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Samstag/Sonntag, 13./14. November 2010 HF2 Süddeutsche Zeitung Nr.

263 / Seite 5
POLITIK

Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierte


Erstmals zeigt ein Polizeibericht die genauen Abläufe am 30. September / Die Opposition macht Regierungschef Mappus für den Einsatz verantwortlich
Von Martin Kotyn ek auch SPD und Grünen klar. Sie wollen
Mappus deshalb auch gar nicht nachwei-
Stuttgart – Wenn Alexander Schlager in sen, dass er Wasserwerfer bestellt hat.
den Spiegel schaut, kann er das Blut in Vielmehr wollen sie zeigen, dass der Mi-
seinem rechten Auge sehen, und sein im- nisterpräsident prinzipiell ein rasches
mer noch geschwollenes Gesicht, vor und hartes Vorgehen gewünscht hat.
dem schwarze Punkte blitzen. Alexander Hohe Beamte aus den Innenministeri-
Schlager ist keiner, der bei Demonstratio- en mehrerer Länder bestätigen, dass sich
nen an vorderster Front steht. Auch die Polizei bei Einsätzen von großer poli-
nicht am 30. September, jenem Tag, an tischer Tragweite mit der Regierung ab-
dem sich die Polizei mit Wasserwerfern stimme. Es sei üblich, dass die Politik das
ihren Weg durch den Stuttgarter Schloss- Ziel und die grundsätzliche Strategie
garten bahnt. Er hockt hinten, auf dem von Großeinsätzen vorgebe, etwa die Fra-
Boden wartet er den Moment ab, in dem ge, ob die Polizei tolerant oder eher mit ei-
er weglaufen kann. Dann richtet sich der ner niedrigen Einsatzschwelle vorgehen
31-Jährige auf. Der Wasserstoß trifft ihn solle. Bei brisanten Einsätzen würden
so hart ins Gesicht, dass er zu Boden ge- sich hohe Beamte mit dem Innenminister
worfen wird, seine Brille fliegt davon, er abstimmen, jener wiederum häufig mit
kann sein rechtes Auge nicht mehr öff- dem Regierungschef. Nach diesen Vorga-
nen, Blut rinnt über sein Gesicht. Jetzt ben entwickele die Polizei dann ein Ein-
ist er einer von Hunderten Verletzten, satzkonzept, in dem festgelegt sei, wel-
und weil seine Netzhaut gerissen ist und che Hilfsmittel genutzt werden.
er am nächsten Tag operiert wird, gilt er Auch in Stuttgart hat es im Vorfeld
als einer von vier Schwerverletzten. Ent- des Einsatzes mehrere solche Bespre-
schuldigt hat sich niemand bei ihm. „Ich chungen gegeben. Schon im Juni fassten
will wissen, wer für meine Verletzung die Bahn, die Polizei und das Verkehrsmi- Polizisten führen am 30. September einen Demonstranten ab. Szenen eines unheilvollen Tages. Fotos: dapd (3), Reuters, dpa
verantwortlich ist“, sagt Schlager. nisterium den 30. September als Termin
Offiziell hat Siegfried Stumpf die Ver- für die Fällung der Bäume ins Auge, wie
antwortung für den brutalen Polizeiein- aus einem Polizeibericht an den Untersu-
satz übernommen. Ungefragt hat der chungsausschuss hervorgeht. Spätestens
Stuttgarter Polizeipräsident das be- einen Tag vor dem Einsatz wusste dann
kannt, zuerst am Tag danach, und seit- die Landesregierung über die Planungen
dem immer wieder. Trotzdem glaubt es Bescheid. Das belegt ein Treffen am Vor-
ihm kaum jemand. Stumpf ist ein loyaler mittag des 29. September, bei dem Poli-
zeipräsident Stumpf seine Einsatztaktik
im Innenministerium vorstellte. Um
Der Polizeipräsident übernimmt 16 Uhr erläuterte die Polizei ihren Plan
die Verantwortung – eigentlich gilt dann auch im Staatsministerium – dieser
er als Gegner übermäßiger Härte. sah vor, Wasserwerfer bereitzustellen.
Neben Verkehrsministerin Tanja Gönner
war auch Mappus anwesend.
und pflichtbewusster Polizist, für ihn ist Der Ministerpräsident habe den Ein-
selbstverständlich, dass er den Kopf hin-
hält. Doch diejenigen, die ihn kennen, be-
schreiben ihn als Hüter der Verhältnis-
satz von Wasserwerfern daher billigend
in Kauf genommen, sagt der SPD-Abge-
ordnete Andreas Stoch. „Mappus wollte
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mäßigkeit, als einen, der niemals unnöti- ein Zeichen der Entschlossenheit setzen, Der Einsatz soll beginnen Die Polizei verspätet sich Wasserwerfer feuern auf Gegner Der erste Baum fällt
ge Härte zeigen würde. Mit Gewaltfrei- er hat den Einsatz dafür missbraucht,
heit und Deeskalation hat er die „Stutt- sich als Politiker zu profilieren, der für Die Polizei setzt am 30. September auf Aufgrund von „Missverständnissen“ Im Park besetzen die Demonstranten Vor dem Einsatz hatte die Polizei nicht
garter Linie“ mitgeprägt, die für Frieden Recht und Ordnung steht.“ Die CDU kon- den Überraschungseffekt. Binnen einer kommen die Polizeitrupps aus Bayern gegen 11.20 Uhr den Lastwagen der mit Verletzten (Foto) gerechnet und
in der Stadt steht. Noch im Sommer hat tert, es sei die Pflicht der Regierung, sich Stunde will sie im Stuttgarter Schloss- erst um 9.45 Uhr an den vereinbarten Polizei, auf dem die Absperrgitter trans- daher auch die Rettungsdienste nicht
Stumpf betont, dass in Stuttgart das letz- von der Polizei über einen solchen Ein- garten eine Absperrung errichten, hin- Treffpunkt. Es gelingt nicht rechtzeitig, portiert werden. Mit Sitzblockaden informiert. Hunderte Verletzte können
te Mal vor 40 Jahren Wasserwerfer ge- satz informieren zu lassen. Das allein sei ter der dann nach Mitternacht 25 Bäu- sie mit den Baufahrzeugen der Rodungs- hindern sie die Einsatzwagen am Vorrü- daher zunächst nur von freiwilligen
braucht wurden: „Vom Einsatz solcher aber kein Beleg für eine politische Vorga- me fallen sollen. Doch der für 15 Uhr firma an der Autobahnabfahrt Zuffen- cken. Die Polizei spricht von einer „ins- Sanitätern der Stuttgart-21-Gegner auf
Mittel halte ich gar nichts.“ be an die Polizei. geplante Einsatz spricht sich unter den hausen zu einem Konvoi zu vereinen. gesamt sehr aufgeheizten und aggressi- einer Liegewiese und in einem Biergar-
Und dann lässt er wenige Wochen spä- Bis Ende des Jahres will der Untersu- Gegnern von Stuttgart 21 herum. Der Als den Gegnern von Stuttgart 21 die ven Stimmung“. Polizeipräsident ten notdürftig versorgt werden. Ständig
ter vier von ihnen im Schlossgarten auf- chungsausschuss tagen, im Januar ist der Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Blocks der Polizei auffallen, alarmieren Stumpf stimmt um 11.53 Uhr zu, Schlag- kommen weitere Menschen mit gereiz-
fahren, dazu Hundertschaften von Poli- Abschlussbericht zu erwarten. So lange Stumpf (im Foto links) entscheidet am sie um 10.25 Uhr etwa 25 000 Menschen stöcke einzusetzen und einen Wasserwer- ten Augen hinzu. Erst gegen 16.35 Uhr
zisten, martialisch gekleidete Sonderein- wollen viele Stuttgarter nicht warten. Vortag, den Einsatz auf zehn Uhr vorzu- über eine SMS-Kette und per E-Mail. fer auffahren zu lassen. Um 12.48 Uhr gelingt es der Polizei mithilfe von vier
heiten; er lässt sie mit Schlagstöcken und Am kommenden Samstag wird es eine De- verlegen. Zu diesem Zeitpunkt ist am Erst eine Viertelstunde später trifft die feuert der erste Wasserwerfer auf die Wasserwerfern, den Bauplatz abzusper-
Pfeffersprays auf Schüler und Rentner monstration gegen Polizeigewalt geben. Hauptbahnhof eine Schülerdemonstrati- erste Beamten-Kolonne im Park ein – Demonstranten – auch viele Schüler ren. Tausende Menschen versammeln
los. Wegen eines Bahnhofs. Da kann et- Auch der verletzte Alexander Schlager on angemeldet. Gegen zehn Uhr haben mittlerweile warten dort bereits 1000 und Rentner werden getroffen. Bis zum sich vor dem Gitter, hinter dem um ein
was nicht stimmen – diesen Verdacht hat will dabei sein. Aber an vorderster Front sich dort bereits 400 Jugendliche im Gegner, die meisten sind Jugendliche letzten Wasserstoß um 16.33 Uhr vervier- Uhr nachts der erste Baum fällt. Um
nicht nur die Opposition im Landtag. wird er auch diesmal nicht stehen. Alter von 15 bis 18 Jahren versammelt. der Schülerdemonstration. facht die Polizei den Wasserdruck. 4.10 Uhr sind alle 25 Bäume gerodet.
SPD und Grüne fragen sich, warum
der Polizeipräsident monatelang die zahl-
reichen Demonstrationen gegen Stutt-
gart 21 ohne größere Zwischenfälle be- Schlichtung: Die vierte Runde
gleiten lässt, und dann, am 30. Septem-
ber, plötzlich seine Strategie ändert. „Da Auch nach Halbzeit der insgesamt acht rung des maroden Gleisvorfelds mehre-
hat es Einmischung von oben gegeben“, Schlichtungsrunden unter Moderator re Jahrzehnte in Anspruch nähme, wol-
cartier.de – 089 55984-221

sagt Andreas Stoch, der für die SPD im Heiner Geißler bleibt die große offene le man nicht eine massive Beeinträchti-
Stuttgarter Landtag sitzt. „Entweder Frage im Raum, auf welchen Kompro- gung des Zugverkehrs in Kauf nehmen.
vom Innenminister oder von Ministerprä- miss hin sich der öffentliche Argumen- Außerdem warnten die Befürworter da-
sident Stefan Mappus persönlich“, sagt te-Austausch zubewegen könnte. Wie- vor, dass sämtliche Planfeststellungs-
Stoch. Das will er nachweisen. derum verteidigten Gegner und Befür- verfahren für Stuttgart 21 aufgehoben
Im Landtag hat seine Fraktion einen worter von Stuttgart 21 am Freitag ver- werden und langwierige neue Verfahren
Untersuchungsausschuss durchgesetzt, bissen ihre gegensätzlichen Positionen fürs Alternativkonzept in Gang gesetzt
nur fünf Monate vor der Landtagswahl. – diesmal zum Thema „Kopfbahnhof werden müssten. Das wiederum bestrit-
Am Dienstag werden dort die Zeugen be- 21“, das Alternativkonzept der Gegner. ten die Gegner: „Die Mehrheit unserer
stimmt. Einer von ihnen wird Mappus Der frühere SPD-Bundestagsabge- Bausteine kommt ohne Planverfahren
sein, ganz am Schluss soll er an die Reihe ordnete Peter Conradi erläuterte die Vor- aus“, sagte Conradi.
kommen. Der Regierungschef im Verhör züge des Erhalts und der Renovierung Geißler meinte, es gebe erste Erfolge
– so kurz vor der Landtagswahl sind das des Stuttgarter Hauptbahnhofs: das bei der Schichtung: „Alle sind jetzt vom
keine Bilder, die sich die CDU wünscht. Konzept sei robuster, weniger störanfäl- hohen Ross herunter, es ist inzwischen
Die Verteidigungslinie des CDU-Regie- lig und viel kostengünstiger – zumal kilo- mehr Frieden eingekehrt.“ Es müsse an-
rungschefs steht bereits. Er beteuert, für meterlange Tunnelbauten und teures erkannt werden, dass es für beide Pro-
den Einsatz keine Vorgaben gemacht zu Grundwassermanagement entfallen jekte Argumente gebe. Im Übrigen gelte
haben. „Ein Ministerpräsident darf sich würden. Bahnvorstand Volker Kefer es, das veraltete Baurecht zu moderni-
nicht in das operative Geschäft der Poli- wandte dagegen ein, dass die Renovie- sieren. dad
zei einmischen“, sagt Mappus. Das ist

„Schwarzer Tag für die Arbeitnehmer“


Bundestag billigt höhere Krankenkassenbeiträge – Gewerkschaften protestieren
Berlin/München – Auf die etwa 70 Millio- beiträge finanziert werden – diese kön- heitspolitiker Jens Spahn sagte, die Koa-
nen gesetzlich Krankenversicherten in nen die Kassen in unbegrenzter Höhe er- lition stelle sich der Verantwortung,
Deutschland kommen von Januar an hö- heben. Geringverdiener erhalten einen auch wenn es „unschöne Botschaften“
here Beiträge und weitere finanzielle Be- Sozialausgleich. Zudem werden Ausga- seien. Mit Blick auf das für 2011 erwarte-
lastungen zu. Der Bundestag verabschie- ben bei Ärzten, Krankenhäusern und te Defizit von neun Milliarden Euro in
dete am Freitag mit den Stimmen der Ko- Kassen begrenzt. Für das Gesetz stimm- der gesetzlichen Krankenversicherung
alitionsfraktionen von Union und FDP ten 306 Abgeordnete von Union und sagte Spahn: „Wenn wir nichts tun wür-
das Gesetz zur Finanzierung der gesetzli- FDP, es gab 253 Nein-Stimmen aus den den, müssten viele Krankenkassen in die
chen Krankenversicherung, mit dem das Reihen von SPD, Grünen und Linken. Insolvenz gehen.“
Milliardendefizit der Kassen einge- Der Bundesrat muss nicht zustimmen. Die Opposition beschwörte dagegen
dämmt werden soll. Opposition, Gewerk- Bundesgesundheitsminister Philipp „das Ende der Solidarität“ im Gesund-
schaften und Verbände geißelten den Be- Rösler (FDP) zeigte sich überzeugt, dass heitswesen. „Die Versorgung wird nicht
schluss als Ausstieg aus dem Solidarsys- mit der Reform „nicht nur die Probleme verbessert, aber es wird an vielen Punk-
tem. Dem Gesetz zufolge steigt der ein- im Jahr 2011 gelöst werden, sondern der ten ungerechter werden für die Versicher-
heitliche Beitragssatz von derzeit 14,9 Einstieg in ein faires und besseres Sys- ten“, sagte SPD-Generalsekretärin An-
auf 15,5 Prozent. Der Arbeitgeberanteil tem“ gelinge. Der Arbeitgeberbeitrag drea Nahles. Der sozialdemokratische
wird von sieben auf 7,3 Prozent erhöht werde festgeschrieben, um die Lohnzu- Gesundheitsexperte Karl Lauterbach
und auf diesem Niveau festgeschrieben. satzkosten zu stabilisieren. „Das ist un- sprach sogar von „Abzocke“. Lin-
Alle künftigen Kostensteigerungen sol- ser Beitrag für Wachstum und Beschäfti- ke-Fraktionschef Gregor Gysi nannte
len von den Versicherten durch Zusatz- gung“, sagte Rösler. Der CDU-Gesund- die Reform „grob sozial ungerecht“.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund
(DGB) warf der Bundesregierung vor, sie
mache mit den einseitigen Belastungen ������� �� �������
der Versicherten „Politik gegen die Be-
völkerung“. Die IG Metall sprach von ei- ���� �� ��������������
nem „schwarzen Tag für die Arbeitneh-
mer“. Der Sozialverband VdK mahnte,
die Kluft zwischen Arm und Reich werde
sich weiter vergrößern. ��� ������� ���� �� ������ ��� ���� ���� �������� ������ ��� ���� ��� ����� ����������
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt ������������� ��� ��� ����� �������� ��� ��� ������� �� ������� ��� ��� ����� ����������
kritisierte in Berlin, durch den Anstieg
Bundesgesund- des Arbeitgeberanteils auf 7,3 Prozent ���� ������������� ��� ���� ������������ ��� ���������� ��������� �� ��� ���������
heitsminister Phil- würden die Arbeitskosten erhöht. Der So- ������ �������������� ������ �� ����� ��� ������� ��������� ��� ���������� ���
ipp Rösler (FDP) zialausgleich führe zudem zu mehr Büro-
sieht seine Ge- kratie bei den Arbeitgebern. ���� ��� ������� ������������
sundheitsreform Von einem „Wortbruch“ sprach die
als „Beitrag für bayerische SPD angesichts der Zustim- �� �� ������������� ������������ �������������� ��� ���������������� �������
Wachstum und mung der CSU zur Gesundheitsreform. ������� ���� �� ������� ���������������� ��� ������� �� ������������ ���������
Beschäftigung“. Anders als vom bayerischen Ministerprä-
Die gesetzlichen sidenten Horst Seehofer einst verspro- ���������� ���������� ������������ ������� ������ �������� �������������� �����������
Krankenkassen chen, orientierten sich die Beiträge künf- ���������� ��� ��������� ������������ ������������������� ����������� �����������
erwarten für 2011 tig nicht mehr am Lohn, sondern würden
neun Milliarden über Pauschalen geregelt. „Damit hat
Euro Defizit – die die CSU heute die solidarische Kranken-
Versicherten sol- finanzierung begraben“, sagte SPD-Lan-
len dieses ausglei- desparteichef Florian Pronold am Frei-
chen. Foto: dpa tag in München. SZ, ddp, AFP

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