheim
1986, S. 65). Dreyfus verdankt somit seine Unterstützung der vom Individuum
losgelösten Herkunft seiner Sakralität.
Für das zweite Anliegen der Wortmeldung Durkheims in der Dreyfus-
Affäre ist das die Voraussetzung. Die Maxime des mit dem Kommerzialismus
unvereinbaren Individualismus verlangt den Widerspruch gegen die Verletzung
ausnahmslos jeden Individuums, so dass der Protest gegen die juristische Be-
handlung und antisemitische Beleidigung Dreyfus in mehr als nur dessen persön-
lichem Schicksal seinen Ursprung hat. Weil hinter dem Gott des Individualismus
tatsächlich ein für diesen notwendiges Kollektiv steht, nimmt die Wirkung ihren
Verlauf, die zur moralischen Funktion des Verbrechens gegen das Symbol ge-
hört. Durkheims zweites Anliegen ist es, die Richtigstellung des Individualismus
dadurch herzuleiten, dass er das Vermögen des Individuums an sich begründet,
die synthetische Besinnung auf sich zu richten, um eine moralische Gemein-
schaft hervorzurufen, und zwar eine, die sich aufgrund der allgemeinen Beschaf-
fenheit ihres Symbols gegen den moralischen Polymorphismus behaupten kann
(ebd., S. 63). Ein heiliges Ding ist unisono als solches anerkannt und steht mit
der modernen Kultur nicht in Widerspruch, wenn es zum einen gelingt, dass sich
die moralische Kraft eines innerlich heterogenen Kollektivs, in dem viele ver-
schiedene Verhaltensregeln jeweils eingeschränkt gelten, an ihm vergegenständ-
licht und wenn die Sakralität zum anderen das „Recht auf Nachprüfung“ (Durk-
heim 1973, S. 445) seitens des Individuums gewährleistet. Durkheim verteidigt
352 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

den Individualismus, indem er nicht nur zeigt, dass eine Diskrepanz zwischen
dessen Maxime und dem Kommerzialismus besteht, sondern er legt darüber hin-
aus offen, dass der Individualismus dafür qualifiziert ist, eine moralisch poly-
morphe Gesellschaft zu überwölben. Er resümiert: „Alles spricht dafür, dass die
einzig mögliche Religion die der Menschheit sei, deren rationaler Ausdruck die
individualistische Moral ist“ (Durkheim 1986, S. 63).
Während die relative Minderung der Morde in Friedenszeiten und ihr An-
stieg anlässlich politischer Großereignisse sich insofern mit dem umgekehrten
Verhältnis von egoistischem und altruistischen Selbstmordtypus zwischen Mili-
tär und Zivilbevölkerung gleichen, als sie jeweils anzeigen, dass erstens die
Schwäche des Altruismus den Respekt für das Individuums entstehen lässt und
zweitens die zu diesem gehörende Prüfung der überindividuellen Ziele einen Teil
zur Entkräftung der altruistischen Homogenitätszumutungen beiträgt, lässt sich
aus Durkheims Deutung der Polarisierung im Verlauf der Dreyfus-Affäre er-
schließen, dass die asebische Behandlung des Individuums einen erwartungsge-
mäßen Widerspruch mobilisiert und somit der Altruismus überhaupt, dem das
Gebot zur Selbstaufopferung des Individuums um eines Kollektivs willen we-
sentlich ist, in Konflikt mit der Sakralität des Individuums steht. Durkheim
schreibt: „Man kann das Individuum nicht zum Gott, zum Gott par excellence,
machen und es zugleich zu einem Instrument in den Händen der Götter degradie-
ren“ (Durkheim 1991, S. 84; Herv. im Orig.). Seine oben skizzierten Zweifel an
den heilsamen Effekten, die von den Kirchen auf den Egoismus ausgehen, sind
durch die Diskrepanz zur kollektiv anerkannten Gedankenfreiheit des Individu-
ums begründet.
Die moralische Gemeinschaft, die sich zwar hinter Dreyfus stellt, aber we-
niger an seiner Person interessiert ist, als sie sich vielmehr gegen den profanen
Zugriff auf ihr Symbol zur Wehr setzt, lässt die Unbekömmlichkeit desjenigen
Altruismus gegenüber der modernen Kultur hervortreten, der die bedingungslose
Hingabe des Individuums einschließt. Der Protest gegen den Anschlag auf ein
empirisches Individuum offenbart, dass etwas verletzt wurde, das über Dreyfus
hinausgeht. Zum einen wird also der Altruismus, gemäß der relativ schwachen
Bereitschaft zum altruistischen Selbstmord auf Seiten der Soldaten und dem zu-
gleich häufigen Vorkommen des Egoismus, von Seiten der Religion der
Menschheit in seiner Wirksamkeit herabgesetzt und zum anderen zieht er den für
die Sakralität des Individuums willkommenen Widerstand auf sich, wenn er das
Individuum impersonalistisch handeln lässt. Daraus folgt: Die moralische Funk-
tion, die sich aus der Besinnung auf die Sakralität des Individuums ergibt, äußert
sich in der Wirkung, die sonst der nationale Altruismus in Zeiten politischer
Großereignisse auslöst, nur steht dieser individualistische Altruismus nicht im
Gegensatz zum Individuum, wie es sich mit dem nationalen Altruismus verhält.
Wo schließlich Homogenitätszumutungen nicht unumschränkt wirken, da erst ist
die Voraussetzung für Individualität gegeben, und sie gehört zu den Hindernis-
4.4 Die Nation, die Sakralität des Individuums und der moralische Polymorphismus 353

sen für die Rückkehr des Altruismus zu alter Stärke, weil sie allmählich ver-
pflichtend wird. Daran tut sich auf,
„[…] wie die Gruppe den moralischen Wert des Individuums im Allgemeinen setzt.
Wenn er in der allgemeinen Wertschätzung groß ist, dann wenden wir dieses soziale
Urteil gleichzeitig auf den Nächsten wie auf uns selbst an. Seine Person enthält ge-
nau wie die unsere in unseren Augen einen höheren Wert, und wir werden allem ge-
genüber empfindlicher, was jeden einzelnen unserer Mitmenschen berührt, genau so
wie allem, was uns selbst berührt. Sein Leid, wie unser eigenes, wird uns schneller
unerträglich. Unsere Sympathie für ihn ist also nicht eine einfache Verlängerung der
Sympathie, die wir für uns selbst hegen. Sondern beide sind Wirkungen derselben
Ursache; sie leiten sich beide aus derselben moralischen Haltung ab“ (Durkheim
1973, S. 424).
Zum Anstieg der individuellen Entscheidungsfreiheit gehört somit, dass
sich das Individuum um das eigene Schicksal sorgt, ohne veranlasst zu sein, es
rücksichtslos kollektiven Belangen unterzuordnen. Ist diese Sorge um sich um-
setzbar, dann erst besteht auch der Respekt für andere, und zwar unabhängig von
jeder kollektiven Zugehörigkeit, was sich wiederum nachteilig auf den Altruis-
mus auswirkt, weil er zum Gegenstand der Missbilligung avanciert.
An der Wirksamkeit des nationalen Altruismus abseits außeralltäglicher
Großereignisse lässt sich nun die Verträglichkeit zwischen der am Staat versinn-
bildlichten Nation und der modernen Kultur ablesen. Der nationale Altruismus
löst hier zwar eine moralische Gemeinschaft aus, deren moralische Kraft hypo-
stasiert sich aber nicht am Staat der Nation, denn die moralische Funktion, an
der der nationale Altruismus beteiligt ist, geht auf sein Vergehen gegen die Sak-
ralität des Individuums zurück. Aus Durkheims Arbeiten geht hervor, dass sich
Individualität ohne geltungsschwache Homogenitätszumutungen überhaupt nicht
entwickeln kann. Das ist auch die Voraussetzung für den Respekt gegenüber
dem Individuum an sich. Die Sakralität des Individuums ist also nicht nur ein
Anzeichen dafür, dass der Altruismus schwach ist, sondern sie trägt auch zu sei-
ner Schwächung bei. Der Altruismus unterstützt sie aber wiederum, wenn er als
Vergehen gegen das Individuum registriert wird und den Widerstand der Gläu-
bigen mobilisiert, deren Gott das Individuum ist. Weil sich aber die am Staat
versinnbildlichte Nation mit diesem Individuum insofern nicht verträgt, als sie
die fraglose Hingabe gegenüber dem Kollektiv oder die Aggression nach außen
veranschlagt, zeigt sich auch die Unvereinbarkeit dieser Nation mit der moder-
nen Kultur, die sich im Wesentlichen im Individuum repräsentiert. Der nationale
Altruismus stößt sich an der modernen Kultur, sobald er die Sakralität des Indi-
viduums konterkariert. Vor diesem Hintergrund lässt sich darüber hinaus Fol-
gendes erschließen: Die Entscheidungsfreiheit ist zwar eine Voraussetzung der
Nation, sie lässt sie aber auch in den Hintergrund treten und schränkt die Hy-
postasierung ihrer moralischen Kraft auf das Individuum ein. Die moralische
Kraft der Nation, die sich gegenüber dem Individuum indifferent zeigt, tritt in
354 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus

den Hintergrund, weil sie zum einen hinsichtlich des notwendigen Orientie-
rungsbedarfs des Individuums aufgrund ihrer Distanz zum Alltag ein rudimentär
nützliches Angebot leistet und weil zum anderen die moderne Gesellschaft nicht
auf sie, sondern auf partikulare Moralen angewiesen ist, deren Wirksamkeit sich
im Alltag des Individuums durchsetzen kann. Hierfür ist der nationale Kosmopo-
litismus nützlich, um die moralische Mechanik der partikularen Moral so in
Grenzen zu halten, dass sie das Individuum nicht einschränkt.
Die religiös begründete Zwietracht zwischen dem nationalen Altruismus
und der Sakralität des Individuums macht ebenso wie die selbstkritisch bean-
standete Unzulänglichkeit der organischen Solidarität aufgrund der ihr fehlenden
Symbole deutlich, dass Durkheim beständig auf das Sakrale setzt, da er aus-
schließt, dass es jemals vergehen wird, und das obwohl die Folgen der Zunahme
der individuellen Entscheidungsfreiheit, nämlich die Gedankenfreiheit und die
Dominanz der Verhaltensregeln, die berufliche Interaktionen garantieren, die
Entwicklung der transzendenten Macht heiliger Dinge einschränken. Trotz sei-
nes Festhaltens am Sakralen beurteilt er die Wirksamkeit der heiligen Dinge vor
dem Hintergrund seiner Studien als inopportun, wenn sie einer verbrecherischen
Profanierung zum Opfer fallen, die eine Sühne nach sich zieht, denn zwischen
der bloß repressiven Strafe und der Sakralität des Individuums, die „einer der
Endzwecke ist, die die modernen Gesellschaften verfolgen“ (ebd., S. 394), läst
sich nicht vermitteln. Aus diesem Grund, und weil die Nation nicht zwingend auf
die Opposition nach außen festgelegt ist, zieht er auch den nationalen Kosmopo-
litismus gegenüber derjenigen Nation vor, deren moralische Kraft auf den eige-
nen Staat gelenkt ist. Schließlich vereint eine zentrale Absicht seine Studien:
Durkheim untersucht erstens die Redundanz der moralischen Funktion der ge-
walttätigen Sühne für die moderne Kultur und zweitens solche Surrogate für
diese Sühne, die den Anstieg der individuellen Entscheidungsfreiheit und die
Sakralität des Individuums nicht gefährden. Das geht sogar soweit, dass er der
Frage nachgeht, inwieweit sich Moral überhaupt und die moralisch bewirkte
Sakralität des Individuums miteinander vereinbaren lassen.
5 Resümee

Max Weber setzt sogar auf seine Nase, um das Missverstehen sozialen Handelns
zu vermeiden. Auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahr 1910 ist er be-
müht, die Unabhängigkeit des Handelns von körperlichen Gemeinsamkeits-
merkmalen zu verteidigen. Seine Äußerungen hierzu lassen sich einem protokol-
lierten Redebeitrag entnehmen:
„Meine Herren, man hat ja z.B. behauptet, und behauptet noch und auch in der Zeit-
schrift des Herrn Dr. Ploetz ist es von sehr angesehenen Herren behauptet worden,
der Gegensatz zwischen Weißen und Negern dort [in Nordamerika; C.A.] beruhe auf
`Rasseninstinkten´. Ich bitte, mir diese Instinkte und ihre Inhalte nachzuweisen. Sie
sollen sich unter anderem darin offenbaren, dass die Weißen die Neger `nicht rie-
chen´ können. Ich kann mich auf meine eigene Nase berufen; ich habe bei engster
Berührung gar nichts Derartiges wahrgenommen. Ich habe den Eindruck gehabt,
dass der Neger, wenn er ungewaschen ist, genauso riecht wie der Weiße, und umge-
kehrt. Ich berufe mich aber ferner darauf, dass man in den Südstaaten täglich das
Schauspiel erleben kann, dass eine Lady auf dem Wagen sitzt und die Zügel in der
Hand hält, dicht angeschmiegt aber an sie, Schulter an Schulter, der Neger, und dass
ihre Nase offenbar darunter nicht leidet“ (Weber 1924, S. 465).
Webers Interesse daran, ein durch körperliche Gemeinsamkeitsmerkmale ver-
schuldetes Handeln abzustreiten, ist oben bereits bemerkt worden. Ließe sich
Handeln auf körperlichen Gemeinsamkeitsmerkmalen zurückführen, so müsste
er das Verstehen der Handlungsorientierungen über Bord werfen. Die zwei Jahre
später protokollierten Redebeiträge auf dem zweiten Soziologentag dokumentie-
ren Webers Hartnäckigkeit, die Kategorie Rasse abzulehnen, aber auch das hart-
näckige Festhalten an dieser Kategorie. Diesmal weist er die von anderen Ta-
gungsteilnehmern als gegeben erachtete Gleichsetzung von Nation und Rasse
zurück. Seine Begründung dafür, diese Identifikation zu widerlegen, schließt
nach wie vor seine grundsätzliche Ablehnung ein, dass bestimmtes Handeln
durch exklusive körperliche Gemeinsamkeitsmerkmale verursacht wird. Weber
schließt insgesamt aus, dass „erbliche Qualitäten gemeinschaftsbildend sind“
(Weber 1913, S. 74). In einem Redebeitrag auf der zweiten Tagung äußert er
sich folgendermaßen:
„Aber dass es heutzutage auch nur eine einzige Tatsache gibt, die für die Soziologie
relevant wäre, auch nur eine konkrete Tatsache, die eine bestimmte Gattung von so-
ziologischen Vorgängen wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei

C. Anastasopoulos, Nationale Zusammengehörigkeit und moderne Vielfalt, Interkulturelle


Studien, DOI 10.1007/978-3-658-04659-0_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
356 5 Resümee

zurückführte auf angeborene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt
und eine andere definitiv – wohlgemerkt: definitiv! – nicht, das bestreite ich mit al-
ler Bestimmtheit und werde ich so lange bestreiten, bis mir diese eine Tatsache ge-
nau bezeichnet ist“ (Weber 1924, S. 459).
Für Hannah Arendt kommt die Gleichsetzung von Nation und Rasse ebenfalls
nicht infrage. Sie bemerkt, dass diese Identifikation widersinnig ist, weil sich der
Rassebegriff mit den territorialen Grenzen eines Nationalstaats und dem Prinzip
der Gleichheit unter den Angehörigen einer Nation nicht vereinbaren lässt (vgl.
Arendt 2006, 357). Auf Arendt rekurrierend beschreibt Ernst Cassirer, wie sich
im Horizont des klassischen Rassetheoretikers Gobineau die Rasse an der für die
Nation nicht unwesentlichen Gleichheit stößt. Er paraphrasiert Gobineau wie
folgt:
„Was wir eine Nation nennen, ist niemals ein homogenes Ganzes. Es ist das Produkt
einer Blutmischung, des gefährlichsten Dinges in der Welt […]. Patriotismus mag
eine Tugend für Demokraten und Demagogen sein; aber er ist keine aristokratische
Tugend; und die Rasse ist der höchste Aristokrat“ (Cassirer 1988, S. 310 f.).
Sprachlichen und religiösen Minderheiten kann dank des Prinzips der Gleichheit
die Zugehörigkeit zu einer Nation ermöglicht werden. Die Idee der Rasse kon-
terkariert jedoch dieses Prinzip, und das ist der Grund, warum Arendt die Unver-
einbarkeit von Nation und Rasse für die Erstere als Gefahr erachtet (vgl. Arendt
2006, S. 356). Ein Beispiel Webers, mit dem er seine Argumente gegen das in
Referaten der zweiten Tagung behauptete Zusammenfallen von Nation und Ras-
se stützt, veranschaulicht das von Arendt erkannte Problem, das die Idee der
Rasse mit der für die Nation wichtigen Gleichheit hat. Darüber hinaus gibt das
Beispiel aber auch zu erkennen, dass abseits sozialen Handelns weder Nation
noch Rasse gegeben ist. Das Protokoll der Redebeiträge auf der zweiten Tagung
enthält die folgenden Äußerungen Webers:
„Jeder Yankee nimmt den zivilisierten Viertels- oder Achtelsindianer als Nationali-
tätsgenossen an, beansprucht womöglich selbst, Indianerblut zu besitzen. Ganz an-
ders aber verhält er sich den Negern gegenüber, und zwar gerade dann, wenn dieser
die gleichen Lebensformen annimmt und damit die gleichen sozialen Prätentionen
erhebt. Wie erklärt sich das? Aesthetische Aversion mag mitspielen. Der `Negerge-
ruch´ allerdings, von dem so viel gefabelt wird, ist nach meiner Erfahrung nicht zu
entdecken, und schwarze Ammen, schwarze Kutscher Schulter an Schulter mit der
das Kabriolet lenkenden Dame und vor allem mehrere Millionen Mischlinge spre-
chen allzu deutlich gegen die angeblich natürliche Abstoßung. Diese ist sozialen
Charakters und ich habe nur eine einzige einleuchtende Begründung gehört: die Ne-
ger sind Sklaven gewesen, die Indianer nicht“ (Weber 1913, S. 50).
Zum einen lässt sich den Bemerkungen Webers entnehmen, dass sich die Idee
der Rasse indifferent gegenüber der am Prinzip der Gleichheit orientierten Rege-
lung für die Zugehörigkeit zur Nation verhält. Das gehört neben der Missachtung
5 Resümee 357

nationaler Grenzen zu den Gründen, warum das „antinationale Rassedenken“


(Arendt 2006, S. 357) die Nation überschreitet und sich zwischen ihr und Rasse
für Arendt nicht vermitteln lässt. Zum anderen und im Hinblick auf mein Vorha-
ben zeigt sich Folgendes: Weber verneint, dass Abgrenzung eine unmittelbare
Folge abweichender Körpermerkmale ist. Stattdessen veranschlagt er hierfür die
Orientierung am Ansehen bestimmter Körpermerkmale. Dass diese nicht für
soziales Handeln verantwortlich sind, geht aus der Inkonsistenz von Gemein-
schaftsbildungen hervor. Folglich sind die „natürliche“ Gemeinschaft und die
gemeinschaftsbildende Kraft von Gemeinsamkeitsmerkmalen unzutreffend. Die
tatsächlichen Schwankungen in der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften kommen
überhaupt deswegen vor, weil Handeln losgelöst ist von Gemeinsamkeitsmerk-
malen, und somit bestehen Nation und Rasse nicht unabhängig vom Handeln.
Das ist für Weber schließlich der Grund, warum er die Nation „nicht von der
Seite der gemeinsamen Qualität her […], sondern von der Seite des Zieles her“
(Weber 1913, S. 74) definiert.
Für mein Vorhaben ist der soziale Ursprung der Nation elementar. Zum ei-
nen verhilft er zu einer Schlussfolgerung hinsichtlich der Beharrlichkeit der Ori-
entierung an der Nation. Zum anderen ließen sich die Möglichkeit und der Be-
darf an moralischer Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft vor dem globalen
Zeitalter erst auf der Grundlage des sozialen Hergangs der nationalen Gemein-
schaft untersuchen. Nur weil sie sozial bewirkt wird, kann man prüfen, wann die
Voraussetzungen für diesen Hergang gegeben sind und ob das, was sie anrichtet,
brauchbar ist. Für das anfangs skizzierte Spannungsverhältnis zwischen der nati-
onalen Moral und dem zugemuteten Respekt für das Individuum an sich sollte
keine Lösung vorgelegt werden. Eine Entscheidung für die Überordnung der
Nation gegenüber dem Individuum oder umgekehrt kann jeweils begründet wer-
den, nur schließt das nicht ein, dass sich die Rhetorik der jeweils anderen Seite
erschöpft, und das ist vor allem deswegen nicht der Fall, weil das Spannungsver-
hältnis in sich dynamisch ist. Für mein Vorhaben stellte es vielmehr den Hinter-
grund dar, um die Arbeiten Durkheims im Hinblick darauf zu untersuchen, in-
wiefern die nationale Moral möglich und erforderlich ist, und zwar dort, wo die
Voraussetzungen für die Sakralität des Individuums gegeben sind. Wo der zu-
gemutete Respekt für das Individuum an sich erfolgreich Geltung beanspruchen
kann, da entwickelt sich auch der moralische Polymorphismus, denn er beruht,
wie die Sakralität des Individuums, auf der Zunahme der individuellen Entschei-
dungsfreiheit und der hierfür notwendigen Schwächung kollektiver Homogeni-
tätszumutungen. Das ist der Hintergrund, vor dem ich der Moral der Nation in
Durkheims Werk nachgegangen bin.
Die Untersuchung der moralischen Wirksamkeit der Nation ließ sich in ei-
nem ersten Schritt hinsichtlich der Voraussetzung für die nationale Gemeinschaft
vornehmen. Der Nachweis darüber, dass die Nation nicht voraussetzungslos ge-
geben ist, konnte anhand des für sie unentbehrlichen Nachlassens der morali-
358 5 Resümee

schen Mechanik von moralischen Milieus innerhalb der Nation erbracht werden.
Für die nationale Gemeinschaft braucht es demnach das, was auch für die Sakra-
lität des Individuums und den moralischen Polymorphismus notwendig ist. Die
Ermittlung des besonderen Hergangs derjenigen nationalen Gemeinschaft, deren
Symbol die weitestgehende Orientierung auf Seiten der Angehörigen der Nation
und die Trennung überhaupt zwischen verschiedenen Nationen zulässt, sollte
anschließend offen legen, dass nationale Gemeinschaft nicht aus dem Nichts
entspringt. Die Rekonstruktion ihres Hergangs war schließlich der Ausgangs-
punkt, um ihre moralische Wirksamkeit in modernen Gesellschaften auszuloten.
Es sollte erarbeitet werden, dass und wie der Hergang der nationalen Gemein-
schaft erfolgt, um daran anknüpfend zu prüfen, unter welchen Bedingungen die-
ser Hergang möglich ist und inwiefern er sich als brauchbar erweist, und zwar
unabhängig davon, ob er brauchbar sein soll oder nicht sein soll. Letzteres war
schließlich allein deswegen möglich, weil Durkheims Arbeiten und insbesondere
sein Selbstmord ungeachtet einer subjektiv von ihm protegierten Moral darüber
Auskunft geben, welche moralische Wirksamkeit in modernen Gesellschaften
erforderlich ist.
Am Anfang standen die an der Heterogenität und Inkonsistenz der nationa-
len Gemeinsamkeitsmerkmale dokumentierten Schwankungen in der Zuordnung
zu einer nationalen Gemeinschaft. Indem aufgezeigt wurde, dass die Zuordnung
von Gemeinsamkeitsmerkmalen zu einer nationalen Gemeinschaft nicht in den
Gemeinsamkeitsmerkmalen begründet ist, sondern arbiträrer Natur ist, war die
damit verbundene Rückführung des Hergangs der nationalen Gemeinschaft auf
Interaktionen möglich. Durkheims Symboltheorie half dabei, zu erklären, wie die
Genese moralischer Kraft und die Komplexitätsreduzierung ihrer Wirkung durch
die synthetische Besinnung auf Symbole erfolgen. Diesen allein gelingt es nicht,
für Gemeinschaft zu sorgen, denn hierfür braucht es die Veranlassung für syn-
thetische Besinnung, wozu Durkheim zum einen die Missbilligung im Falle ase-
bischen Handelns gegenüber Symbolen und zum anderen den Kult der Symbole
zählt. Fehlt die Veranlassung, so bleibt die synthetische Besinnung aus, und
wenn die moralische Gemeinschaft fehlt, verkümmern die Symbole. Sie sind
darauf angewiesen, dass sich ihr sozialer Ursprung iteriert, und daran zeigt sich,
dass Gemeinschaft nicht unabhängig von Interaktionen ist, in denen sich die ge-
meinsame Unterordnung gegenüber einer moralischen Kraft vollzieht. Weil die-
ser Hergang nicht zuließ, die nationale Gemeinschaft von nicht-nationalen Ge-
meinschaften zu trennen, sollte schließlich die am Anspruch auf den eigenen
Herrschaftsverband symbolisierte Gemeinschaft der Nation rekonstruiert wer-
den. Der für die nationale Gemeinschaft eigentümliche und nur ihr vorbehaltene
Hergang der Gemeinschaft ließ sich vor dem Hintergrund der Vorgaben Webers
für das Machtprestige und den Verwandtschaftsglauben erarbeiten. An der frei-
willigen Unterordnung, für welche das Machtprestige des Herrschaftsverbands
verantwortlich gemacht wird, zeigte sich mithilfe der Überlegungen Durkheims,
5 Resümee 359

dass sich an jenem die moralische Kraft der Untergeordneten hypostasiert. Dass
deren synthetische Besinnung auf das Symbol, nämlich auf den Herrschaftsver-
band die Quelle der freiwilligen Unterordnung ist, konnte außerdem anhand des
Verwandtschaftsglaubens verfolgt werden. Die anlässlich der Behauptung des
Herrschaftsverbands hervorgerufene Gemeinschaft löst, so Weber, den Ver-
wandtschaftsglauben aus. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus Durkheims
Religionsstudie konnte das als ein Indikator dafür offen gelegt werden, dass der
Herrschaftsverband ein Symbol ist, an dem sich moralische Kraft hypostasiert.
Die mit dem Machtprestige und dem Verwandtschaftsglauben aufgedeckte Hy-
postasierung der moralischen Kraft der Untergeordneten am Herrschaftsverband
besagt im Hinblick auf die Nation, dass der für sie konstitutive Anspruch auf den
eigenen Herrschaftsverband das Symbol ihrer moralischen Kraft darstellt. Dieser
Anspruch ist das Zeichen, durch das sich ihre moralische Kraft generiert und er
ist das Symbol auf das sich die synthetische Besinnung der moralischen Gemein-
schaft der Nation richtet. Der Hergang der Gemeinschaft, welcher der Nation
möglich ist und anderen Gemeinschaften abgeht, erlaubt schließlich Nationen
voneinander zu trennen.
Erst durch die Rekonstruktion des Hergangs nationaler Gemeinschaft konn-
te widerlegt werden, dass die Nation der „Demiurg“ (Ziegler) des Geschehens
ist, ohne selbst bewirkt werden zu müssen. Was im Hinblick auf diesen Hergang
aufgedeckt wurde, ließ sich anschließend dafür nutzen, um der moralischen
Wirksamkeit der Nation in modernen Gesellschaften nachzugehen. Durkheims
Studien, die im Hinblick auf die Moral in modernen Gesellschaften angelegt
sind, waren hierfür nützlich. Sie ließen sich danach befragen, inwiefern in mo-
dernen Gesellschaften die Bedingungen gegeben sind, damit der Hergang der
nationalen Gemeinschaft erfolgen kann. Durkheim war ferner hilfreich, um zu
untersuchen, inwiefern die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit und
die damit verbundenen Folgen, nämlich der moralische Polymorphismus und die
Sakralität des Individuums den Hergang der nationalen Gemeinschaft und die
daraus hervorgehende Moral der Nation beeinträchtigen. Seine Arbeiten ermög-
lichten, auch den Auswirkungen der nationalen Gemeinschaft nachzugehen. Es
konnte untersucht werden, inwiefern die moralische Wirksamkeit der nationalen
Gemeinschaft die Voraussetzungen für Moral in modernen Gesellschaften unter-
stützt oder beeinträchtigt. Auf diese Weise konnte überprüft werden, wie sich der
Hergang der nationalen Gemeinschaft und ihre moralische Wirksamkeit zum
Bedarf an Moral in modernen Gesellschaften verhalten, ohne die Frage zu be-
rücksichtigen, ob die nationale Gemeinschaft sein soll.
In Durkheims Studien konnte aufgezeigt werden, dass die Möglichkeit der
Individualität, die keine Repression aufgrund missachteter Homogenitätszumu-
tungen hervorruft, für die vor allem in der Berufswelt entwickelten partikularen
Moralen wesentlich ist. Die Anschlussfähigkeit zwischen einerseits der von ihm
sachlich begründet empfohlenen Stärkung der Berufsgruppen und der Kanalisie-
360 5 Resümee

rung der nationalen Gemeinschaft auf die Sakralität des Individuums, die beide
jeweils aufgrund der Folgen verkümmerter Sinnvorgaben vorgeschlagen werden,
und andererseits der Grundlage des moralischen Polymorphismus konnte eben-
falls erarbeitet werden. Darüber hinaus hat sich an seinen Studien gezeigt, dass
er im Besonderen die nachteiligen Folgen der Intransparenz über den Wert von
beruflichen Leistungen feststellt und aufgrund dessen problematisiert. Um die
Auswirkungen dieser Intransparenz aufzufangen, helfen die Moral der Berufs-
gruppen und der zugemutete Schutz für das Individuum an sich. Auf diese Weise
ließ sich aufdecken, dass die ungeplante Schwächung kollektiver Homogenitäts-
zumutungen und die im Anschluss daran mögliche Individualität, den Ergebnis-
sen der Studien Durkheims zufolge, Folgen nach sich ziehen, die für Orientie-
rungsangebote in modernen Gesellschaften wesentlich sind. Dieses Ergebnis erst
erlaubte, die moralische Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft im Hinblick
darauf zu untersuchen, inwiefern sie sich mit den Folgen der geschwächten Ho-
mogenitätszumutungen verträgt und inwiefern diese Folgen die nationale Moral
beeinträchtigen. Das wiederum konnte im Hinblick darauf überprüft werden, ob
die moralische Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft eine Hilfestellung ge-
gen Egoismus und Anomie leistet und wie sie abseits außeralltäglicher Ereignis-
se vorkommt.
Mithilfe Durkheims Auswertung der Höhen und Tiefen in den Selbstmord-
raten ließ sich zeigen, dass die moralische Wirksamkeit der nationalen Gemein-
schaft gegen egoistische Tendenzen angesichts außeralltäglicher Ereignisse hoch
ist, wohingegen sie sich ohne deren Unterstützung gegen den moralischen Poly-
morphismus und die Dominanz der beruflichen Interaktionen nicht durchsetzen
kann. Die Hilfe der nationalen Moral blieb aber nur auf den Egoismus be-
schränkt, da erkennbar wurde, dass sich die Ursachen der Anomie nicht von ihr
beeinflussen lassen. Schließlich ging aus Durkheims Studien hervor, dass die
individuelle Entscheidungsfreiheit dann Schwierigkeiten bereitet, wenn sie sich
selbst beeinträchtigt und Sinnvorgaben schwächt. Das zeigte sich daran, dass
Durkheim die Maßlosigkeit der individuellen Entscheidungsfreiheit problemati-
siert, ohne aber zugleich die ungeplante Schwächung der kollektiven Homogeni-
tätszumutungen ebenfalls zu problematisieren. Das wiederum ließ erkennen, dass
Durkheim mit einer Moral rechnet, die weder Individualität noch den morali-
schen Polymorphismus beeinträchtigt. Durkheims Auswertung der Selbstmord-
und Mordraten war zudem insofern hilfreich, als sich daran ablesen ließ, dass
sich abseits außeralltäglicher Ereignisse kollektive Homogenitätszumutungen
nur schwach auswirken und der Respekt für das Individuum an sich erfolgreich
Geltung beansprucht. Das ermöglichte schließlich, den Bedarf an nationaler Mo-
ral einzuschätzen. Durkheims Erklärung des besonderen Spannungsverhältnisses
während und in der Dreyfus-Affäre konnte abschließend entnommen werden,
dass die Sakralität des Individuums dort vorkommt, wo die moralische Wirk-
samkeit der nationalen Gemeinschaft abseits außeralltäglicher Ereignisse gering
5 Resümee 361

ausgeprägt ist. An der Auseinandersetzung im Fall Dreyfus trat hervor, dass sich
die moralische Gemeinschaft der Religion des Individuums dort bildet, wo kol-
lektive Homogenitätszumutungen nicht mehr in der Lage sind, Individualität zu
verhindern. Das wiederum hat die Bildung des moralischen Polymorphismus und
die Dominanz der Berufe im Alltag zur Folge. Angesichts dessen ist die morali-
sche Gemeinschaft, die sich im Falle eines Verbrechens gegen die Sakralität des
Individuums bildet, ein Indikator dafür, dass sich die nationale Moral im Alltag
nicht durchsetzen kann. Daraus ging hervor, dass der nationalen Moral letztlich
das ein Hindernis dafür ist, sich im Alltag zu etablieren, was sie selbst möglich
macht.
Die Auseinandersetzung mit den Studien Durkheims hinsichtlich der Mög-
lichkeit und des Bedarfs an moralischer Wirksamkeit der Nation lassen schließ-
lich zu, eine auf den Ergebnissen gestützte Antwort auf die Frage danach zu ge-
ben, warum die Nation beharrlich ein Gegenstand der Orientierung ist. Die an-
fangs skizzierte Problemstellung ergab sich daraus, dass auf der einen Seite die
globalen und nicht an der Nation haltmachenden Orientierungen für soziales
Handeln, die über verschiedene Nationen hinweggehende, globale Steigerung
des „Verantwortungsgefühls“ (Elias) für das Individuum an sich und die Aus-
wirkungen von superioren Naturkräften, für die nationale Grenzen unerheblich
sind, sich deswegen zum Nachteil der Nation auswirken, weil sie die elementare
Orientierung an ihr beeinträchtigen. Auf der anderen Seite lässt sich aber trotz
der Folgen des „Globalen“ (Albrow), dessen Berücksichtigung zumindest zur
Disqualifizierung des methodologischen Nationalismus beigetragen hat, eine
Abwendung von der Nation nicht konstatieren. Das manifestiert sich insbesonde-
re in dem Hindernis, das nationale Moralen dafür darstellen, dass sich post-
nationale Moralen für supranationale Anstalten und Kollektive konsolidieren
können. Ungeachtet der Überlegenheit der Naturkräfte, trotz der gegenüber glo-
bal möglichen Interaktionen provinziell anmutenden Grenzen der Nation und
entgegen der zweckrational begründeten Effizienz supranationaler Anstalten
kehrt die Nation beharrlich in den Blick der Handelnden zurück. Obwohl das
Globale vermögend ist, sich die Nation unterzuordnen, kann es nicht dafür sor-
gen, die Orientierung an ihr in den Hintergrund zu drängen. Das lässt sich auf
Folgendes zurückführen: Neben ihrer Stellung als Marginalie im Alltag zeichnet
sich die Nation durch Reizbarkeit aus, die für ihre Beharrlichkeit verantwortlich
ist. Um das anhand der bisherigen Ergebnisse herzuleiten, helfen zunächst Poli-
tiker weiter.
„Politik“, so Weber in einem berühmten Vortrag, „wird mit dem Kopfe ge-
macht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele“ (Weber 1994, S.
74). Drei Eigenschaften qualifizieren den Beruf des Politikers und verhindern,
dass er nicht durch den Kopf, sondern durch andere Kräfte gesteuert wird. Weber
empfiehlt Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß (ebd., S. 73 f.):
Wer bei starkem Engagement nicht die Ziele des politischen Handelns aus den
362 5 Resümee

Augen verliert, sich bewusst macht, dass er für sein Handeln hinsichtlich der
Ziele haftet, und mit den Faktoren, die um die Ziele kreisen, besonnen kalkuliert,
der weist die drei Qualitäten auf. Sie schützen vor einer Berufskrankheit, für die,
so Weber, der Wissenschaftler, aber vor allem der Politiker anfällig ist:
„Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und
stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller
sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegen-
über“ (ebd., S. 74; Herv. im Orig.).
Die Eitelkeit des Politikers ist insofern eine Gefahr, als sie die Belastung des
politischen Betriebs durch die Unterordnung der Macht dieses Betriebes gegen-
über dem subjektiven „Machtgefühl“ (ebd., S. 73) des Politikers verschuldet.
Weber problematisiert die Eitelkeit des Politikers, weil dort, wo sie auftritt, nicht
mehr das gewährleistet ist, was der beruflich ausgeübten Politik wesentlich ist,
nämlich die Macht des Herrschaftsverbands mindestens aufrecht zu erhalten
(ebd., S. 75). Dominiert also das subjektive Machtgefühl auf Seiten des Politi-
kers, so bedroht es die Macht und es verzerrt die Profession, denn in diesem Ge-
werbe ist Macht der zentrale Gegenstand. Genau das aber macht die Vorherr-
schaft des subjektiven Machtgefühls so virulent. Die aus der Macht gespeiste
Eitelkeit ist deswegen eine Berufskrankheit in der beruflich ausgeübten Politik,
weil der Politiker sein alltägliches berufliches Handeln an der Macht des Herr-
schaftsverbands orientieren muss.
Das macht aber die Politik zu einem ausgefallenen Beruf in modernen Ge-
sellschaften, denn – und das hat sich aus der Auseinandersetzung mit Durkheims
Schriften ergeben – die Ausdifferenzierung der Berufe führt vielmehr dazu, dass
die Orientierung am Herrschaftsverband im Alltag für gewöhnlich rar wird. Die
dienstlichen Aufgaben des Berufspolitikers sehen hingegen vor, dass er für sein
Handeln die Kosten und Folgen, die den Herrschaftsverband betreffen, in Rech-
nung stellt und streng darauf Rücksicht nimmt, was kodifizierte Ordnungen vor-
schreiben, wie das Handeln mit Blick auf den Herrschaftsverband formal korrekt
zu erfolgen hat. Für diejenigen, die von der Politik leben (ebd., S. 44), ist es so-
mit unausweichlich, dass der Herrschaftsverband im alltäglichen Blickfeld des
Handelns präsent ist. Dieses Symbol, an dem sich die moralische Kraft der Nati-
on hypostasiert, ist jedoch, wie sakrale Dinge überhaupt, dort, wo der altruisti-
sche Selbstmord seltener als der egoistische und anomische Selbstmord vor-
kommt, aufgrund der Faktoren, die mitunter diese Verteilung verschulden, nicht
„täglich und stündlich“ Gegenstand des Handelns des Individuums. Für den Poli-
tiker gehört zwar „das Gefühl, einen Nervenstrang historisch wichtigen Gesche-
hens mit in Händen zu halten“ (ebd., S. 73) zum täglichen Brot, nur ist dieser
Alltag der Politiker anderen Berufsgruppen so fremd, wie ihr jeweiliger Alltag
für jede andere Berufsgruppe fremd ist. Diese Fremdheit der partikularen Mora-
len der Berufe macht Durkheim dafür verantwortlich, dass die Missbilligung von
5 Resümee 363

Vergehen gegen eine beschränkt geltende Moral gering ausfällt. Ferner sind im
Alltag und in der Biographie des Individuums diese partikularen Moralen, kraft
derer in erster Linie die regelmäßigen Abläufe der beruflichen Tätigkeiten ge-
währleistet werden, so dominant, dass sie die Besinnung auf heilige Dinge und
die mit dieser Besinnung erfolgende Transzendenz aus dem Alltag weitestge-
hend fernhalten. Darüber hinaus haben die Dominanz und die Vielfalt der parti-
kularen Moralen zur Folge, dass sie zu einem Handicap für die Vergeltung von
solchen Vergehen werden, die heilige Dinge verletzen. Die Vergeltung für die
reine und faktisch keinen materiellen Schaden anrichtende Asebie fügt dem
Straftäter ein Leid zu, ohne seine Besserung oder eine abschreckende Wirkung in
Anspruch zu nehmen. Wo aber die partikularen Moralen die heiligen Dinge aus
dem Alltag des Individuums verdrängen, da erweckt die Sühne den Eindruck, ein
seltsames und anachronistisches Relikt zu sein und zieht zuweilen ihrerseits
Missbilligung auf sich.
All das, was sich an der Verteilung der Selbstmordtypen ablesen lässt und
in einem Zusammenhang mit dem moralischen Polymorphismus moderner Ge-
sellschaften steht, führt dazu, dass heilige Dinge überhaupt und die Symbole der
Nation im Speziellen im Alltag weitestgehend nicht präsent sind. Selbst Politi-
ker, in deren beruflichen Alltag das Symbol der Nation einen stetiger Fixpunkt
ihrer Orientierung ist, setzen das, so Weber, zu ihrer beruflichen Tätigkeit gehö-
rende und sachlich ausgeführte Machtstreben instrumentell, und nicht devotional
um; sofern sie, anders als von Weber befürchtet, Ehrfurcht nicht auf sich selbst
kanalisieren. Die Untersuchung der Arbeiten Durkheims, in denen er sich insbe-
sondere auf die Moral moderner Gesellschaften fokussiert, und zwar bevor es zu
einem Anstieg der Möglichkeiten für globale Interaktionen, also zu einem An-
stieg der Möglichkeiten für Interaktionen abseits der gegenseitigen und unmit-
telbar physischen Gegenwart der Handelnden, und zur erleichterten Interaktionen
jenseits nationaler Begrenzungen gekommen ist, ergibt das Folgende: Die Aus-
einandersetzung mit Durkheim zeigt, dass nationale Moral bereits vor dem glo-
balen Zeitalter im Alltag entbehrlich ist, da die Besinnung auf die Symbole der
Nation und die Orientierung an der nationalen Moral im Alltag verhindert wird.
Globale Orientierungen führen zwar dazu, dass sich Orientierungen an der Nati-
on verringern, nur ist nicht erst das Globale dafür verantwortlich, dass die Orien-
tierungen an der Nation beeinträchtigt werden. Davon ist aber nicht nur die Nati-
on betroffen.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Nation und dem Individuum an sich
beruht auf dem von Elias beschriebenen „dualen Normenkanon“ und ist, so Joas,
in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erkennbar. Durkheims Beitrag
zur Dreyfus-Affäre lässt sich schließlich entnehmen, dass sich eine moralische
Gemeinschaft anlässlich der Behandlung von Dreyfus bildet, wobei die Verlet-
zung der Sakralität des Individuums im Vordergrund steht, wohingegen die Per-
son Dreyfus nur sekundär ist. An dieser moralischen Gemeinschaft und an der
364 5 Resümee

hierfür elementaren Missbilligung des Vorfalls tritt hervor, dass sich eine mora-
lische Kraft in der Person Dreyfus hypostasiert. Am Vorfall entzündet sich eine
moralische Gemeinschaft, an der sich zu erkennen gibt, dass „der Mensch ein
Gott für den Menschen geworden ist“ (Durkheim 1986, S. 63). Folgerichtig
nennt Durkheim den Vorfall ein „Sakrileg“ (ebd., S. 65). Die Sakralität des Indi-
viduums hat jedoch mit der Nation etwas gemeinsam. Die Gründe, die für die
Besinnung auf die Nation und ihr Symbol im Alltag zur Barriere werden, treffen
im Fall des Individuums an sich ebenfalls zu. Weil Durkheim das erkannt hat,
traut er dem nationalen Kosmopolitismus, von dessen Wirkung ein Schutz gegen
die zu Anomie führende Intransparenz der Leistungsbeurteilungen ausgeht, we-
niger zu als der partikularen Moral der Berufsgruppen, deren Effizienz gegen
Anomie größer ist. Sofern sich also weder die Nation noch das Individuum an
sich „täglich und stündlich“ anbietet, um das Handeln an ihnen zu orientieren, ist
in modernen Gesellschaften auch das Spannungsverhältnis, das durch die promi-
nente Platzierung von Nation und Individuum in der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte anschaulich wird, kein dominanter Bezugspunkt für Interakti-
onen. Der Alltag in modernen Gesellschaften torpediert das Spannungsverhältnis
und federt das von Elias konstatierte Risiko der Schuldgefühle ab, die, ihm zu-
folge, auf den „internalisierten“ dualen Normenkanon zurückgehen. Die innere
Zerrissenheit der „Menschen in Staatsgesellschaften des 19. und 20. Jahrhun-
derts“ (Elias 1989, S. 204) zwischen Nation und Individuum an sich lässt sich
auf der einen Seite dank der in modernen Gesellschaften dominierenden Ver-
bindlichkeiten des Alltags bewältigen. Auf der anderen Seite zeigt aber der in
modernen Gesellschaften vorherrschende moralische Polymorphismus, dessen
Moralen sich im modernen Individuum kreuzen, dass der innere Konflikt nicht
außergewöhnlich, aber auch nicht besonders belastend ist.
Durkheims Studie zum Selbstmord ergibt schließlich, dass nicht die Vielfalt
der Moralen, sondern erstens die zum egoistischen Selbstmordtypus gehörende
Apathie gegenüber jeglicher Moral und zweitens der Ad hoc-Geltungsverlust
von Sinnvorgaben und die für Diskriminierung typische Intransparenz der Leis-
tungsbeurteilungen, die jeweils den anomischen Selbstmordtypus kennzeichnen,
ernsthafte Belastungen für das Individuum in modernen Gesellschaften darstel-
len. Seine Empfehlungen, die er folgerichtig von seinen Ergebnissen herleitet,
treiben die Vielfalt der Moralen sogar voran, weil sie eine adäquate Antwort auf
Egoismus und Anomie darstellen. Durkheim erkennt zwar, dass die am eigenen
Herrschaftsverband hypostasierte Moral der Nation dazu beiträgt, Egoismus zu
mindern, er sieht aber vorwiegend in der moralischen Wirksamkeit des nationa-
len Kosmopolitismus eine Chance, auch die Ursachen der Anomie zu mindern.
Weil er aber bemerkt, dass die am Staat hypostasierte Moral nicht vergehen
wird, und trotzdem den dazu im Widerspruch stehenden nationalen Kosmopoli-
tismus empfiehlt, zeigt sich, dass er mit dem Bestehen des Spannungsverhältnis-
ses zwischen Nation und Individuum an sich kalkuliert. Dieses Spannungsver-
5 Resümee 365

hältnis stellt für ihn aber deswegen kein Risiko dar, weil er nicht damit rechnet,
dass sich die Abstraktionsleistung erbringen lässt, die sowohl für die Orientie-
rung an der Nation als auch für die Orientierung am Individuum an sich erforder-
lich ist. Mit dieser Abstraktion muss das Gemeinsame aus der Vielfalt der Diffe-
renzen, die zum moralischen Polymorphismus gehören, herausgehoben werden,
nur erschwert dies der Alltag in modernen Gesellschaften, in dem eine konstante
Veranlassung für die Besinnung auf die Nation oder das Individuum an sich
nicht möglich ist. Es kommt demnach nicht in Betracht, dass sich das Span-
nungsverhältnis im Alltag etabliert.
Da die Nation eine Voraussetzung mit dem Individuum an sich gemeinsam
hat, nämlich die Schwächung der kollektiven Homogenitätszumutungen, ist ihr
das Spannungsverhältnis innewohnend. Die Minderung der moralischen Mecha-
nik von Kollektiven macht nicht nur die nationale Moral möglich, sondern sie ist
auch die zentrale Bedingung für die Sakralität des Individuums. Durkheims
Auswertung der Selbstmord- und Mordraten bestätigen das, denn der Respekt für
das Individuum sinkt mit zunehmender Kraft des Altruismus, während er bei
dessen Schwächung überhaupt erst vorliegt. Erst solche kollektive Homogeni-
tätszumutungen, die “[…] den individuellen Variationen nicht mehr genügend
Widerstandskraft bieten“ (Durkheim 1986, S. 63), lassen beides, die nationale
Moral und die Sakralität des Individuums überhaupt zu. Was aber das Hervortre-
ten der beiden mitverschuldet, das sorgt auch dafür, dass sie sich im Alltag mo-
derner Gesellschaften nicht etablieren können, denn der moralische Polymor-
phismus setzt die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit und die da-
ran geknüpfte Schwächung der kollektiven Homogenitätszumutungen voraus.
Dies führt zur Schöpfung neuer Berufe und zur vermehrten Arbeitsteilung, die
das Aufkommen partikularer Moralen erforderlich machen, aber auch vorantrei-
ben. Die „individuellen Variationen“ gehören also auch zum Ursprung des mora-
lischen Polymorphismus, der in modernen Gesellschaften eine zentrale Barriere
dafür ist, dass sich das Handeln mit Blick auf heilige Dinge im Alltag etablieren
kann.
Die Besinnung auf die Nation und auf das Individuum an sich ist, weil sie
im Alltag moderner Gesellschaft nicht regelmäßig hervorgerufen wird, auf au-
ßeralltägliche Ereignisse angewiesen. Der soziale Ursprung der Nation, der die
an sich gegebene Nation widerlegt, besagt, dass sie abseits des Handelns nicht
besteht und durch die Veranlassung für dasjenige Handeln hervortritt, das an den
Symbolen der Nation orientiert ist. Während die Belanglosigkeit der Nation und
ihrer Symbole im Alltag moderner Gesellschaften zur Folge hat, dass sie wei-
testgehend davon abgeschnitten ist, in den Fokus des tagtäglichen Handelns zu
kommen, bringen es extraordinäre Anlässe fertigt, entweder die feierliche oder
die aufgebrachte Besinnung auf sie zu lenken. Neben dem Kult, für den, gemäß
der Auseinandersetzung in der Religionsstudie, die Außeralltäglichkeit konstitu-
tiv ist, rechnet Durkheim das asebische Handeln gegenüber heiligen Dingen für
366 5 Resümee

die Besinnung auf die Symbole von Kollektiven an. Ein Zeugnis darüber, dass
sich die moralische Wirksamkeit der Nation der Außeralltäglichkeit unterordnet
geben zum einen Durkheims Auswertung der relativ hohen Rate der Morde an
Feiertagen, an denen das Handeln anders als im Alltag an kollektiven Symbolen
bzw. transzendierenden Kräften orientiert ist und die sich überhaupt durch eben
dieses Kollektiven gebührende Handeln konstituieren, und zum anderen seine
Auswertung der zwischenzeitlichen Trendwende in der Selbstmordrate im Zu-
sammenhang mit historischen Ereignissen. Das „Sakrileg“, das zum Beispiel im
Falle der Dreyfus-Affäre vorliegt, verschuldet die Besinnung auf das Individuum
an sich, indem diejenigen, die das asebische Handeln gegen Dreyfus missbilli-
gen, Interaktionen mit anderen initiieren, von denen sie wissen, dass sie die Ase-
bie ihrerseits missbilligen. Eine solche Initiative, auf andere zuzugehen, mit de-
nen man die Ehrfurcht gegenüber heiligen Dingen teilt, steht – das ergeben
Durkheims Auswertungen – im Alltag nicht zur Disposition.
Diese außeralltägliche Veranlassung wirkt sich zugunsten heiliger Dinge
aus, wenn sie sie zum Gegenstand einer synthetischen Orientierung macht. Die
Besinnung kann schließlich je nach Sakralität als asebisches Handeln erfolgen,
und das vollzieht sich im Falle des Spannungsverhältnisses der Nation und des
Individuums an sich. Elias bemerkt zwar, dass die Moral der Nation den Respekt
für das Individuum an sich einschließen kann, und umgekehrt, er stellt aber auch
fest, dass es zur Polarisierung kommen kann (vgl. Elias 1989, S. 209). Die nicht
alltägliche Besinnung auf die Nation oder auf das Individuum an sich dynami-
siert das Spannungsverhältnis, sobald die Aktualisierung der moralischen Wirk-
samkeit auf Seiten der Nation oder auf Seiten des Individuums an sich eine ase-
bische Provokation für die jeweils andere Seite darstellt. Die Besinnung auf die
Nation oder auf das Individuum an sich ist deswegen ein asebisches Handeln,
weil sie die Herabstufung der jeweils anderen Seite einschließt und die jeweilige
Moral in ihr Gegenteil verkehrt.
Eine Rekonstruktion für die beharrliche Orientierung an der Nation ist nun
möglich. In modernen Gesellschaften wirkt sich Fremdheit zulasten der nationa-
len Gemeinschaft aus, denn der moralische Polymorphismus beeinträchtigt die
moralische Wirksamkeit der Nation. Während dem spezifischen Alltag der Poli-
tiker die Orientierung am Symbol der Nation inbegriffen ist, verhindert die Viel-
falt der partikularen Moralen, dass die Nation ein Teil des alltäglichen Handelns
in modernen Gesellschaften wird. Die Nation leidet bereits vor dem globalen
Zeitalter darunter, dass sie aus dem Alltag verdrängt ist. Das Spannungsverhält-
nis zwischen ihr und dem Individuum an sich kann seinerseits kein dominanter
Bezugspunkt des alltäglichen Handels sein, weil die Sakralität des Individuums
ebenfalls eine Marginalie des Alltags darstellt. Die moralische Wirksamkeit so-
wohl der Nation als auch der Sakralität des Individuums aktualisiert sich im Fal-
le der periodischen Außeralltäglichkeit des Kults und anlässlich irregulärer Au-
ßeralltäglichkeit, die im Falle der Asebie vorliegt. Die moralische Gemeinschaft
5 Resümee 367

des heiligen Individuums mobilisiert sich aufgrund der Hindernisse, die auch die
Moral der Nation im Alltag beeinträchtigen, anlässlich außeralltäglicher Ereig-
nisse. Sobald diese Besinnung auf die Sakralität des Individuums die Nation
herabstuft und ihre Moral aufhebt, dynamisiert sie die nationale Gemeinschaft
und die Besinnung auf die Symbole der Nation. Die im Alltag moderner Gesell-
schaften marginalisierte Nation behauptet sich dadurch, dass sich ihr sozialer
Ursprung aufgrund asebischen Handelns wiederholt.
Die Herausforderung der Nation durch die Moral, die den Schutz des Indi-
viduums an sich allem anderen überordnet, erfolgt angesichts des Hervortretens
der post-nationalen Moral für supranationale Kollektive und Anstalten ebenfalls
dadurch, dass die Herabstufung der nationalen Moral einem asebischen Handeln
gleicht. Die von Elias konstatierte Beharrlichkeit der Orientierung an der Nation,
wodurch die Konsolidierung post-nationaler Moral supranationaler Kollektive
und Anstalten verhindert wird, verdankt sich dem sozialen Ursprung der morali-
schen Wirksamkeit der Nation, der sich nicht im Alltag, aber infolge irregulärer
Asebie wiederholt. Weil es der Nation nicht gelingt, sich im Alltag moderner
Gesellschaften für die regelmäßige Orientierung des Handelns anzubieten, geht
ihre Beharrlichkeit darauf zurück, dass sie die Orientierung dann auf sich zieht
und sich aus ihrer marginalen Stellung im moralischen Polymorphismus löst,
wenn andere Moralen, die ihrerseits vorwiegend außeralltäglich die Besinnung
auf sich lenken, Vorrang gegenüber der nationalen Moral einfordern, was ein
asebisches Handeln gegenüber der nationalen Moral darstellt. Weil ferner die
Nation bereits vor dem globalen Zeitalter nicht im Alltag moderner Gesellschaf-
ten etabliert war, trägt das Globale nicht zur Abwendung von der Nation bei,
denn im Falle, dass globale OrientierungHQ die Nation herabstufen, ist das
Globale ein Anlass, damit sich die Nation nicht wie gewöhnlich den Blicken
entzieht, sondern zum Vorschein kommt. Die Beharrlichkeit der Nation gehört
daher zu ihren Lebenszeichen überhaupt.
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