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WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 17. März 2016 9:09 AM GMT+1

Vor dem EU-Gipfel;


Kanzlerin Merkel und Europas Ehre

AUTOR: Sascha Lehnartz

RUBRIK: DEBATTE; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 350 Wörter

HIGHLIGHT: Die Kanzlerin hat viele Fehler gemacht, sie hat Deutschland in Europa
isoliert. Aber an einem ist sie nicht schuld: Dass ein 500-Millionen-Kontinent
keine gemeinsame Antwort auf eine Krise findet.

Angela Merkel eilte lange der Ruf voraus, ein physiklehrerinnenhaftes


Politikverständnis zu pflegen. Sie denke die Dinge "stets vom Ende her". Deshalb
überprüfe sie immer erst einmal, ob alle im Klassenzimmer auch die
Plastikschutzbrille aufgesetzt haben, bevor sie den Bunsenbrenner anwirft. Um
Verletzungsrisiken zu minimieren.

Interessant an diesem gedankensparenden Klischee war, dass es Bestand hatte,


obwohl es im Laufe der Zeit durchaus die ein oder andere Merkel-Idee gab, die
bei längerem Nachdenken so vollständig durchdacht nicht war. Doch erst mit der
Flüchtlingskrise wurden die Zweifel am Mythos der allen überlegenen
Kanzlerinnen-Logik auch in den Reihen ihrer Getreuen lauter.

Angela Merkel hat diese Sache zwar vom Ende (beziehungsweise vom Anfang) her
gedacht und die Lösung dort lokalisiert, wo die Flüchtlinge herkommen - das
heißt in erster Linie aus Syrien und vor allem - durch die Türkei.

Sie hat dabei aber übersehen, dass 27 andere Europäer plus mindestens ein Bayer
aufgrund der sehr individuellen Empfindlichkeit ihres politischen Nervenkostüms
nicht dasselbe Maß an Geduld bis zum Ausgang des gewagten Experiments aufbringen
würden.

Beharrungswillen der Kanzlerin

Und sie hat vor allem die Bereitschaft unserer Nachbarn unterschätzt, sich dem
in Berlin artikulierten kategorischen Willkommensimperativ zu unterwerfen.

Das Resultat dieser Fehleinschätzung ist eine in Europa beunruhigend isolierte


Bundeskanzlerin, deren politisches Schicksal nun auch von der Tageslaune eines
irrlichternden Teilzeitautokraten in Ankara abhängt.

Angela Merkel hat dennoch recht, wenn sie in ihrer Regierungserklärung darauf
hinweist, dass es Europa "nicht zur Ehre" gereicht, wenn die Union von 28
Mitgliedsstaaten mit 500 Millionen Einwohnern keine gemeinsame Antwort für eine
Krise findet, die alle trifft.
Man mag den Beharrungswillen der Kanzlerin in diesem Fall für nicht zielführend
halten. Die fehlende Bereitschaft gerade auch vermeintlich "großer" europäischer
Mächte, Lasten zu teilen und praktikable Lösungen wenigstens zu suchen - daran
ist ausnahmsweise einmal nicht Angela Merkel schuld.

UPDATE: 17. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1439 of 1849 DOCUMENTS

WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 17. März 2016 9:35 AM GMT+1

Festnahmen;
Vier Islamisten sollen Anschlag in Paris geplant haben

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 301 Wörter

HIGHLIGHT: Anti-Terror-Einheiten haben in Paris vier Verdächtige festgenommen,


die einen Anschlag geplant haben sollen. Die drei Männer und eine Frau besitzen
laut Polizei radikal islamistische Hintergründe.

In Paris sind am Mittwoch vier mutmaßliche Islamisten festgenommen worden. Die


drei Männer und eine Frau sollen einen Anschlag in der französischen Hauptstadt
geplant haben, wie französische Medien übereinstimmend unter Berufung auf
Ermittler berichteten. Bei der für Terrorismus zuständigen Staatsanwaltschaft
gab es zunächst keine Bestätigung für diese Informationen.

"Man kann derzeit nicht von einem unmittelbar bevorstehenden Anschlagsprojekt


sprechen", betonte ein Polizeivertreter. So wurde bei den Razzien keine Waffe
gefunden. Beschlagnahmte Datenträger sollen nun ausgewertet werden.

Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve sagte zu den Verhaftungen, dass seit


Januar 74 Menschen in Frankreich in Verbindung mit Terrorplänen festgenommen
worden seien. "Solche Festnahmen kommen jeden Tag vor", sagte Cazeneuve vor
Journalisten. Die Gefahr von Anschlägen sei aber weiterhin hoch.

Hollande: "Wir müssen äußerst wachsam sein"

Präsident François Hollande sagte am Rande einer Veranstaltung, die Festnahmen


zeigten, dass das Niveau der Bedrohung weiter sehr ausgeprägt sei: "Wir müssen
äußerst wachsam sein."

Die Festnahmen seien im Norden von Paris sowie im Vorort Seine-Saint-Denis


erfolgt, hieß es. Unter den Festgenommenen befinde sich auch ein 28-Jähriger,
der 2014 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er sich in Syrien dem
Dschihad anschließen wollte. Der Mann sei im Oktober 2015 aus der Haft entlassen
worden.

130 Tote und mehr als 350 Verletzte - das ist die verheerende Bilanz der
Anschlagsserie vom Freitag, den 13. November 2015. Die Anschläge von Paris
zählen somit zu den schlimmsten Terrorakten in Europa seit den Madrider
Zuganschlägen von 2004. Für die Taten wird die islamistische Terrormiliz
"Islamischer Staat" (IS) verantwortlich gemacht, die sich auch zu den Anschlägen
bekannte.

UPDATE: 17. März 2016

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1440 of 1849 DOCUMENTS

WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 17. März 2016 10:09 AM GMT+1

"Platz der Republik";


Jetzt kommt auch noch die Rot-Rotlicht-Koalition

AUTOR: Robin Alexander

RUBRIK: DEBATTE; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 391 Wörter

HIGHLIGHT: Deutschland lernt neue politische Farbkombinationen: Grün-Schwarz,


Rot-Gelb-Grün, Schwarz-Rot-Gelb. Eine brandneue Allianz hat bisher noch keiner
auf dem Schirm - sie könnte in McPomm entstehen.

Früher wählten die Leute CDU oder SPD, und wer den Kanzler stellte, entschied
die FDP. Das war langweilig, aber übersichtlich. Und jetzt? In Rheinland-Pfalz
wird über die Ampel (Rot-Gelb-Grün) gesprochen, in Baden-Württemberg über eine
Deutschlandkoalition (Schwarz-Rot-Gold, nein: Gelb).

Und in Sachsen-Anhalt über die Afghanistankoalition. Die ist nach dessen


schwarz-rot-grüner Fahne benannt und nicht zu verwechseln mit der
Keniakoalition, Rot-Schwarz-Grün, die in Kärnten regiert.

Schwarz-Gelb-Grün, das Jamaika genannt wird, oder "Schwampel" (schwarze Ampel),


könnte nach der Bundestagswahl diskutiert werden. Das Bündnis der Linken mit der
CDU, das Gregor Gysi jetzt ins Spiel brachte, könnte wieder "Nationale Front"
heißen wie bis 1989 in der DDR.

Wer hier schon den Überblick verloren hat - das Schlimmste steht uns noch bevor:
Andere Linke haben Kurs sogar auf die AfD genommen. "Abgewählt wurde die
neoliberale Flüchtlingspolitik von Angela Merkel", kommentierte Oskar
Lafontaine. Schon vor der Wahl forderte er: "Wäre die deutsche Politik nicht so
unterwürfig, dann würde sie Dampfer mit Flüchtlingen aus Syrien in die USA
schicken."

Blut-im-Stuhl-Koalition

Sahra Wagenknecht blinkte vor der Wahl nach rechts. Und Stefan Liebich, der
seine Genossen kennt, zitiert warnend aus Pamphleten der 30er-Jahre:
"Bolschewismus und Faschismus haben ein gemeinsames Ziel: Zertrümmerung des
Kapitalismus und der SPD."

Aktuell wirtschaftet der Linkspopulist Alexis Tsipras Griechenland gerade


zusammen mit Rechtspopulisten in den Abgrund. Putin-Fans sind die Radikalen
beider Richtungen sowieso. Und bei der AfD-Wahlparty in Magdeburg feierte Jürgen
Elsässer mit, einst Redakteur der linksradikalen "Jungen Welt".

Bleibt die Frage, wie das neue Bündnis heißen könnte: Rot-Blau? Oder im Osten
vielleicht doch eher Rot-Braun? Die Kastanienkoalition? Zu niedlich. Die
Blut-im-Stuhl-Koalition? Hm. Die National-Sozialisten? Vorbelastet.

Vielleicht hilft Petra Federau. Das ist die AfD-Kandidatin, die nach Recherchen
der "Schweriner Volkszeitung" junge Mecklenburgerinnen für einen Escortservice
in Abu Dhabi angeworben haben soll. Auch Lutz Bachmann warb für Bordelle, bevor
er Pegida gründete. In McPomm vielleicht bald mehrheitsfähig: die
Rot-Rotlicht-Koalition.

Der Autor notiert an dieser Stelle alle zwei Wochen seine Beobachtungen aus dem
Hauptstadtbetrieb.

UPDATE: 17. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1441 of 1849 DOCUMENTS

WELT ONLINE (Deutsch)


Donnerstag 17. März 2016 11:53 AM GMT+1

Multikulti-Streitkräfte;
Die Bundeswehr wird zum Labor für eine EU-Armee

AUTOR: Thorsten Jungholt

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1060 Wörter

HIGHLIGHT: Die Verschmelzung von Bundeswehr und niederländischen Streitkräften


schreitet voran. Der Wehrbeauftragte will nun auch tschechische Soldaten in die
deutsche Truppe integrieren. Das Ziel: die EU-Armee.

Es wird ein historischer Appell an diesem Donnerstag in der Lüneburger Heide.


Die Soldaten des Panzerbataillons 414 treten an, um von gleich zwei hohen
Offizieren ihre Befehle entgegenzunehmen: Dem Inspekteur des Deutschen Heeres,
Generalleutnant Jörg Vollmer, und dem Inspekteur der Königlichen
Landstreitkräfte der Niederlande, Generalleutnant Mart de Kruif.

Die Drei-Sterne-Generäle werden Folgendes anordnen: Das mit Soldaten beider


Nationen besetzte Bataillon wird der 43. Mechanisierten Brigade der Niederlande
unterstellt. Diese Brigade wiederum steht künftig unter dem Kommando der 1.
Panzerdivision der Bundeswehr.

Das klingt kompliziert, besagt aber nichts anderes, als dass die Panzertruppen
der beiden Nachbarländer miteinander verschmolzen werden. In den
Auslandseinsätzen ist diese symbiotische Zusammenarbeit nichts Neues. Derzeit
sind deutsche und niederländische Soldaten gemeinsam in einem Feldlager in Gao
im Norden Malis stationiert.

Bereits in den 90er-Jahren kämpften beide Armeen zusammen auf dem Balkan. Und
die Generäle Vollmer und de Kruif arbeiteten in Afghanistan Seite an Seite: Der
Deutsche leitete 2009 das Regionalkommando Nord der internationalen
Schutztruppen am Hindukusch, der Niederländer kommandierte zeitgleich im Süden
des Landes.

Die neue Qualität der Kooperation besteht nun darin, dass die Streitkräfte auch
im Grundbetrieb in der Heimat zusammengeführt werden. Das ist nicht nur bei der
Panzertruppe so.

2014 wurde schon die Luftbewegliche Brigade des niederländischen Heeres in die
Division Schnelle Kräfte der Bundeswehr integriert. Auch die Marinen beider
Länder werden miteinander verzahnt. So ist vereinbart, dass die 800 Soldaten des
deutschen Seebataillons in Eckernförde ihren Dienst künftig an Bord der "Karel
Doorman" leisten werden, einem großen Mehrzweckversorgungsschiff der Marine
Seiner Majestät der Niederlande.

Vorigen Montag war die "Doorman" bereits für eine gemeinsame Übung in
Warnemünde. Ziel ist auch hier die komplette Integration, bei der - anders als
beim Heer - die Niederländer die Federführung übernehmen.

Das gilt auch für das weniger bekannte Projekt "Apollo", bei dem das
niederländische Heer und die deutsche Luftwaffe im Bereich der bodengebundenen
Luftverteidigung kooperieren. Dabei geht es um gemeinsame Ausbildung und
Harmonisierung der Einsatzkonzepte.

Am Ende sollen die deutschen Kräfte des Nah- und Nächstbereichsschutzes unter
niederländische Führung gestellt werden, so steht es in einer im Februar an der
Königlichen Militärakademie in Breda unterzeichneten Vereinbarung.

Auch bei diesem Projekt liegen die Wurzeln in einem gemeinsamen Auslandseinsatz
im Rahmen der Nato: Von 2013 bis 2015 haben Bundeswehr und Königliche Landmacht
gemeinsam die Türkei mit Patriot-Luftabwehrraketen vor einem möglichen Beschuss
aus Syrien geschützt.

Der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), hält die


Truppenintegration mit dem Nachbarland im Westen für richtig, aber noch nicht
ausreichend: Er wünscht sich eine Ausweitung Richtung Osten. "Aus meiner Sicht
ist die Zusammenarbeit mit den Streitkräften der Niederlande das Labor für
multinationale Streitkräfte, die wir am Ende in Europa haben wollen", sagte
Bartels der "Welt".

"Der nächste logische Schritt wäre eine vergleichbare Kooperation mit


Tschechien, einem ehemaligen Teil des Warschauer Pakts." Die tschechische
Regierung habe bereits vor geraumer Zeit angeboten, "ihre 7. Brigade einer
deutschen Panzerdivision zu unterstellen". Dieses Angebot sollte die
Bundesregierung annehmen, findet der Wehrbeauftragte: "Das wäre eine sinnvolle
Ausgestaltung des bereits im Vorjahr zwischen den Regierungen beider Länder
vereinbarten strategischen Dialogs."

Tatsächlich hatte Tschechiens Verteidigungsminister Martin Stropnicky gegenüber


seiner deutschen Kollegin Ursula von der Leyen (CDU) im vorigen Jahr beklagt,
dass das Kooperationspotenzial beider Armeen "noch nicht ausgenutzt" werde.

Wie die Niederländer würde er eine seiner zwei Panzerbrigaden, eben die 7.
Mechanisierte Brigade, gern in die 1. Panzerdivision des Deutschen Heeres in
Oldenburg integrieren.

Bartels hielte es für sinnvoller, die Tschechen mit der 10. Panzerdivision in
Sigmaringen zu verzahnen. Gespräche darüber laufen bereits seit Monaten, nur
gibt es noch keinen Abschluss.

Doch auch von der Leyen scheint für das Projekt aufgeschlossen zu sein. Im
Februar, bei der Unterzeichnung der deutschen-holländischen
Kooperationsvereinbarung, kündigte die Ministerin an, ihr Ziel gehe über die
binationale Zusammenarbeit hinaus: "Wir werden im nächsten Jahr eine
multinationale Panzerdivision aufstellen."

Am Ende soll eine Einheit mit bis zu 20.000 Soldaten stehen, die 2021
einsatzbereit sein soll - das wäre dann der Nukleus einer europäischen Armee.

Kritiker der Verschmelzung weisen allerdings auf ein Kernproblem der


Integrationspläne hin: Sie beruhen vor allem auf dem Gedanken der
Kostenersparnis. Die deutsch-holländische Zusammenarbeit lässt sich nämlich auch
so beschreiben: Ein Land, das sich ein Kriegsschiff nicht leisten kann oder
will, macht gemeinsame Sache mit einem Land, das sich Panzer nicht mehr leisten
kann.

Zusätzliche militärische Fähigkeiten entstehen so nicht. Und auch gemeinsame


strategische Definitionen, wie integrierte Fähigkeiten am Ende genutzt werden
sollen, liegen in weiter Ferne.

Bartels teilt diese Kritik nicht. "Nehmen wir das Beispiel der Marine", sagt der
Wehrbeauftragte. "Wir haben ein Seebataillon, aber kein passendes Schiff dafür.
Die Niederlande haben das Schiff, aber zu wenig Personal. Zusammengenommen
können beide Länder eine Fähigkeit stellen, die jeder allein nicht mehr
hinbekommt."

Ähnlich sehe es bei den Panzertruppen aus. Wenn die Bundeswehr durch
multinationale Kooperationen am Ende zwei Divisionen mit jeweils vier Brigaden
in die Nato einbringen könne, dann sei eine höhere Einsatzbereitschaft
garantiert, als wenn man auf sich allein gestellt nur je drei Brigaden stellen
könne.

Der holländische General de Kruif mag sich mit Kostenerwägungen erst gar nicht
aufhalten. Bei einem Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
führte er einst aus, dass die deutsch-niederländische Kooperation keineswegs
etwas Neues, sondern tief in den Beziehungen beider Länder verwurzelt sei: Schon
in der Schlacht von Waterloo hätten Deutsche und Niederländer gemeinsam als
Alliierte gegen Napoleon gekämpft.

UPDATE: 17. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1444 of 1849 DOCUMENTS

WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 18. März 2016 10:17 AM GMT+1

Moskaus Macht;
Warum wir der Propaganda des Kreml nicht aufsitzen dürfen

AUTOR: Julia Smirnova

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1197 Wörter

HIGHLIGHT: Russland will Europa destabilisieren, darüber gibt es keinen Zweifel.


Aber nicht jeder Kontakt mit Rechtspopulisten beweist, dass sie ferngesteuert
sind. Auch ohne Putin wären sie groß geworden.

Die Geschichte von Lisa, dem russlanddeutschen Mädchen aus Marzahn, das von
russischen Medien für deren ausländerfeindliche Propaganda benutzt wurde, hat
Deutschland alarmiert. Die Angst vor einem "hybriden Krieg", den Moskau nun mit
Methoden der Desinformation gegen den Westen und insbesondere gegen die
Bundeskanzlerin Angela Merkel führe, ist da.

Der BND will laut Medienberichten die russische Propaganda nun verstärkt
überwachen. Und mit der wachsenden Macht der Rechtspopulisten in Europa wird
immer häufiger die Frage nach deren Kontakten zum Kreml aufgeworfen. Finanziert
Russland die AfD? Will Putin Merkel stürzen?

Beim Begriff "hybrider Krieg" wird häufig an einen Artikel des russischen
Generalstabschefs Waleri Gerassimow erinnert, der 2013 in einer Fachzeitschrift
über moderne Kriegsführung schrieb, sie vereine konventionelle Mittel mit
politischen und wirtschaftlichen sowie mit einem "Informationskrieg".

Freilich hat nicht er den Begriff erfunden. Aber in den letzten Jahren zeigte
Russland, dass es diese Art der Kriegsführung geschickt beherrscht.

Krim-Annexion ohne Waffen

Genau vor zwei Jahren annektierte es die ukrainische Halbinsel Krim, ohne einen
Schuss abgefeuert zu haben, aber mithilfe von Propaganda, psychologischem Druck
und konventionellen Waffen, die vorgeführt, aber nicht eingesetzt wurden.

In Syrien machte der russische Präsident Wladimir Putin das Beste aus seiner
Militäroperation zur Stärkung Assads und bombardierte sich einen Sitz am
Verhandlungstisch herbei. Sind das nicht genug Gründe, um sich Sorgen um die EU
und Deutschland zu machen?

Die Debatte in Deutschland wird emotional und oft auf einer abstrakten Ebene
geführt. Dabei wird vieles durcheinandergeworfen: die Geschichte der
sowjetischen Propaganda und der Abteilung für "aktive Maßnahmen" des
Geheimdienstes KGB, die Desinformationskampagnen führt, die Trollfabriken und
anonyme Informationen aus den "Sicherheitskreisen". Viele Länder seien diesen
Maßnahmen ausgesetzt.

Ohne Zweifel ist die russische Propaganda kein Phantom und muss ernst genommen
und genau beobachtet werden. Es würde aber der Diskussion guttun, konkreter und
genauer zu werden, also zwischen bewiesenen Fakten und Vermutungen zu
unterscheiden.

Antiwestliche Paranoia

Die Schwächung von Merkel und die Spaltung in der EU liegen natürlich in Putins
Interesse. Bei der antiwestlichen paranoiden Stimmung, die in Russland
verbreitet ist, ist es wahrscheinlich, dass diverse Abteilungen der
Geheimdienste oder Kreml-nahe Thinktanks Papiere über Möglichkeiten der
Destabilisierung Deutschlands schreiben.

Doch inwiefern die Umsetzung dieser Konzepte fortgeschritten und erfolgreich


ist, ist eine andere Frage.

Aus der Tatsache, dass der rechtspopulistische Front National in Frankreich


einen Kredit bei einer russischen Bank bekommen hat, folgt noch nicht
automatisch, dass Moskau die AfD finanziert. Ausgeschlossen ist das nicht und
wäre ein gutes Thema für eine ausführliche Recherche.

Doch bis es bewiesen ist, kann man es nicht einfach insinuieren. Würde man für
viele Probleme in Europa Russland als Verursacher sehen, würde man die russische
Logik perpetuieren.

Die USA sind Wurzel allen Übels


In Russland gelten bereits seit Jahren alle Andersdenkenden als "Agenten des
Westens" und "fünfte Kolonne". Hinter jeder Kritik an Autokraten, jedem Protest
in den ehemaligen sowjetischen Ländern wird die CIA oder "das Kapital" aus dem
Ausland gesehen.

Ein Foto eines Oppositionellen, aufgenommen in der US-Botschaft oder beim


Treffen mit einem US-Diplomaten, reicht als Beweis, dass er ein
Vaterlandsverräter und eine Marionette Washingtons ist.

Russische Propagandisten können alle Geschehnisse auf der Welt mit einer
Verschwörungstheorie erklären, in der die USA als die Wurzel des Übels genannt
werden. Alles, was in irgendeiner Form mit den USA in Kontakt gekommen ist, gilt
per se als vergiftet. Man braucht dafür keine Beweise, die häufig wiederholte
Suggestion reicht.

"Zufall? Das glaube ich nicht!", lautet der berühmte Satz des russischen
Chefpropagandisten Dmitri Kisseljow. So kommentierte er einen kritischen Artikel
über den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko auf einer US-Webseite. Für
das russische Fernsehen war das ein Beweis dafür, dass die Amerikaner
Poroschenko bald fallen lassen könnten.

Rechtspopulisten in Europa, auch ohne Putin

Von dieser Art von "Beweisen" sollte man sich im Westen in keiner Form anstecken
lassen. Wenn man die Rechtspopulisten als "Putins fünfte Kolonne" bezeichnet,
spricht man genau die Sprache eines autoritären Regimes. Aber der Aufstieg
rechtspopulistischer Parteien in Europa hätte auch ohne Putin funktioniert.

Ja, es gibt Kontakte zwischen diversen Populisten in Europa und Moskau. Der
rechtsradikale Vordenker Alexander Dugin (der übrigens kein Kreml-Berater ist)
unterhält rege Kontakte zu seinen Gleichgesinnten in Griechenland, Italien und
anderen europäischen Ländern. Der Oligarch Konstantin Malofejew organisiert
Veranstaltungen, zu denen unter anderen Alexander Gauland kommt.

Janis Sarts, Direktor der Kompetenzzentrums für strategische Kommunikation der


Nato in Lettland, sagte dazu im Interview mit dem britischen "Observer":
"Russland etabliert ein Netzwerk, das kontrolliert werden kann." So sieht
vielleicht die Wunschvorstellung einiger Kreml-Strategen und Informationskrieger
aus. Vielleicht ist es auch die geheime Wunschvorstellung der
Gegenpropagandisten.

Realität ist jedoch, dass Russland zwar Kontakte, aber keine Kontrolle über
europäische Rechtspopulisten hat. Die antimoderne Einstellung des Kreml ist
ihnen sehr nah. In der Logik des Kreml ist die westliche liberale Demokratie nur
eine Farce, die Pressefreiheit existiert nicht wirklich, weil die Menschenrechte
nicht infrage gestellt werden dürfen, die Medien werden manipuliert, eine Lobby
von Schwulen und Feministen zerstört traditionelle Familien.

Wird Horst Seehofer vom Kreml gesteuert?

Wertepolitik ist für Russland sowieso ein verlogener Begriff, denn Putin zufolge
muss man nur auf nationale Interessen achten. Das würden auch viele
Rechtspopulisten unterschreiben. Im Kreml fühlen sie sich verstanden. Sogar in
der Rhetorik von Donald Trump findet man Elemente dieses Kreml-Weltbildes. Das
heißt aber nicht, dass Trump vom Kreml beeinflusst oder kontrolliert wird. Und
auch Horst Seehofer war jüngst in Moskau, und trotzdem sagt niemand, seine CSU
würde vom Kreml gesteuert.
Russland gefällt es, dass Rechtspopulisten ein positives Bild von Moskau
zeichnen. Aus diesen Parteien hört man keine Kritik, aber viel Verständnis etwa
für die Krim-Annexion oder den Krieg in der Ostukraine.

Wenn AfD-Politiker also Kreml-Argumente wiederholen, ist es viel produktiver,


nicht mit dem Vorwurf zu kontern, sie würden vermutlich vom Kreml bezahlt,
sondern konkrete Gegenargumente zu liefern. Es gibt genug Belege und Beweise für
die militärische Einmischung in der Ostukraine, geliefert von russischen,
ukrainischen und westlichen Journalisten.

Wenn der "hybride Krieg" aus militärischen Mitteln und Einschüchterung und
Propaganda besteht, darf man sich nicht einschüchtern lassen vom vermeintlich
starken und allmächtigen Russland. Denn das ist nichts anderes als lupenreine
russische Propaganda.

UPDATE: 18. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1445 of 1849 DOCUMENTS

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Freitag 18. März 2016 12:11 PM GMT+1

Ibn Battuta;
Mit dem ersten Reporter durch die Welt des Islam

AUTOR: Sascha Lehnartz

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1119 Wörter

HIGHLIGHT: 1325 brach Ibn Battuta nach Mekka auf und wurde zum Weltreisenden.
Erich Follath ist seinen Spuren gefolgt, um die islamische Welt zu verstehen.
Wann hat sie den Anschluss an die Moderne verpasst?

Der Mann ist dreimal so weit gereist wie Marco Polo, doch in der westlichen Welt
kennt ihn kaum jemand. Aus einer Pilgerfahrt, die ihn 1325 von Tanger nach Mekka
führen sollte, wurde eine 29 Jahre währende Reise in die entlegensten Ecken der
damals bekannten Welt. Abu Abdullah Mohammed Bin Abdullah Bin Mohammed Bin
Ibrahim al-Lawati, genannt Ibn Battuta, legte dabei grob geschätzt 120.000
Kilometer zurück. Genau ist das nicht nachzuvollziehen, denn er verlief sich
einige Male, und es gab noch kein GPS.
Er bevorzugte den Landweg, denn jedes Mal, wenn er gezwungen war, ein Schiff zu
nehmen, ging irgendetwas schief. Er heiratete zehn Mal und hatte unzählige
Konkubinen. Er durchquerte mehr als 40 Länder auf der heutigen Weltkarte, traf
viele der klügsten und mächtigsten Menschen seiner Zeit, wurde reich, mehrfach
ausgeraubt, wäre fast in der Wüste verdurstet und überlebte Schiffsunglücke,
während eine seiner Frauen und viele seiner Freunde ertranken. Der Mann,
aufgebrochen zur obligatorische Hadsch nach Mekka und Medina, entdeckte
unterwegs, dass das Reisen seine eigentliche Bestimmung war. Ein Weg, die Welt
in Erfahrung zu bringen. Ein Weg zum Wissen. Und für den gläubigen Muslim ein
Weg zu Gott.

Bis zur Seidenstraße

Fast 30 Jahre lang führten Ibn Battutas Wissensdurst und sein Erfahrungshunger
ihn durch die zivilisierteren Teile der Welt, und das waren im ersten Drittel
des 14. Jahrhunderts die islamischen. Schaut man sich seine Reiseroute auf der
Karte an, lässt sich die Entdeckerlust erahnen. Sein Tracking ähnelt dem Laufweg
eines pubertierenden Dalmatiners, den man am ersten Frühlingstag von der Leine
lässt. Die Chancen sind groß, dass er vor lauter Schnupperlust nie mehr
zurückkehrt.

Auf dem Weg von Tanger nach Mekka träumte ihm, dass ein großer Vogel ihn bis ans
Ende der Welt tragen würde. Ein weiser Alter prophezeite ihm, dass ein mächtiger
Mann in Indien ihn aus großer Gefahr retten würde. Beides ging mehr oder minder
in Erfüllung. Battuta schaffte es - ohne Vogel - über Mekka, Shiraz und Bagdad
zur Seidenstraße.

Er zog das Rote Meer hinab nach Süden, nach Aden, Mogadischu, Mombasa, Sansibar.
Er war in Damaskus und auf der Krim, wo er sich als Begleitung die Gattin des
Khans der Goldenen Horde aussuchte. Er war in Konstantinopel, Samarkand, Kabul,
Delhi und Jakarta, auf den Malediven und an der Ostküste Chinas. Erst 1349
kehrte er über Granada zurück nach Tanger - nur um Richtung Süden, nach Timbuktu
aufzubrechen. Doch dort gefiel es Battuta nicht. Seine Wanderlust hatte sich
erschöpft.

Die Welt erfahren, um davon zu erzählen

Er kehrte heim - und schrieb seine Erlebnisse auf. Da und dort schmückte er sie
etwas aus. Das Ganze nannte er schlicht "Rihla" - "Die Reise." Das Manuskript
stammt aus dem Jahr 1356 und schlummert heute gut bewacht in der französischen
Nationalbibliothek in Paris. "Rihla" ist die Mutter aller Reiseberichte und der
Quellcode aller Auslandskorrespondenten. Denn Ibn Battuta hat nicht weniger als
den Lebenstraum aller Reporter verwirklicht: Die Welt erfahren, um davon zu
erzählen.

Erich Follath bringt deshalb beste Voraussetzungen mit, um sich auf die Spuren
Ibn Battutas zu begeben. Er war lange Jahre selbst Reporter und Korrespondent,
zunächst beim "Stern", dann beim "Spiegel". Ein Jahr lang hat er nun Orte
bereist, die auch Ibn Battuta passierte. Alle hat er verständlicherweise nicht
geschafft, doch die Strecke, die er zurücklegt, ist beeindruckend genug: Tanger,
Kairo, Mekka, Shiraz, Dubai, Istanbul, Samarkand, Delhi, Male, Jakarta, Hangzhou
und Granada. "Jenseits aller Grenzen" heißt sein Buch. Es ist ein prägnantes
Panorama der krisengebeutelten islamischen Welt von heute.

Follath ist Jahrgang 1949. Er gehört somit der letzten Journalistengeneration


an, die noch das Privileg genoss, auf Kosten umsatzstarker und meinungsbildender
Mainstreammedienbetriebe die Welt beschreiben zu dürfen. Früher bestellten sich
die Peter Scholl-Latours und Tiziano Terzanis nach drei Wochen Recherche im
Dschungel erst mal einen Singapur Sling an der Bar des "Raffles Hotels".

Danach telefonierten sie der Redaktionssekretärin einen 20.000-Zeichen-Text


durch. Kurz darauf rief der Herausgeber zurück und lobte den Autor: 'Super Text,
jetzt ruhen Sie sich mal drei Wochen im 'Raffles' aus.' Unter solchen
Bedingungen war großer Journalismus noch möglich. Erich Follath hat diese
goldenen Jahre der Anzeigenüberbelegung im Magazinjournalismus noch eine Zeit
lang miterleben dürfen.

Vertrautes Terrain

Das versetzt ihn in die glückliche Lage, auf einen reichen Schatz an Erfahrungen
und Erlebnissen in der islamischen Welt (und nicht nur dort) zurückgreifen zu
können. Als Student reiste er durch Syrien, als junger Reporter erlebte er die
Revolution im Iran, mit Figuren wie dem ägyptischen Ex-Hoffnungsträger Mohammed
al-Baradei oder "Scheich Mo" aus Dubai ist Follath quasi per Du.

Aber Follath spricht nicht nur mit den Mächtigen, sondern auch mit normalen
Leuten. Leuten, die irdische Hoffnungen haben und übrigens einen ziemlich
friedlichen Islam leben. Follaths Vertrautheit mit dem Terrain und seinen
Bewohnern wirkt dabei nie eitel oder aufgesetzt. Er nutzt sie, um herauszuhören,
wie es in diesen Ländern heute zugeht, warum es ihnen so schwerfällt, islamische
mit freiheitlichen Werten zu verbinden, ihren Bürgern ökonomische und
demokratische Perspektiven zu bieten.

Aufgrund der Reisegeschwindigkeit bleiben seine Eindrücke notwendigerweise


skizzenhaft. Zu unterschiedlich sind die Gesellschaften, die er bereist. Dennoch
gelingt ihm dreierlei: "Jenseits aller Grenzen" ist zum einen ein charmanter
Schattenriss des großen Reisenden Ibn Battuta. Es ist außerdem reich an
kompakten, gut erzählten Geschichtslektionen.

Islam und Moderne

Wie Saudi-Arabien Saudi-Arabien wurde etwa, lässt sich kaum irgendwo so knackig
nachlesen wie bei Follath. Vor allem aber ist dieses Buch eine Bestandsaufnahme
der Vielschichtigkeit der islamischen Welt von heute - in Schnappschüssen und
Stichproben. Zwar reist Follath - wie Ibn Battuta - auch nach Indien und China,
doch sein Hauptaugenmerk gilt den islamischen Ländern und der Frage, wie eine
einst so bedeutende Zivilisation so oft den Anschlusszug in die Moderne
verpassen konnte.

Follath sucht nach dem Erbe des Entdeckers und Aufklärers Ibn Battuta in einer
Welt, die augenscheinlich momentan kein besonders ausgeprägtes Interesse an
Aufklärung mehr hat. Der Autor ist dabei weit genug gereist und klug genug, um
auf pauschale Antworten zu verzichten. Er stellt vor allem Fragen. Und dann
berichtet er. Er macht das, was ein guter Reporter eben machen sollte. "Jenseits
aller Grenzen" liest sich stellenweise wie ein Abenteuerroman. Dabei ist es
einfach nur exzellenter politischer Reisejournalismus.

UPDATE: 18. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Samstag 19. März 2016 11:27 AM GMT+1

Risikobewertung;
Forscher setzen Trump auf Liste der globalen Gefahren

AUTOR: Stefan Beutelsbacher

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 532 Wörter

HIGHLIGHT: Würde Donald Trump amerikanischer Präsident werden, wäre das eine der
zehn größten Bedrohungen für unsere Welt, sagen britische Analysten. Ganz oben
auf ihrer Liste steht Trumps Lieblingsgegner.

Das ist das Szenario. Am 8. November 2016 gewinnt Donald Trump in Amerika die
Wahl. Er verbietet Muslimen die Einreise, baut eine Mauer an der Südgrenze,
kündigt alle Freihandelsabkommen auf und verprellt China, weil er das Land
öffentlich beschimpft. Er wird die Welt ins Chaos stürzen, Präsident Donald John
Trump - das zumindest fürchten britische Forscher. Die renommierte Economist
Intelligence Unit (EIU) zählt einen Sieg des Republikaners zu den zehn größten
Bedrohungen für den Planeten.

In der aktuellen Risikobewertung der Denkfabrik liegt Trump auf Platz fünf -
gleichauf mit der Gefahr, dass islamistischer Terror die globale Wirtschaft
destabilisiert. Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist den
Experten zufolge weniger schädlich, ebenso wie ein Konflikt im Südchinesischem
Meer oder ein weiterer Absturz des Ölpreises.

Trump ist der EIU zufolge ein Risiko für beides, die Sicherheit und die
Wirtschaft. Für die Sicherheit, weil er immer wieder abfällige Bemerkungen über
Muslime macht. "Seine Sprüche sind ein Geschenk für Islamisten", sagt der
Analyst Robert Powell. "Trumps Rhetorik könnte Terrorgruppen die Rekrutierung
erleichtern." Und für die Wirtschaft, weil er sich mit China anlegt. Manche
seiner Äußerungen sind provokant ("Währungstrickser"), andere realitätsfern
("People from China, they love me"), einige nur wirr ("China is the new China").
Aber klar ist: Trump hat sich verbal auf China eingeschossen - und könnte damit
einen Handelskrieg anzetteln.

Erste Verstimmungen gibt es schon, obwohl Trump weder Präsident ist noch
Präsidentschaftskandidat, sondern nur ein Bewerber dafür. "Er wird Benito
Mussolini oder Adolf Hitler genannt", schrieb gerade die "Global Times", eine
chinesische Staatszeitung - und benutzt Trump, um gleich das gesamte westliche
Demokratiemodell zu diskreditieren: "Mussolini und Hitler kamen durch Wahlen an
die Macht, eine harte Lektion für den Westen." Trump zeige, dass Demokratie
gescheitert sei.
Angst um den Freihandel

Nicht nur die Ausfälle gegenüber China, auch Trumps Ablehnung des Freihandels
beunruhigt die Wirtschaft. Würde er Präsident, könnte es das Aus für die
Nordamerikanische Freihandelszone (Nafta) und die gerade vereinbarte
Transpazifische Partnerschaft (TPP) bedeuten. Ein Ende der TPP wäre besonders
paradox. Mit dem Abkommen, das zwölf Pazifikstaaten unterzeichnet haben, will
Amerika seine ökonomische Vormachtstellung sichern - in erster Linie über China.

Chinesen beleidigen, Muslime beleidigen, das Land wirtschaftlich abschotten -


das ist weniger Politik als Populismus, deshalb aber nicht weniger gefährlich.
"Populismus ist eines der größten Risiken für die Welt", sagt Ian Bremmer, der
Gründer der Eurasia Group, einer amerikanischen Beratungsfirma. Bedrohlicher als
Trump sind der EIU zufolge ein Zerbrechen der Euro-Zone, etwa aufgrund eines
Austritts Griechenlands, die steigenden Schulden der Schwellenländer und ein
neuer Kalter Krieg zwischen Ost und West, nachdem Russland in die Ukraine
einmarschierte und sich in den Syrien-Konflikt verstrickte.

Die größte Gefahr aber gehe laut dem Ranking von Trumps Lieblingsgegner aus:
Nichts sei so dramatisch für die Welt wie ein Crash in China.

UPDATE: 19. März 2016

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Sonntag 20. März 2016 10:25 AM GMT+1

So wird der "Tatort";


Was macht der Islamist im Swimmingpool?

AUTOR: Elmar Krekeler

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 422 Wörter

HIGHLIGHT: Das Gute am neuen "Tatort" mit Wotan Wilke Möhring: Der Mann hat
seinen Humor wiedergefunden, Mousse T. macht schöne Musik und Kollegin Grosz
stehen die Polizeihosen. Der Rest? Schreit zum Himmel.

Wir müssen aus gegebenem Anlass kurz auf Tschechow kommen. Das ist der Erfinder
des dramaturgischen Gesetzes, nach dem ein Gewehr, das im ersten Akt eines
Stückes an der Wand hängt, am Schluss losgehen muss.

Eine Kernkrankheit deutscher Fernsehkrimis ist die erzdeutsche Einhaltung dieses


Gesetzes. Wobei im ersten Akt gern gleich mehrere Gewehre an der Wand hängen.
Was am Ende zu einem hemmungslosen Geballer führt, bei dem man vor Pulverdampf
nichts mehr sieht.

Nun zu Kommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring). Der lebt in einer
Transitzone. Seine Partnerin ist weg. Seine Aufgabe auch. Jetzt testet er
Flughäfen auf ihre Sicherheit. Und wird - erstes Gewehr - auf dem Flughafen von
Hannover von der Bundespolizeikollegin Julia Grosz (Franziska Weisz) derbe von
den Füßen geschlagen.

Gegengeschnitten - zweites Gewehr - ist ein Propagandavideo deutscher


Islamisten, die unter lauten "Allahu Akbar"-Rufen ankündigen, den Tod nach
Deutschland zu bringen, von wo er ja auch über Syrien, Afghanistan gekommen sei.
Ein Schleuser - drittes Gewehr - verwechselt einen Aziz, den er nach draußen
schmuggeln soll (den Islamisten aus dem Video), mit einem andern Aziz, den er
erschlägt.

Unverhofft beim Sekt

Dessen Leiche plumpst vom Himmel in den Pool eines Pärchens, das es sich beim
Sekt im Wasser gemütlich machen wollte. Was einen feinen Effekt macht. Aber
keine dramaturgischen Folgen hat. Zwischendurch hängt Drehbuchautor Florian
Oeller noch ein paar kleinere psychologische Schusswaffen auf.

Womit wir bei einer zweiten Krankheit des deutschen Krimis wären: Es allen recht
machen zu wollen, alles zu erklären, alles zu verstehen. Das hat noch kein
Gewehr am Losgehen gehindert. Und am Ende ist der Krimi tot.

Die Frau hat die besseren Sprüche

Das geschieht in Özgür Yildirims "Zorn Gottes" nicht. Alles ist in feine
Dunkelheit gehüllt. Mousse T. hat einen feinen Klangteppich druntergewebt. Man
geht gern drüber, an all den sattsam bekannten Erklärmustern vorbei, warum einer
Islamist und einer Schleuser wird, was ein Afghanistandesaster in einer
Polizistin anrichten kann.

Weil man sich freut, dass Falke seinen Humor wiedergefunden hat und wieder nach
vorn blickt. Wo er Kollegin Grosz sieht, die noch weniger Worte braucht als er,
noch härter zuschlagen kann, absehbar die besseren Sprüche in die Gegend stellt
und die einzige Falke bekannte Person ist, die in diesen Polizistinnenhosen
wirklich fantastisch einen Flur hinuntergehen kann.

Ein Gewehr von einer Frau. Sie hat hoffentlich noch ein bisschen Zeit, so
richtig loszugehen.

UPDATE: 20. März 2016

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Sonntag 20. März 2016 10:54 AM GMT+1

Abdeslam-Festnahme;
Sind Belgiens Terrorfahnder totale Amateure?

AUTOR: Eva Marie Kogel, Molenbeek und Martina Meister, Paris

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1581 Wörter

HIGHLIGHT: Der "Logistik-Chef" der Pariser Attentate hat sich monatelang im


Brüsseler Stadtteil Molenbeek versteckt. Frankreich empört sich immer lauter
über die Unfähigkeit der belgischen Sicherheitsbehörden.

Das Fettgebäck mit der pinkfarbenen Glasur geht heute am besten. Das liegt an
den vielen Kindern, die an diesem Samstagmorgen mit ihren Vätern in die Bäckerei
Alwidjane im Brüssler Stadtteil Molenbeek kommen und nur eins wollen: viel
Süßes. Es ist Wochenende, die Väter sind bereit, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen.
Mohammad, der Bäcker hinter dem Tresen, macht wie immer ein ordentliches
Geschäft. Die Horden von Journalisten mit ihren Fernsehkameras und ihren
Übertragungswagen scheinen seine Kundschaft nicht weiter zu stören. "Was ist da
eigentlich los?", fragt einer der Väter. "Schon wieder was passiert?" Mohammad
zuckt nur kurz mit den Schultern.

Eine gute Frage. Was ist da eigentlich passiert? Wenn Mohammad den Kopf hebt und
über seine Kuchenauslage hinwegschaut, dann blickt er genau auf das Haus, das
belgische Anti-Terror-Einheiten keine zwölf Stunden zuvor gestürmt hatten. Es
gibt Videos von der Aktion, darauf sieht man Explosionen und hört Schüsse.
Vermummte Polizisten zerren einen Mann aus dem Haus und werfen ihn auf den
Boden. Es ist Salah Abdeslam, der letzte lebende Attentäter von Paris, ein
Mörder, ein Fanatiker, der meistgesuchte Terrorist Europas.

Wenn es stimmt, was die Behörden vermuten, dann war er der Chauffeur für die
Männer, die am 13. November im Konzerthaus Bataclan, in mehreren Restaurants in
der Pariser Innenstadt und am Stade de France 130 Menschen töteten. Vier Monate
war er auf der Flucht, man vermutete ihn schon in Syrien oder Marokko. Doch seit
Freitag ist klar: Weit ist er nicht gekommen. Zwischen seinem letzten Versteck
und Mohammads Kuchen mit der pinken Glasur liegen nur wenige Meter.

Es ist nicht die erste Razzia in Molenbeek

Falls Mohammad das irgendwie aufregend findet, verbirgt er es gut. Ob er


Abdeslam einmal gesehen, vielleicht sogar erkannt habe? War da so etwas wie ein
Verdacht? "Natürlich nicht", sagt er. "Ich habe hier nie einen Terroristen
gesehen." Dann hält er kurz inne und sagt ein paar Worte auf Arabisch, die man
am besten so übersetzt: "Das Leben geht weiter."
Sie kennen das hier schon, soll das heißen. Es ist nicht die erste Razzia in
Molenbeek, und es ist auch nicht der erste Terrorist, der hier festgenommen
wird. Mindestens drei Mitglieder der Terrorzelle, die der Islamische Staat (IS)
im November zum Morden durch Paris geschickt hatte, sind in Molenbeek geboren
oder haben eine Zeit hier gelebt. Auch Spuren des Mordkommandos, das im Januar
des vergangenen Jahres die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" nahezu
auslöschte, führen nach Molenbeek. Als im August ein Attentäter im Namen Allahs
in einem französischen Thalys-Schnellzug um sich schoss, tat er das mit einer
Waffe, die wohl aus Molenbeek stammte.

Der Bäcker Mohammad hat die Verhaftung beobachtet, klar, er stand ja in seinem
Laden. Aber darüber reden, nein, das möchte er nicht. Das würde auch nichts
bringen, meint er. Es werde wohl nicht die letzte Razzia in Molenbeek gewesen
sein. In dem Punkt dürfte er recht haben.

Noch immer können sich die Terroristen, darauf deutet alles hin, in diesem
Stadtteil auf ein solides Netzwerk von Unterstützern verlassen. "Ist doch klar,
was jetzt wieder passiert", sagt Sufian. Auch er wohnt in Molenbeek, und
eigentlich hat er keine Zeit für ein paar Fragen, denn er muss zur Arbeit. Aber
es gibt ein paar Dinge, die aus seiner Sicht gesagt werden müssen. Zum Beispiel
das: "Jetzt werden wir wieder alle unter Generalverdacht gestellt. Typisch
Muslime, werden sie sagen. Typisch Molenbeek."

Wer hat etwas geahnt? Wer hat still geduldet?

Den Brüsseler Vorort halten inzwischen viele für ein Islamisten-Getto. So ganz
trifft es das nicht, vom Zentrum aus läuft man nur gute zwanzig Minuten. Die
Straßen sind fahrradfreundlich, die Häuser alt und klein, Kaffee und Tee sind
billig, dreimal in der Woche ist Markt. Ein Paradies für Hipster, die Molenbeek
langsam für sich entdecken. Doch noch ist Molenbeek das, was man wohl einen
Einwandererbezirk nennt. Die Metzger bieten nur Fleisch aus Halal-Schlachtung
an, und die meisten Cafés sind fest in Männerhand. Die Männer, die hier sitzen,
in ihre Teegläser starren und zum Frühstück die süßen marokkanischen
Grießpfannkuchen essen, dürften einige der Terroristen noch als Söhne der
Nachbarn kennen. Haben sie etwas geahnt, haben sie still geduldet?

Sufian widerspricht: "Schauen Sie sich doch mal um. Hier sind 30 Prozent der
Menschen arbeitslos. Ich nenne das Perspektivlosigkeit. Ich wüsste nicht, was
das mit Islam zu tun hat." Kaum einer spreche über das Stigma, mit dem die
Jugend des Stadtteils belegt werde. "Haben Sie mal versucht, als Araber einen
Job zu finden?" Alle fragten immer nach der Schuld der Nachbarn. Und überhaupt,
seit wann sei es denn die Aufgabe der Zivilbevölkerung, Terroristen zu jagen?
"Vier Monate, stellen Sie sich das mal vor, vier Monate konnte Abdeslam hier
rumlaufen."

In der Tat müssen sich die belgischen Ermittler unangenehme Fragen gefallen
lassen. Sie hätten keine Gelegenheit ausgelassen, um Abdeslam eine Chance zur
Flucht zu geben, wird gespottet. Auch in den sozialen Netzwerken macht man sich
über die Belgier lustig. "Die Ermittler sind hundert Meter pro Monat
vorangekommen", höhnt ein anderer auf Twitter unter Anspielung auf die Tatsache,
dass Abdeslam 400 Meter von seinem Wohnsitz entfernt verhaftet wurde: "Wie gut,
dass er sich nicht in Marseille versteckt hat."

Die belgischen Sicherheitsdienste haben ein strukturelles Problem; im Vergleich


zu anderen EU-Ländern ist ihr Budget gering. Außerdem lähmt die föderale
Bürokratie. Als Polizisten wenige Tage nach den Anschlägen von Paris in den
Abendstunden ein verdächtiges Haus in Molenbeek durchsuchen wollten, in dem sie
Abdeslam vermuteten, kam ihnen das Gesetz dazwischen: Das kennt nämlich eine
Sperrstunde für Hausdurchsuchungen, und die geht bis fünf Uhr morgens. Der
belgische Justizminister räumte danach ein, dass Abdeslam sich "wahrscheinlich"
in dem Haus befunden habe - auch wenn andere Ermittler das später bezweifelten.

Eine Pizza beendet Abdeslams Flucht

Am Ende war es ein Zufall, der die Polizei auf seine Spur brachte - Abdeslams
Hunger auf Pizza. Eine ungewöhnlich große Liefermenge, die an eine Adresse ging,
in der sie eigentlich nur eine Frau vermuteten, machte die Ermittler
misstrauisch. Als sie die Wohnung, die sie schon länger observiert hatten,
stürmten, trafen sie auf mehrere Besucher, darunter zwei Kinder. Und Salah
Abdeslam. Durch einen Schuss ins Knie verletzt, wurde er unter Polizeischutz in
einem Krankenwagen abtransportiert.

Als sich der seit vier Monaten ersehnte Fahndungserfolg endlich eingestellt
hatte, sprach Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve von einem "wichtigen
Schlag" gegen die Terrormiliz IS und lobte die "gute Kooperation" zwischen
belgischen und französischen Diensten. Er tat es am Samstag nach der Tagung des
französischen Sicherheitsrats und setzte noch einen drauf: Ausdrücklich bedankte
er sich bei den Belgiern für die "effiziente Arbeit".

Effiziente Arbeit? Am vergangenen Dienstag erst, nach der dramatischen Razzia in


einer Wohnung im Brüssler Bezirk Forest (Vorst), waren auf französischer Seite
Zweifel an der Kompetenz der Belgier laut geworden. Die belgischen Ermittler
waren davon ausgegangen, eine "kalte", nicht genutzte Wohnung vorzufinden,
stattdessen stießen sie gemeinsam mit französischen Polizisten auf ein
Terroristennest, und die anschließenden Schusswechsel lähmten stundenlang das
umliegende Stadtviertel.

Am Samstag, einen Tag nach der Verhaftung Abdeslams, äußerte der französische
Abgeordnete Alain Marsaud in der Rückschau auf diese und andere Pannen die
schärfste Kritik: "Die 130 Toten von Paris, die verdanken wir den Belgiern, die
verdanken wir der Mannschaft von Molenbeek und der Unfähigkeit der Belgier,
dieses Problem zu lösen", sagte Marsaud hörbar wütend in einem Interview mit dem
Radiosender Europe 1.

Nicht nur die dilettantisch wirkende Jagd auf den meistgesuchten Terroristen
verärgert die Franzosen. Auch im Vorfeld scheinen die belgischen Geheimdienste
versagt zu haben, denn sie hatten offenbar schon im Sommer 2014 entscheidende
Hinweise auf die Gefährlichkeit der Brüder Abdeslam bekommen. Belgische Medien
brachten Ende Februar verheerende Versäumnisse ans Licht. Die Tageszeitung
"L'Echo" folgerte entsetzt, man habe "alles gewusst". Doch erst im Februar 2015
gehen die Ermittler den Hinweisen auf die Brüder Abdeslam nach. Es beginnt eine
Untersuchung, und am 28. Februar 2015 wird Salah Abdeslam vernommen.

Er bestreitet jegliche Verwicklungen in terroristische Aktivitäten. Die Richter


kommen zu dem Schluss, dass Abdeslam "nicht bedrohlich" sei. Auch ihn abzuhören
halten sie für unnötig. Keine drei Wochen später steht sein Name auf einer Liste
potenzieller Dschihadisten des "Office central d'analyse de la menace", des
belgischen Terrorüberwachungsdienstes, die auch Interpol vorliegt. Im Juni
werden das Rathaus und das örtliche Polizeikommissariat von Molenbeek darüber
informiert, ohne Folgen. Die belgische Staatsanwaltschaft schließt den Fall.

Einige Verantwortliche der belgischen Justiz und Polizei sollen mittlerweile


angesichts des "Regens von Kritik", der seit Anfang der Woche auf sie
niederprasselt, erheblich verstimmt sein. Manche sollen indes zugegeben haben,
dass die Attentate von Paris "hätten verhindert werden können", wenn man die
vorliegenden Informationen richtig ausgewertet hätte. Die Zeitung "L'Echo"
zitiert einen der Untersuchungsbeamten mit den Worten: "Wir haben uns wirklich
wie totale Amateure benommen."

UPDATE: 20. März 2016

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Montag 21. März 2016 11:16 AM GMT+1

Umstrittener Autor;
Sarrazin erklärt, wer Schuld an dem AfD-Aufstieg hat

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 465 Wörter

HIGHLIGHT: Hätten die Parteien auf ihn gehört, gäbe es für die AfD keinen Platz,
sagt Thilo Sarrazin. Im Interview spricht er von einer "nationalen
Einheitsfront" und der Verlagerung des "Unangenehmen".

Der umstrittene Buchautor Thilo Sarrazin hat der CDU und SPD vorgeworfen,
verantwortlich für den Aufschwung der AfD zu sein. Er habe frühzeitig auf die
Risiken "einer falschen Einwanderung, eines radikalen Islam und einer verfehlten
Politik der Euro-Rettung" aufmerksam gemacht, sagte er der "Bild" im Interview.
"Hätten die verantwortlichen Politiker der CDU und SPD diese Analysen ernst
genommen und entsprechend gehandelt, so wäre die AfD 2013 gar nicht erst
gegründet worden oder hätte zumindest nicht diese Wahlerfolge", so Sarrazin.

Mit seinen Publikationen "Deutschland schafft sich ab" und "Europa braucht den
Euro nicht", die Sarrazin 2010 und 2012 veröffentlichte, entfachte er erst eine
öffentliche Debatte über das Thema Integration, später über die gemeinsame
Währungsunion.

Im Interview kritisierte er die Ausrichtung der alteingesessenen Parteien. CDU,


SPD, Grüne und Linke hätten in der Flüchtlingspolitik "keine nennenswerten
Unterschiede". Bürger stünden dadurch einer "nationalen Einheitsfront"
gegenüber. Viele hätten zudem das Gefühl, ihre Meinung nicht offen sagen zu
können. Deshalb wählten sie "in der Stille der Wahlkabine die einzige
Alternative, die ihnen auf dem Stimmzettel geboten wurde", sagte der frühere
Berliner SPD-Finanzsenator in dem Interview.

Deal mit der Türkei als Verlagerung des "Unangenehmen"


Merkels Politik habe "bundesweit rechts der CDU ein heimatloses Wählerpotenzial
von 20 bis 25 Prozent hinterlassen". Wenn die CDU dieses Terrain nicht erneut
besetze, entstehe ein Raum für eine konservative Volkspartei, etwa mit dem
Profil der CSU zur Zeit von Franz Josef Strauß. "Ich will nicht ausschließen,
dass die AfD hier dauerhaft ihre Rolle findet, wenn sie sich nachhaltig und
glaubwürdig von rechtsextremen Strömungen abgrenzt."

Das Abkommen mit der Türkei sieht Sarrazin dennoch als Erfolg für
Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dieser komme jedoch ein Jahr und 1,2 Millionen
Flüchtlinge zu spät. Der 71-Jährige sieht eine Verlagerung des "Unangenehmen".
Die Aufgabe der Grenzsicherung habe Deutschland nun an einen Staat abgegeben,
"der traditionell bei der Durchsetzung weniger Skrupel hat als die Länder West-
und Nordeuropas". Europäische Augenzeugen würden so nicht sehen, mit welchen
Mitteln das türkische Militär die Grenzen nach Syrien dicht halte. "Auf diese
Weise können wir vornehm bleiben und unsere Hände in Unschuld waschen", sagte
er.

Sarrazin ist studierter Volkswirt und trat 1973 in die SPD ein. Er besetzte
verschiedene Posten im Bundesministerium für Finanzen und arbeitete zwischen
2002 und 2009 als Finanzsenator in Berlin. Bis 2010 fungierte er als
Vorstandsmitglied der Bundesbank in Frankfurt. Nach polemischen Äußerungen über
Migranten und Hartz-IV-Empfänger musste er zurücktreten. Seitdem macht er als
Autor von sich reden.

UPDATE: 21. März 2016

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Dienstag 22. März 2016 12:27 PM GMT+1

Sahra Wagenknecht;
"Merkel verantwortet schlimmsten Rechtsruck nach 1945"

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1747 Wörter

HIGHLIGHT: Am Aufstieg der AfD ist die Bundesregierung selbst schuld, meint
Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. In der Flüchtlingskrise habe Merkel
einen entscheidenden Fehler gemacht.

Die Welt: Frau Wagenknecht, Sie reden von "Gastrecht", "Kapazitätsgrenzen" und
"Grenzen der Aufnahmebereitschaft". Ist das links?

Sahra Wagenknecht: Dass es Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung


gibt, ist eine Tatsache, und dass Kapazitäten nicht unbegrenzt sind, auch. Das
festzustellen, ist weder links noch rechts, sondern eine Banalität. Allerdings
hängt es eben von der Politik ab, wo diese Grenzen liegen. Merkel hat mit ihrer
unkoordinierten, konzeptionslosen Politik zu sehr viel Verunsicherung und
Ängsten beigetragen. Ihre Politik läuft darauf hinaus, die Kosten der
Flüchtlingsintegration der Mittelschicht und den Ärmeren aufzubürden. Das treibt
der AfD die Wähler zu.

Die Welt: Sind die Grenzen der Aufnahmebereitschaft schon überschritten?

Wagenknecht: Mindestens bei den Wählern der AfD ist das offenkundig so. Die
Aufnahmebereitschaft in einer Gesellschaft mit breitem Wohlstand wäre natürlich
höher als in einem Land, in dem die Mittelschicht seit Jahren Abstiegsängste hat
und die Armut wächst. Viele Probleme, die wir schon vorher hatten, haben sich
durch die Flüchtlingskrise verschärft.

Die Welt: Die Steuergelder für die Versorgung der Flüchtlinge kommen doch
hauptsächlich von den Wohlhabenden ...

Wagenknecht: Das stimmt nicht. Die Hälfte des Steueraufkommens stammt heute aus
Verbrauchssteuern, die auch Geringverdiener zahlen. Zudem tragen die Städte und
Gemeinden die Hauptlast, können aber kaum ihre Einnahmen erhöhen. Bei höheren
Ausgaben und stagnierenden Einnahmen muss woanders gekürzt werden. Das geht dann
meist zulasten der Ärmeren. Wir können das bei bestimmten Kulanzleistungen für
Hartz-4-Empfänger sehen.

Die Allerärmsten spüren außerdem die Knappheit an den Tafeln. Der Skandal, dass
Menschen in unserer reichen Gesellschaft auf solche privaten Initiativen
angewiesen sind, vergrößert sich, wenn jetzt noch mehr Menschen um eine
bestimmte Menge an Nahrungsmitteln konkurrieren. Wer auf diese Weise die Armen
gegen die Ärmsten ausspielt, vergiftet das politische Klima.

Die Welt: Auch Sigmar Gabriel hat sich Ärger eingehandelt, als er Zuwanderung
und die Konkurrenz um knappe Güter gemeinsam thematisierte.

Wagenknecht: Ich verteidige Sigmar Gabriel nur ungern, aber in dem Fall ist die
Kritik fehl am Platz. Er hat etwas ausgesprochen, was der Stimmung vieler
entspricht. Es ist doch so, dass viele Menschen in Deutschland in den letzten
Jahren Wohlstand verloren haben, dass sie in schlechte Jobs abgedrängt wurden
oder ihre Renten gesunken sind. Und immer hieß es, es sei kein Geld da. Da
existiert längst ein großes Potenzial an Frust und Wut. Was man Gabriel
vorwerfen muss, ist, dass sein angekündigtes Solidaritätsprojekt bloßer
Wahlkampfklamauk war.

Die Welt: Er täuscht die Frustrierten?

Wagenknecht: Gabriel hat ja nicht vor, die Dinge, die er angekündigt hat -
höhere Renten, mehr Kitaplätze -, auch einzulösen. Und solche unseriöse Politik
verärgert die Leute natürlich erst recht und treibt sie zur AfD. Aber die AfD
ist letztlich die falsche Adresse für Protest, weil man die Politik nicht in
eine soziale Richtung verschiebt, wenn man diese Partei wählt. Selbst wenn kein
einziger Flüchtling mehr kommt, steigen deshalb noch lange nicht die Renten und
wird der Mindestlohn nicht erhöht.

Die Welt: Ist die Angst der Unterschicht vor zuwandernden Konkurrenten
mittlerweile größer als die vor der Ausbeutung durch das Kapital?

Wagenknecht: Zunehmende Konkurrenz um Jobs und sinkende Löhne sind ja zwei


Seiten einer Medaille, zumindest auf einem unregulierten Arbeitsmarkt. Wenn wir
Dauerbefristungen und Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen endlich
verbieten, ließe sich solches Lohndumping verhindern. Das heißt aber auch: Es
darf keine Ausnahmen beim Mindestlohn für Flüchtlinge geben, auch nicht für
sechs Monate. Die große Koalition tut nichts, um den Menschen ihre Ängste zu
nehmen, im Gegenteil. Tatsächlich ist Angela Merkel die Bundeskanzlerin, die für
den schlimmsten Rechtsruck in Deutschland nach 1945 verantwortlich ist.

Die Welt: Den Ihre Partei am vorvergangenen Sonntag heftig zu spüren bekam. Muss
die Linke sich in der Migrationspolitik vor den Landtagswahlen in Mecklenburg
und Berlin neu positionieren?

Wagenknecht: Wir werden die Menschen auch in Zukunft nicht gegeneinander


ausspielen, aber wir müssen darüber nachdenken, warum wir den Zugang zu einem
erheblichen Teil unserer früheren Wähler verloren haben. Natürlich darf man
nicht pauschal alle Menschen, die sich angesichts hoher Flüchtlingszahlen noch
stärker um Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wohnungen und steigende Mieten
sorgen, in eine rassistische Ecke stellen. Das gilt auch für Wähler der AfD.

Ich denke, es war unser Fehler, dass wir uns viel zu sehr für die falsche
Merkel-Politik haben mitverhaften lassen. Flüchtlinge mit Großmutsgeste
aufnehmen, aber gleichzeitig mit Waffenlieferungen in alle Welt dafür sorgen,
dass blutige Kriege weiter eskalieren und immer mehr Menschen aus ihrer Heimat
vertreiben, das ist keine fortschrittliche oder menschliche Politik.

Die Welt: Ist die Einigung der EU mit der Türkei, um die Situation in der Ägäis
zu entspannen, kein Erfolg der Bundesregierung?

Wagenknecht: Das ist ein schäbiger Deal, durch den Europa sich an ein Regime
verkauft, das Demokratie, Pressefreiheit und andere Menschenrechte mit Füßen
tritt und Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt. Ich halte es für einen
großen Fehler, sich ausgerechnet von einem Politiker wie Erdogan abhängig und
erpressbar zu machen.

Die Welt: Der nun einmal das derzeit wichtigste Transitland regiert ...

Wagenknecht: Die einzige längerfristige Lösung der Flüchtlingskrise ist die


Beseitigung der Fluchtursachen. Dazu trägt Erdogan nicht nur nichts bei, sondern
er steht auf der falschen Seite. Die Türkei hat seit Jahren islamistische
Terrororganisationen in Syrien finanziert und ausgerüstet. Die Türkei
bombardiert Kurdenmilizen, die mutig den IS und die Al-Nusra-Front bekämpfen.
Erdogan hat die türkischen Grenzen nicht für die Terroristen geschlossen, aber
für Flüchtlinge, die vor den Terroristen fliehen.

Die Welt: Auch die Bundeskanzlerin spricht viel von der Beseitigung der
Fluchtursachen. Entwicklungs- und Sicherheitspolitik arbeiten seit Jahrzehnten
genau daran. Wie soll es ausgerechnet jetzt zu einer globalen Spontanheilung
kommen?

Wagenknecht: Ein erster Schritt wäre es, die Waffenlieferungen in Kriegsgebiete


zu stoppen. In Syrien wird von nahezu allen Kriegsparteien auch mit deutschen
Waffen getötet, es ist bekannt, dass teilweise sogar deutsches Kriegsgerät in
die Hände des IS gelangt ist. Und natürlich müssen wir aufhören, arme Länder zur
Öffnung ihrer Märkte zu zwingen, um dann mit subventionierten Agrarexporten ihre
Landwirtschaft niederzukonkurrieren. Langfristig kann eine Entwicklung der armen
Staaten ohne eine andere Wirtschaftspolitik nicht gelingen. Der Washington
Consensus verstetigt und verfestigt nur ihre Armut.

Die Welt: Das klingt nach dem Ökonomen Friedrich List, der im 19. Jahrhundert
das britische Eintreten für den Freihandel mit dem Verhalten eines Mannes
verglich, der die Leiter wegtritt, auf der er selbst aufgestiegen ist ...

Wagenknecht: Lists Analyse ist sehr viel intelligenter als die üblichen
neoliberalen Außenhandelstheorien. England hat erst nach seinem Aufstieg zur
industriellen Führungsmacht Handelsliberalisierungen vorgenommen. Vorher war der
englische Markt etwa für indische Textilwaren komplett gesperrt. Ebenso hat die
Industrialisierung aus dem europäischen Kontinent hinter Zollmauern
stattgefunden. Wir zwingen die Entwicklungsländer zu einer Handelspolitik, die
ihnen selbst schadet und die die Industrieländer in ihrer eigenen Geschichte nie
begangen haben. Freihandel mit Ländern ohne wettbewerbsfähige Industrien
bedeutet für diese immer mehr Armut und Elend.

Die Welt: In Südostasiaten wurden Hunderte Millionen Menschen durch die


Einbindung in globale Märkte aus der Armut geholt.

Wagenknecht: Nein. China oder auch Südkorea haben sich erst geöffnet, als sie
konkurrenzfähig waren. Vorher haben sie das Gegenteil von dem getan, was der
Neoliberalismus als sinnvoll erachtet: Protektionismus, Staatsinterventionismus,
Kreditsteuerung, Kapitalkontrollen. Auf der anderen Seite haben die Afrikaner
alles befolgt, was die Neoliberalen lehren. Sie haben Märkte geöffnet und Zölle
beseitigt, den Kapitalverkehr dereguliert - das Ergebnis ist wirtschaftliches
Dahinsiechen. Wenn die neoklassische Schule recht hätte, müsste heute Afrika
prosperieren und Südostasien am Boden liegen.

Die Welt: Wollen sie die Globalisierung der Wirtschaft zurückdrehen?

Wagenknecht: Zwischen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand ist der freie


Warenverkehr, also Handel ohne Zollschranken, sinnvoll. Zwischen ungleichen
Staaten ist er es nicht. Alle erfolgreichen Schwellenländer haben ihre
Wirtschaft zuerst abgeschottet und sich erst dann für Freihandel geöffnet, wenn
sie konkurrenzfähige Industrien aufgebaut hatten. In Afrika bekommen sie heute
im Supermarkt Agrarprodukte aus Europa, während die eigenen Betriebe keine
Abnehmer finden.

Junge Leute bekommen keinen Job und gehen nach Europa, um in der Landwirtschaft
zu arbeiten, woraus sich eine Lose-lose-Situation ergibt: Es nutzt nicht den
Herkunftsländern, weil sie ihre leistungsfähigen Leute verlieren. Es nutzt nicht
den europäischen Arbeitnehmern, weil ihre Löhne unter Druck geraten. Das Ganze
nutzt einzig und allein den großen Agrarkonzernen, die dadurch über viele
billige Arbeitnehmer und große Absatzmärkte verfügen.

Die Welt: Aber deutsche Unternehmen können doch Menschen aus Ländern mit hoher
Arbeitslosigkeit gut gebrauchen ...

Wagenknecht: Aus- und Einwanderung hat es in bestimmten Grenzen immer gegeben,


aber die Fachkräftedebatte halte ich für verlogen. 2,2 Millionen Fachkräfte,
also Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung, haben in Deutschland aktuell
nur einen Minijob, sind also faktisch arbeitslos. Besonders absurd ist die
Situation bei den Ärzten. Wir halten mit einem extrem strengen Numerus Clausus
Interessenten vom Medizinstudium ab und somit die Ärzteanzahl künstlich niedrig.

Auf der anderen Seite holen wir Mediziner aus anderen Ländern zu uns, obwohl sie
in ihrer Heimat dringender gebraucht werden. Auch innerhalb der EU erleben wir
einen Braindrain etwa aus Portugal und Spanien nach Deutschland. Für den
Einzelnen ist das sinnvoll, ich würde auch ein Land verlassen, in dem ich keine
Perspektive habe. Aber für die Länder bedeutet das, dass ihre Krise sich
verschärft, statt überwunden werden zu können.

UPDATE: 22. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 12:58 AM GMT+1

Terrorattacken;
Das Minutenprotokoll zu den Anschlägen von Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1102 Wörter

HIGHLIGHT: Bei Terroranschlägen in Brüssel wurden am Dienstag mindestens 34


Menschen getötet und weit mehr als 200 verletzt. Ab acht Uhr überschlugen sich
die Ereignisse in der belgischen Hauptstadt.

Im Liveticker: Alle wichtigen Informationen zu den Ereignissen in Brüssel.

Gegen 08 Uhr : In der Abflughalle des Brüsseler Flughafens Zaventem gibt es kurz
hintereinander zwei Explosionen.

08 Uhr 25: Nach den Explosionen wird der Zugverkehr zum Flughafen Zaventem
unterbrochen.

08 Uhr 50: Alle Flüge von und nach Brüssel werden umgeleitet, berichtet der
belgische Sender La Première.

Gegen 09 Uhr 15: In der zentralen Metro-Station Maelbeek gibt es eine weitere
Explosion. Wenige Minuten später werden alle Metrostationen in Brüssel
geschlossen.

09 Uhr 23: Belgien hebt die Terrorwarnstufe aufs höchste Niveau.

09 Uhr 57: Der belgische Sender RTBF berichtet über zehn Tote am Flughafen,
Minuten später werden schon 13 Todesopfer gemeldet.

10 Uhr 08: Erste Berichte über einen Selbstmordattentäter kursieren, zunächst


nicht von der Polizei bestätigt. Wenig später gehen die Sicherheitsbehörden von
Terrorschlägen aus.

10 Uhr 37: Das belgische Krisenzentrum ruft die Bürger auf, zu Hause oder am
Arbeitsplatz zu bleiben.

14 Uhr 35: Bürgermeister Mayeur informiert über 20 Tote in der Metro

11 Uhr 08: In Brüssel werden sämtliche Bahnhöfe gesperrt. Minuten später stellt
die Deutsche Bahn den Zugverkehr nach Aachen ein. Der Hochgeschwindigkeitszug
Thalys stoppt seine Fahrten über Belgien.

11 Uhr 48: Die belgische Bundesanwaltschaft erklärt, es sei noch zu früh, um


eine genaue Zahl der Opfer zu nennen.

11 Uhr 49: Medien zitieren den belgischen Premier Charles Michel, dass es sich
um Terroranschläge handelt.

12 Uhr 06: Anhänger der Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) begrüßen die
Anschläge von Brüssel in den Internet-Netzwerken. "Der IS wird Euch zwingen,
Tausende von Malen zu überlegen, bevor ihr wieder Muslime tötet, denn Muslime
wissen nun, dass es einen Staat gibt, der sie verteidigt", schreibt ein
IS-Anhänger im Nachrichtendienst Twitter.

12 Uhr 15: Elf Tote und 81 Verletzte am Airport sind die Zwischenbilanz, die
Gesundheitsministerin Maggie De Block nennt.

12 Uhr 33: "Ich würde unsere Grenzen zumachen", sagt der republikanische
US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump dem Sender Fox News auf die Frage nach
seiner Reaktion auf die Anschläge von Brüssel.

12 Uhr 47: Laut belgischer Nachrichtenagentur Belga ist eine Kalaschnikow am


Flughafen in der Abflughalle entdeckt worden.

14 Uhr 00: Die Polizei findet am Brüsseler Flughafen einen Sprengstoffgürtel,


der nicht gezündet wurde.

14 Uhr 09: Das Atomkraftwerk Tihange in der Nähe von Lüttich wird teilevakuiert.

14 Uhr 25: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nach den Anschlägen
von Brüssel einen gemeinsamen internationalen Kampf gegen jede Form von
Terrorismus gefordert. Die Terrorakte in Belgien zeigten, dass es keinen
Unterschied mache, ob kurdische Extremisten in Ankara Anschläge verübten oder
andere Täter dies in Brüssel täten.

14 Uhr 35: Mindestens 20 Menschen sind beim Anschlag in der Metro-Station ums
Leben gekommen, sagt Bürgermeister Yvan Mayeur, 14 weitere bei dem
Selbstmordattentat am Flughafen.

15 Uhr 00: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zieht Parallelen zwischen


den Anschlägen von Brüssel und dem menschlichen Leid in Syrien und der
benachbarten Region. Im jordanischen Amman sagte sie: "Das ist ein sehr
trauriger Tag für Europa, und seine Hauptstadt muss nun das gleiche Leid
erdulden, das diese Region hier Tag für Tag erlebt, von dem Syrien heimgesucht
wird und andere Gebiete".
15 Uhr 15: US-Verteidigungsminister Ashton Carter versichert, kein Anschlag
könne die Entschlossenheit der USA und ihrer Alliierten erschüttern, die
Extremisten-Miliz Islamischer Staat zu besiegen. Zugleich sagt Carter den
europäischen Verbündeten Unterstützung im Kampf gegen den Terror zu.

15 Uhr 26: US-Präsident Barack Obama verurteilt die Anschläge von Havanna aus.

15 Uhr 38: Bundesinnenminister Thomas de Maiziere ordnet für Mittwoch bundesweit


Trauerbeflaggung an allen Behörden und Ämtern an, die in der Verantwortung des
Bundes stehen. Dies geschehe als Zeichen der Anteilnahme und Solidarität
gegenüber dem belgischen Volk nach den Anschlägen von Brüssel.

16 Uhr 37: Der IS bekennt sich zu den Anschlägen

16 Uhr 04: Die Polizei stellt die Suche nach Waffen und möglichen Verdächtigen
am Airport ein, berichtet Belga. Durchsuchungen an mehreren Orten in der Stadt
halten unvermindert an.

16 Uhr 35: Belgische Medien haben das Bild einer Sicherheitskamera vom Brüsseler
Flughafen veröffentlicht, auf dem Verdächtige für das Bombenattentat am Airport
zu sehen sind. Das Bild zeigt drei junge Männer mit dunklen Haaren, die
Gepäckwagen schieben. Ihre Identität ist noch unklar.

16.36 Uhr: Die EU-Staats- und Regierungschefs veröffentlichen eine gemeinsame


Erklärung zu den Bombenanschlägen von Brüssel. Darin heißt es, die Anschläge
verstärkten noch die Entschlossenheit, mit der man die europäischen Werte
verteidigen werde.

16 Uhr 37: Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) bekennt sich zu den
Anschlägen - laut Nachrichtenagentur Amaq, die dem IS nahesteht. Knapp zwei
Stunden später übernimmt die Terrormiliz in einer Interneterklärung selbst die
Verantwortung.

16 Uhr 55: UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilt die Anschläge.

17 Uhr 29: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagt Belgien volle Unterstützung bei
der Suche nach den Attentätern zu. Zuvor hatte Bundespräsident Joachim Gauck auf
seiner China-Reise betont, Deutschland teile die Trauer und stehe an der Seite
seines Nachbarn.

17.15 Uhr: Sicherheitskräfte haben nach Angaben des Provinzgouverneurs von


Brabant Flandern eine dritte Bombe in Brüssel gefunden und unschädlich gemacht.

18 Uhr 20: Die belgische Polizei fahndet via Twitter-Foto nach einem Mann in
weißer Jacke, der einen Flughafen-Gepäckwagen schiebt, auf dem eine große
schwarze Tasche steht.

18 Uhr 47: Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw zufolge gehen die Ermittler von zwei
Selbstmordattentätern am Airport aus.

19 Uhr 01: Belgiens Regierungschef Charles Michel ruft seine Landsleute zur
Einigkeit auf. Er werde kämpfen, um die demokratischen Werte zu verteidigen,
sagt Michel vor Journalisten.

19 Uhr 16: Bei Hausdurchsuchungen in der Gemeinde Schaerbeek werden laut


Staatsanwaltschaft eine IS-Flagge, ein Sprengsatz und chemische Substanzen
gefunden.

19 Uhr 17: Der belgische König Phillippe ruft die Nation in einer
Fernsehansprache auf, mit "Entschlossenheit, Ruhe und Würde" auf den Terror zu
reagieren.

22 Uhr 43: Bundesinnenminister Thomas de Maiziere schließt eine Verbindung


zwischen den Anschlägen von Paris und Brüssel nicht aus. Vielleicht handle es
sich um die gleichen Netzwerke, möglicherweise sei auch der Sprengstoff in
ähnlicher Weise gefertigt worden, sagt er in den "ARD-Tagesthemen".

UPDATE: 23. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 8:47 AM GMT+1

Anschläge in Brüssel;
Großfahndung nach flüchtigem Terror-Verdächtigen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1221 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Attentäter von Brüssel konnte am Flughafen offenbar entkommen.


Die Sicherheitsbehörden fahnden mit Spezialeinheiten. Die EU plant ein
Sondertreffen und erwägt zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen.

Nach den Anschlägen in der belgischen Hauptstadt Brüssel fahndet die Polizei
fieberhaft nach einem flüchtigen Terrorverdächtigen und möglichen Hintermännern.
Spezialeinheiten durchsuchten bis zum frühen Mittwochmorgen Gebäude in der
Brüsseler Gemeinde Schaerbeek. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden in
einer Wohnung eine Flagge der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sowie ein
Sprengsatz mit Nägeln und chemische Substanzen gefunden.

Der IS hatte sich zuvor zu den Anschlägen auf den Flughafen und eine
U-Bahn-Station bekannt. Dabei waren am Dienstag mindestens 34 Menschen getötet
und etwa 230 weitere verletzt worden.

Das Minutenprotokoll zu den Anschlägen von Brüssel

Auf die Spur nach Schaerbeek führte die Ermittler einem Medienbericht zufolge
ein Taxifahrer. Der Mann habe dort drei Männer von einer Wohnung abgeholt und
zum Flughafen gefahren, berichtete der Sender VRT. Dabei sei ihm aufgefallen,
dass die Fahrgäste sich nicht mit dem Gepäck helfen lassen wollten.

Überwachungskameras nahmen die Attentäter auf

Die Polizei veröffentlichte ein Bild einer Flughafen-Überwachungskamera, das


drei Männer zeigt. Zwei von ihnen sprengten sich nach Angaben von Innenminister
Jan Jambon als Selbstmordattentäter in die Luft. Die Bombe des dritten Mannes
explodierte jedoch nicht. Nach ihm werde gefahndet, sagte Jambon dem US-Sender
CNN. Er wurde einem Regierungsvertreter zufolge dabei beobachtet, wie er aus dem
Flughafengebäude rannte. Er trug keine Handschuhe. Später machte die Polizei im
Flughafengebäude einen dritten Sprengsatz unschädlich, der zuvor nicht detoniert
war und offenbar von dem Verdächtigen deponiert worden war.

Örtlichen Behörden zufolge zeigen Bilder der Videoüberwachung auch, wie er einen
Gepäckwagen in der Ankunftshalle plötzlich stehen lässt und wegläuft. Das Trio
hatte sich demnach kurz nach der Ankunft am Flughafen getrennt und in der
Abflughalle verteilt. Unklar blieb, ob der Anschlag in der U-Bahn-Station
Maelbeek ebenfalls ein Selbstmordattentat war oder ob eine dort deponierte Bombe
explodierte.

IS droht mit weiteren Anschlägen

Der IS erklärte, die "Kreuzritter-Allianz" werde wegen "ihrer Aggressionen"


gegen den IS "schwarze Tage" erleben. Belgien beteiligt sich mit Kampfjets an
Einsätzen gegen den IS, der in Syrien und im Irak große Landesteile
kontrolliert. Brüssel ist Sitz der EU und des Nato-Hauptquartiers. US-Präsident
Barack Obama sagte dem Sender ESPN, die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition
werde ihren Einsatz gegen die Miliz fortsetzen.

Gleichzeitig drohte der sogenannte Islamische Staat weiteren am Anti-IS-Kampf


beteiligten Ländern mit Angriffen. Die Terrormiliz schrieb in einer
aktualisierten Verlautbarung, den gegen sie kämpfenden Nationen drohten "dunkle
Tage". "Was kommt, ist schlimmer und bitterer", hieß es.

Ab Donnerstag wieder Flugverkehr

Der belgische Ministerpräsident Charles Michel sagte, die Sicherheitskräfte


wappneten sich gegen weitere Bluttaten. Am Abend fuhren laut Nachrichtenagentur
Belga Militärfahrzeuge mit schwerbewaffneten Soldaten am Flughafen vor, um das
Areal zu sichern. Der Flugverkehr soll frühestens am Donnerstag wieder
aufgenommen werden können.

In Schaerbeek hob die Polizei am frühen Mittwochmorgen eine Sicherheitszone auf,


die für die Durchsuchungen eingerichtet worden war. Anwohner konnten in ihre
Häuser und Wohnungen zurückkehren.

In ganz Europa herrscht seit den Anschlägen Terrorangst, vielerorts wurden die
Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Die US-Regierung warnt ihre Bürger
angesichts der jüngsten Anschläge vor Gefahren bei Reisen nach Europa. Mögliche
Ziele von Attentätern seien etwa Touristenattraktionen oder
Sportveranstaltungen.

Belgien rief die höchste Alarmstufe aus, mobilisierte Soldaten sowie zusätzliche
Polizisten. Die belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel wurden aus
Sicherheitsgründen größtenteils evakuiert. Auch Deutschland und viele andere
Staaten verschärften Sicherheitsvorkehrungen an Flughäfen und Bahnhöfen.

De Maizière fordert besseren Informationsaustausch in Europa


Eine eindeutige Verbindung zu den Terroranschlägen vom 13. November in der
französischen Hauptstadt konnten die Ermittler zunächst nicht herstellen, wie
Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw erklärte. Erst am Freitag war in der Brüsseler
Gemeinde Molenbeek Salah Abdeslam festgenommen worden. Dieser soll an der
Pariser Anschlagsserie mit 130 Toten maßgeblich beteiligt gewesen sein. Ob die
Brüsseler Anschläge ein Racheakt für seine Festnahme waren, ist unklar.
Sicherheitsexperten erklärten allerdings, derartige Anschläge bedürften einer
längeren Vorbereitung.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière geht davon aus, dass das Länderspiel der
deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen England am Samstag in Berlin
gleichwohl stattfinden kann. "Wir haben keine Hinweise auf eine
Sicherheitsgefährdung, und wir wollen - wenn es irgendwie geht - unser
freiheitliches Leben nicht durch den Terror beeinflussen lassen", sagte er dem
"RTL Nachtjournal".

De Maizière forderte erneut einen besseren Austausch sicherheitsrelevanter Daten


in Europa. Es gebe immer noch "getrennte Datentöpfe der Ausländerbehörden, der
Visa-Behörden, der Polizeibehörden, der Nachrichtendienste", sagte der
CDU-Politiker in einem ZDF-"Spezial". Diese müssten besser miteinander verknüpft
werden. "Es kann nicht sein, dass Datensilos Vorbeugung verhindern."

EU kommt zusammen und erwägt zusätzliche Maßnahmen

Zu den Terroranschlägen von Brüssel soll es in Kürze ein Sondertreffen der für
innere Sicherheit zuständigen EU-Minister geben. Wie die niederländische
EU-Ratspräsidentschaft mitteilte, könnte es bereits an diesem Donnerstag
organisiert werden. Belgien habe um ein Treffen gebeten, erklärte der für
Sicherheit und Justiz zuständige niederländische Minister Ard van der Steur. Ein
ähnliches Sondertreffen hatte es nach den Anschlägen von Paris im vergangenen
November gegeben.

Als Reaktion auf die Anschläge erwägt die EU-Kommission nach Informationen der
"Welt" die Einführung von Sicherheitskontrollen, die bereits vor Eintritt in das
Flughafengebäude stattfinden sollen. "Das macht Sinn, weil dann alle Besucher
von Flughäfen schon vor Betreten der Terminals überprüft würden", hieß es in
hohen Kommissionskreisen. Anders als Flughäfen seien allerdings U-Bahnen
deutlich schwerer zu schützen. "Ein Nullrisiko in U-Bahnen ist unmöglich", hieß
es.

Staatstrauer und europaweite Solidarität

In Gedenken an die Opfer rief die Regierung eine dreitägige Staatstrauer aus. In
der Brüsseler Innenstadt legten Menschen am Abend Blumen nieder und stellten
Kerzen auf. Die Brüsseler Regionalregierung rief zu einer Schweigeminute am
Mittwochmittag auf.

Aus Solidarität mit den Opfern wurden zudem am Abend Wahrzeichen europäischer
Hauptstädte in den Nationalfarben Belgiens angeleuchtet, darunter das
Brandenburger Tor in Berlin und der Pariser Eiffelturm.

Der Zugverkehr soll sich am Mittwoch wieder normalisieren. Die


Thalys-Hochgeschwindigkeitszüge sollen dann ihre Fahrten wieder aufnehmen. Sie
fahren unter anderem von Nordrhein-Westfalen über Brüssel nach Paris. Auch die
Deutsche Bahn will ihre ICE von Frankfurt nach Brüssel und zurück ab Mittwoch
wieder regulär einsetzen. Die Eurostar-Züge zwischen London und Brüssel sollen
am Mittwoch ebenfalls zum normalen Verkehr zurückkehren.

Im Liveticker: Alle wichtigen Informationen zu den Ereignissen in Brüssel.


UPDATE: 23. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 11:34 AM GMT+1

Mutmaßlicher Attentäter;
Das wissen wir über Najim Laachraoui

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 399 Wörter

HIGHLIGHT: Der zur Fahndung ausgeschriebene mutmaßliche Attentäter Laachraoui


ist einem Bericht zufolge in Brüssel gefasst worden. Er wurde schon länger
gesucht und hatte Kontakt zum Paris-Attentäter Abdeslam.

Der nach den Bombenanschlägen im Brüsseler Flughafen zur Fahndung


ausgeschriebene Najim Laachraoui ist einem Zeitungsbericht zufolge am Mittwoch
in der belgischen Hauptstadt gefasst worden. Er soll einer der drei Männer sein,
die auf einem Überwachungsvideo des Flughafens zu sehen sind. Die zwei anderen
kamen offenbar bei den Selbstmordanschlägen ums Leben.

Nach einem Bericht der Zeitung "DH" wurde Laachraoui schon länger gesucht.
Belgische Medien berichten, er könnte auch der Drahtzieher der Anschläge von
Paris sein. Er war erst vor kurzem identifiziert und zur Fahndung ausgeschrieben
worden. Bis dato hatte ihn die Polizei unter einem falschen Namen gesucht.

Im Liveticker: Alle wichtigen Informationen zu den Anschlägen in Brüssel

Kurz vor der Identifizierung von Laachraoui hatten Anti-Terror-Ermittler am


Dienstag vergangener Woche bei einer Hausdurchsuchung in der Brüsseler Gemeinde
Forest Bombenzünder, Munition und eine Kalaschnikow sichergestellt.

Bei der Razzia war aus der Wohnung heraus auf Polizisten geschossen worden. Bei
dem anschließenden Zugriff töteten Scharfschützen einen Verdächtigen, zwei
andere konnten fliehen. Einer von ihnen soll der mutmaßliche Paris-Terrorist
Salah Abdeslam gewesen sein. Er wurde dann am Freitag bei einem Großeinsatz der
Polizei in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek festgenommen.
Bei der Kontrolle zeigte er gefälschten Ausweis

Laachraoui, der am Institut de la Sainte-Famille d'helmet an einer katholischen


Hochschule in Schaerbeek (Brüssel) Elektrotechnik studiert hatte (Abschluss
2012), war gut zwei Monate vor den Pariser Anschlägen mit Abdeslam in Ungarn.
Bei einer Kontrolle auf dem Weg nach Österreich nutzte er nach Angaben der
Staatsanwaltschaft in Brüssel einen gefälschten belgischen Personalausweis auf
den Namen Soufiane Kayal.

Öffentlich gesucht wird der Mann schon seit Anfang Dezember, erst nach Abdeslams
Festnahme wurde aber seine wahre Identität bekannt. Nach Angaben der Behörden
war Laachraoui Anfang 2013 nach Syrien gereist. Seine DNA wurde in einem Haus
und einer Wohnung in Belgien gefunden, die von der Terrorgruppe genutzt wurden.

Nach französischen Medienberichten sollen seine DNA-Spuren zudem auf


Bombenmaterial gefunden worden sein, das die Terroristen in Paris nutzten. Zudem
haben die Ermittler ihn demnach im Verdacht, am Abend der Pariser Anschläge von
Belgien aus mit den Terroristen Kontakt gehalten zu haben.

UPDATE: 23. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 11:54 AM GMT+1

Anschläge in Brüssel;
Zeitung meldet Festnahme des flüchtigen Attentäters

AUTOR: Naemi Goldapp

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 321 Wörter

HIGHLIGHT: Der nach den Bombenanschlägen im Brüsseler Flughafen zur Fahndung


ausgeschriebene Najim Laachraoui ist einem Bericht zufolge in der belgischen
Hauptstadt gefasst worden. Mehr im Ticker.

"APP-USER BITTE HIER ANTIPPEN, UM ZUM TICKER ZU GELANGEN"

Bei den Ermittlungen zu den Anschlägen von Brüssel ist nach Angaben belgischer
Medien ein Hauptverdächtiger festgenommen worden. Najim Laachraoui sei im
südwestlichen Brüsseler Bezirk Anderlecht gefasst worden, berichteten am
Mittwoch mehrere Zeitungen und Rundfunksender übereinstimmend unter Berufung auf
Polizeikreise. Es handelt sich demnach um einen der drei Männer, nach denen mit
Fahndungsbildern vom Flughafen gesucht wurde.

Nach Angaben der Zeitung "La Derniere Heure" und dem Sender RTL handelt es sich
bei Najim Laachraoui um den "dritten Mann" auf einem veröffentlichten Foto, das
ihn mit einem Hut und heller Jacke neben zwei mutmaßlichen Selbstmordattentätern
zeigt. Die Staatsanwaltschaft kündigte für 13 Uhr eine Pressekonferenz an.

Der 24-jährige Laachraoui wird auch verdächtigt, an den Anschlägen von Paris im
November beteiligt gewesen zu sein. Seine DNA-Spuren wurden laut französischen
Ermittlern auf Sprengstoff entdeckt, der an mehreren Stellen in Paris verwendet
wurde.

Nach Laachraoui wird seit Anfang Dezember gefahndet. Er soll 2013 nach Syrien
gereist sein und wurde im September vergangenen Jahres unter falscher Identität
an der österreichisch-ungarischen Grenze zusammen mit Salah Abdeslam und Mohamed
Belkaid kontrolliert, die beide als Verdächtige der Pariser Anschläge gelten.

Abdeslam wurde am Freitag in Brüssel gefasst. Am Abend der Anschläge in Paris am


13. November soll er die Angreifer am Stade de France zu dem Fußballstadion
gefahren haben. Ein im Pariser Vorort Montrouge gefundener Sprengstoffgürtel
gehörte möglicherweise ihm.

Belkaid wurde kurz vor Abdeslams Verhaftung bei einer Razzia im Brüsseler Vorort
Forest getötet. Der 35-jährige Algerier war womöglich an der Planung der Pariser
Anschläge beteiligt und stand vermutlich mit den Attentätern am Abend des 13.
November telefonisch in Kontakt.

Das sind die Bilder vom Flughafen

UPDATE: 23. März 2016

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Donnerstag 24. März 2016 9:32 AM GMT+1

Kampf gegen Terror;


Frankreichs Geheimdienste sehen für 2016 schwarz

AUTOR: Martina Meister, Paris


RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 718 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Anschlägen in Brüssel sprechen auch in Frankreich


Geheimdienstler von totaler Überforderung der Antiterrorkämpfer. Experten
rechnen für den Rest des Jahres 2016 mit einem Horrorszenario.

Sind die französischen Geheimdienste mit der Terrorbedrohung total überfordert?


Ja, sagen hohe französische Sicherheitsbeamte, die lieber anonym bleiben wollen.
"Es vergeht keine Woche, ohne dass wir einen oder mehrere Hinweise darauf
erhalten, dass ein Attentat in Frankreich unmittelbar bevorsteht." Mit diesen
Worten zitiert die Tageszeitung "Libération" eine "hoch platzierte"
Polizeiquelle. Der Mann fügt hinzu, der Ansturm von Informationen sei so groß,
dass er sich abends bei dem Gedanken erwische: "Uff, heute ist es gerade noch
mal gut gegangen."

Auch die Nachrichtenagentur AFP zitiert anonym einen hohen Verantwortlichen des
Antiterrorkampfes mit den Worten: "2015 war schwierig. Ich fürchte, 2016 wird
schrecklich werden." Während des Gesprächs laufen auf dem Fernsehbildschirm im
Büro des anonym zitierten Sicherheitsmannes die Endlosschleifen der Bilder aus
Brüssel: der rauchende Metrotunnel, die Explosion am Flughafen, das Entsetzen in
den Gesichtern der Menschen. "Je mehr der IS (Islamischer Staat) Boden in Syrien
verliert, je stärker wird er sich exportieren. Genau das ist auch mit al-Qaida
passiert", so die Schlussfolgerung des Antiterrorspezialisten.

Die französische Koordinationsstelle des Antiterrorkampfes (Uclat) fürchtete in


den vergangenen Wochen vor allem ein Horrorszenario: den Angriff auf einen
Kindergarten oder eine Grundschule. Solche Hinweise hätten sich in letzter Zeit
auf den Twitter-Konten von Dschihadisten gehäuft. Allerdings wisse man auch in
diesem Fall nicht, ob es sich um ernst zu nehmende Warnungen oder den Versuch
handele, die Sicherheitskräfte zu verwirren.

Schon vor einigen Wochen hatte "Libération" die "totale Überforderung" der
französischen Antiterrorzellen festgestellt und einen hochgradigen Beamten
zitiert: "Wir waren noch nie zuvor mit einem vielgestaltigen Phänomen dieses
Typus konfrontiert. Seit fünf Jahren ist die Palette potenzieller Täter um 150
Prozent angewachsen. Sie geht vom Islamistenveteran bis hin zum lebensmüden
Studenten, der auf der Straße einen Juden mit einem Hackebeil anfällt. Wir
schaffen es nicht mehr, die Masse der Informationen, die uns zugespielt wird, zu
interpretieren. Und nicht nur uns geht es so. Einige von unseren Nachbarn, die
Belgier beispielsweise, befinden sich in derselben Lage."

Seit den Pariser Attentaten vom 13. November waren belgische Politiker,
Ermittler und Einsatzkräfte immer wieder Zielscheibe scharfer Kritik von
französischer Seite geworden. Frankreichs Finanzminister Michel Sapin antwortete
am Dienstag dem Fernsehsender LCI auf die Frage, wie sich eine islamistische
Hochburg in Molenbeek entwickeln konnte, dass er nicht "ganz Belgien" an den
Pranger stellen wolle. Bei "einigen Politikern", die es besonders gut haben
machen wollen mit der Integration von Muslimen, sei "vielleicht eine Form von
Naivität" im Spiel gewesen. Der ehemalige Richter und konservative Abgeordnete
Alain Marsaud war am Samstag, einen Tag nach der Verhaftung von Salah Abdeslam,
dem einzigen der Attentäter von Paris, der überlebt hatte, noch weiter mit
seiner Kritik an den Belgiern gegangen: "Entweder sie sind unfähig oder sie sind
dumm", sagte Marsaud. Seine Analyse gipfelte in dem Vorwurf: "Die Naivität der
Belgier hat uns 130 Menschenleben gekostet".
Bis zu den Attentaten in Brüssel mag das eine einfache und psychologisch
nachvollziehbare Strategie gewesen sein, angesichts des Unfassbaren, einen
Sündenbock ausmachen zu wollen. Inzwischen stimmt aber sogar Frankreichs
Premierminister Manuel Valls selbstkritische Töne an. Nicht nur in Belgien,
überall in Europa und in Frankreich habe man die Augen angesichts
"extremistischen Gedankenguts von Salafisten" verschlossen, sagte Valls am
Mittwochmorgen dem Radiosender Europe 1. Und überall habe die Mischung aus
"Drogenhandel und radikalem Islamismus einen Teil der Jugend pervertiert".
Konfrontiert mit den Äußerungen seines Arbeitsministers Sapin sagte Valls:
"Meine Aufgabe ist es nicht, den Belgiern Lektionen zu erteilen. Wir haben
ebenfalls Bezirke in Frankreich, die unter dem Einfluss von Drogendealern und
Salafisten stehen." Schon im Sommer hatte Valls die Karten auf den Tisch gelegt:
Die Frage sei nicht, ob ein weiteres Attentat stattfinde, sondern wann. Ein
Eingeständnis der Machtlosigkeit, das bis heute nichts an Aktualität eingebüßt
hat.

UPDATE: 25. März 2016

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Freitag 25. März 2016 9:10 AM GMT+1

Terrorgefahr;
Union befürchtet Islamisten-Gettos in Deutschland

AUTOR: Marcel Leubecher und Johannes Wiedemann

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 567 Wörter

HIGHLIGHT: Sorge vor einem deutschen Molenbeek: Die Union warnt nach den
Islamisten-Anschlägen in Brüssel vor "Gettobildungen". Wenn Muslime sich
radikalisieren, seien vor allem Familie und Freunde gefragt.

Die Unionsfraktion im Bundestag warnt nach den Terroranschlägen in Brüssel vor


islamistischen "Gettobildungen" in deutschen Großstädten. In solchen Gettos
"können Radikalisierungen durch persönliche Kontakte stattfinden", sagte der
innenpolitische Sprecher der Fraktion, Stephan Mayer (CSU). "Die aktuellen
Ereignisse im Brüsseler Ortsteil Molenbeek zeigen diese Gefahr sehr deutlich."
Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek ist als Islamistenhochburg bekannt. Dort war in
der vergangenen Woche Salah Abdeslam gefasst worden; der Terrorist der Miliz
Islamischer Staat (IS) wird für die Pariser Anschläge vom 13. November 2015 mit
130 Mordopfern mit verantwortlich gemacht.

In der belgischen Hauptstadt hatten Islamisten am Dienstag mit Anschlägen am


Flughafen und in der U-Bahn-Station Maelbeek im Europaviertel mindestens 31
Menschen ermordet und rund 300 verletzt. Auch zu diesen Bluttaten bekannte sich
der IS. Abdeslam stand laut den bisherigen Ermittlungen in Kontakt zu
Mitgliedern der Terrorzelle, die die Brüsseler Anschläge verübte.

Mit Blick auf die Lage in Deutschland forderte Mayer, dass das "unmittelbare
soziale Umfeld" - etwa Familie, Freunde, Mitschüler und Kollegen - nicht
wegsehen dürfe, "wenn sich Muslime radikalisieren". Sollten eigene Versuche der
Einflussnahme keinen Erfolg haben, "ist den Personen aus dem persönlichen Umfeld
dringend zu raten, mit den Organisationen zusammenzuarbeiten, die professionell
das Ziel verfolgen, Radikalisierungstendenzen entgegenzutreten". Der
CSU-Politiker betonte, dass "frühzeitiges Handeln" einsetzen müsse, "bevor
Sicherheitsbehörden eingreifen".

Nach den Anschlägen in Brüssel hatte sich auch Bundesjustizminister Heiko Maas
(SPD) besorgt über Parallelgesellschaften als Nährboden für Terrorismus
geäußert. "Solche Stadtteile wie Molenbeek sollten möglichst erst gar nicht
entstehen."

Die Politik müsse präventiv vor allem auf junge Menschen einwirken, die drohten
abzurutschen und sich zu radikalisieren. "Die verrückte Ideologie von
islamistischen Terroristen darf für niemanden attraktiver sein als das Angebot
unserer freien und demokratischen europäischen Gesellschaft", sagte Maas.

Vor allem Stadtstaaten haben ein Islamisten-Problem

Nach Recherchen der "Welt am Sonntag" haben vor allem die Stadtstaaten Berlin,
Bremen und Hamburg ein Problem mit islamistischen Gefährdern. Diese Gruppe
bezeichnet besonders gefährliche Fanatiker, denen eine erhebliche Straftat
zugetraut wird. Die Bundesländer rechneten Ende Dezember 447 Personen dieser
Gruppe zu. Ihre Zahl war zuletzt stark gestiegen.

Viele der Gefährder, die in Deutschland gemeldet sind, halten sich nach
Informationen der Sicherheitsbehörden in Syrien oder im Irak auf. Terrorexperten
fürchten besonders durch Rückkehrer aus den vom IS kontrollierten Gebieten
Anschläge.

Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) hatte im Interview mit der "Welt" die
Situation in der Bundeshauptstadt als nicht vergleichbar mit der in Brüssel
beschrieben. "Solche Islamistenhochburgen wie Molenbeek haben wir bei uns nicht.
Dass es ganze Wohnviertel gibt, die von Islamisten dominiert werden und als
Brutstätte für den Terror dienen, ist hier nicht der Fall." Es gebe allerdings
"bekannte Treffs und Moscheevereine", in denen die Islamistenszene
zusammenkomme.

Nach Henkels Angaben gehören der Berliner Salafistenszene mehr als 700 Personen
an. Etwa 360 von ihnen würden dem "gewaltorientierten Teil" zugerechnet.

UPDATE: 25. März 2016

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Freitag 25. März 2016 9:41 AM GMT+1

Großbritannien;
Brüssels Bomben geben Brexit-Befürwortern Aufwind

AUTOR: Stefanie Bolzen, London

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 921 Wörter

HIGHLIGHT: Die jüngsten Terrorattacken in Brüssel beflügeln die Briten, die


einen Ausstieg aus der EU fordern. Sie glauben, Großbritannien sei auf sich
allein gestellt sicherer vor Terroristen.

Donald Trump analysiert im Rennen um die US-Präsidentschaft nicht nur den


aktuellen Zustand Europas in knappen, vernichtenden Sätzen. Er sagt auch die
Zukunft der Europäischen Union voraus, und die wird nach Meinung des
Republikaners eine ohne Großbritannien sein.

"Angesichts des Wahnsinns, der bei der Einwanderung passiert, mit den überall
hereinströmenden Menschen, glaube ich, dass die Briten sich von der EU trennen
werden", prophezeite Trump in einem Interview mit dem britischen Fernsehsender
ITV, das unmittelbar nach den Terroranschlägen in Brüssel am vergangenen
Dienstag aufgezeichnet wurde.

Eine nicht unbedingt vielschichtige Analyse der derzeitigen Lage und doch in
gewissem Maße treffend. Denn Einwanderung und Terrorismus sind zwei der
Topthemen, die am 23. Juni für die Briten den Ausschlag geben, ob sie ihr Kreuz
hinter "Remain" oder "Leave" machen werden. Das Gefühl, durch die offenen
Grenzen der EU Kontrolle über das eigene Territorium verloren zu haben, ist im
Königreich sehr verbreitet - und es damit islamischen Fanatikern leicht zu
machen, ihre Gräueltaten zu planen und so wie in Paris oder Brüssel umzusetzen.

Zwar vergehen bis zum Referendum noch drei Monate, und die Haltbarkeitsdauer im
öffentlichen Bewusstsein ist selbst bei Anschlägen durch den Islamischen Staat
(IS) erstaunlich begrenzt. "Aber das Thema Migration wird von den Leuten mit dem
Terrorismus verbunden. Wenn bis zum Wahltag noch ein oder zwei Ereignisse
dazukommen, die die öffentliche Sicherheit infrage stellen, dann könnte das den
Ausgang des Referendums beeinflussen", sagt Robert Hayward, Mitglied des
Oberhauses für die konservative Partei.
Brüssel, Hauptstadt der Gotteskrieger

Mancher Anhänger eines britischen Ausstiegs aus der EU nutzte die Ereignisse in
Brüssel deshalb unmittelbar für gezielte Botschaften. "Brüssel, Hauptstadt der
EU, ist auch Dschihadisten-Hauptstadt. Und die Pro-Europäer hierzulande wagen es
zu sagen, dass wir in der EU sicherer seien!", erboste sich die
Bestsellerautorin und Kolumnistin Allison Pearson gleich nach den Attentaten,
die mindestens 31 Menschen das Leben gekostet haben.

Pearson erntete im Netz für ihre mangelnde Pietät einen Shitstorm. Der ihr
gleichgesinnte Chef der Anti-EU-Partei Ukip instrumentalisierte den
Brüssel-Terror auf subtilere Weise. Er sei bestürzt über die Anschläge "und noch
besorgter um die Zukunft", schrieb Nigel Farage auf Twitter. Fanatische
Gotteskämpfer, die aus Syrien und vom IS zurückkehrten und sich dank des
Schengen-Systems frei durch die EU bewegen können, "sollten die Leute
alarmieren, dass offene Grenzen für Europas Bürger ein Risiko sind", teilte Ukip
wenig später mit.

Der Schlagabtausch über die Vor- und Nachteile einer EU-Mitgliedschaft für die
öffentliche Sicherheit bestimmt nun wie nach den Anschlägen von Paris am 13.
November 2015 die Brexit-Debatte. Jüngstes Schwergewicht ist Richard Dearlove,
ehemaliger Chef des Auslandsgeheimdienstes MI6. "Die Kosten für die nationale
Sicherheit nach einem Brexit wären gering", schreibt Dearlove in einem
Debattenbeitrag des Magazins "Prospect". Stattdessen brächte der Ausstieg zwei
große Gewinne: endlich die Europäische Menschenrechtskonvention loszuwerden.
"Und, noch wichtiger, größere Kontrolle über die Einwanderung aus der EU zu
bekommen."

Britische Geheimdienste sehen sich gut aufgestellt

Das Argument der Pro-EU-Seite, dass London durch einen Ausstieg den Zugang zu
lebenswichtigen Informationen anderer europäischer Geheimdienste und von Europol
verlöre, lässt Dearlove nicht gelten. Die britischen Geheimdienst- und
Sicherheitsdienste seien die stärksten in Europa, kein EU-Land werde auf die
Zusammenarbeit mit ihnen verzichten wollen. Zudem sei es grundsätzlicher Natur,
dass die Dienste bilateral arbeiten - mit der EU als Ganzes habe echte
Terrorprävention nicht viel zu tun.

Außerdem haben in der Vergangenheit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs


für Menschenrechte in Großbritannien für erheblichen Unmut gesorgt, durch die
Terrorverdächtige nicht ausgeliefert werden konnten. Bekanntestes Beispiel ist
der islamische Hassprediger Abu Hamza al-Masri, der nach einem Urteil des
Straßburger Tribunals jahrelang nicht an die US-Justiz ausgeliefert werden
konnte. Mit einem Brexit wäre London auch die Verpflichtung zur
Menschenrechtskonvention los.

Die britische Innenministerin Theresa May indessen sprach sich erneut klar für
einen Verbleib in der EU aus und verwies unter anderem auf den Prümer Vertrag,
der den Datenaustausch etwa von Fingerabdrücken und DNA regelt und dem London im
kommenden Jahr beitreten will. Während etwa ein DNA-Abgleich über Interpol 143
Tage dauern könne, seien es mit Prüm nur 15 Minuten. "Das ist eine Initiative
der Europäischen Union", so May.

Großbritannien ist kein Mitglied des Schengen-Raums und führt von jeher eigene
Grenzkontrollen durch. Allerdings ist ein Argument der Ausstiegsbefürworter,
dass Kriminelle und Terroristen, die lange genug in einem EU-Land gelebt und
dort einen Pass bekommen haben, dank der Bewegungsfreiheit für EU-Bürger
problemlos ins Königreich kommen könnten.
Wie sich die jüngsten Terroranschläge in Brüssel auf die öffentliche Meinung
auswirken, darüber gibt es bisher noch keine Umfragen. Doch jüngste Erhebungen
zeigen weiter eine tiefe Spaltung in Sachen Brexit. Laut einer am Mittwoch
veröffentlichten Umfrage sind die Befürworter eines Austritts derzeit leicht in
Führung. Rund 43 Prozent der vom Umfrageinstitut ICM Befragten wollen den
Austritt, nur 41 Prozent sprechen sich für den Verbleib in der EU aus.

UPDATE: 25. März 2016

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Freitag 25. März 2016 12:01 PM GMT+1

Brüsseler Attentate;
Deutsche Polizei verhaftet zwei Terror-Verdächtige

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 302 Wörter

HIGHLIGHT: Die deutsche Polizei hat im Zusammenhang mit den Anschlägen von
Brüssel zwei Männer verhaftet. Einer von beiden machte sich durch zwei SMS am
Tag der Attacken verdächtig. Ein Wort darin lautete "fin".

Nach den Anschlägen in Brüssel hat es nach einem Bericht des Magazins "Spiegel"
Festnahmen auch in Deutschland gegeben. Nach nicht näher bezeichneten
Informationen des "Spiegel" griff die Polizei je einen Mann im Großraum Gießen
und im Raum Düsseldorf auf, bei denen es Verbindungen zu einem der Brüsseler
Attentäter geben soll. Art und Ausmaß dieser Verbindungen wurden demnach noch
untersucht.

Bei dem am Donnerstagnachmittag von einem Spezialeinsatzkommando im Raum


Düsseldorf Festgenommenen handelt es sich dem Bericht zufolge um Samir E., der
dort der salafistischen Szene zugeordnet werde. Er sei ebenso wie der Brüsseler
U-Bahn-Attentäter Khalid El Bakraoui im Sommer 2015 von türkischen Behörden im
Grenzgebiet zu Syrien unter dem Verdacht aufgegriffen worden, für Islamisten
dort kämpfen zu wollen. Beide seien nach Amsterdam abgeschoben worden, von wo
sie in die Türkei aufgebrochen waren.

Eine SMS schrieb er direkt nach El Bakraouis Tod


Ein Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft wollte am Freitag nur
bestätigen, dass am Donnerstag ein Mann festgenommen worden sei, gegen den jetzt
unter anderem "wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat"
ermittelt werde.

Bereits am Mittwochabend wurde demnach zudem im Raum Gießen ein Mann


aufgegriffen, der zwei verdächtige SMS vom Tag der Brüsseler Anschläge auf
seinem Telefon gehabt haben soll. Eine davon enthalte den Namen von Khalid El
Bakraoui. Eine weitere Nachricht bestehe nur aus dem französischen Wort "fin"
(deutsch: Ende) und sei gesendet worden drei Minuten bevor sich Bakraoui in die
Luft sprengte.

Bei den Anschlägen auf den Flughafen und die U-Bahn in Brüssel waren am
Dienstagmorgen 31 Menschen getötet und rund 300 verletzt worden. Auch in Brüssel
hatte es am Donnerstagabend in Verbindung damit weitere Festnahmen gegeben.

UPDATE: 25. März 2016

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Freitag 25. März 2016 1:47 PM GMT+1

Osterfeier;
Franziskus wäscht und küsst Flüchtlingen die Füße

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 344 Wörter

HIGHLIGHT: Eine Geste der Verbundenheit: Zum Auftakt der Osterfeiern hat Papst
Franziskus Flüchtlingen die Füße gewaschen - unabhängig von ihrer Konfession. Er
betonte: "Wir sind alle Kinder desselben Gottes."

In einer Asylunterkunft nahe Rom hat Papst Franziskus bei seiner


Gründonnerstagsmesse am Abend das Ritual der Fußwaschung an Flüchtlingen und
Migranten vollzogen. Unter ihnen waren drei Muslime, die nach Vatikanangaben aus
Syrien, Pakistan und Mali stammten, sowie ein Hindu aus Indien.

An der Zeremonie, die an eine Geste Jesu beim letzten Abendmahl erinnert, nahmen
weiter drei koptische Frauen aus Eritrea, vier katholische Nigerianer und eine
italienische katholische Mitarbeiterin der Einrichtung teil.

Einige der Flüchtlinge weinten, als sich Franziskus vor ihnen niederkniete. Er
goss aus einem Messingkrug Wasser über ihre Füße, wischte sie sauber und küsste
sie anschließend.

"Wir alle sind hier versammelt: Muslime, Hindus, Katholiken, Kopten,


evangelische Christen. Wir sind alle Geschwister, Kinder desselben Gottes",
sagte der Papst in seiner frei gehaltenen Predigt. Die Kandidaten für die
Fußwaschung in dem Zentrum in Castelnuovo di Porto nördlich von Rom waren unter
den knapp 900 Bewohnern ausgewählt worden.

Anschläge gleichen dem Verrat von Judas

Franziskus verurteilte bei dem Gottesdienst erneut die Terrorattentate von


Brüssel und machte sich für den Frieden stark. "Wir haben verschiedene Kulturen
und Religionen. Aber wir sind Brüder und wollen in Frieden zusammenleben", sagte
er.

Die Anschläge von Brüssel verglich Franziskus mit dem Verrat des Judas, der
Jesus für 30 Geldstücke seinen Henkern ausgeliefert habe. Auch hinter dem Terror
stünden Profiteure wie Waffenproduzenten und Waffenhändler, "die das Blut wollen
und nicht den Frieden". Diese Kräfte zerstörten die Brüderlichkeit unter den
Menschen.

Die von Herzlichkeit und Emotionen geprägte Messe fand in einem Hof der
Flüchtlingseinrichtung statt. Zum Abschluss nahm sich Franziskus Zeit, nahezu
allen Bewohnern die Hand zu schütteln.

Mit der Gründonnerstagsmesse beginnen die drei österlichen Tage. Stimmungsvoller


Höhepunkt der päpstlichen Zeremonien am Karfreitag ist der traditionelle
Kreuzweg am Kolosseum in Rom. Am Samstagabend leitet Franziskus die
Osternachtsfeier im Petersdom.

UPDATE: 25. März 2016

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Sonntag 27. März 2016 12:05 PM GMT+1

CDU-Politikerin;
Steinbachs verstörende Wutbürgerei auf Twitter

AUTOR: Richard Herzinger


RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1674 Wörter

HIGHLIGHT: Eigentlich ist Erika Steinbach eine Persönlichkeit mit Verdiensten.


Doch die einstige Vertriebenen-Präsidentin verstört mit ihren Äußerungen auf
Twitter. Bereitet sie den Absprung zur AfD vor?

Erika Steinbach twittert unverdrossen weiter. Und zwar täglich, unablässig, bis
in die Osterpause hinein, in der sie der Presse keine Auskunft mehr gibt.
"Wundere mich höchstens, wofür manches Medium und mancher Journalist seine Zeit
aufwendet", vermerkt sie in einem Tweet am Mittwoch spitz, und: "Irgendwie fehlt
es da an Arbeit."

Bei dieser Reaktion geht es um ein Foto, das Steinbach Ende Februar gepostet
hatte. Man sieht darauf eine Ansammlung dunkelhäutiger Mädchen, die sich lachend
zu einem strohblonden Bübchen herabbeugen. "Woher kommst du denn?", steht
darunter. Und darüber: "Deutschland 2030".

Der Tweet der CDU-Bundestagsabgeordneten, langjährigen Chefin des Bundes der


Vertriebenen und jetzigen Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der
Unionsfraktion hatte damit im Netz und bald auch auf der politischen Bühne einen
Empörungssturm ausgelöst.

Blanken Rassismus und das Schüren von Überfremdungsängsten warfen SPD und Grüne
ihr vor. Aber auch Parteifreunde, bis hin zu CDU-Generalsekretär Peter Tauber,
distanzierten sich.

Hofft Steinbach etwa, mit solch provokanten Einwürfen dem sagenumwobenen


nationalkonservativen Flügel in der Union, der von der Merkel-Führung angeblich
an die Wand gedrückt und mundtot gemacht wurde, eine Stimme zu geben? Oder gar
ein Fanal für einen innerparteilichen Aufstand der wahren Konservativen zu
setzen?

Ziellose Abreaktion oder politische Kampfansage?

Ihre Twitterei vermittelt einen anderen Eindruck, belegt eher, dass von der viel
beschworenen nationalkonservativen Strömung in der CDU, die deren vermeintlichen
Anpassungskurs an den "linken Zeitgeist" nicht mitmachen wolle, kaum etwas übrig
ist - jedenfalls nichts Substanzielles.

Steinbachs rastlos ausgestoßene Kurzkommentare wirken eher wie unreflektierte


Wutbürgerei, mehr wie ziellose Abreaktion denn als kalkulierte politische
Kampfansage. Sie erinnern mehr an das "TV-Ekel" Alfred Tetzlaff als an Alfred
Dregger.

Es fragt sich, ob Steinbach den Kurs ihrer Partei eigentlich noch ernsthaft zu
beeinflussen versucht oder ob sie innerlich schon mit ihr gebrochen hat.
Bereitet sie gar den Absprung zur AfD vor? Dabei erhebt doch gerade sie den
Anspruch, sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark zu machen.

Die Aufregung über das von ihr gepostete Foto schien schon abgeebbt zu sein, da
legte das NDR-Medienmagazin "Zapp" vergangene Woche nach. Es hatte recherchiert,
woher dieses von Steinbach für ihre Warnung vor der Übernahme Deutschlands durch
nicht weiße Einwanderer verwendete Bild eigentlich stammt.
Fündig wurde "Zapp" in einem Kinderheim in Südindien. Das hatte ein
australisches Ehepaar im Jahre 2011 besucht, um dort Spendengelder zu übergeben.
Der Knirps auf dem Foto ist der Sohn des Paares.

"Das Foto entstand in einem sehr schönen Moment voller Liebe und Freude",
erklären nun die Eltern. "Er zeigt das Miteinander verschiedener Kulturen und
von Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen." Das Bild hätten sie ins Netz
gestellt "in der Hoffnung, dass das Kinderheim von der Aufmerksamkeit dort
profitieren würde". Dann entglitt es ihrer Kontrolle. Es sei "sehr traurig, dass
das Bild für solche Propaganda verwendet wird. Wir hatten genau das Gegenteil im
Sinn."

Erika Steinbach scheint das jedoch nicht zu rühren. Dabei vergäbe sie sich
nichts mit einem Wort des Bedauerns, das unbefugt kursierende Foto für einen
Zweck benutzt zu haben, der mit dem dargestellten Motiv nichts zu tun hat. An
der politischen Aussage, die sie damit unterstreichen wollte, hätte sie ja
festhalten können.

Stattdessen fährt sie eine schnippische Attacke gegen Journalisten, die den
Zusammenhang aufgedeckt haben. Wobei festzuhalten ist, dass Steinbach das Foto
nicht selbst mit der sinnwidrigen Beschriftung versehen hat - was die Sache aber
kaum besser macht. Das Machwerk war nämlich vorher schon auf rechtsextremen
Seiten aufgetaucht. Erika Steinbach aber twittert, ein "besorgter Vater" habe es
ihr "in dieser Fassung gemailt".

Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit ihren Tweets Ärgernis erregt. 2012 etwa
ließ sie wissen, die NSDAP sei keine rechte, sondern eine linke Partei gewesen,
schließlich trage sie ja das Wort "sozialistisch" im Namen.

Eine eigenwillige historische Deutung, bedenkt man, dass die Vision eines
"völkischen Sozialismus" schon lange vor den Nazis Bestandteil
rechtsextremistischer Ideologie war.

Rechtsstaat mit Diktatur gleichgesetzt

Am 13. März schließlich, dem Tag der Landtagswahlen in drei Bundesländern,


twitterte sie, eingerahmt von dicken, roten Ausrufungszeichen, zur
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung:

"Seit September alles ohne Einverständnis des Bundestages. Wie in einer


Diktatur". Nun rückten auch die hessische Landesgruppe der Unionsfraktion und
ihr Kreisverband Frankfurt am Main von ihr ab.

Den Rechtsstaat mit einer Diktatur gleichzusetzen, ließ dieser verlauten, noch
dazu an einem Tag, da in Deutschland demokratisch gewählt wird, "so etwas macht
man nicht". Es entspricht aber, muss man hinzufügen, der Redeweise der "Neuen
Rechten" und der Pegida.

Erika Steinbach gab immerhin zu, der Begriff "Diktatur" sei eine überspitzte
Formulierung gewesen, bekräftigte aber im selben Atemzug, sie halte die Öffnung
der Grenzen für Flüchtlinge durch die Bundeskanzlerin und Vorsitzende ihrer
eigenen Partei für "widerrechtlich".

Erst vor wenigen Tagen legte sie dahingehend auf Twitter nach, als sie einen
Kommentar des Historikers Jörg Baberowski mit dem Ausruf "Sehr gut!" empfahl.

In dem Artikel steht: "Die Bundeskanzlerin hat sich über die Verfassung
hinweggesetzt, sie hat das Parlament entmachtet, Deutschland in Europa isoliert,
und sie überlässt es dem türkischen Selbstherrscher Erdogan, darüber zu
entscheiden, wie viele Einwanderer nach Deutschland kommen werden."

Doch warum sollte man sich eigentlich über Steinbachs offensichtlich außer
Kontrolle geratene Twitterei so viele Gedanken machen? Eine einflussreiche Rolle
in der Union wie in der deutschen Politik spielt die 72-Jährige längst nicht
mehr. Warum die politische Linke um ihre Entgleisungen ein so großes Aufhebens
macht, liegt auf der Hand - sie hofft, damit die Union insgesamt in ein schiefes
Licht zu rücken.

Und linken Shitstormern im Netz kommen Erika Steinbachs Geschmacklosigkeiten wie


gerufen, um das alte, ranzig gewordene Feindbild von der rechtsreaktionären und
rassistischen CDU wiederzubeleben, die sich nur demokratisch und weltoffen
maskiere.

Die befremdeten Reaktionen aus der Union belegen das Gegenteil. Erika Steinbach
wirkt dort inzwischen eher wie ein Fremdkörper, dem man nicht einmal mehr mit
Zorn, sondern mit peinlich berührter Fassungslosigkeit begegnet.

Doch handelt es sich bei dieser Frau immerhin um eine politische Persönlichkeit
mit Verdiensten, die man ihr zubilligen muss, auch wenn man ihre dezidiert
konservativen Überzeugungen nicht teilen mag. Sie hat daher Besseres verdient
als die Selbstdemontage, die sie sich derzeit antut.

In ihrer Zeit als Vertriebenenchefin - von 1998 bis 2014 - hatte sich Steinbach
lange bemüht, das von links genährte und bis in die liberale Mitte verbreitete
Bild der hartgesottenen Revanchistin zu korrigieren.

Ihr Lebensprojekt war es, das Schicksal der deutschen Vertriebenen der
Verdrängung zu entreißen und ihm einen der modernen demokratischen
Erinnerungskultur angemessenen Platz im nationalen Gedenken zu sichern.

Die von ihr gegründete Initiative Zentrum gegen Vertreibungen zielte darauf, die
deutsche Vertreibungsgeschichte in den Gesamtkontext aller Vertreibungen im
Europa des 20. Jahrhunderts einzubetten.

Reiz- und Hassfigur als Verkörperung des ewigen Nazis

Dem Verdacht, die NS-Täterschaft relativieren und einen neuen deutschen


Opferdiskurs installieren zu wollen, entging sie freilich auch damit nicht -
trotz Fürsprechern wie des Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Ralph
Giordano. In Osteuropa, namentlich in Polen, blieb sie Reiz- und Hassfigur als
Verkörperung des ewigen Nazis.

In der aus ihrer Initiative hervorgegangenen, 2008 gegründeten Bundesstiftung


Flucht, Vertreibung, Versöhnung erschien sie deshalb nicht tragbar. Nach einigem
Hin und Her verzichtete sie 2010 schließlich selbst auf einen Sitz im Beirat. Es
lässt sich nur spekulieren, ob diese Verletzung eine Verbitterung hinterlassen
hat, der sie jetzt an der Tastatur freien Lauf lässt.

Dabei würde die leidenschaftliche Tatkraft Erika Steinbachs durchaus noch für
Sinnvolleres gebraucht. Bei ihrem Engagement für Menschenrechte etwa hat sie
Weitblick bewiesen. Im Juni 2014 warnte sie im Bundestag, Europa werde von der
Flüchtlingswelle aus Syrien früher oder später überrollt, sein Wohlstand und
seine Demokratie in Mitleidenschaft gezogen werden, sorge es nicht vor Ort für
die Eindämmung des Elends - als Ultima Ratio auch militärisch.

Und sie fügte hinzu, andernfalls werde es "keine Mauer geben, und sei sie noch
so hoch, die imstande wäre, verzweifelte Bürgerkriegsflüchtlinge abzuhalten".
Schwer zu begreifen, dass sie heute den gegenteiligen Eindruck erweckt, statt
umso mehr auf ein entschiedeneres Eingreifen in Syrien zu dringen.

Stets hat sie sich entschieden auf die Seite der von Putins Russland
überfallenen Ukrainer gestellt. Zuletzt protestierte sie am Dienstag gegen die
illegale Verurteilung der nach Russland verschleppten ukrainischen Pilotin Nadja
Sawtschenko und forderte ihre sofortige Freilassung. Auch deshalb ist kaum
vorstellbar, dass sich Steinbach etwa zur AfD absetzen könnte. Was hätte sie
unter dieser Ansammlung von Putin-Apologeten zu suchen?

Doch scheint es, als ob sie sich in einer Dynamik verfangen hat, die schon bei
manch anderem zu beobachten war, der sich zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt
sah.

Je mehr sie sich von einer vermeintlich linkslastig gleichgeschalteten


Öffentlichkeit verkannt und verfolgt fühlt, umso mehr legt sie noch einen drauf
- bis sie dem Zerrbild, das sie von sich gezeichnet sieht, tatsächlich zum
Verwechseln ähnelt. Bevor es so weit ist, sollte Erika Steinbach vielleicht noch
einmal reflektierend einhalten und sich Gedanken machen, die komplexer sind, als
dass sie in 140 Zeichen passen würden.

UPDATE: 27. März 2016

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Dienstag 29. März 2016 10:16 AM GMT+1

Türkei;
Sicherheitskräfte haben 5000 PKK-Kämpfer getötet

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 275 Wörter

HIGHLIGHT: Türkische Sicherheitskräfte haben seit dem Abbruch der


Friedensgespräche mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK 5000 Rebellen getötet
oder gefangen genommen. Doch auch sie mussten Tote beklagen.

In der Türkei sind nach Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdogan seit dem
Scheitern einer Waffenruhe im vergangenen Juli mehr als 5000 Kämpfer der
verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK getötet worden. Zudem seien 355
Sicherheitskräfte in diesem Zeitraum ums Leben gekommen, sagte Erdogan am Montag
nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Im überwiegend von Kurden bewohnten Südosten der Türkei starben allein bei
Kämpfen über Ostern Sicherheitskreisen zufolge fast 30 Extremisten und Soldaten.
Die Waffenruhe hatte zwei Jahre gehalten. Seit ihrem Ende hat die Gewalt in der
Region deutlich zugenommen.

Militärangaben zufolge wurden am Wochenende in den Städten Nusaybin, Sirnak und


Yuksekova 25 PKK-Kämpfer getötet. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen kamen in
der Stadt Nusaybin zwei Soldaten ums Leben, als Extremisten Sprengsätze in einem
Gebäude zündeten, das von den Sicherheitskräften untersucht wurde.

PKK wirbt neue Kämpfer an

Bei einem Bombenanschlag in der an der Grenze zu Syrien gelegenen Stadt starb
zudem ein Polizist. Ein weiterer Soldat wurde bei einem Angriff von
Heckenschützen getötet. In Sarioren wurde ein Lokalpolitiker erschossen, wie es
weiter aus Sicherheitskreisen hieß. Bei einer Bombenexplosion seien zudem drei
Soldaten verletzt worden.

Wie in Nusaybin, wo seit Mitte März eine Ausgangssperre gilt, versucht das
Militär seit Monaten, Kämpfer der PKK auch aus anderen Städten der Region zu
vertreiben. Experten zufolge gelingt es der PKK aber, immer neue Kämpfer
anzuwerben. Die oppositionelle Kurdenpartei HDP erklärte, seit Dezember seien
bei den Militäraktionen auch rund 500 Zivilisten getötet worden.

UPDATE: 29. März 2016

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Dienstag 29. März 2016 10:31 AM GMT+1

Gipfel in Washington;
Obama verweigert Erdogan offenbar ein Treffen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 225 Wörter

HIGHLIGHT: Die Beziehung zwischen den USA und der Türkei ist wegen der
türkischen Militäroffensive gegen kurdische Kämpfer angespannt. Obama lehnt nun
offenbar auch ein Treffen mit Erdogan in den USA ab.

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan besucht in dieser Woche


Washington, bekommt aber wohl von US-Präsident Barack Obama kein Treffen
gewährt. Dies geht aus US-Angaben vom Montag hervor. Die Beziehungen zwischen
den beiden traditionellen Verbündeten USA und Türkei sind derzeit wegen der
türkischen Militäroffensive gegen kurdische Kämpfer stark angespannt.

Die USA unterstützen kurdische Einheiten in ihrem Kampf gegen die


Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Irak und in Syrien.

Bilaterales Treffen mit Chinas Staatschef

Erdogan reist ebenso wie mehrere weitere Staatschefs zu einem Gipfel über
nukleare Sicherheit in die US-Hauptstadt. Am Rande des Gipfels, der am
Donnerstag und Freitag stattfindet, plane Obama bislang nur ein einziges
bilaterales Treffen, nämlich am Donnerstag mit dem chinesischen Staatschef Xi
Jinping, sagte ein US-Regierungsmitarbeiter.

Zudem komme Obama zu einem Dreiertreffen mit dem japanischen Ministerpräsidenten


Shinzo Abe und der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye zusammen, um über
die Spannungen mit Nordkorea zu sprechen.

Wie das Weiße Haus am Montag mitteilte, bietet das Treffen am Donnerstag die
Gelegenheit, über "gemeinsame Antworten auf die Bedrohung" durch Pjöngjang zu
sprechen. Die kommunistische Führung des streng abgeschotteten Landes droht
immer wieder mit dem Einsatz von Atombomben.

UPDATE: 29. März 2016

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Dienstag 29. März 2016 10:46 AM GMT+1

Flüchtlinge als Lehrer;


Eine neue Chance für geflüchtete Kinder und Lehrer

AUTOR: Irena Güttel

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 648 Wörter


HIGHLIGHT: Tausende Flüchtlingskinder gilt es an den deutschen Schulen zu
unterrichten. Doch es fehlt an geeigneten Pädagogen und Sprachkompetenz. Können
geflüchtete Lehrer die Lücke schließen?

Khaled Mohammad schreibt eine Bruchrechnung an die Tafel. Eine Schülerin


beginnt, diese Schritt für Schritt aufzulösen. Doch dann kommt sie nicht weiter.
"Was ist vier geteilt durch zwei?", fragt der Lehrer sie. Sie schreibt die
Lösung an die Tafel. "Perfekt", lobt Mohammad. Eine Szene aus einer
Mathematikstunde wie an jeder beliebigen Schule in Deutschland. Ungewöhnlich ist
jedoch, dass sich die Schüler quasi darum reißen, an die Tafel zu dürfen. Und
ungewöhnlich ist auch der Lehrer: Mohammad ist Flüchtling - genau wie die Kinder
in seiner Klasse.

Einmal die Woche gibt er ihnen an der Neuen Oberschule im Bremer Stadtteil
Gröpelingen zusätzlichen Unterricht in Mathe, denn wegen sprachlicher Probleme
fällt es ihnen schwerer, dem Stoff zu folgen. Mohammad geht diesen mit ihnen
erneut durch und bespricht die Hausaufgaben - in Arabisch, Kurdisch, Persisch
und Deutsch. Möglich macht das ein Pilotprojekt der Universität Göttingen, das
aus Syrien geflohene Lehrer stundenweise an Schulen in Bremen und ab April auch
in Niedersachsen Flüchtlingskinder unterrichten lässt.

Das Ziel: "Wir wollen ein differenziertes Fortbildungsangebot für geflüchtete


Lehrer erarbeiten", sagt die Kulturwissenschaftlerin Jasmina Heritani, die das
Projekt wissenschaftlich begleitet. Regelmäßig besucht sie die Lehrer,
dokumentiert mit Videos, wie sie arbeiten, und bespricht diese danach mit ihnen.
Mit dem Projekt will sie herausfinden, welche pädagogischen und fachlichen
Kenntnisse die Teilnehmer bereits besitzen und was ihnen fehlt, um als reguläre
Lehrkräfte arbeiten zu können. Daraus soll später ein Ausbildungsprogramm an der
Uni Göttingen entstehen.

An der Universität Potsdam startet ein solches Programm bereits zu diesem


Sommersemester. "Refugees Teachers Welcome" will geflüchteten Lehrern einen
Einblick in das deutsche Schulsystem geben. Dafür lernen die Teilnehmer erst ein
halbes Jahr lang intensiv die deutsche Sprache. Danach folgt ein gemeinsames
Seminar mit deutschen Lehramtsstudenten und Praktika an Schulen. "Es ist also
erst einmal eine Art Schnupperkurs", sagt die Professorin für
Unterrichtsforschung, Miriam Vock. Damit betreten sie und ihr Team Neuland:
Weder in Deutschland noch in Europa gebe es bisher solch ein Angebot, das sich
an geflüchtete Lehrer richte, sagt die Expertin. Dabei spielten sie eine
wichtige Rolle bei der Integration der vielen Flüchtlingskinder.

"Man muss flexibel und pragmatisch reagieren"

8000 zusätzliche Lehrer müssen die Schulen nach Schätzungen der


Bildungsgewerkschaft GEW angesichts der vielen neu dazukommenden Schüler
einstellen. Die Kultusministerkonferenz geht von 325.000 Flüchtlingskindern
allein in den vergangenen zwei Jahren aus. "Da muss man flexibel und pragmatisch
reagieren", sagt Marlis Tepe, die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW. In
einigen Bundesländern sei die Personaldecke schon längst zu knapp. Unter den
Flüchtlingen nach geeigneten Lehrern zu suchen, hält sie nicht nur deshalb für
eine gute Idee. "Es besteht Nachholbedarf bei der Ausbildung von Lehrkräften mit
Migrationshintergrund."

Dass diese Pädagogen wichtige Vorbilder für Schüler mit ausländischen Wurzeln
sind, weiß die Direktorin der Neuen Oberschule in Bremen, Sabine Jacobsen, nur
zu gut. 85 Prozent ihrer Schüler stammen aus Zuwandererfamilien. "Wir sind sehr
froh, dass wir Khaled Mohammad hier haben", sagt Jacobsen. "Die
Flüchtlingskinder können jetzt auch unabhängig von der Sprache fachbezogene
Fortschritte machen." Dass er selbst geflohen sei und jetzt in Deutschland
unterrichten dürfe, mache den Kindern Mut.

Dreimal die Woche hilft Mohammad Schülern der 6., 7. und 8. Klasse in
Mathematik. Für seine Arbeit erhält der 33-Jährige zwar nur eine
Aufwandsentschädigung, dafür aber viel Anerkennung von den Kollegen. "Ich freue
mich, wieder in meinem Beruf arbeiten zu können", sagt Mohammad. Und irgendwann,
hofft er, auch als richtiger Lehrer.

UPDATE: 29. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Mittwoch 30. März 2016 10:39 PM GMT+1

Terrorfahndung in Paris;
"Ein Waffenarsenal in noch nicht da gewesenem Ausmaß"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 435 Wörter

HIGHLIGHT: Offenbar stürmten Ermittler ein Terror-Versteck in Paris in letzter


Minute. Was sie fanden, erstaunt die Staatsanwaltschaft. Sie spricht von einem
Waffenfund in bisher unbekannter Dimension.

Ein vor einer Woche festgenommener Franzose soll zu einem Terrornetzwerk


gehören, das mit einem großen Waffenarsenal kurz vor einem schweren Anschlag
stand. Es sei bislang kein klares Ziel identifiziert worden, sagte der
Anti-Terror-Staatsanwalt François Molins am Mittwochabend. Zu diesem Zeitpunkt
der Ermittlungen deute aber alles darauf hin, dass die Entdeckung des Verstecks
im Pariser Vorort Argenteuil eine bevorstehende, extrem gewalttätige Aktion
verhindert habe.

Gegen den am vergangenen Donnerstag nach monatelangen Ermittlungen


festgenommenen Reda K. wurde ein Anklageverfahren eröffnet, ihm wird
insbesondere die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve hatte bereits kurz nach der
Festnahme des 34-Jährigen erklärt, damit sei ein Terrorplan im
"fortgeschrittenen Stadium" durchkreuzt worden.

In der Wohnung in Argenteuil sei ein "Arsenal in noch nicht da gewesenem Ausmaß"
gefunden worden, sagte Molins: fünf Kalaschnikow-Sturmgewehre, eine
Maschinenpistole, sieben Faustfeuerwaffen, 1,3 Kilogramm industrieller
Sprengstoff, 105 Gramm des Sprengstoffs TATP sowie "chemische Elemente". Er
nannte zwei Plastikkanister mit Säure. Zudem fand man Komponenten, die als
Bombenzünder genutzt werden können, Spritzen, fünf gestohlene Pässe und sieben
Telefone, darunter neue Handys.

Vor Gericht sagte Reda K., er sei kein Terrorist

Laut Molins sagte der Franzose vor dem Richter, er sei kein Terrorist. Bei den
vorherigen Vernehmungen habe er ausgesagt, die Wohnung in Argenteuil im Auftrag
eines Dritten gemietet zu haben, dessen Namen er nicht nannte.

K. steht auch im Verdacht, gemeinsam mit dem am Sonntag in Rotterdam


festgenommenen Anis B. zwischen Ende 2014 und Anfang 2015 nach Syrien gereist zu
sein. Auch in Belgien waren zwei Verdächtige im Zusammenhang mit dem
mutmaßlichen Terrorplan in Frankreich festgenommen worden. Ein Richter ordnete
am Mittwoch Untersuchungshaft für Reda K. an, der zuvor sechs Tage in
Polizeigewahrsam gehalten wurde - dies ist nur in Ausnahmefällen möglich.

Ausgangspunkt für die Fahndung nach Reda K. und Anis B. waren Ermittlungen zu
einem aus der Türkei ausgewiesenen mutmaßlichen Dschihadisten, die im November
2015 begannen.

Frankreich und Belgien waren in den vergangenen Monaten Ziel schwerer


islamistischer Terroranschläge. In Paris und einem Vorort starben im November
130 Unschuldige, in Brüssel ermordeten Attentäter vergangene Woche 32 Menschen.
Bislang gibt es nach Angaben der französischen Behörden keine greifbaren
Hinweise auf einen Zusammenhang des aufgedeckten Terrorplots mit diesen
Anschlägen.

UPDATE: 31. März 2016

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Donnerstag 31. März 2016 8:26 AM GMT+1

Propaganda;
Wie der IS mit Montagen zu Anschlägen in Deutschland aufruft

RUBRIK: POLITIK; Politik


LÄNGE: 347 Wörter

HIGHLIGHT: Mit Fotomontagen macht die Terrormiliz Islamischer Staat nach den
Anschlägen von Brüssel Propaganda. Dabei bewirbt der IS auch Anschlagsziele in
Deutschland, wie den Flughafen Köln-Bonn.

Unter anderem mit einer Fotomontage des Köln-Bonner Flughafens rufen


IS-Terroristen nach den Anschlägen von Brüssel andere Islamisten zu
terroristischen Attacken auf. "Was deine Brüder in Belgien schafften, schaffst
du auch!", steht im unteren Drittel des Bildes, das außerdem einen Terroristen
vor dem in Rauch gehüllten Flughafengebäude zeigt.

Aufrufe wie diese sind allerdings nicht unüblich. Insbesondere nach Anschlägen
arbeitet die Terrormiliz verstärkt mit Propagandabildern und -videos, auch um
Angst zu schüren. Die aktuellen Fotomontagen waren laut "Bild"-Zeitung am
Nachmittag in sozialen Netzwerken aufgetaucht.

Neben der Montage des Flughafens Köln-Bonn veröffentlichte der IS noch einige
weitere Motive. Eines zum Beispiel zeigt das Kanzleramt in Flammen, davor wieder
ein maskierter IS-Kämpfer. Titel des Bildes: "Deutschland ist ein Schlachtfeld".

Ein Bild mit IS-Flagge und Kämpfern beschönigt den Kampf gegen die "Feinde
Allahs". Deutschland, der große Feind - das soll auch eine weitere Fotomontage
propagieren. Hierauf ist ein Kampfjet zu sehen sowie weinende Kinder. Es enthält
die Aufschrift: "Willst du noch weiter trauern oder endlich handeln?" Damit will
die Miliz offensichtlich auf die Einsätze in Syrien anspielen.

Belgischer Premier womöglich Anschlagsziel

Indes wurde bekannt, dass der belgische Premierminister Charles Michel


möglicherweise auch Ziel von Anschlägen gewesen sein könnte. Wie "Spiegel
Online" mit Bezug auf belgische Medien berichtet, sollen auf der Festplatte
eines sichergestellten Computers Pläne und Fotos vom Amtssitz und einer Wohnung
Michels gefunden worden sein. Bestätigt wurden diese Angaben von offizieller
Seite bisher nicht. Ein Sprecher der Regierung sagte nur, dass es für die
Gebäude verstärkte Sicherheitsmaßnahmen gebe.

Bei den Anschlägen am Brüsseler Flughafen und in der U-Bahn vor rund einer Woche
wurden 32 Menschen getötet. Hinzu kommen die drei Selbstmordattentäter. Nach den
Anschlägen gab es mehrere Anti-Terror-Razzien der Polizei. In einigen Fällen war
die Verbindung zu den Anschlägen von Brüssel aber nicht klar.

UPDATE: 31. März 2016

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Donnerstag 31. März 2016 1:26 PM GMT+1

Psychologie;
Warum junge Menschen zu Terroristen werden

AUTOR: Paula Konersmann

RUBRIK: GESUNDHEIT; Gesundheit

LÄNGE: 694 Wörter

HIGHLIGHT: Wie wird aus einem jungen Menschen ein fanatischer Attentäter? Nicht
nur Forscher suchen nach Erklärungen. Dabei spielt die Religion nur teilweise
eine Rolle. Wichtig sind auch Sicherheit und Macht

"Wir wissen noch viel zu wenig", konstatiert die Leiterin der Abteilung Politik
und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Petra Bahr. Erst langsam suchten
Wissenschaftler, Therapeuten, Pädagogen, Terror- und Gewaltforscher gemeinsam
nach den Ursachen, die aus jungen Menschen islamistische Terroristen machen,
schreibt die Theologin in der aktuellen "Zeit"-Beilage "Christ und Welt".

Einigkeit besteht in einem Punkt: Der erbarmungslose Kämpfer, der mit


Kalaschnikow und Turban in einer Höhle lauert, ist ebenso ein Klischee wie der
junge, perspektivlose Mann, der in Syrien ein Abenteuer sucht. "Eher sind wir
diejenigen, die in der Höhe sitzen und immer hinterherlaufen", so beschrieb es
die pakistanische Entwicklungsberaterin Gulmina Bilal im vergangenen Sommer beim
Global Media Forum der Deutschen Welle.

Seither sind verschiedene Bücher erschienen über "Die neuen Dschihadisten"


(Peter Neumann) oder "Die Dschihad-Generation" (Petra Ramsauer). Weitere sind in
Planung, etwa "Wie der Dschihadismus über uns kam" des Politikwissenschaftlers
Asiem El Difraoui. Er spricht von der vierten Generation von Dschihadisten, die
inzwischen im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Europa Angst und Schrecken
verbreite.

Terroristen von Brüssel hatten "keine Ahnung mehr vom Islam"

Dschihadismus 4.0? Die Attentäter vom 11. September 2001 seien "noch auf einer
religiösen Sinnsuche" gewesen, erläuterte El Difraoui unlängst auf
sueddeutsche.de. Die Terroristen von Brüssel hätten dagegen "keine Ahnung mehr
vom Islam". Ihre Anführer setzten ihnen Koran-Suren vor "wie bei einem
Lego-Spiel". Am Ende bestehe das simple Bauwerk nur aus den schlimmsten,
hasserfüllten Stellen.

Wer dagegen ankommen will, der braucht gleichwohl intensives theologisches


Wissen, betont Thomas Mücke. Der Extremismusforscher leitet die Berliner
Beratungsstelle "Kompass" und ist Geschäftsführer des "Violence Prevention
Network". Die Berater müssten auch in exegetischen Debatten sattelfest sein,
sagt er und nennt ein Beispiel: "Im Koran gibt es eine frühe Offenbarung, laut
der nicht nur das Handeln eine Sünde ist, sondern auch das Nachdenken über
bestimmte Handlungen. Diese Offenbarung wird später wieder aufgehoben." Solch
tiefgehende Fragen, über die kaum ein Normalbürger Bescheid wisse, bewegten die
jungen Menschen, die ins radikale Lager abgedriftet seien.

Sichere Gruppe, Macht und eine Chance

Also geht es doch um eine Art spiritueller Sinnsuche? Laut Ahmad Mansour, der
bei der Berliner Beratungsstelle gegen Radikalisierung "Hayat" arbeitet, ist
Religion für viele Islamisten eher Mittel zum Zweck. Glaube und Spiritualität
spielten für sie eher eine untergeordnete Rolle, schreibt er in seinem Buch
"Generation Allah". Der rasche Aufstieg und das Gefühl, zu einer Elite zu
gehören, seien dagegen verlockend.

Ähnlich argumentiert der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit. Die Jugendlichen


hätten das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Das mache sie anfällig - vor allem in
der Pubertät.

"Die Betroffenen erleben eine Angst vor der Fragmentierung des eigenen Körpers,
die mit Worten wie Depression nur unzureichend beschrieben ist. Und dann bieten
ihnen die Dschihadisten eine sichere Gruppe, Macht und die vermeintliche Chance,
etwas zu erreichen." Diese psychologische Dimension, die durchaus Nährboden für
Terrorismus bilden könne, werde bislang unterschätzt, sagte auch der
französische Islamforscher Olivier Roy kürzlich der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung".

Herkunft taugt nicht als Entschuldigung für Terrorismus

Ausführlich beschrieben wurden dagegen die sozialen Faktoren, die die


Faszination für radikales Gedankengut zumindest teilweise erklären könnten. Die
deutsch-jüdische Schriftstellerin Gila Lustiger benennt sie in ihrem Buch
"Erschütterung": Sie erinnert an die Entwicklung der Banlieues - der
französischen Vororte, von denen heute viele soziale Brennpunkte sind. Sie
betont zugleich, dass diese Herkunft keine Entschuldigung für Terrorismus sein
kann.

Soziale Sinnsuche sei aber zumindest ein entscheidender Faktor, meint die
muslimische Theologin Hamideh Mohagheghi: Einsamkeit und Orientierungslosigkeit
zögen junge Menschen "dorthin, wo sie ein sinnvolles Leben vermuten".

UPDATE: 31. März 2016

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Freitag 1. April 2016 7:05 AM GMT+1


Griechenland;
Zwei von drei Flüchtlingen wollen nach Deutschland

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 306 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Meinungsforschungsinstitut hat in Griechenland festsitzende


Flüchtlinge nach ihrer Herkunft und ihren Perspektiven befragt. Ergebnis: Die
überwiegende Mehrheit will nach Deutschland.

Die meisten der in Griechenland festsitzenden Migranten und Flüchtlinge (68


Prozent) wollen nach Deutschland. 72 Prozent seien jünger als 35, ergab eine
Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Kapa Research für den Verband der
griechischen Regionalverwaltungen durchgeführt hat.

Gut 61 Prozent der Befragten haben nach der am Donnerstag veröffentlichten


Erhebung eine eher geringe Schulbildung von maximal neun Jahren.

83 Prozent sind danach sunnitische Muslime. 74 Prozent gaben an, sie stammten
aus Syrien. 70 Prozent sind geflohen, weil sie Angst um ihr Leben und das ihrer
Familie hatten, wie es hieß.

Als sekundäre Gründe für ihre Flucht gaben die Befragten an, in ihrer Heimat
würden die Menschenrechte verletzt, die wichtigsten Lebensmittel seien knapp,
die Infrastruktur sei zerstört. Andere wollten nicht zum Militär. In
Griechenland harren wegen der Schließung der Balkanroute für Flüchtlinge mehr
als 50.000 Menschen aus.

Abstimmung im Parlament

Indes stimmt das griechische Parlament am Freitag im Eilverfahren über die


nötigen Vorgaben zur Umsetzung des Flüchtlingspakts der EU mit der Türkei ab.
Wichtigster Bestandteil des entsprechenden Gesetzentwurfs ist die Rechtmäßigkeit
der geplanten Rückführungen von Flüchtlingen in die Türkei.

Wie sich aus dem Entwurf ergibt, würde mit den neuen Bestimmungen die Richtlinie
der EU zu Asylrecht und sicheren Drittstaaten übernommen. Das ist Voraussetzung
dafür, dass Migranten und Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden
können. Nach dem EU-Türkei-Flüchtlingspakt soll von Montag an die Rückführung
beginnen.

Die Übereinkunft sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die nach dem 20. März illegal
von der Türkei nach Griechenland übergesetzt sind, dann zwangsweise
zurückgebracht werden können. Vorher haben die Menschen jedoch das Recht auf
eine Einzelfallprüfung in Griechenland.

UPDATE: 1. April 2016

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Freitag 1. April 2016 11:56 AM GMT+1

Haushaltsstreit;
Länder rechnen mit Verdoppelung der Flüchtlingskosten

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 343 Wörter

HIGHLIGHT: Neuer Streit über Flüchtlingskosten: Die Länder erwarten dieses Jahr
offenbar Ausgaben von 16,7 Milliarden Euro, doppelt so viel wie 2015. Der Bund
soll einen zweistelligen Milliarden-Betrag übernehmen.

Über die Aufteilung der Flüchtlingskosten bahnt sich einem Zeitungsbericht


zufolge neuer Streit zwischen Bund und Ländern an. Nach einem Bericht des
"Handelsblatts" haben die Bundesländer in ihren Haushalten für das laufende Jahr
doppelt so viel Geld für die Integration von Flüchtlingen eingeplant wie 2015.

Demnach beläuft sich die für diesen Zweck vorgesehene Summe in den Etats auf
insgesamt 16,7 Milliarden Euro, wie das Blatt unter Berufung auf Anfragen in den
Staatskanzleien aller 16 Bundesländer schreibt. Dies entspreche Anteilen von
drei bis acht Prozent pro Landeshaushalt.

Milliarden für Integration

Der Bund hat der Zeitung zufolge aber nur knapp acht Milliarden Euro in sein
Budget eingestellt, wovon etwa vier Milliarden Euro an die Länder weitergegeben
werden sollen.

Dass die Zahl der neu ankommenden Menschen aus Syrien und anderen Staaten
zuletzt deutlich gesunken ist, entschärft das Problem dem Bericht zufolge nicht.

Der Großteil der für dieses Jahr angesetzten Kosten entfalle nämlich auf
Wohnungen sowie Sprach- und Integrationskurse für schon Angekommene.

"Wir brauchen eine neue Kostenverteilung in der Größenordnung, dass der Bund
einen zweistelligen Milliardenbetrag zusätzlich übernimmt", sagte die
rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) dem "Handelsblatt".
Bisher müssten Länder und Kommunen den allergrößten Teil der Integrationskosten
alleine schultern.

Mitte März hatten die Länder im Streit über die Flüchtlingskosten mit Verstößen
gegen die Schuldenbremse gedroht. Ihre Forderung, dass der Bund mindestens die
Hälfte der Flüchtlingskosten übernehmen müsse, hatte Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) aber bereits zuvor abgelehnt.
Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kam 2015 eine
Million Flüchtlinge nach Deutschland. Für das laufende Jahr legt sich die
Bundesregierung nicht auf eine Vorhersage fest. Inoffiziellen Angaben zufolge
hat Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Behördenleiter Frank-Jürgen Weise die
Vorgabe gemacht, das BAMF auf 500.000 Flüchtlinge auszurichten.

UPDATE: 1. April 2016

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Samstag 2. April 2016 7:02 AM GMT+1

Premier Netanjahu;
"Israel ist Europas wichtigste Verteidigungslinie"

AUTOR: Gil Yaron, Jerusalem

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 2623 Wörter

HIGHLIGHT: Für Premierminister Benjamin Netanjahu steht fest: Ohne Israel würde
sich der IS noch viel weiter ausdehnen. Die Flüchtlingskrise sei nur zu lösen,
wenn "man den militanten Islam an der Wurzel packt".

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu empfängt uns in seinem Büro, dem


sogenannten Aquarium, und legt gleich los: "Noch bevor wir mit dem Interview
beginnen, lassen Sie mich sagen, wie sehr ich Axel Springer schätzte. Mein Vater
traf ihn, kurz nachdem mein Bruder bei der Geiselbefreiungsoperation in Entebbe
1976 gefallen war. Sie trafen sich in Berlin in Springers Büro. Er nahm meinen
Vater ans Fenster, zeigte auf die Berliner Mauer und sagte ihm: ,Das ist eine
Trennlinie. Bis hier: Freiheit. Dort: Sklaverei.'"

Er freue sich, dass Deutschland zum 70. Jubiläum der "Welt" wiedervereint und
frei ist, so Netanjahu weiter. "Aber auf der Welt tobt ein neuer Krieg um
Freiheit, um grundlegende Menschenrechte, gegen eine noch viel grausamere
Ideologie - den militanten Islamismus. Er will die Welt erobern, viele
unterjochen und andere zerstören - darunter meinen Staat. Wir haben wieder eine
gemeinsame Mission: sicherzustellen, dass die Freiheit gewinnt."
Die erloschene und nur zur Hälfte gerauchte Zigarre wandert immer wieder vom
Aschenbecher in seine Hand, nur um nach mehreren Kreisen in der Luft wieder im
Ascher zu landen, wenn Netanjahu pointiert mit dem Zeigefinger auf den großen
Holzschreibtisch klopfen will, um ein Argument zu unterstreichen. Irgendwann
hält man die Zigarre für ein Requisit, beginnt zu zweifeln, ob er sie jemals
anzünden wird.

Die Welt: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Dennoch wird der
Ton gegenüber Israel auch in Deutschland immer kritischer. Nehmen Sie das zur
Kenntnis?

Benjamin Netanjahu: Natürlich nehmen wir das wahr, und es bereitet uns Sorge.
Zum einen, weil es nicht stimmt. Israel ist eine Insel des Friedens, des
Fortschritts und der Demokratie in einem Meer autoritärer Regime, die einen
radikalen Islam propagieren, der uns alle bedroht. Auch Europa, auch
Deutschland.

Die einzige Kraft im Nahen Osten, die ihnen die Stirn bietet, ist Israel. Eben
weil unsere Gesellschaft auf Freiheit und Grundrechten beruht. Dennoch werden
wir verleumdet, genau wie das jüdische Volk jahrhundertelang verleumdet wurde.
Dieselben Legenden, die einst gegen Juden erfunden wurden, werden jetzt gegen
den Judenstaat vorgebracht: dass wir Kindermörder sind, dass wir Krisen
schaffen.

Sie werden oft verbreitet von einem Bündnis von Islamisten und anarchistischen
Linken, die ihre Stimmen nicht erheben, wenn im Iran Homosexuelle an Kränen
aufgeknüpft oder in Gaza verfolgt werden. Doch Israel - die einzige Demokratie
in Nahost - wird verleumdet. Das ist falsch. Und es ist dumm. Weil Israel die
wichtigste Verteidigungslinie Europas in dieser Krisenregion ist.

Ohne Israel würde der westliche Nahe Osten zusammenbrechen, und es würden noch
einmal 100 Millionen Menschen zu denen, die bereits im Sog des islamistischen
Mahlstroms stecken, hinzukommen. Zweifellos würden viele von ihnen nach Europa
fliehen. Indem es sich selbst verteidigt, schützt Israel deswegen zugleich
Europa.

Die Welt: Wie das?

Netanjahu: Heute leben 50 Millionen Menschen unter dem Joch des militanten
Islam. Eine halbe Million wurde ermordet, acht Millionen sind auf der Flucht,
fast alle Richtung Europa. Mehr werden folgen. Deswegen müssen wir den IS
besiegen. Das ist möglich.

Israel, Jordanien und Ägypten werden gleichermaßen vom IS bedroht. Er ist jetzt
bereits in den Golanhöhen, kämpft im Sinai gegen Ägypten. Ohne Israel könnte man
die Ausdehnung des IS aber nicht verhindern. Man stelle sich vor, der IS brächte
die Bevölkerung dieser Länder unter seine Herrschaft. Wohin würde die fliehen?
Nach Europa!

Deswegen müssen wir dringend Ägypten und Jordanien den Rücken stärken - und
Israel, die wichtigste Kraft dieses Trios. Ohne Israel wäre der westliche Nahe
Osten nicht stabil, könnte zusammenbrechen. Die Konsequenzen eines solchen
Kollapses wären sofort in ganz Europa spürbar. Wenn es sich selbst verteidigt,
schützt Israel deswegen zugleich Europa.

Die Welt: Spielt die "Welt" in der Debatte um Israel für Sie eine besondere
Rolle?

Netanjahu: Zweifellos. In den Vereinten Nationen wird Israel ja verteufelt. Zum


Beispiel im Rat für Menschenrechte, wo die absolute Mehrheit der
landesspezifischen Resolutionen gegen Israel gerichtet ist - nicht gegen
Nordkorea, den Iran oder Syrien, sondern gegen die eine Demokratie.

Als ich zum ersten Mal zu den UN kam, traf ich einen berühmten Rabbiner, der mir
sagte: Gedenke, dass, wenn man im dunkelsten Zimmer eine einzige Kerze anzündet,
Menschen das Licht schon von Weitem sehen können. Ich hoffe, dass die "Welt"
nicht die einzige Stimme ist, die die Wahrheit verkündet. Noch gibt es auch
andere. Aber ich bin überzeugt, dass der einzige Weg, dunkle Lügen zu besiegen,
das Licht der Wahrheit ist.

Die Welt: Es gab anscheinend kürzlich Missverständnisse zwischen Ihnen und


Angela Merkel darüber, mit welcher Dringlichkeit die Bundesregierung das
Erreichen einer Zwei-Staaten-Lösung betrachtet. Glauben Sie noch an dieses
Konzept?

Netanjahu: Ich glaube nicht, dass aus den exzellenten Treffen mit der
Bundeskanzlerin Merkel irgendwelche Missverständnisse entstanden. Selbst wenn
manche schreiben, wie schwierig diese Treffen waren, stimmt genau das Gegenteil.
Auch bei unserer letzten Begegnung. Ich halte an der Idee eines
entmilitarisierten palästinensischen Staates fest, der den jüdischen Staat
anerkennt. Wie können die Palästinenser von uns erwarten, den Nationalstaat des
palästinensischen Volkes anzuerkennen, wenn sie nicht bereit sind, den
Nationalstaat des jüdischen Volkes anzuerkennen?

Die Lösung kann doch nicht sein, ihnen einen Staat im Westjordanland zu
schenken, 15 Kilometer von Tel Aviv entfernt, damit der zur islamistischen
Diktatur wird, die sich unsere Vernichtung auf die Fahnen schreibt. Das ist
nicht Frieden. Wir wollen gegenseitige Anerkennung zweier Nationalstaaten. Dazu
stehe ich.

Zweitens ist die Entmilitarisierung notwendig, vor allem angesichts des Hasses
und der Propaganda, mit denen die Palästinenser ihre Kinder seit Jahren füttern.
Sie bringen ihnen bei, dass das Ziel nicht ein Staat im Westjordanland ist,
sondern eigentlich die Zerstörung Israels, um nach Jaffa, Haifa und Akko (Städte
in Israels Kernland; Anm. d. Red.) zurückzukehren. Das wird jeden Tag
tausendfach in palästinensischen Kindergärten, Schulen und Moscheen in der
Westbank gesagt.

Deswegen, selbst wenn wir die gegenseitige Anerkennung erreicht haben, können
wir uns offensichtlich nicht darauf verlassen, dass sie sich ihrer Verpflichtung
zu Frieden auch dauerhaft verbunden fühlen. Deswegen müssen wir sicherstellen,
dass der zukünftige Palästinenserstaat entmilitarisiert ist. Und der einzige
Weg, das zu gewährleisten, ist, wenn Israel für die Sicherheit westlich des
Jordans verantwortlich ist.

Übrigens wäre das auch für die Palästinensische Autonomiebehörde gut. Als wir
Gaza verließen, wurde die PA ja innerhalb weniger Tage dort gestürzt, als die
Hamas sich an die Macht putschte. Das würde sich ohne die
Sicherheitsvorkehrungen, von denen ich sprach, im Westjordanland wiederholen.

Die Welt: Was ist in Ihrem Verhältnis zum amerikanischen Präsidenten Barack
Obama so schiefgelaufen?

Netanjahu: Zwischen Israel und den USA besteht eine großartige Bindung, die
über Präsidenten und Premierminister hinausgeht, weil sie auf gemeinsamen Werten
wie Demokratie, Freiheit, dem Ethos eines Neuanfangs in einem gelobten Land
beruht. Sehr tiefe, dauerhafte Bande. Umfragen sprechen von gewaltiger
Unterstützung für Israel. Sie liegt bei 70 Prozent und steigt weiter, während
nur 17 Prozent die Palästinenser unterstützen. Das spiegelt sich auch in den
Beziehungen zwischen unseren Regierungen.

Hatten wir Meinungsverschiedenheiten? Absolut, hauptsächlich hinsichtlich des


Abkommens mit dem Iran. Aber dennoch hatten wir stets eine respektvolle
Beziehung. Ungeachtet dessen erhielten wir konsequent Hilfe wie beim
Raketenabwehrprogramm, und das schätze ich zutiefst.

Die Welt: Haben Sie Ihre Meinung über das Atomabkommen mit dem Iran geändert?

Netanjahu: Wir sollten den Druck auf den Iran aufrechterhalten, damit er das
Abkommen erfüllt. Wir sollten iranischen Terror in der Region, der weiter
zunimmt, stoppen. Der Iran verletzt die Auflagen des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen für sein Raketenprogramm. Der Iran sollte die Auflagen aller
Resolutionen einhalten, auch jenseits des Atomabkommens.

Gerade jetzt errichtet der Iran eine zweite Front gegen Israel auf den
Golanhöhen. Er schickt der Hisbollah-Miliz moderne Raketen und andere Waffen, um
Krieg gegen Israel zu führen. Er unterstützt die Hamas, verspricht
Hinterbliebenen von Terroristen Tausende Dollar für jeden Israeli, den diese
töten. Er richtet Sabotagezellen in Jordanien ein.

Als der Iran unlängst eine ballistische Rakete testete, trug diese die
hebräische Inschrift: "Israel wird ausgelöscht werden". Dagegen muss man sich
wehren.

Die Welt: Selbst Israels beste Freunde in Deutschland verstehen Ihre


Siedlungspolitik nicht. Können Sie Ihre langfristige Vision für das
Westjordanland darlegen?

Netanjahu: Wir sind nicht wie Belgien, das eine Kolonie im Kongo errichtet. Wir
sind wie Belgier in Belgien. Die Verbindung des jüdischen Volks zur Westbank
reicht 4000 Jahre bis zum Stammvater Abraham zurück. Natürlich erkennen wir an,
dass auch ein anderes Volk auf diesem Land lebt, auch wenn es Tausende Jahre
später kam. Wir wollen sie nicht vertreiben.

Aber sie wollen uns vertreiben, aus dem ganzen Land! Sollten die Palästinenser
endlich mit uns verhandeln, was sie trotz meiner Angebote ablehnen, dann würden
wir die Siedlungsfrage miteinander ausarbeiten. Aber die ist nicht der Kern des
Problems.

Der Konflikt schwelte ein halbes Jahrhundert vor der Errichtung der ersten
Siedlung wegen der fehlenden Bereitschaft der Palästinenser, einen jüdischen
Staat grundsätzlich zu tolerieren, egal in welchen Grenzen. Die PLO - die
Palästinensische Befreiungsorganisation - wurde 1964 gegründet, drei Jahre bevor
wir die Westbank im Sechstagekrieg eroberten.

Welches Palästina sollten die befreien? Jaffa, Haifa, Akko, Tel Aviv. Und
nachdem wir den Gazastreifen geräumt hatten und alle Siedlungen dort abrissen,
bekamen wir nicht Frieden, sondern wurden zum Dank mit 15.000 Raketen
beschossen. Weshalb? Um die Westbank zu befreien? Nein, es ging wieder um Haifa,
Jaffa und Akko. Es geht nicht um Siedlungen, sondern um die hartnäckige,
kompromisslose Weigerung, den Judenstaat in jeglicher Form zu akzeptieren. Das
ist die Wahrheit, und sie wird irgendwann auch erkannt werden.

Die Welt: Was kann die internationale Staatengemeinschaft also für den
Friedensprozess tun?

Netanjahu: Diese unglaubliche Hetzkampagne in palästinensischen Kindergärten,


Schulen, Moscheen und den staatlichen Medien ansprechen, die die Auslöschung
Israels fordern. Das ist der Kern des Konflikts. Keiner spricht davon, sondern
nur von Siedlungen.

Man kann kein Leiden ohne die richtige Diagnose behandeln. Das ist die
Krankheitsursache! Wir haben die Verpflichtung zu fordern, dass die
Palästinenser endlich verinnerlichen, dass ihr Staat neben Israel und nicht
statt Israel errichtet werden sollte.

Die Welt: Israel hatte auch ein Flüchtlingsproblem - und bekam es in den Griff.
Was raten Sie europäischen Regierungen?

Netanjahu: Unlängst kamen Vertreter der deutschen Regierung, um von unseren


Erfahrungen mit der Integration großer Einwanderungsströme zu lernen. Die drei
wichtigsten Dinge sind: Sprache - wir haben besondere Sprachschulen, essenziell
für die Integration und die Vermittlung gesellschaftlicher Werte.

Zweitens: die Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Und drittens: die Einwanderer


übers ganze Land zu verteilen, statt sie an einem Ort zu konzentrieren. Doch es
ist eine Sache, Einwanderer aufzunehmen, und etwas anderes, mit einem Tsunami
von Flüchtlingen umzugehen. Viel wichtiger ist deswegen, diese Tragödie zu
beenden, die so viele Länder erfasst, indem man den militanten Islam an der
Wurzel packt.

Die Welt: War Deutschland naiv, als es bereitwillig so viele Flüchtlinge aus
dem Nahen Osten aufnahm?

Netanjahu: Nein, ich glaube, das sind verständliche Gefühle. Aber dennoch ist
eine internationale Anstrengung notwendig, um den IS zu besiegen. Das ist nicht
schwer. Man kann die Einnahmen des IS schmälern, indem man seine Ölquellen
zerstört. Man muss nicht ganz Irak und Syrien erobern. Die Nervenzentren des IS
befinden sich an fünf Orten in zwei Städten. Man kann dort gegen den IS
vorgehen.

Die Welt: Als Resultat der Flüchtlingswelle erfreuen sich rechte Populisten in
Europa großen Zulaufs. Sind die mögliche Partner für Israel oder eine weitere
Gefahr?

Netanjahu: Ich definiere Partner nicht mithilfe des politischen Spektrums,


sondern anhand der Frage, ob wir gemeinsame Werte haben. Jeder, der unsere Werte
teilt, ist in meinen Augen ein potenzieller Partner.

Die Welt: Sie waren ein glühender Befürworter der amerikanischen Invasion im
Irak. Doch viele Experten sehen heute in diesem Einmarsch den Beginn der
Instabilität in Nahost. Bereuen Sie Ihre damalige Haltung?

Netanjahu: Ich war immer überzeugt, dass es wichtig ist, Saddam Husseins
Aggression einzudämmen. Aber ich dachte zugleich, dass die größere Gefahr vom
Iran ausgeht. Das habe ich sehr oft gesagt. Saddam hat seine Nachbarn
schikaniert, aber der Iran strebt danach, ein Imamat einzurichten, das ist eine
imperiale Mission, die sehr gefährlich ist, vor allem wenn man sie mit
Atomwaffen koppelt.

Ich dachte damals, und so sagte ich das auch unseren amerikanischen Freunden,
dass ein Einmarsch im Irak nur Sinn ergibt, wenn man den schnellen Sieg über
Saddam, den ich voraussagte, dazu nutzt, um dem Iran ein Ultimatum zu stellen,
sein Atomprogramm umgehend zu beenden.

Es gibt zwei Gefahren, die die Welt bedrohen: der militante schiitische Islam,
der von der Islamischen Republik Iran angeführt wird, und der militante
sunnitische Islam, der vom IS ausgeht. Sie kämpfen zwar gegeneinander, aber nur
darum, wer eine islamische Welt beherrscht. Doch es steht für sie außer Frage,
dass diese Welt islamisch sein muss.

Und ganz nebenbei: Ich widerspreche der Auffassung, dass die Invasion im Irak
Ursache für die Instabilität der Region ist. Die Ursache des Problems sind die
Kräfte, die sich lang in der arabischen und muslimischen Welt angestaut haben,
nachdem man ein ganzes Jahrhundert für die politische und wirtschaftliche
Entwicklung der Menschen von Nordafrika bis Indien vergeudet hat.

Deswegen haben wir jetzt diesen Kampf zwischen diesen mittelalterlich anmutenden
Kräften, die manchmal mit unglaublicher Grausamkeit ausbrechen, und den Ideen
der Moderne, die für Rechte und Entscheidungsfreiheit steht, die den Menschen
Macht gibt. Das ist genau das Gegenteil der totalitären Idee eines
Herrenglaubens, die vom militanten Islam propagiert wird.

Die Welt: Es gibt die Sorge, dass in Israel das rechtsliberale Lager nicht nur
in Ihrer Likud-Partei, sondern in der Gesellschaft insgesamt auf dem Rückzug
ist. Wird Ihr Land weniger demokratisch?

Netanjahu: Es wird zu viel Negatives über Israel geschrieben, das so robust und
so frei ist. Gerade erst hat der Oberste Gerichtshof mit fünf Richtern, von
denen einer ein Araber ist, ein Urteil gegen den Premierminister, gegen mich,
gefällt. Ich bin enttäuscht. Aber es steht außer Frage, dass ich mich diesem
Urteil beugen und andere Wege suchen werde, um das Erdgas vor Israels Küste zu
erschließen.

Das zeigt, wie robust unsere Demokratie ist, nicht nur im Vergleich zu unseren
Nachbarn, sondern im Vergleich zu jeder anderen Demokratie. Zeigen Sie mir einen
anderen demokratischen Staat so groß wie Hessen, der mit insgesamt 25.000
Raketen beschossen wurde, ständig von Terror bedroht wird - und dennoch
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Unabhängigkeit der Justiz und völlige
Redefreiheit bewahrt. Das sollte man im Auge behalten, bevor man über Israel
urteilt.

UPDATE: 2. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Sonntag 3. April 2016 9:06 AM GMT+1

Türkischer Staatschef;
Erdogan prangert Hetze gegen Islam im US-Wahlkampf an
RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 421 Wörter

HIGHLIGHT: Recep Tayyip Erdogan beklagt während der Einweihung der größten
US-Moschee die Islamfeindlichkeit in den USA. Er kritisiert ausdrücklich die
hetzerische Rhetorik "bestimmter Präsidentschaftsbewerber".

Bei seinem Besuch in den USA hat der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan
Islamfeindlichkeit als Reaktion auf Anschläge von Extremisten beklagt und dabei
auch die Rhetorik im Rennen um die US-Präsidentschaft kritisiert. Der
"Terrorismus hat keine Religion", sagte Erdogan bei der Einweihung einer
komplett von der Türkei finanzierten Moschee in Lanham im Bundesstaat Maryland.
Viele ließen dies aber außer Acht.

"Leider machen wir Muslime, die durch den Terrorismus in aller Welt geschlagen
sind und auf die nach den Attentaten oft mit dem Finger gezeigt wird, eine
schwierige Zeit durch", sagte der türkische Staatschef vor Tausenden Zuhörern
und nannte die Anschläge in Brüssel und Paris sowie die Anschläge vom 11.
September 2001 auf die USA. Muslime zahlten "den Preis" des Argwohns wegen
"einer Handvoll Terroristen".

Erdogan kritisierte ausdrücklich die "hetzerische Rhetorik bestimmter


Präsidentschaftsbewerber in den USA". Der führende US-Präsidentschaftsbewerber
Donald Trump hatte nach einem islamistisch motivierten Anschlag im
kalifornischen San Bernardino Anfang Dezember ein generelles Einreiseverbot für
Muslime in die USA gefordert.

Erdogan weiht größte Moschee in den USA ein

Die nun eingeweihte Moschee des islamischen Zentrums Diyanet solle "eine
entscheidende Rolle" dabei spielen, die USA mit dem Islam auszusöhnen, sagte
Erdogan. Die muslimische Gemeinschaft trage "zur Stärkung der USA" bei.

Die neue Moschee im 10.000-Einwohner-Ort Lanham wurde für rund 110 Millionen
Dollar (97 Millionen Euro) im Stil der ottomanischen Architektur des 16.
Jahrhunderts erbaut. Sie soll die größte Moschee der USA sein und hat als
einzige im Land zwei Minarette.

Vor der Moschee-Einweihung hatte Erdogan am Donnerstag und Freitag an einem


internationalen Nukleargipfel in Washington teilgenommen.

Am Rande des Gipfels hatte er US-Präsident Barack Obama getroffen. Zunächst


hatte es geheißen, Obama werde Erdogan nicht wie andere Staatschefs zu einem
Einzelgespräch empfangen. Dies war als Affront gegen den türkischen Präsidenten
gesehen worden.

Für Spannungen in den Beziehungen zwischen Washington und Ankara sorgt unter
anderem der Streit über den Umgang mit kurdischen Kämpfern im Bürgerkriegsland
Syrien. Obama äußerte sich zudem nach seinem Treffen mit Erdogan "beunruhigt"
über dessen Umgang mit der Pressefreiheit.

In der Türkei war kürzlich die regierungskritische Zeitung "Zaman" unter


Zwangsverwaltung gestellt worden. Außerdem läuft ein Spionageprozess gegen zwei
führende Journalisten der Zeitung "Cumhuriyet".
UPDATE: 3. April 2016

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Sonntag 3. April 2016 11:27 AM GMT+1

Martin Schulz;
"Lieber Herr Erdogan, Sie sind zu weit gegangen"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 655 Wörter

HIGHLIGHT: EU-Parlamentspräsident Schulz fordert im Satire-Streit eine klare


Haltung gegenüber Erdogan. Sein Verhalten sei "nicht hinnehmbar". Eine
Vermischung mit dem Flüchtlingsdeal lehnt er aus einem Grund ab.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hat scharfe Kritik an der Auslegung


der Pressefreiheit durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geübt.

Es sei "ein starkes Stück" und "nicht hinnehmbar, dass der Präsident eines
anderen Landes verlangt, dass wir in Deutschland demokratische Rechte
einschränken, weil er sich karikiert fühlt", sagte Schulz der Zeitung "Bild am
Sonntag". "Wir müssen Erdogan klar machen: In unserem Land gibt es Demokratie.
Ende."

Schulz forderte eine klare Haltung gegenüber dem türkischen Staatschef. Er kenne
Erdogan "lange und gut". "Er ist ein Mann klarer Worte. Er versteht aber auch
klare Worte. Und hier muss man sagen: Lieber Herr Erdogan, Sie sind einen
Schritt zu weit gegangen. So nicht", forderte der SPD-Politiker. Schließlich sei
Satire "ein Grundelement der demokratischen Kultur", mit dem Politiker zu leben
hätten - "auch der türkische Staatspräsident".

Wegen eines Satirebeitrags des NDR-Magazins "extra 3" über Erdogan hatte die
türkische Regierung den deutschen Botschafter in Ankara, Martin Erdmann,
einbestellt und eine Löschung des Beitrags gefordert. "Wir dürfen zu
Grundrechtsverletzungen in der Türkei nicht schweigen, nur weil wir in der
Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten", mahnte Schulz. Vielmehr müsse die EU "diese
Verstöße anprangern und permanent über Meinungsfreiheit und Menschenrechtsfragen
mit der Türkei diskutieren".
Rückführung von Flüchtlingen beginnt am Montag

"Ein Land, in dem der Staatspräsident Diplomaten öffentlich attackiert, weil sie
einen Prozess beobachten, gehört ebenfalls öffentlich angeprangert", sagte
Schulz. Auch die Eskalation des Kurden-Konflikts müsse thematisiert werden.
"Hier kann es keine militärische Lösung geben, die Türkei muss zum
Friedensprozess zurückkehren", verlangte der Europapolitiker.

Eine Vermischung des Flüchtlingsdeals mit EU-Beitrittsverhandlungen und


möglichen Visaerleichterungen lehnte Schulz ab. Es werde "keinen Rabatt" geben.
"In der Flüchtlingspolitik kooperieren wir mit etlichen Ländern, die nicht das
Eldorado der Demokratie sind. Und wir schließen den Pakt nicht mit Herrn
Erdogan, sondern mit der türkischen Republik", hob Schulz weiter hervor.

Im Hinblick auf das am Montag in Kraft tretenden Abkommen mit der Türkei rechnet
Schulz mit einem Durchbruch bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. "Ich bin
optimistisch, dass die Verteilung klappt", sagte Schulz weiter. "Alle EU-Staaten
haben dieser Regelung zugestimmt."

Allein Deutschland sei bereit, 40.000 Flüchtlinge aufzunehmen, Frankreich


30.000, Portugal 10.000, sagte Schulz. "Und wenn wir es einmal geschafft haben,
ein Kontingent in der EU zu verteilen, bin ich zuversichtlich dass es ab dann
funktionieren wird." Er erwarte eine generelle Entspannung: "Ich bin mir
ziemlich sicher: 2016 werden wir nicht denselben Druck spüren wie letztes Jahr",
sagte Schulz.

Drei Gründe für Entspannung in Flüchtlingskrise

Zur Begründung verwies der EU-Parlamentspräsident darauf, dass es derzeit


"mehrere positive Entwicklungen" gebe: Der Waffenstillstand in Syrien halte
schon länger als zwei Wochen. Ferner werde die Dschihadistenmiliz Islamischer
Staat (IS) zurückgedrängt.

Mit den auf der Geberkonferenz in London beschlossenen Hilfsgeldern für den
Libanon und Jordanien würden zudem die Bedingungen in den Flüchtlingslagern dort
klar verbessert. Träten dazu die Rücknahmeabkommen in Kraft, sei er
"zuversichtlich dass sich der Flüchtlingszuzug reduzieren wird".

Auch für Italien erwartet Schulz eine weit weniger dramatische Situation als
derzeit in Griechenland. "Italien hat anders als Griechenland bereits Hotspots
an seinen Südgrenzen errichtet", hob der EU-Parlamentspräsident hervor.

"Die italienische Regierung ist gut vorbereitet. Ich glaube auch nicht, dass so
viele Menschen übers Mittelmeer kommen werden." Im nächsten Jahr werde die EU
"die Krise wohl nicht komplett bewältigt haben", sagte Schulz, er sehe aber
"einen Silberstreifen am Horizont".

UPDATE: 3. April 2016

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Montag 4. April 2016 9:37 AM GMT+1

Irak;
Kurz vor dem Sieg kracht es in der Anti-IS-Allianz

AUTOR: Alfred Hackensberger, Erbil

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1471 Wörter

HIGHLIGHT: Die kurdischen und irakischen Truppen stehen vor der wichtigsten
IS-Hochburg Mossul - doch nun drohen die autonomen Kurden mit Unabhängigkeit. An
der Front sind die Spannungen zu spüren.

Es ist ein sonniger Frühlingstag. Perfektes Wetter für Kampfflugzeuge. Ihr


Dröhnen liegt ständig in der Luft. In der Ferne steigt dicker, schwarzer Rauch
in den Himmel. "Dort haben sie vor einer halben Stunde bombardiert", sagt
Peschmerga-Offizier Sanhan. Er ist der Kommandeur von Sultan Abdullah, dem
letzten Außenposten vor dem Gebiet der Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
südöstlich von Mossul. Von der Stellung auf einem Hügel hat man einen guten
Ausblick über die weite Ebene.

"Direkt vor uns, in etwa 1500 Meter Entfernung, sitzt der IS", erklärt der
Kommandeur und deutet nach unten. "Hier links sind noch andere Dörfer unter
Kontrolle der Terroristen. Die Iraker wollten sie erobern, sind aber
gescheitert." Sahan und die umstehenden Soldaten grinsen abschätzig. Die Iraker,
das sind die anderen. Denn auch wenn das kurdische Autonomiegebiet im Norden des
Landes formal noch immer zum Irak gehört, fühlen sich die Kurden hier unabhängig
- und schon lange kämpfen ihre Peschmerga-Truppen vor allem für die eigene
Sache.

Keiner hier hält viel von der irakischen Armee, die am 24. März die seit Langem
erwartete Offensive auf Mossul startete. Die zweitgrößte Stadt des Irak war den
Dschihadisten im Juni 2014 in die Hände gefallen. Die irakischen Truppen hatten
Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Mit der Rückeroberung der Stadt an der
Grenze zu Syrien will die Armee ihren Fehler von damals ausbügeln. In Sultan
Abdullah glaubt daran jedoch keiner der Peschmerga-Soldaten.

"Sehen Sie dort, die beiden Dörfer Baker und Kudilla", erklärt Sanhan. "Wir
haben sie mit den Irakern eingenommen und sie ihnen dann überlassen. Als der IS
zurückkam, sind sie einfach abgezogen. Dann mussten wir die beiden Dörfern
wieder erobern, um sie endgültig den Irakern zu übergeben." Aber die seien nicht
wieder gekommen. "Seit zehn Tagen tritt die irakische Armee in diesem Gebiet auf
der Stelle", resümiert Sahan.

Bei der Kabinettsreform wurden die Kurden übergangen


Die Truppen Bagdads scheinen erneut ihrem schlechten Ruf gerecht zu werden. Mit
Unterstützung der Peschmerga könnten sie etwas bewirken. Aber ausgerechnet der
entscheidende Kampf um die IS-Hochburg wird von einer politischen Krise
überschattet. Das neue Kabinett, das der irakische Premierminister Haidar
al-Abadi dieser Tage ernannte, sollte ein positive Wende für den zerstrittenen
Irak bringen. Aber der Premier ignorierte dabei ausgerechnet eine der
wichtigsten Minderheiten des Landes, die Kurden.

Die kurdische Autonomieregierung wurde nicht konsultiert, die Anzahl ihrer


Ministerposten verringert und die beiden verbliebenen kurdischen Amtsträger von
Abadi selbst ausgesucht. In Regierungskreisen ist man erbost, und das alte
Unternehmen Unabhängigkeit ist für die Kurden wieder hochaktuell geworden.

"Wir bekämpfen den IS", sagt ein kurdischer Regierungsvertreter, "wir haben 1,8
Millionen Flüchtlinge, darunter 700.000 Araber hier aufgenommen, ohne einen Cent
aus Bagdad zu bekommen." Obendrein zahle Bagdad seit sieben Monaten keine
Beamtengehälter mehr aus. Und nun die Sache mit den Kabinettsposten. "Das ist
ein unzumutbarer Affront. Wir können uns nicht länger als Sklave behandeln
lassen. Sollte sich diese Situation nicht ändern und keine zügige und
zufriedenstellende Einigung zustande kommen, bleibt nur der Schritt in die
Unabhängigkeit." Solche Warnungen hört man derzeit oft in Erbil.

Noch 60 Kilometer bis zur Hochburg des IS

Die neue politische Krise und die Drohung mit der Unabhängigkeit kommen zum
schlechtestmöglichen Zeitpunkt. Bei der Offensive auf Mossul müssten alle
Beteiligten an einem Strang ziehen, um die Extremisten des IS zu besiegen. Der
Erfolg der Offensive auf Mossul ist gefährdet, noch bevor sie richtig begonnen
hat.

Von diesen Problemen will der irakische Oberbefehlshaber für Mossul nichts
wissen. Generalmajor Nadschim al-Dschuburi kennt nur Iraker, wie er sagt, völlig
unabhängig von ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund. Von einem
Stillstand oder sogar einem Scheitern der Offensive könne keine Rede sein. Er
besucht gerade die Truppen an der Front. Auf einer Artilleriebasis stehen
Soldaten in Reih und Glied, um seiner Rede über die Bedeutung ihres Einsatzes zu
lauschen. "Alles läuft genau nach Plan", versichert al-Dschuburi nach dem Ende
der Ansprache.

Offiziere umringen ihn, im Hintergrund stehen imposante


150-Millimeter-Geschütze, die eine Reichweite von 25 Kilometern haben. "Unser
erstes Ziel ist erfüllt", sagt der Generalmajor. "Wir machen den Job, für den
wir gekommen sind." Er gibt seinem Assistenten ein Zeichen, worauf dieser auf
seinem Handy Fotos von toten IS-Kämpfern zeigt. Mit einem Fingerwischen folgt
eine blutige Leiche auf die andere, insgesamt 27. "Das war im Dorf Kharbadan",
ergänzt al-Dschuburi. "Wir tun, was wir tun müssen."

Als nächster Schritt stünde die Überquerung des Tigris auf der Agenda. Dafür
werde es in den nächsten Tagen eine große Operation geben. Auf der anderen
Uferseite will die Armee in Richtung Norden auf Mossul vorstoßen. Über den
weiteren Ablauf der Offensive und über den Zeitrahmen wollte al-Dschuburi
dagegen nichts sagen. "Die Einsatzzentrale in Bagdad macht die Pläne, und wir,
als Soldaten, sind dazu da, sie umzusetzen." Noch trennen der Tigris und über 60
Kilometer die Armee von der Stadtgrenze Mossuls. Der Angriff auf Mossul müsse
präzise wie ein chirurgischer Eingriff erfolgen. "Wir wollen nicht das Leben
unserer eigenen Landsleute gefährden", sagt der General. Noch immer soll sich
etwa die Hälfte der vormals zwei Millionen Einwohner in der vom IS beherrschten
Stadt aufhalten.
"Die Iraker planen schlecht und kommen nicht von der Stelle"

Al-Dschuburi gibt sich rundum optimistisch. Er sei "glücklich" über den


bisherigen Verlauf der Offensive. Nach den Siegen in Ramadi und Samarra habe die
irakische Armee wieder einmal bewiesen, wie gut sie sei. "Ohne Panzer,
Spezialeinheiten und schiitische Hilfstruppen haben wir auch hier den IS in die
Flucht geschlagen." Der Generalmajor blickt kurz auf seine Uhr, und Momente
später führen ihn maskierte Leibwächter mit Gewehren im Anschlag zu seinem
gepanzerten Geländewagen. Es geht zurück in die Militärbasis nach Machmur.

Etwas außerhalb dieser Kleinstadt liegt auch das Black Tiger Camp, das
Hauptquartier der Peschmerga. Hier trifft man auf einen leicht entnervten Sirwan
Barsani. Der Neffe von Präsident Massud Barsani ist der Oberkommandeur der
kurdischen Truppen.

Er hat vom Beginn der Offensive der irakischen Armee eher zufällig erfahren.
"Ich war in Paris, als man mich nachts per Telefon informierte", erzählt der
General, dem die irakische Operation viel zu lange dauert und viel zu lasch
geführt ist. "Die Iraker planen schlecht und kommen nicht von der Stelle",
lautet seine Kritik. Dadurch erhöhe sich das Sicherheitsrisiko immens. "Mit
Tausenden von neuen arabischen Soldaten ist es fast unmöglich, Sicherheit zu
garantieren", führt Barsani aus und verweist auf den Selbstmordanschlag vom
letzten Donnerstag in Machmur. "Die IS-Täter gaben sich am Checkpoint als
arabische Armeeangehörige aus."

Um weitere Anschläge zu vermeiden, müsse die Terrormiliz militärisch möglichst


schnell und umfassend in die Defensive gedrängt werden. "Aber dazu sind die
Iraker nicht fähig. Wenn sie so weitermachen, werden sie Mossul nie
zurückerobern", sagt Barsani. Die Peschmerga könnten wesentlich besser kämpfen,
aber bisher gebe es keinen Einsatzbefehl aus Bagdad. "Wir haben dem IS an einem
Tag 22 Dörfer abgenommen", sagt er frustriert. Er hält nicht nur die irakische
Armee für einen hoffnungslosen Fall, sondern auch die Nation, die sie
verteidigen soll.

"Wer ehrlich ist, muss zugeben, dass der irakische Staat keinerlei Nutzen hat",
sagt Barsani resolut. Im Gegenteil: Solange das künstliche Gebilde
weiterbestehe, würden nur noch mehr Menschen im Namen von Religion und
Machtinteressen hingeschlachtet. Die Republik müsse endlich aufgeteilt werden,
und zwar in drei Teile: jeweils einen für Sunniten, Schiiten und Kurden. "Nur
dann hört das Blutvergießen auf", glaubt Barsani. Für ihn ist die politische
Krise um das neue Kabinett kein unmittelbarer Anlass, um jetzt die
Unabhängigkeit Kurdistans zu fordern. Ginge es nach General Barsani, dann wäre
das schon längst geschehen. Für ihn scheint ein unabhängiges Kurdistan längst
eine ausgemachte Sache zu sein, die keine neuen Provokationen aus Bagdad nötig
hat. Beim Abschied sagt er mit einem breiten Grinsen: "Ich gehe davon aus, dass
ich Sie bald zur Verkündung der Unabhängigkeit Kurdistans empfangen kann."

Aber ist da nicht noch die Offensive von Mossul, die erst abgeschlossen werden
muss? Der irakische Generalstab wird in den nächsten Tagen eine neue große
Operation starten. Sie soll auf den strategischen und taktischen Vorgaben von
Kommandeur Barsani basieren. Anscheinend wird doch nicht alles so heiß gegessen,
wie es derzeit gekocht wird.

UPDATE: 4. April 2016

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Montag 4. April 2016 10:51 AM GMT+1

Geldwäscheskandal;
Diese Namen stehen in den Panama Papers

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 695 Wörter

HIGHLIGHT: Politiker, Sportler und Prominente sollen ihr Geld in den


Briefkastenfirmen versteckt haben. Selbst Präsidenten stehen auf der
Namensliste. Ihre Reaktionen sind bezeichnend.

In internationaler Recherchearbeit haben etliche Medien dubiose Finanzgeschäfte


immensen Ausmaßes aufgedeckt. Über Briefkastenfirmen hätten Spitzenpolitiker,
Geschäftsleute, Kriminelle, Sportstars und andere Prominente über Jahre Geld
versteckt, berichteten die "Süddeutsche Zeitung" und mehr als 100 andere Medien
unter Berufung auf ein riesiges Datenleck bei einer Kanzlei in Panama.

Die Staatsanwaltschaft Panamas hat die Ermittlungen zu den Vorwürfen


eingeleitet, die dortige Regierung versprach volle Kooperation. Mit der
Veröffentlichung der Daten geraten mehrere amtierende Staats- und
Regierungschefs unter Druck. Ein Überblick.

Mauricio Macri, Präsident Argentiniens: Die Offshorefirma war eine


Familienangelegenheit. Sein Büro ließ verlauten, dass Macri nur vorübergehend
eingetragener Geschäftsführer der Firma in Panama war. Er selbst halte kein
Kapital darin.

Sigmundur David Gunnlaugsson, Islands Premierminister: Seine Offshorefirma soll


Millionen von US-Dollars in Anleihen einer gescheiterten isländischen Bank
halten. Anfang März noch beantwortete Gunnlaugsson die Frage, ob er jemals
Anteile an einer Offshorefima gehalten habe, mit "Nein". Er habe zwar für
isländische Firmen gearbeitet, die mit Offshorefirmen zusammengearbeitet hatten,
sein Vermögen und das seiner Familie aber habe er stets nach geltendem
isländischem Recht angegeben.

König Salman von Saudi-Arabien: Saudische Offshorefirmen sollen Luxusimmobilien


in der Londoner City finanzieren. Der Monarch tritt nur selten öffentlich auf,
eine Reaktion auf das Datenleck gibt es nicht.

Petro Poroschenko, ukrainischer Präsident: Seine Briefkastenfirma soll 2014


gegründet worden sein, zwei Monate nach seiner Wahl zum neuen ukrainischen
Präsidenten. Die Pressestelle des Präsidenten teilte mit, Prime Asset Partners
Limited - so der Name der Firma - sei "Teil des Prozesses", Poroschenkos
Vermögen in einen sogenannten Blind Trust zu überführen, wobei Poroschenko keine
Kenntnisse über die Bestände haben soll.

Scheich Khalifa bin Zayed al-Nahyan, Emir und Premierminister des Emirates Abu
Dhabi: Die britische Firma, die al-Nahyan hierbei vertritt, war nach eigenen
Angaben "nicht in der Lage", die Vorwürfe zu kommentieren.

Scheich Hamad bin Jassim bin Jabor Al-Thani, Ministerpräsident von Katar: Sein
Anwalt ließ verlauten, dass er "nicht das Recht habe", auf die Vorwürfe zu
antworten. Er berief sich auf die anwaltliche Schweigepflicht.

Lionel Messi, Fußballer: Der Barca-Superstar soll zur Hälfte an einer


Briefkastenfirma beteiligt sein. Deren Name: Mega Star Enterprises, an ihr war
auch sein Vater Jorge Horacio Messi beteiligt. Bis "vor wenigen Wochen" sei die
Firma noch aktiv gewesen.

Familie des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew: In ein ganzes


"Geflecht von Offshorefirmen" sollen die Alijews verwickelt sein. Ihre
Geschäftsgrundlage sei der Goldhandel. Der Alijew-Klan reagierte auf wiederholte
Anfragen für eine Stellungnahme nicht.

Sergej Roldugin, Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Über


Offshorefirmen soll Roldugin Einfluss auf Rüstungs- und Medienbetriebe in
Russland erhalten haben. Roldugin selbst antwortete auf Anfragen nicht.
ICIJ-Reporter aber fingen den Musiker Ende März nach einem seiner Konzerte in
Moskau ab. Auf Anschuldigungen sagte er, dass er mehr Zeit für die Prüfung der
Fragen benötige.

Hafez und Rami Machluf, Cousins von Syriens Machthaber Baschar al-Assad: Die
beiden Brüder waren an einer Reihe von Briefkastenfirmen beteiligt. Beide ließen
Anfragen zu ihnen unbeantwortet.

Ian Cameron, Vater des britischen Premierministers David Cameron: Eine


Briefkastenfirma soll dazu genutzt worden sein, Steuern in Großbritannien zu
sparen. Auf Reporteranfragen des "Guardian" reagierte Cameron nicht. Sein Vater
verstarb am 8. September 2010.

Alaa Mubarak, Sohn des 2011 gestürzten ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak:
Eine Briefkastenfirma soll eine Untersuchung der Finanzbehörden ausgelöst haben.
"Kein Kommentar", hieß auch hier die Antwort.

Pilar de Borbón, Schwester des früheren spanischen Königs Juan Carlos: Auf
wiederholte Anfragen reagierte de Borbón nicht. Die Investments in
Offshorefirmen datieren zurück bis in die 70er-Jahre.

UPDATE: 4. April 2016

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Mittwoch 6. April 2016 1:33 PM GMT+1

Mittelstand;
Diese Belohnungen fordern Firmen für Flüchtlingsjobs

AUTOR: Carsten Dierig

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 914 Wörter

HIGHLIGHT: Deutsche Firmen wollen Flüchtlinge einstellen. Aber nicht einfach so.
Sie fordern Gegenleistungen - doch die sind für die Politik zu heikel. Am Ende
könnte das passieren, was niemand will: gar nichts.

Deutschlands Mittelstand will sich für Flüchtlinge engagieren, aber nicht ohne
Gegenleistung der Politik. Das offenbart die aktuelle Mittelstandsumfrage der
"Welt am Sonntag". Geht es nach befragten Unternehmern, soll das deutsche
Arbeitsrecht für die Flüchtlinge geschliffen werden: Insbesondere die
Vorrangprüfungen und den Mindestlohn sehen die Manager als Hürde zur Integration
der Neuankömmlinge in den hiesigen Arbeitsmarkt. Zum anderen bemängeln sie
fehlende Sprachkurse.

Besonders deutlich wird Tina Voß vom gleichnamigen Zeitarbeitsanbieter in


Hannover. "Flüchtlinge sind in der Zeitarbeit ein Riesenthema - eben weil sie
keines sein dürfen", klagt die Unternehmerin. Dabei sei Zeitarbeit
typischerweise das einfachste Mittel, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu
integrieren.

Zwar hat die Politik die Regeln zuletzt schon gelockert. Statt wie bislang nach
vier Jahren dürfen Asylbewerber und Flüchtlinge nun schon nach 15 Monaten als
Zeitarbeiter angestellt werden. Voß hält diese Frist aber noch immer für
deutlich zu lang. "Die Politik sollte die Zeitarbeit endlich als ein
Integrationsmittel begreifen und die Regelungen analog zu anderen
Beschäftigungsformen anpassen."

Sprachförderung soll Barrieren einreißen

Hilfe erwartet der Mittelstand zudem beim Thema Sprachförderung. "Beschäftigung


ist der Erfolgsbaustein für Integration - und Sprache ist die Voraussetzung für
eine Beschäftigung", sagt zum Beispiel Karsten Wulf, der Geschäftsführer des
Callcenter-Betreibers buw aus Osnabrück. Das meint auch Michael Popp, der
Eigentümer und Vorstandschef des Naturarzneimittel-Herstellers Bionorica aus
Neumarkt in der Oberpfalz.

"Kommunikation ist die Grundvoraussetzung für das tägliche Miteinander", sagt


der Unternehmer. "Dann stellen wir gerne Flüchtlinge ein." Es gebe schließlich
gute Ärzte in Syrien. "Mit denen können wir arbeiten."
In der Pflicht sehen die Unternehmer dabei die Bundesregierung. "Die Politik
muss hier unterstützend wirken und dementsprechende Programme schaffen", fordert
Helmut Hilzinger, der Geschäftsführende Gesellschafter des badischen
Fensterherstellers Hilzinger. Und auch Axel Schweitzer vom Berliner
Recyclingdienstleister Alba stellt klar: "Sprache und Schulausbildung sind
Kernaufgaben des Staates." Erst die anschließende berufliche Ausbildung sei dann
eine gemeinsame Sache von Staat und Unternehmen.

Berlin dürfte dem Drängen der Mittelständler kaum nachgeben. Eine Abschaffung
des Mindestlohns und der Vorrangprüfung würde den deutschen Arbeitsmarkt
erschüttern und die Aussichten für Geringqualifizierte weiter schmälern. Doch
diese Bevölkerungsgruppe hat jetzt schon die größten Vorbehalte gegen die
Flüchtlinge. Die Wünsche des Mittelstandes scheinen politisch nicht
durchsetzbar.

Flüchtlinge sollen Fachkräftemangel lindern

Ihre Fühler strecken die Unternehmen aber schon jetzt aus. Denn der Bedarf an
Arbeitskräften ist vorhanden. "Aufgrund des Fachkräftemangels wäre es
wünschenswert, dass sich in diesem Bereich etwas tut", mahnt Fensterproduzent
Hilzinger. Wie auch andere Mittelständler bietet sein Unternehmen Flüchtlingen
Praktika an, um den Einstieg in die Branche zu ebnen. Beim schwäbischen
Gerüstbauanbieter Peri hat ein Praktikant sogar schon so weit überzeugt, dass er
im September als Azubi im Bereich Mechatronik anfängt.

Auch Marie-Christine Ostermann sieht die Voraussetzungen grundsätzlich gegeben.


"Manche Flüchtlingskinder sind zwar schwer für den Unterricht zu interessieren.
Viele von ihnen bringen aber eine unglaubliche Motivation mit", sagt die
Geschäftsführende Gesellschafterin des westfälischen Lebensmittelgroßhändlers
Rullko. "Sie sind mutig, wollen unbedingt lernen, einen guten Schulabschluss
schaffen und etwas aus ihrem Leben machen", beschreibt die Unternehmerin mit
Verweis auf eigene Erfahrungen. "Ein Mitglied unserer Familie hilft in Schulen,
Flüchtlingskinder zu unterrichten und ihnen Deutsch beizubringen."

Mit der Sprache alleine ist es Ostermann zufolge aber nicht getan. "Der
Mindestlohn ist eine hohe Hürde", sagt die 38-Jährige. "Solange der auch für
Flüchtlinge gilt, werden viele von ihnen große Schwierigkeiten haben, eine
Beschäftigung zu finden", ist Ostermann überzeugt. Das befürchtet auch buw-Chef
Wulf. Er schlägt vor, bei Flüchtlingen den Mindestlohn wenigstens für zwei Jahre
auszusetzen. "Integration und Beschäftigung muss vor der Höhe des Einkommens
stehen", begründet er seine Idee.

Daniel Terberger bezeichnet den Mindestlohn daher schon als


"Hinderungsinstrument" für die gewünschte Integration. "Unser Arbeitsrecht ist
gemacht für eine Wohlstandsgesellschaft und angelegt auf Besitzstandswahrung.
Das geht dann am Ende zulasten der Schwächeren", sagt der Vorstandsvorsitzende
des Bielefelder Modedienstleisters Katag.

Konjunkturelle Lage getrübt

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise erfordert also noch viel Kraft und
Anstrengung sowie Entgegenkommen der Politik, signalisieren die Mittelständler.
Und das in einer Situation, in der sie vielfach mit sich selbst beschäftigt
sind. Denn mit Blick auf die eigene konjunkturelle Lage ist die Stimmung eher
getrübt. Das zeigt der Mittelstandsindex aus der regelmäßigen Befragung der
"Welt am Sonntag".

Der Wert von 2,75 - die Skala reicht von minus zehn bis plus zehn - bedeutet
einen kräftigen Einbruch von fast einem Punkt gegenüber der letzten Umfrage im
Dezember 2015. Und der Ausblick für die kommenden drei Monate ist mit 2,5
Punkten noch mal schlechter als die aktuelle Lagebewertung.

Mitarbeit: Benedikt Fuest, Tobias Kaiser

UPDATE: 6. April 2016

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Freitag 8. April 2016 1:16 PM GMT+1

Erster Weltkrieg;
Die wahre Pistolenkugel des Lawrence von Arabien

AUTOR: Sven Felix Kellerhoff

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 701 Wörter

HIGHLIGHT: In seinen Memoiren soll sich der Brite Thomas E. Lawrence, der die
Araber gegen die Osmanen führte, viele Freiheiten erlaubt haben. Der Fund eines
Geschosses an der Hedschasbahn spricht dagegen.

Überführt nach 99 Jahren: Britische Archäologen haben einen Fund gemacht, der
die Schilderungen eines der bekanntesten, aber auch umstrittensten Helden des
Ersten Weltkriegs bestätigt. Demnach dürfte Lawrence von Arabien tatsächlich
persönlich an wenigstens einem Angriff auf die strategisch wichtige Hedschasbahn
zwischen Amman und Medina teilgenommen haben.

Nahe der ehemaligen Bahnstrecke bei Halat Ammar, einem saudi-arabischen


Grenzübergang nach Jordanien, fand 1917 ein Überfall auf einen osmanischen
Militärzug statt, dessen Führung Lawrence in seiner Autobiografie "Die sieben
Säulen der Weisheit" beanspruchte. Das Gefecht wurde 1962 in dem legendären, mit
sieben Oscars ausgezeichneten Film "Lawrence von Arabien" verewigt, in dem Peter
O'Toole die Titelrolle spielte.

Die Archäologen aus Bristol, die im Rahmen "Great Arab Revolt Project" nach
Spuren der Kämpfe suchen, fanden ein leicht korrodiertes und an der Spitze
abgeplattetes Projektil, das mit einem Colt M-1911 verfeuert wurde. Da die
Araber meist mit Gewehren und Revolvern aus britischen Beständen ausgerüstet
waren, die osmanischen Truppen dagegen deutsche Waffen verwendeten, ordnen die
Forscher die schwere US-Selbstladepistole mit Kaliber .45 Lawrence von Arabien
persönlich zu. Von ihm ist bekannt, dass er eine solche Waffe benutzte.

Das kann bedeuten, dass die Skeptiker widerlegt sind, die viele Schilderungen in
"Die sieben Säulen der Weisheit" für ausgeschmückt bis frei erfunden halten.
Neil Faulkner, Mitglied des britischen Teams, erklärte, Lawrence habe zwar "eine
gewisse Reputation als Märchenerzähler". Doch die Pistolenkugel von Halat Ammar
sowie ein erst vor zwei Monaten aufgetauchtes Lokomotivschild aus seinem
Nachlass zeigten, "wie verlässlich seine Schilderung der Arabischen Revolte"
tatsächlich sei.

Der Colt M-1911 war erst im Verlauf des Jahres 1911 als Standardordonnanzwaffe
der US-Armee eingeführt worden. Bis 1914 waren insgesamt 68.533 Stück an die
US-Streitkräfte ausgeliefert worden; in nennenswerten Stückzahlen exportiert
wurde die Waffe zu dieser Zeit noch nicht. Erst ab Juli 1915 lieferte die Firma
Colt insgesamt 15.000 M-1911 an das britische Kriegsministerium. Sie wurden als
besonders durchschlagsstarke Offizierspistolen ausgegeben, vorwiegend an
Flieger. Aus diesen Beständen könnte das Exemplar von Lawrence von Arabien
stammen.

Schon als junger Mann hatte der 1888 geborene Thomas E. Lawrence bei einer
Ausgrabung in Syrien Arabisch gelernt. Nach Kriegsbeginn 1914 trat er in den
Dienst des Secret Intelligence Service in Kairo. Zwei Jahre später brach ein
Aufstand arabischer Freischärler gegen das Osmanische Reich los. Leutnant
Lawrence wurde wegen seiner Sprachkenntnisse als Verbindungsoffizier zu den
Stammesführern geschickt.

Bald zeigte sich, dass die Araber ineffizient kämpften. Lawrence organisierte
sie neu, stattete sie mit britischen Waffen aus und brachte ihnen die Taktik
schneller, harter Angriffe auf Verbindungswege der osmanischen Armee bei. So
gelang es, den Verbündeten des Deutschen Reiches massiv zu destabilisieren. Der
Lohn für den Briten war eine Beförderung nach der anderen, 1918 schließlich zum
Colonel - eine rasende Karriere.

Lawrence wusste, dass er die Unwahrheit sagte

Allerdings wusste Lawrence, dass er seinen arabischen Kämpfern die Unwahrheit


sagte: Die versprochene Unabhängigkeit wollten Großbritannien und Frankreich den
Stämmen eben nicht zugestehen. Im Gegenteil wurde Arabien von verschiedenen
Diplomaten der beiden verbündeten Mächte nach Belieben aufgeteilt. Lawrence zog
sich aus der Öffentlichkeit zurück, wurde unter falschem Namen Soldat in der
Royal Air Force und verfasste seine Memoiren, die 1926 erschienen und seinen
Ruhm nochmals mehrten. Bei einem Motorradunfall verletzte sich der Kriegsheld
1935 tödlich.

Die jetzt gesicherte Pistolenkugel ist wenigstens ein starkes Indiz, dass
Lawrence persönlich bei dem Überfall auf die Hedschasbahn mitgekämpft hat. Nach
der Entdeckung eines Lagers der britischen Helfer der Aufständischen in der
jordanischen Wüste 2014 ist sie ein zweiter wichtiger Fund, der die Darstellung
in "Die sieben Säulen der Weisheit" bestätigt.

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UPDATE: 8. April 2016

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Sonntag 10. April 2016 10:00 AM GMT+1

Russlandkrise;
Ein Konflikt mit Putin schadet nur

AUTOR: Dmitri Trenin

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1382 Wörter

HIGHLIGHT: Erstmals seit zwei Jahren soll der Nato-Russland-Rat wieder tagen.
Richtig so! Doch das reicht nicht. Wie kann sich der Westen und Russland trotz
der Ukraine-Krise wieder annähern? Ein Leitfaden.

Europas Bruch mit Russland geht in sein drittes Jahr. Politische Kontakte sind
eingeschränkt. Wirtschaftliche Sanktionen werden alle sechs Monate verlängert.
Der Informationskrieg tobt unvermindert fort. Vertrauen gibt es nicht. Noch
wichtiger: Die Voraussetzung, von der Europa in seinen Beziehungen mit Russland
ausging, stimmt nicht mehr. Russland will kein Teil Europas werden.

Es will weder Europas politische Kultur noch die Wertvorstellungen der EU


übernehmen. Der Blick in die Zukunft endet deshalb im Ungewissen. Es gibt kein
business as usual mehr. Daran wird sich so bald auch nichts ändern. Die Risiken
überwiegen. Wie kann trotz alledem ein gangbarer Weg aussehen?

Zu einer realistischen Sichtweise zählt, dass die Ukraine-Krise von 2014 nicht
aus Fehlkalkulationen oder Missverständnissen entstand. Sie war das Ergebnis der
gescheiterten Integration Russlands in den Westen. Die Integration war nicht
prinzipiell unmöglich. Aber über ihre konkrete Gestalt gab es keine Einigung.
Der Westen bestand auf Demokratie und einer amerikanischen Führungsrolle, Moskau
auf Souveränität und einer Einflusszone. Das Ende vom Lied: Es gab keinen Deal.

Es geht um Washington und Moskau

Mit der gescheiterten Integration lebten Konkurrenz und Rivalität wieder auf.
Dass die Konkurrenz sich nicht auf Augenhöhe abspielt und die Rivalität
asymmetrisch ist, macht beides nicht weniger real. Der Konflikt unterscheidet
sich deutlich vom Kalten Krieg; direkte Analogien sind irreführend. Doch er ist
genauso bedeutend, und die Einsätze sind hoch.
Die Auseinandersetzung findet nicht in erster Linie zwischen Russland und der EU
statt, sondern zwischen Moskau und Washington. Europa ist ein Mitspieler auf der
US-Seite, und es gibt eine virtuelle Walstatt in der Wirtschaft und in den
Medien. Obwohl niemand einen militärischen Zusammenstoß will, sind die Risiken
einer solchen Konfrontation so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Damit ist auch die wichtigste Aufgabe der westlichen Politik umrissen. Die
Vermeidung einer Frontalkollision mit Russland hat oberste Priorität. Eine
solche Kollision darf man sich nicht als das Ergebnis einer russischen
Rückeroberung der baltischen Staaten vorstellen oder als Folge eines Vorstoßes
nach Polen zur Spaltung der Nato. Moskau hat weder die Absicht dazu, noch hat es
ein Interesse an solchen Unternehmungen.

Einrichtung einer Notrufzentrale

Eine mögliche militärische Kollision ist aber keine Fantasievorstellung. Die


Eskalation des schwelenden Konflikts im Donbass kann durchaus in eine solche
Krise münden, ebenso ein Luft- oder Seezwischenfall, besonders wenn US-Kräfte
darin verwickelt wären. Eine dritte Möglichkeit ist ein militärischer Konflikt
zwischen Russland und der Türkei, der den Artikel 5 des Nato-Vertrags berühren
könnte.

Der Umgang mit all diesen Szenarien ist vor allem Washingtons Aufgabe. Aber die
Nato wird in vollem Umfang beteiligt sein müssen. Das Mindeste ist, dass die
Vereinigten Staaten und die Nato einerseits sowie Russland andererseits ihre
wenigen verbliebenen Kommunikationskanäle offen halten - 24 Stunden lang, sieben
Tage die Woche. Es ist nicht garantiert, dass der Kontakt zwischen dem
amerikanischen und dem russischen Außenministerium nach dem US-Regierungswechsel
noch so eng ist wie jetzt.

Weil das Pentagon unwillig ist, mit dem russischen Verteidigungsministerium über
mehr zu reden als über Syrien, ist es nun erfreulich, dass der Nato-Russland-Rat
wiederbelebt wird. Er muss als Konfliktverhinderungsforum genutzt werden. Als
solches sollte er sich im Notfall auf vertrauensbildende Maßnahmen und die
Funktion als Notrufzentrale konzentrieren.

Damit verbunden ist das Ziel, die aktuellen Sollbruchstellen im Griff zu halten.
Das zweite Minsker Abkommen, auf dem die Hoffnung für eine friedliche Lösung in
der Ukraine ruht, ist wahrscheinlich nicht umsetzbar.

Im Grunde genommen dient es den Kerninteressen Russlands. Es schafft ein


Verfassungshindernis gegen eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft; es legitimiert
Kräfte, die die Ukraine als "Terroristen" einstuft; und es konserviert das
Donbass als eine politisch geschützte, von Kiew auch noch zu finanzierende
Antithese zur gesamten ukrainischen Innen- und Außenpolitik.

Minsk II ist für Kiew aus gutem Grund ein Anathema. Fairerweise sei gesagt, dass
auch einige Mitspieler im Donbass ebenso wenig Interesse an der Übereinkunft
haben. Präsident Putin kann diese Donezk-Mafia wahrscheinlich im Zaum halten, um
sicherzugehen, dass sie seine größeren Ziele nicht stören.

Kluger, weil gemäßigter Obama

Das hat er schon mehrmals unter Beweis gestellt. Präsident Obama und sein
Nachfolger sollten ebenso wie Bundeskanzlerin Merkel darauf achten, dass gewisse
Kräfte in Kiew die periodisch aufflammenden Zwischenfälle im Donbass nicht als
Ausrede für eine Umsetzung von Reformen benutzen. Diese Kräfte versuchen, die
Ukraine stattdessen dem Westen als "Bollwerk der freien Welt gegen die dunklen
Mächte im Kreml" anzudienen.
In Ermangelung eines besseren Instruments ist eine solche auswärtige Betreuung
das wichtigste Mittel der Kriegsprävention. Aus Moskauer Sicht ist die Ukraine
wegen der westlichen Ausbildung und Ausrüstung ihrer Streitkräfte und wegen der
sicherheitspolitischen Unterstützung Kiews zum Mündel der USA und ihrer
Nato-Verbündeten geworden.

Die Modernisierung des ukrainischen Militärs war vermutlich die bislang am


besten funktionierende Reform. Dennoch ist die Regierung Obama vor
Waffenlieferungen an Kiew zurückgeschreckt. Das war und ist klug. Washington
will in Moskau nicht den Eindruck erwecken, die Ukraine als Stellvertretermacht
gegen Russland aufbauen zu wollen. Das Weiße Haus will Kiew auch nicht glauben
machen, es habe die unumschränkte Unterstützung der USA in einem Krieg mit einer
Atommacht.

Bedrohungsgefühl der Russen

Auf dem Warschauer Nato-Gipfel im Juli wird die Allianz wahrscheinlich ihre
Truppenpräsenz auf diejenigen Nato-Mitglieder ausdehnen, die früher Teil des
Warschauer Paktes oder der Sowjetunion waren. Aufgeschreckt durch die
Entwicklungen auf der Krim, drängen diese Länder jetzt auf US-Militärbasen als
einziger wirklicher Sicherheitsgarantie.

Moskau betrachtet das Heranrücken der Nato-Streitkräfte an die russische Grenze


als Bedrohung. Im Norden ist die Allianz dann nur zwei Stunden Autofahrt von St.
Petersburg entfernt. Die Spannungslage, die Europa im Kalten Krieg prägte,
ersteht im Osten des Kontinents in abgespeckter Form neu. Es ist zu spät, diese
Konfrontation noch abzuwenden.

Aber sie sollte mit kühlem Kopf gemanagt werden. Es wäre keine gute Idee, die
Übereinkunft mit Russland von 1997 über die Begrenzung der
Nato-Truppenstationierung in den Beitrittsländern aufzukündigen. Russland wird
auf das Nato-Vorhaben reagieren. Es wäre gut, wenn Moskau das nur im Geist
ausreichender Verteidigungsvorsorge täte.

Die diesjährige deutsche OSZE-Präsidentschaft hat Hoffnungen geweckt, es könnte


ein neues Gesamtkonzept zur europäischen Sicherheit geben. Dafür ist es aber
noch zu früh. Russland hat sich der amerikanisch erdachten Ordnung nach dem
Kalten Krieg entzogen. Es denkt nicht daran, jetzt nach Canossa zu eilen. Die
Sanktionen haben den Willen des Kremls nicht gebrochen, sondern nur zum
Schulterschluss von Elite und Volk um Putin geführt.

Die Rückkehr der Krim und die ihr folgenden Sanktionen haben den russischen
Nationalismus mobilisiert. Erstmals seit der Sowjetzeit dominiert diese
Gefühlslage das politische Denken des Landes.

Ein neuer Modus vivendi zwischen dem Westen und Russland kann derzeit nur in
einem Waffenstillstand bestehen, der keine wesentlichen Zugeständnisse beider
Seiten mit sich bringt. Die westlichen Werte sind nicht gefährdet. Nach 2014 ist
nicht sichere Geborgenheit, sondern Schadensabwendung das Losungswort.

Dazu zählt, die laufenden Konflikte nur mehr unter Kontrolle zu halten, statt
sie gleich zur Gänze lösen zu wollen, und zugleich gefährliche Zwischenfälle zu
verhindern. Dazu zählt die Kunst der Zusammenarbeit trotz der Spannungslage.
Und, ja, auch Handel und Wandel gehören dazu - in den Grenzen, die durch die
Sanktionen und Bündnissolidarität vorgegeben sind. So sieht die politische
Prioritätenliste zwischen dem Westen und Russland aus. Die Idee eines
Großeuropas von Lissabon bis Wladiwostok mag derweil in Frieden ruhen.
Aus dem Englischen von Torsten Krauel.

UPDATE: 10. April 2016

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Sonntag 10. April 2016 11:08 AM GMT+1

Asylkrise;
Islamisten und arabische Clans werben Flüchtlinge an

AUTOR: Stefan Aust, Michael Behrendt, Manuel Bewarder und Claus Christian
Malzahn

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 514 Wörter

HIGHLIGHT: Kriminelle und gewaltbereite Salafisten nutzen die Asylkrise offenbar


gezielt aus, um unter den Flüchtlingen Nachwuchs zu rekrutieren. Ein besonderes
Problem sind die alleinreisenden Minderjährigen.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, warnt


vor Versuchen von Islamisten, Flüchtlinge zu werben. Der "Welt am Sonntag" sagte
er: "Salafisten und andere Islamisten versuchen, Flüchtlinge für sich zu
gewinnen." Viele kämen ohne Familien zu uns und suchten Anschluss. "Wir haben
bereits rund 300 Ansprachversuche gezählt. Sorgen machen mir vor allem die
vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Diese Gruppe wird gezielt
angeworben."

Das seien aber nur die gemeldeten Vorfälle. "Wir gehen davon aus, dass die
tatsächliche Zahl viel höher liegt. Wir sehen durch die Ansprachen ein immenses
Radikalisierungspotenzial." Die arabischsprachige Moscheenlandschaft sei teils
nicht moderat. "Viele Häuser sind fundamentalistisch geprägt oder aufgrund ihrer
salafistischen Ausrichtung gar Beobachtungsobjekt der
Verfassungsschutzbehörden", so Maaßen. Der Moscheebau werde teils durch
saudische Privatspenden gefördert.

Auch kriminelle arabische Großfamilien versuchen, Flüchtlinge zu rekrutieren.


"Vor allem junge und körperlich starke Männer sind im Visier der Clans", sagte
ein Berliner Ermittler. "Diese werden dann für die Drecksarbeit eingesetzt." Der
Berliner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra sagte der "Welt am Sonntag": "Die
Flüchtlinge kommen hierher und haben kein Geld. Und ihnen wird gezeigt, wie man
ungelernt sehr schnell an Geld kommen kann."

Maaßen sagte weiter, die Terrormiliz Islamischer Staat nutze die


Flüchtlingsströme, um Kämpfer nach Europa zu schleusen. "Der IS will auch
Anschläge gegen Deutschland und deutsche Interessen durchführen." Dazu werde
aufgerufen. Deutsche Städte würden in Zusammenhang mit Paris, London oder
Brüssel genannt. "Anhänger sollen dazu animiert werden, von sich aus Anschläge
auch bei uns zu begehen."

Nach 76 gewaltberiten Islamisten wird gefahndet

André Schulz, Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), gibt zu bedenken,
dass Zehntausende Zuwanderer hier lebten, "von denen wir nicht wissen, wer sie
sind, wo sie genau herkommen und wo sie sich aufhalten". Das sei "für einen
Rechtsstaat nicht hinnehmbar". Rainer Wendt, Bundeschef der Deutschen
Polizeigewerkschaft, kritisiert: "Die Annahmen mancher Politiker, es sei nicht
zu befürchten, dass sich IS-Kämpfer unter Flüchtlinge mischen, ist blauäugig und
naiv." Vielleicht bereiteten "sie schon die nächsten Anschläge vor".

Derweil suchen Sicherheitsbehörden Dutzende gefährlicher Islamisten, die teils


untergetaucht sind. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der Grünen-Fraktion hervor, die der "Welt am Sonntag" vorliegt: 76
gewaltbereite Islamisten werden per Haftbefehl gesucht. Die Ausreisen nach
Syrien und in den Nordirak gehen zurück. 2015 reisten rund 150 Islamisten aus
Deutschland ins Kriegsgebiet.

Über die Jahre wurden über 800 Ausreisen festgestellt. Rund 130 von ihnen sind
tot, allein 2015 starben rund 80. Etwa ein Drittel aller seit 2012 in die
Kriegsregion Gereisten halten sich wieder in Deutschland auf. Etwa 70 sollen
aktiv an Kämpfen teilgenommen oder eine militärische Ausbildung absolviert
haben.

UPDATE: 10. April 2016

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Montag 11. April 2016 10:21 AM GMT+1

Sorge um Verbleib;
5835 minderjährige Flüchtlinge in Deutschland verschwunden

RUBRIK: POLITIK; Politik


LÄNGE: 253 Wörter

HIGHLIGHT: Fast 6000 jugendliche Flüchtlinge sind verschwunden, jeder zehnte


davon noch ein Kind. Die Bundesregierung hat keine Hinweise auf ihren Verbleib.
Einige fürchten, dass sie Opfer von Banden wurden.

Im Jahr 2015 sind in Deutschland einem Zeitungsbericht zufolge 5835


minderjährige Flüchtlinge verschwunden. Dies berichten die Zeitungen der Funke
Mediengruppe unter Berufung auf eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf
eine Parlamentsanfrage. Von 8006 als vermisst gemeldeten minderjährigen
Flüchtlingen seien bisher 2171 wieder aufgetaucht. Die vermissten,
unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge kamen demnach überwiegend aus
Afghanistan, Syrien, Eritrea, Marokko und Algerien.

Unter den verschwundenen 5835 minderjährigen Flüchtlingen sind dem Bericht


zufolge 555 Kinder. Als Kind gilt in Deutschland, wer jünger als 14 Jahre ist.
Gründe für das Verschwinden konnte das Bundesinnenministerium dem Bericht
zufolge nicht nennen.

In diesem Zusammenhang kritisiert die Grünen-Politikerin Luise Amtsberg die


Bundesregierung. "Dass 5835 unbegleitete Jugendliche und Kinder, die im
vergangenen Jahr verschwunden sind, die Bundesregierung nicht in
Alarmbereitschaft versetzen, ist traurig", sagte Amtsberg den Zeitungen. Die
Regierung solle jetzt aktiv werden, forderte die flüchtlingspolitische
Sprecherin der Grünen im Bundestag.

Es bereite ihr Sorgen, dass die Bundesregierung "die Gefahren durch


Zwangsprostitution und Ausbeutung nicht ernsthaft in Betracht zieht", sagte
Amtsberg. Ende März hatten mehrere Europaabgeordnete in einem Brief darauf
hingewiesen, dass verschollene minderjährige Flüchtlinge womöglich Opfer von
paneuropäischen Banden würden, die sie für Sexarbeit, Sklaverei oder Organhandel
missbrauchten.

UPDATE: 11. April 2016

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Donnerstag 14. April 2016 8:38 AM GMT+1

Ostsee;
Russischer Jet "simuliert" Angriff auf US-Zerstörer

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 318 Wörter

HIGHLIGHT: Bis auf eine Entfernung von neun Metern soll ein russischer Kampfjet
in der Ostsee einem US-Zerstörer nahegekommen sein. Die USA sprechen von einem
"aggressiven" Akt und prüfen mögliche Konsequenzen.

Die USA werfen Russland vor, es habe in den vergangenen Tagen mehrfach
Militärflugzeuge in "aggressiver" Weise nahe eines US-Kriegsschiffs in der
Ostsee vorbeifliegen lassen. Ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums in
Washington sagte am Mittwoch, die Vorfälle am Zerstörer "USS Donald Cook" hätten
sich am Montag und Dienstag ereignet.

Bei einem der Vorfälle sei ein russischer Kampfjet in einer Bewegung, die einen
Angriff "simuliert" habe, in nur neun Metern Höhe über das Schiff
hinweggeflogen. Dies sei "aggressiver als alles, was wir seit einiger Zeit"
gesehen haben, sagte der Mitarbeiter, der anonym bleiben wollte.

Die "USS Donald Cook" befand sich den Angaben zufolge zum Zeitpunkt der Vorfälle
in internationalen Gewässern, in rund 130 Kilometern Entfernung von der
russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg), nachdem er am Montag den polnischen
Hafen Gdynia in der Danziger Bucht verlassen hatte. Am selben Tag überflogen
zwei russische Kampfflugzeuge vom Typ Su-24 den Angaben zufolge 20 Mal in
geringer Höhe die "Cook".

"Höchst seltenes Verhalten"

Am Dienstag habe zunächst ein für die U-Boot-Jagd spezialisierter


Marinehubschrauber vom Typ Ka-26 über dem US-Zerstörer gekreist und Fotos
gemacht. Dann seien erneut zwei Su-24-Kampfjets aufgetaucht und hätten die
"Cook" elfmal überflogen. Das sei ein höchst seltenes Verhalten. Die russischen
Flieger seien offenbar unbewaffnet gewesen.

An beiden Tagen habe die "Cook" ohne Erfolg versucht, Funkkontakt mit den Russen
aufzunehmen. Nun werde geprüft, ob die russischen Flugmanöver ein Abkommen aus
den 70er-Jahren verletzt haben, mit dem gefährlichen Zwischenfällen auf See
vorgebeugt werden soll.

Die Beziehungen zwischen den USA und Russland sind seit mehreren Jahren durch
den Konflikt in der Ukraine und den Bürgerkrieg in Syrien schwer belastet. Als
Folge des Ukraine-Konflikts hatten die USA ihre militärische Präsenz in
Osteuropa ausgeweitet.

UPDATE: 14. April 2016

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Donnerstag 14. April 2016 11:36 AM GMT+1

Begriffserklärung;
Flüchtling, Migrant oder Asylsuchender?

AUTOR: Jana Werner

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1137 Wörter

HIGHLIGHT: Was ist ein Flüchtling? Wer hat Recht auf Asyl? Was bedeutet Migrant?
Im Zuge des Flüchtlingsstroms werden die Begriffe kaum noch voneinander
getrennt, oft sogar als Synonym verwendet. Eine Erklärung.

Seit Monaten strömen Zehntausende Menschen nach Deutschland, viele von ihnen auf
der Flucht vor Krieg und Terror in ihrem Heimatland. Obwohl die Zahlen derzeit
zurückgehen, findet eine Einordnung derer, die zu uns kommen, kaum noch statt.
Die Begriffe sind verschwommen, sie werden miteinander vermischt oder als
Synonym benutzt. Die Zuwanderer werden meist nur pauschal als Flüchtlinge
bezeichnet. Dabei zieht das Völkerrecht eine klare Trennlinie, sind doch die
Motive der Neuankömmlinge verschieden. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) unterscheidet daher in Flüchtlinge, Asylbewerber, Migranten
und jene, die subsidiären Schutz genießen. Eine Erklärung der Begriffe - auch im
Hinblick darauf, dass sich die Berliner Koalitionsspitzen von Union und SPD
gerade auf die Grundzüge eines Integrationsgesetzes geeinigt haben.

Als Flüchtling wird ein Ausländer hierzulande anerkannt, wenn er unter die
Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention fällt. Dann hat der Flüchtling
eine "begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Ethnie, Religion,
Nationalität, politischen Überzeugung oder seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe", erklärt das BAMF. Ausgehen könne die Verfolgung vom
Staat, von Parteien, Organisationen oder von nichtstaatlichen Akteuren. Erhält
ein Flüchtling in seinem Heimatland keinen Schutz oder kann nicht mehr dorthin
zurückkehren, hat er das Recht auf Sicherheit in einem anderen Land. Ob dies
erfüllt ist, prüft das BAMF. Die Anerkennung regelt Paragraf 3 Absatz 1 des
Asylverfahrensgesetzes. Ein anerkannter Flüchtling hat dieselben Rechte wie ein
Asylberechtigter. Er bekommt zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre
sowie eine Arbeitserlaubnis. Wird die Anerkennung dann nicht widerrufen, erhält
der anerkannte Flüchtling eine unbefristete Niederlassungserlaubnis.

Weniger Neuankömmlinge im März

Ein Kontingentflüchtling ist ein Flüchtling aus Krisenregionen, der im


Zusammenhang mit internationaler humanitärer Hilfe aufgenommen wird. Gemäß
Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes dürfen die Landesbehörden beziehungsweise
das Bundesinnenministerium bestimmten Ausländergruppen aus völkerrechtlichen
oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen den Aufenthalt
erlauben. Dies bezieht sich auf Menschen, die sich noch nicht oder bereits in
Deutschland aufhalten. Auch kann es die Aufnahme von Personen aus Kriegs- oder
Bürgerkriegsgebieten durch eigenständige nationale Entscheidungen betreffen. Die
Gewährung von vorübergehendem Schutz durch eine vorhergehende Entscheidung auf
EU-Ebene richtet sich nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes.

Im März hat Deutschland deutlich weniger Neuankömmlinge aufgenommen als zuvor.


So erfasste die Bundespolizei von Januar bis März rund 107.000 Zuwanderer an den
Grenzen. Während etwa in Hamburg im Januar und Februar noch jeweils mehr als
2000 Menschen einen Unterbringungsbedarf geltend machten, waren es im März 507.
Insgesamt wurden in dem Stadtstaat im vergangenen Monat 1362 Flüchtlinge
erfasst, davon wurden 643 nach dem Königsteiner Schlüssel zugewiesen. 2016 nahm
Hamburg bisher 4685 Menschen in einer öffentlichen Unterkunft auf.

Die größte Gruppe kam aus Afghanistan (154), gefolgt von Syrien (148), Irak
(97), Iran (51) und Eritrea (28). Aus den Balkanstaaten kamen 65 Menschen. Laut
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) macht der Rückgang der Zugänge aus
den Balkanstaaten deutlich, dass die gesetzliche Einstufung dieser Länder als
sichere Herkunftsländer wirkt. Jene Einordnung strebt de Maizière auch für
Marokko, Algerien und Tunesien an.

Ein Migrant ist jemand, der innerhalb eines Landes oder über Staatsgrenzen
hinweg an einen anderen Ort zieht. Dabei handelt es sich um Menschen, die ihr
Heimatland freiwillig verlassen, um ihr Leben zu verbessern.

Das einzige Grundrecht, das nur Ausländern zusteht

Als Asylbewerber werden jene bezeichnet, die einen Asylantrag gestellt haben.
Asyl genießen nach Artikel 16a des Grundgesetzes politisch Verfolgte. Das BAMF
erklärt: "Das Asylrecht wird in Deutschland nicht nur - wie in vielen anderen
Staaten - auf Grund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer
Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat als Grundrecht Verfassungsrang. Es
ist das einzige Grundrecht, das nur Ausländern zusteht." Politisch sei eine
Verfolgung dann, "wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische
Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Menschenrechtsverletzungen zufügt,
die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der
staatlichen Einheit ausgrenzen". In Hamburg wurden im März 1375 Asylverfahren
beschieden, die Verfahrensdauer liegt bei 5,3 Monaten.

Berücksichtigt wird nur eine Verfolgung, die vom Staat ausgeht. Ausnahmen gelten
laut BAMF, wenn die nichtstaatliche Verfolgung dem Staat zuzurechnen oder der
nichtstaatliche Verfolger selbst an die Stelle des Staates getreten ist.
Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder
Perspektivlosigkeit sind damit als Gründe für eine Asylgewährung ausgeschlossen.
Auch ergänzt das BAMF: "Bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat ist
eine Anerkennung als Asylberechtigter ausgeschlossen." Bei der Prüfung der
Anträge müssen die BAMF-Mitarbeiter demnach bewerten, ob einem Asylantragsteller
in seinem Herkunftsland Verfolgung droht. Im Dublin-Verfahren wird festgestellt,
welcher europäische Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist.

Eine Ausreise ist nicht immer möglich

Bundesweit registrierte das BAMF im März rund 20.000 Asylsuchende, im Dezember


waren es rund 120.000. Antrag auf Asyl stellten im ersten Quartal 181.405
Menschen, was einem Anstieg von 112 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.

Wer weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch Asyl erhält, muss Deutschland wieder
verlassen. Eine Ausreise oder Abschiebung ist jedoch nicht immer möglich, weil
der Betroffene reiseunfähig ist oder keinen Pass hat. So lange diese Menschen
nicht abgeschoben werden, sind sie geduldet. Mit Genehmigung der Arbeitsagentur
dürfen sie nach drei Monaten Wartezeit arbeiten. Bislang dürfen Asylbewerber und
Geduldete eine Arbeitsstelle nur besetzen, wenn Einheimische oder andere
Europäer keinen Vorrang haben. Im Zusammenhang mit dem geplanten
Integrationsgesetz soll diese Vorrangprüfung für drei Jahre abgeschafft werden.

Anspruch auf subsidiären Schutz hat ein Drittstaatsangehöriger oder


Staatenloser, dem laut BAMF "weder durch die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft noch durch das Asylrecht Schutz gewährt werden kann". Er
muss dann begründen, dass ihm in seinem Herkunftsland die Todesstrafe, Folter
oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung droht. Wer unter subsidiärem Schutz
steht, erhält eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr.

UPDATE: 14. April 2016

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Donnerstag 14. April 2016 1:58 PM GMT+1

Direkter Draht;
Was Putin auf die Frage zur First Lady antwortet

AUTOR: Cornelia Hendrich

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 774 Wörter

HIGHLIGHT: Im "direkten Draht" können die russischen Bürger dem Präsidenten


Wladimir Putin Fragen stellen. Neben der politischen Agenda spielen auch
ausländische Medikamente und sein Beziehungsstatus eine Rolle.

Der russische Präsident Wladimir Putin stellte sich Fragen der Bürger in der
TV-Sendung "Der direkte Draht". Die Russen stellten ihm Fragen zu der hohen
Inflation, über sein Privatleben und über Doping.

Putin über die russische Wirtschaft

Die Wirtschaft seines Landes ist auf dem Weg der Erholung. Die hohe Inflation
bezeichnet er als ein vorübergehendes Phänomen. Der Anstieg der Nahrungsmittel
sei allerdings noch beträchtlich. Zu einem gewissen Grad sind daran laut Putin
die westlichen Sanktionen schuld. Derzeit gebe es noch keine Lösung für die
schwierige Lage der russischen Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt werde "ein
wenig" in diesem Jahr sinken, sagt er voraus.

Die Frage zu den ausländischen Medikamenten

Putin wird gefragt, ob er ausländische Medikamente nehme. Er versuche es nicht


so weit kommen zu lassen und mache viel Sport, so der Präsident. Auslöser für
die Frage waren Beschwerden über teure ausländische Medikamente in den
Apotheken. Ein Arbeiter in der Pharmaindustrie ärgerte sich auf der anderen
Seite über zu niedrige Preisbindung für russische Medikamente, sodass sich deren
Herstellung nicht lohne. Putin versprach, die Preisbindung für Medikamente zu
überdenken. Zudem werden in diesem Jahr 16 Milliarden Rubel für die Entwicklung
russischer Medikamente bereitgestellt.

Die Frage nach seiner Frau

Der Präsident wird gefragt, ob seine frühere Ehefrau Ludmilla, von der er sich
2013 scheiden ließ, wieder geheiratet habe. Zudem, wann er seine First Lady
vorstelle. Putin antwortet, er treffe Ludmilla manchmal. Ihr gehe es gut, ihm
gehe es gut. Er wisse, was in den Zeitungen steht. "Ich weiß aber nicht, ob ich
jetzt solche Fragen in den Vordergrund stellen würde." Es sei als Präsident
gewählt, um sich um Dinge wie den Ölpreis zu kümmern. Er könne verstehen, dass
die Menschen etwas über sein Privatleben wissen wollen. "Irgendwann werde ich
einmal drüber reden", so Putin.

Die Frage zum russischen Doping

Dutzende Sportler wurden in den vergangenen Wochen positiv auf die seit
Jahresanfang verbotene Substanz Meldonium getestet. Unter anderem der russische
Tennisstar Maria Scharapowa. Das Präparat war vor allem in Russland und den
baltischen Staaten verbreitet. Putin dazu: "Das Präparat Meldonium beeinflusst
die Ergebnisse beim Sport nicht. Es unterstützt nur das Herz bei Belastungen."
Auch der Erfinder, es wurde in der ehemaligen Sowjetunion erfunden, habe das
Präparat nicht für Doping gedacht. "Ich glaube aber nicht, dass es einen
politischen Hintergrund gibt", so Putin. Die Anti-Doping-Agentur Wada habe ja
die Grenzwerte bereits wieder etwas zurückgenommen.

Die Frage zum Ertrinken

Eine Zwölfjährige fragt Putin, ob er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip


Erdogan und den ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko vor dem Ertrinken
retten und wen von beiden er zuerst helfen würde, sagte Putin: "Wenn jemand
entschieden hat zu ertrinken, ist es unmöglich, ihn zu retten."

Die Frage zu den schlechten Straßen

Auf die Frage, was er gegen den schlechten Zustand der Straßen zu tun gedenke,
antwortet Putin, die Regierung müsse sicherstellen, dass öffentliche Gelder für
den Straßenbau von örtlichen Politikern nicht für andere Zwecke verwendet
werden.

Die Frage zu den Panama Papers

Sergej Roldugin habe das Geld dazu benutzt, zwei Geigen zu kaufen. Es gehe um
Milliarden Dollar, sagt Putin, aber es seien auch sehr exklusive Instrumente.
Eine der Geigen sei von Stradivari, sagt Putin. Der Musiker hätte mit dem Kauf
sogar mehr Geld ausgegeben, als er eigentlich hatte. Putin ist der Meinung, die
Veröffentlichungen der "Panama Papers" gehe von amerikanischen Behörden aus. Der
erste Artikel sei in der "Süddeutschen Zeitung" erschienen, sie gehöre zu einer
Medienholding, die wiederum etwas mit Goldman Sachs zu tun habe. Das sei die
Verbindung zu Amerika. "Mit Hilfe der Medien darf man nicht manipulieren, wie
man will", so Putin. Man sollte Russland wie einen Partner behandeln.

Die Frage über die Sanktionen

Nicht Russland, sondern Kiew sei an der Situation in der Ostukraine schuld, sagt
Putin. Wenn die Sanktionen gegen Russland, die aufgrund der Ukraine-Krise
verhängt worden waren, irgendwann abgebaut werden, werde Russland es schwieriger
haben. "Die von uns verhängten Gegensanktionen schützen uns", sagt der
Präsident.

Die Frage zu der Türkei als Freund oder Feind

Die Türkei hatte im vergangenen November im Grenzgebiet zu Syrien einen


russischen Kampfjet abgeschossen. Trotz der Spannungen wegen des Syrien
-Konflikts wertet Putin die Türkei nach wie vor als befreundete Nation. Er habe
lediglich Probleme mit einigen türkischen Politikern, die sich "nicht angemessen
verhalten hätten", sagte Putin. ç

UPDATE: 14. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Mittwoch 20. April 2016 2:00 PM GMT+1

"Flüchtlinge Willkommen";
Flüchtlings-Grüße als Vorspann vor Hetzvideos

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 226 Wörter

HIGHLIGHT: Wer ein Video von Pegida-Chef Bachmann anschauen will, kommt künftig
nicht um eine Willkommensaktion herum. Vor 100 Hassvideos wurden jetzt
sympathische Videobotschaften Geflüchteter geschaltet.

Mit originellen Videos von Flüchtlingen will die Initiative "Flüchtlinge


Willkommen" aus Berlin ein Zeichen gegen Hetzvideos im Netz setzen. Wer auf
YouTube nach fremdenfeindlichen Videos sucht, bekommt in ausgewählten Fällen
einen vorgeschalteten Clip zu sehen, in dem Geflüchtete nachfolgende Vorurteile
zu entkräften versuchen - etwa mit einer persönlichen Geschichte. "Mit der
gezielten Platzierung der Spots wollen wir die Konsumenten der rechtsradikalen
Videos zum Nachdenken anregen und am besten sogar umstimmen", sagte Initiatorin
Mareike Geiling am Dienstag.

In einem Spot etwa, der vor einem Hetzvideo von Pegida-Chef Lutz Bachmann
geschaltet ist, erzählt Arif aus Syrien von Bachmanns Vergangenheit. Dessen
Vorstrafenregister reicht von Delikten wie Diebstahl, Einbruch und
Körperverletzung bis Drogenhandel. In dem folgenden Hetzvideo wettert Bachmann
gegen angeblich kriminelle Flüchtlinge. Der vorgeschaltete Clip soll zeigen: Es
sind nicht die Flüchtlinge, die kriminell sind.

Zum Beginn der Aktion am Dienstag waren die Clips vor rund 100 Hassvideos
geschaltet. Laufend sollen neue dazukommen. Die Verknüpfung funktioniert durch
die Kombination mit bestimmten Schlüsselbegriffen. Die Initiative bucht außerdem
Werbespots vor ausgewählte Hetzvideos. Überspringen lassen sich die Clips nicht.
Insgesamt wurden neun verschiedene Spots produziert.

UPDATE: 20. April 2016

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Mittwoch 20. April 2016 11:12 PM GMT+1

Fünf Jahre lang;


Brüssel-Attentäter soll am Flughafen gearbeitet haben

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 265 Wörter

HIGHLIGHT: Der Terrorist Najim Laachraoui hat laut einem belgischen TV-Sender
fünf Jahre am Flughafen von Brüssel gearbeitet. Im Keller des Gebäudes sollen
sich radikale Mitarbeiter zum Beten getroffen haben.

Einer der Attentäter vom Brüsseler Flughafen soll laut einem Fernsehbericht
selbst fünf Jahre lang dort gearbeitet haben. Najim Laachraoui, der sich am 22.
März mit seinem Komplizen Ibrahim El Bakraoui in die Luft gesprengt hatte, sei
bis Ende 2012 für eine Zeitarbeitsfirma am Flughafen tätig gewesen, berichtete
der flämische Fernsehsender VTM am Mittwoch.

Der 24-jährige in Marokko geborene Belgier soll als Bombenspezialist auch eine
Rolle bei den Pariser Anschlägen vom November 2015 gespielt haben. Die
Staatsanwaltschaft nahm zunächst keine Stellung.

DNA in Paris gefunden

Seine DNA wurde auf Resten von Sprengstoffgürteln in Paris gefunden. 2013 war er
nach Syrien gereist, um den Kampf der Dschihadisten zu unterstützen. Zusammen
mit dem mutmaßlichen Paris-Attentäter Salah Abdeslam wurde er im September an
der österreichisch-ungarischen Grenze unter falschem Namen kontrolliert.

Der Privatsender VTM berichtete weiter, kurz vor den Anschlägen vom 22. März sei
"im Keller" des Brüsseler Flughafens ein geheimer Gebetsraum entdeckt worden.
Dort habe sich "radikalisiertes Personal" getroffen, um heimlich zu beten. Der
Gebetsraum sei geschlossen worden. Inzwischen sei eine Liste erstellt worden mit
"mindestens 50 Mitarbeitern", die als radikal eingestuft worden seien und Zugang
zum Flughafen gehabt hätten.

Bei den Brüsseler Anschlägen waren 32 Menschen getötet worden. Zu den


Bombenattentaten am Flughafen und auf einen U-Bahnhof im Stadtzentrum hatte sich
die Dschihadistenmiliz IS bekannt. Mehr als 300 Menschen wurden verletzt. In
Paris kamen 130 unschuldige Menschen ums Leben.

UPDATE: 21. April 2016

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Samstag 23. April 2016 10:53 AM GMT+1

Auf Abschiedstour;
Warum wir Barack Obama noch vermissen werden

AUTOR: Uwe Schmitt

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1852 Wörter

HIGHLIGHT: Der amerikanische Präsident besucht Hannover und damit zum letzten
Mal in seiner zweiten Amtszeit Deutschland. Was für ein Präsident war er? Trotz
aller Kritik an seiner Außenpolitik: kein schlechter.

Es wird in diesen Tagen nicht mangeln an üblen Nachreden und Abgesängen auf
Barack Hussein Obama. Gefärbt von dem deutschen Zug zum Unbedingten in Verehrung
wie Geringschätzung, wird abgerechnet. So lassen sich die 200.0000 an der
Berliner Siegessäule im Juni 2008 bei Obamas deutscher Himmelfahrt verrechnen
mit den 200.000 Anti-TTIP-Demonstranten in der Hauptstadt im Oktober 2015 und
vielleicht abermals 20.000 in Hannover am heutigen Samstag.

Als schäme man sich der Begeisterung von damals für den ersten schwarzen
US-Präsidenten, werden Revanchefouls verübt: Nicht nur für den
NSA-Datenspähskandal, Drohnentötungen und das unerfüllte Versprechen, die
Rechtlosigkeit in Guantánamo zu beenden, sondern für viel zu wenig amerikanische
Führung und zu viel Einmischung. Und überhaupt für die ganze Misere.

Gescheitert sei dieser erste mit postimperialem Gestus angetretene US-Präsident


vollständig, meinen konservative Kommentatoren nicht nur in den USA: Durch
Zaudern im Nahen Osten habe Barack Obama den Iran ermächtigt, Israel geschwächt,
den Irak im Stich gelassen, Moskau in Syrien gestärkt und die Teufelsbrut des IS
erst geschaffen.

Clinton und Obama - ein Vergleich

In Europas Flüchtlingskrise helfe Amerika wenig, sein Lob für Angela Merkels
"kühne Führungskraft" sei ein Lippenbekenntnis aus Angst vor einer zerbrechenden
EU. TTIP sei eine geheimbündlerische Angelegenheit und schon deshalb verdächtig.
In den Vereinigten Staaten selbst seien die Gräben zwischen den ideologischen
Lagern befestigt und noch tiefer geworden; statt Ausgleich und Kompromiss, die
Obama versprochen hatte, verweigere der Kongress die Arbeit, gelähmt von
Missgunst und Feindseligkeit.

Endlich bringe der Präsidentschaftswahlkampf unter den republikanischen


Bewerbern die hässlichsten und niedrigsten Seiten zum Vorschein. Fair ist das
nicht. Aber so ergeht es den Heilsfiguren, die für zu viele zu glaubwürdig
wirkten, als sie zu viel versprachen: Sie enden am Kreuz, haftend und bestraft
für die Sünden der Welt.

Der Präsident hält eine Menge von dem Intellektuellen Barack Obama. Aber er war
klug genug, seinen Rücksturz zur Erde vorauszusehen, als er noch nicht im Himmel
war. An ironischer Distanz hat es ihm nie gemangelt. Viel mehr fehlte ihm die
Lust, sich in die Niederungen der Politik zu begeben. Sich zu wälzen und zu
suhlen im Schlamm wie das "political animal" Bill Clinton, dem Obama in anderen
Eigenschaften gleicht: Beide sind Söhne aus dysfunktionalen Elternhäusern,
Vaterlose, die sich selbst erfanden und jede geringste Chance nutzten,
emporzukommen. "Elvis" nannten sie Clinton, weil er die Massen liebte und
bezauberte. "Jimi" (Hendrix) könnte man Obama nennen, der die Massen
verzauberte, ohne sie zu lieben.

Der Traum, Präsident zu sein

Doch wo Clinton, nicht minder gescheit, aus dem Bauch handelte und die
Verfertigung von Politik im endlosen Brainstorming suchte, herrscht bei Obama
Distanz und Rationalität. Seine Berater berichten von leidenschaftlicher Kühle,
Vernunft gegen das Chaos, Wissen wider Gefühle, Intelligenz wider Ideologie. Was
dem Präsidenten innenpolitisch nicht gelang, war, Gegner im Kongress, die wie
Feinde fühlten, sich gewogen zu machen. Kunststück. Sie nannten ihn
unamerikanisch, Feigling, Hochverräter (mit dem Friedensnobelpreis als
Judaslohn).

Sie unterliefen aus Prinzip jedes Gesetzesvorhaben - am zähesten bis heute die
Gesundheitsreform, im Kürzel "Obamacare". Sie sagten offen, sie würden ihren
Präsidenten scheitern lassen. Barack Obama nutzte jede Chance, die sie ihm nicht
gaben, und kam nur selten damit durch. Sein Scheitern ist so glorios, dass es
einem Sieg gleichkommt. Der Präsident mit der unwahrscheinlichsten, also
amerikanischsten Aufstiegsstory kann nicht mehr scheitern.

Rückblende: Ronald Reagan war Amerikas Präsident, sein Land schrieb das Jahr
1983, und der New Yorker Student Barack Obama war weder high noch betrunken, als
er seinen pakistanischen Kommilitonen Mir Mabub Mahmud eine lächerliche Frage
stellte: "Glaubst du, ich werde eines Tages Präsident der Vereinigten Staaten
sein?"

Was nur Amerika kann

Mahmud, Jurastudent an der Columbia University, hatte Nächte damit verbracht,


mit Obama über Literatur und politische Theorie zu diskutieren. Er hatte sich
das Recht erworben zu erwidern: "Klar, du verrückter Hund. Warum nicht gleich
Gott?" Stattdessen nahm er Obama ernst und antwortete: "Wenn Amerika bereit ist
für einen schwarzen Präsidenten, kannst du es schaffen." Dieser von Mahmud
bezeugte Wortwechsel, der einen kindlichen Träumer mit fantastischem Ego
aufscheinen lässt, findet sich in der Biografie "Barack Obama - The Story"
(2010) von David Maraniss.

Amerikas erster multikulturell geprägter Präsident, der sich in Honolulu,


Jakarta, New York und Chicago überwiegend selbst erzog und in zehn Jahren der
Selbstfindungsmühen einen coolen schwarzen Politiker erfand, hätte sich keinen
besseren Biografen wünschen können. Ob der 44. Präsident das selbst so sieht,
mag man bezweifeln.

Nichts, so scheint es, zieht sich so verlässlich durch das Leben von Barack
alias Barry Obama wie das Bedürfnis, sich hinter überlegener Kühle und
gespielter Wärme zu verschanzen. Geheimnisvoll und unverletzlich zu bleiben war
das Ziel. Wie aber aus dem hyperentspannten Pot-Kopf in Hawaii der Elitestudent
an der juristischen Fakultät in Harvard wurde, bleibt selbst nach der Lektüre
von "The Story" im Vagen. Klar ist lediglich, dass nur Amerika solche
Geschichten schreibt.

Präsident des Rückzugs

Nun ist dieser Mann 54, ergraut und flügellahm in seinem letzten Amtsjahr. Obama
zieht Ehrenrunden durch die Welt, und Pfiffe übertönen den schütteren Beifall.
Es ist an der Zeit, sich zu erinnern, dass der 48 Jahre alte US-Senator aus
Illinois 2008 in der schwersten Finanzkrise seit Menschengedenken gewählt wurde
und im Januar darauf ein gigantisches Haushaltsdefizit vorfand, "verursacht
durch zwei unbezahlte Kriege und zwei unbezahlte Steuersenkungen", wie er selbst
beklagte.

Niemand, der halbwegs fair auf das erste schwere Amtsjahr Obamas zurückblickt,
kann bestreiten, dass der junge Präsident eine erstaunlich aufrechte Haltung
unter Feindfeuer bewies. Die Kriegsmüdigkeit der meisten Amerikaner hatte ihn
ins Amt gebracht; ihm vorzuwerfen, dass er sein Versprechen eines geordneten
Rückzugs aus dem Irak und Afghanistan zu erfüllen versuchte, zeugt von
erstaunlicher Perfidie.

Obamas republikanischer Gegenkandidat John McCain, schnell bei der Hand mit
Forderungen, irgendwelche nahöstlichen Hauptstädte zu bombardieren, hatte die
Wahl krachend verloren. Im aktuellen Wahlkampf gibt der Texaner Ted Cruz sich
ähnlichen Fantasien hin. Auch Donald Trump nimmt es locker allein mit Wladimir
Putin auf und fegt den IS vom Antlitz der Erde. Die Herren spielen amerikanische
Allmacht, weil es ihnen in den Kram passt. Wenn die ersten 50 GIs in
Plastiksäcken zurückkehrten, könnte es rasch vorbei sein mit der Abenteuerlust
ihrer Wähler.

Obama und Merkel

Nicht nur Barack Obama hatte das Pech, seine gesamte Amtszeit von Kriegen und
Krisen getrieben worden zu sein. Mit Ausnahme von "Obamacare" hatte er kaum
Gelegenheit, je politisches Kapital einzusetzen für seine Vision von einem
gerechteren, mit sich ausgesöhnten Amerika. Die Vorstellung hatte er in
glänzenden Reden glaubwürdig entworfen; "Yes we can" war ein Slogan smarter
Werbeleute, lächerlich war er nicht. Amerika wollte glauben, an das Gute in sich
selbst. Obama schenkte den Amerikanern schon durch seine Redekunst und Biografie
die erfüllte Sehnsucht nach innerem Frieden der Rassen.

Er war nicht naiver als Ronald Reagan, der nach den deprimierenden Carter-Jahren
in Ölschock und Rezession die Nation aufzurichten versuchte und ihr 1984 mit dem
Mantra "Morning in America"das "Yes we can" seiner Zeit verabreichte wie ein
Aufputschmittel. Es funktionierte. Mögen Historiker und Politikwissenschaftler
streiten über die Erfolge und Enttäuschungen der Ära Barack Obama, die im
Übrigen erst im Januar 2017 endet: Ahnungslosigkeit oder gar Scharlatanerie ist
ihm nicht vorzuwerfen. Dass viele Deutsche, die über Jahre unfähig waren, dem
Mann das Geringste zu verargen, nun schwer enttäuscht sind, sagt eine Menge über
sie aus. Wenig Schmeichelhaftes.

Angela Merkel hat sich stets vorbehalten, den Präsidenten nicht anzuhimmeln. Die
Physikerin und der Rechtsprofessor sind sich nahe in ihrer Distanziertheit. So
fremd der Kanzlerin die hochgestimmte Baptistenprediger-Rhetorik Obamas ist, so
pragmatisch und ideologiefern treten die beiden Machtpolitiker einander
gegenüber. Im Grunde teilen sie mehr als ihnen zugutegehalten wird. Nicht zum
wenigsten ihr Außenseitertum im politischen Gewerbe, mindestens in ihren
Anfängen.

Ohne Skandal durch die Amtszeit

Beide stammen nicht aus Dynastien politischer Macht. Hawaii und Ostdeutschland
waren auf ihre Weise gleichermaßen exotisch in der Biografie eines
Regierungschefs beider Staaten. Obamas Ideen zu sozialer Gerechtigkeit sind, in
sehr amerikanischer Färbung, sozialdemokratisch, konservativ und christlich wie
jene von Angela Merkel.

Dass das deutsche Spardiktat und die Verehrung der "schwarzen Null" im
eklatanten Widerspruch stehen zu dem obersten Konsumgebot in den USA, das
hinausläuft auf eine Patriotenpflicht zur privaten Verschuldung, trennt die
beiden nicht mehr, als frühere Präsidenten und Bundeskanzler davon getrennt
wurden. Es versteht sich, dass Barack Obama, tief besorgt um das von der
Flüchtlingskrise aufgewühlte Europa, sowohl David Cameron wie Angela Merkel den
Rücken stärken will. Mehr als freundschaftliche Gesten und gute Worte wird er
nicht bieten können.

Das ist nicht so banal, wie es scheint. Sollte einer der beiden nach Vorwahlen
führenden Republikaner ins Weiße Haus gelangen, könnten sich die Europäer bald
nach Obamas konzilianten Manieren zurücksehnen. Die ersten amerikanischen
Kolumnisten beginnen vorauseilend den Mann zu vermissen, der ein feiner Herr
ist, ein Gentleman. David Brooks, einer der eminenten konservativen
Kommentatoren und strenger Kritiker von Obamas Politik, bekannte schon Anfang
Februar in einer bewegenden Hommage, wie sehr er die "grundsätzliche Integrität
und Menschlichkeit" des Präsidenten schätze.

Anstand und Höflichkeit

Keinen einzigen Skandal hätten sich die Obamas oder einer ihrer Angestellten in
acht Jahren zuschulden kommen lassen. Angesichts der enormen Zeit- und
Kraftverschwendung, die einst Reagan und Clinton die Affären um Iran-Contra und
Monica Lewinsky kosteten, eine rühmenswerte Leistung. Nichts liegt Barack Obama
ferner, als Minderheiten zu diffamieren, mit stumpfen Machismo Militärschläge
anzudrohen, Kritiker zu erniedrigen. Bei Cruz und Trump sieht David Brooks
entsetzt, was er "die Pornografie des Pessimismus" nennt: "Die Menschen werden
eher von Hoffnung und Gelegenheiten motiviert, kluge Entscheidungen zu treffen,
als von Furcht, Zynismus, Hass und Verzweiflung. Anders als viele gegenwärtigen
Kandidaten hat Obama nie solche Leidenschaften angesprochen."

Wer meint, Anstand, Höflichkeit und Würde hätten in der Politik nichts verloren,
nur Schwächlinge könnten sie sich leisten, mag Barack Obama für einen Versager
halten. Wir anderen werden ihn vermissen.

UPDATE: 23. April 2016

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Sonntag 24. April 2016 8:32 AM GMT+1

Cervantes' letzte Tat;


"Lebt wohl, ihr geistreichen Witze"

AUTOR: Martin Ebel

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1156 Wörter

HIGHLIGHT: Für uns ist er der Schöpfer des "Don Quijote": Doch damals galt eine
Ritter-Parodie weniger als ein Liebesroman. Deswegen schrieb Cervantes auch
"Persiles und Sigismunda". Soll man das auch lesen?

Jeder kennt den "Don Quijote", und sei es nur die Episode mit den Windmühlen,
aus einer Bearbeitung für die Jugend oder als "Der Mann von La Mancha", den
Musicalhelden. Kaum jemand dagegen hat "Die Irrfahrten von Persiles und
Sigismunda" gelesen. Wer weiß überhaupt vom letzten Roman des Miguel de
Cervantes, den der Autor kurz vor seinem Tod abschloss und für das beste seiner
Werke hielt? Den Tod - am 23. April 1616, zehn Tage vor dem Shakespeares - hat
er selbst in die Widmung des Romans ("Nachdem ich gestern bereits die letzte
Ölung bekommen habe") und die Vorrede ("Lebt wohl, ihr geistreichen Witze")
hineinkomponiert.

"Persiles und Sigismunda" wurde sofort zum Bestseller - was immer das hieß in
einem Spanien, in dem kaum jemand lesen konnte -, neunmal ins Deutsche
übersetzt, viel gelobt, aber dann vergessen und im Buchhandel nicht mehr
greifbar. Die zehnte Übersetzung legt Petra Strien jetzt bei der Anderen
Bibliothek vor; in einem ein klaren, flüssigen Deutsch, versehen mit zwei
Nachworten und Anmerkungen.

"Don Quijote" öffnet literarisch das Fenster zur Moderne, "Persiles und
Sigismundo" aber orientiert sich rückwärts. Aus heutiger Perspektive ist es ein
epigonaler Roman. Das Vorbild sind die "Äthiopischen Abenteuer von Theagenes und
Charikleia", verfasst um 250 n. Chr. vom spätantiken Autor Heliodor in Emesa,
dem heutigen Homs in Syrien.

Ein literarisches Modell, das bis ins 17. und 18. Jahrhundert viele Nachahmer
gefunden hat; indem er ihm kongenial folgte, wollte Cervantes endlich die
Anerkennung als großer Autor gewinnen. Die Ständeklausel galt damals auch in der
Literatur, und der Liebes- und Abenteuerroman stand höher als etwa der gerade
erblühende Schelmenroman oder gar die Ritterparodie.

Liebe zählt mehr als die Ritterparodie

Wie bei Heliodor geht es in "Persiles und Sigismunda" um ein Liebespaar, das vom
Schicksal auf jede erdenkliche Weise verfolgt wird, aber unerschütterlich
aneinander fest- und am Schluss auch den verdienten Lohn in Form der
Eheschließung erhält.

Lebt der moderne Liebesroman von den mannigfaltigen inneren Sprengkräften -


Eifersucht, Missverständnisse, Erkaltung des Gefühls, Langeweile -, so lebt der
klassische von dem, was die Glücks- und Unglücksgöttin Fortuna in ihrem Füllhorn
hat. Persiles und Sigismunda werden entführt, getrennt, als Sklaven verkauft,
überfallen, verhaftet, beraubt, verwechselt und wiedererkannt. Nichts kann den
Glauben an sich selbst und den anderen und ein letztlich günstiges Geschick
erschüttern. Keiner Versuchung geben sie nach.

Um Sigismunda bewerben sich unter anderem der Prinz von Dänemark, der Herzog von
Nemours und König Polykarp in Unkenntnis von deren königlichem Geblüt, allein
angezogen von ihrer unvergleichlichen Schönheit. Diese Schönheit - "sin par",
wie es im Spanischen heißt, und der "Quijote"-Leser denkt an die parodistische
Anwendung auf die Bauernmagd Dulcinea - wird nicht beschrieben, sondern nur in
ihrer Wirkung gezeigt: Alle verfallen ihr, bis hin zum Tod im Duell (oder
beinahe).

Auch Persiles muss einigen Nachstellungen entgehen, er widersteht einer


Königstochter ebenso wie einer römischen Edelhure.

Cervantes ist ein Erzählprofi

Cervantes weiß durchaus, wie man die Erzählmaschine anwirft und am Laufen hält.
Er setzt mitten in der Geschichte ein, mit einem lauten Schrei eines Barbaren,
der in ein unterirdisches Verlies blickt. Er führt die Leser durch weite Räume -
vom Eismeer über allerlei fiktive Inseln nach Portugal, Spanien und Frankreich
bis ins Heilige Rom. Er spart nicht an Piratenüberfällen, Seeschlachten,
Meeresungeheuern, Schiffbrüchen, Listen und Verstellungen, Identitätswechseln
und Täuschungen aller Art.

So wechselhaft wie die Winde und das Meer verläuft das Leben der Liebenden (die
sich als Geschwisterpaar auf Pilgerfahrt ausgeben; warum erklärt erst der
Schluss des Romans). Spannung wird als Aufschub gestaltet, als Triebaufschub für
die erst nach 500 Seiten in aller Schicklichkeit vereinten Liebenden, als
unendliche Verzögerung für das Publikum.

Immer wieder kommt es zu unerwarteten Wendungen ("als plötzlich ..." heißt es


dann) oder zur Begegnung mit interessanten Personen, die eine eigene
abenteuerliche Geschichte aufzubieten haben, die natürlich ausführlich erzählt
werden muss. Immer haben diese Geschichten etwas mit Liebesverhältnissen zu tun:
eingefädelte Ehen, Entführungen, vorehelicher Sex, tödliche Rivalität; und die
Botschaft ist durchaus liberal, für Liebesheirat und Selbstbestimmung, auch der
Frau.

Es ist auch eine gesamteuropäische Reisegruppe, die Cervantes begleitet, und von
Norwegern über Polen bis hin zu Portugiesen kommen viele Nationalitäten vor. Es
fehlt nicht an Bezügen zur Aktualität, wenn man sie denn ziehen mag (die
Verhinderung eines Ehrenmordes, selbstverständlich im christlichen Milieu; der
Umgang mit Fremden und Flüchtlingen, von denen es damals, der Roman spielt um
1560, auch nicht wenige gab). Cervantes schreibt epigonal, aber - im Rahmen des
damals Möglichen - nicht reaktionär.

Sein bestes Werk?

Es gibt auch ausgesprochen amüsante Passagen - etwa ein "Museum der künftigen
Dichter" oder hin und wieder die Selbstermahnung, nicht zu ausführlich zu
werden. Aber im Großen und Ganzen hat Cervantes-Biograf William Byron schon
recht, wenn er "Persiles und Sigismundo" als "literarisches Sperrgut"
bezeichnet. Es ist gerade die Fülle der Ereignisse und Gestalten, die zur
Ermüdung führt; allzu schnell drehende Räder bleiben für den Betrachter eben
stehen. Dazu kommt ein Schematismus der Beschreibungen, den sich heutige Leser
nicht mehr bieten lassen.

Aber auch Goethe hat ja nicht den "Faust", sondern die "Farbenlehre" für sein
wichtigstes Werk gehalten. Preisen wir also Cervantes für seinen "Quijote",
eines jener Bücher, ohne das jedes Leseleben unendlich ärmer wäre, und erinnern
wir an seinem Todestag an sein eigenes Leben, das so abenteuerlich war wie ein
Roman.

Mit 23 zog der Sohn eines Wundarztes in den Krieg, focht 1571 bei Lepanto mit,
in einer der großen Seeschlachten der Weltgeschichte, in der die
kaiserlich-venezianische Flotte die Türken besiegte, wurde von drei
Arkebusenkugeln getroffen - eine machte seine linke Hand unbrauchbar und trug
ihm den Ehrentitel "El manco de Lepanto" ein -, fiel auf der Rückreise in die
Hände muslimischer Piraten, verbrachte fünf Jahre als Sklave in Algier, ehe er
vom Trinitarierorden ausgelöst wurde, schlug sich als Getreideaufkäufer und
Steuereinnehmer durch, beides bei den Bauern verhasste Gewerbe, was ihn auch
zweimal ins Gefängnis brachte.

Immer Schulden, immer wieder in Prozesse verwickelt. Auch in einen literarischen


Kampf: Als ein Konkurrent eine Fortsetzung seines "Quijote" herausbrachte, trat
er mit seinem zweiten Teil gegen ihn an, ließ seinen Helden seinem eigenen Ruhm
begegnen und trieb das Spiel mit der Fiktionalität immer noch eine Drehung
weiter. Und schuf so eine Gestalt, in der sich, wie im Ödipus, Faust, Don Juan
oder Hamlet, das Abendland selbst interpretiert.
UPDATE: 24. April 2016

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Sonntag 24. April 2016 10:52 AM GMT+1

Schlupfloch nach Europa;


250 Flüchtlinge stürmen spanische Exklave Ceuta

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 291 Wörter

HIGHLIGHT: Der niedrige Wasserstand an der marokkanischen Küste hat zu einem


Massenansturm auf die spanische Exklave Ceuta geführt. Mehr als hundert Menschen
gelang es, den Grenzzaun zu überwinden.

101 Menschen ist am Samstag von Marokko aus die Flucht in die spanische Exklave
Ceuta gelungen. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Efe unter Berufung auf die
Behörden berichtete, waren an dem Massenansturm rund 250 Afrikaner beteiligt.
Die Flüchtlinge - allesamt Männer - hätten die guten Seebedingungen ausgenutzt,
um vormittags am Strand-Grenzübergang Benzú übers Meer nach Ceuta zu gelangen.

Sieben Flüchtlinge hätten sich bei der Aktion verletzt und seien mit
Schnittwunden und Prellungen ins Krankenhaus gebracht worden, hieß es. Die
Behörden hatten zunächst von "mindestens 119" Flüchtlingen gesprochen, die
spanisches Gebiet erreicht hätten, korrigierten diese Zahl aber später nach
unten. Die Begründung: Die paramilitärische Polizeieinheit Guardia Civil habe
sich verzählt.

Nach Angaben der Behörden in Ceuta handelte es sich bei den Schutzsuchenden um
Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara.

Massenansturm im Dezember

Der letzte erfolgreiche Massenansturm auf Ceuta war im Dezember registriert


worden. Damals hatten 185 Menschen spanisches Gebiet erreicht. Anfang Januar
scheiterte dann eine Aktion von rund 250 Afrikanern. Aufgrund der schnellen
Reaktion der Sicherheitskräfte konnte kein einziger von ihnen die
Grenzabsperrungen überwinden.
Spanien verfügt in Nordafrika über zwei Exklaven, die beide von Marokko
beansprucht werden: Ceuta an der Meerenge von Gibraltar und das 250 Kilometer
weiter östlich gelegene Melilla. Beide Exklaven gehören zur Europäischen Union.

In der Nähe der beiden Gebiete harren Zehntausende notleidender Afrikaner


vorwiegend aus Ländern südlich der Sahara auf eine Gelegenheit, in die EU zu
gelangen. Zu diesen Afrikanern kommen nach Angaben aus Marokko seit Anfang 2015
immer mehr Flüchtlinge aus Syrien.

UPDATE: 24. April 2016

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Montag 25. April 2016 9:25 AM GMT+1

Klarer Wahlsieg;
Serbien gibt Vucic die Zustimmung für den EU-Beitritt

AUTOR: Boris Kálnoky, Belgrad

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 890 Wörter

HIGHLIGHT: Serbiens Regierungschef hatte die Parlamentswahlen zur Abstimmung


über seinen Pro-EU-Kurs gemacht und bekommt den Rückhalt aus der Bevölkerung.
Überraschend schlecht schneiden die Nationalisten ab.

Der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic hat die vorgezogene Parlamentswahl


am Sonntag überzeugend gewonnen. Seine Fortschrittspartei (SNS) werde mit rund
50 Prozent der Stimmen und 145 Sitzen eine satte absolute Mehrheit in der
Volksvertretung mit 250 Abgeordneten erhalten, berichtete die
Wahlforschungsgruppe Cesid in Belgrad nach Auszählung von mehr als 80 Prozent
der Stimmen. Vucic sprach von einem "historischen Sieg" und einer "kraftvollen
Unterstützung unserer Politik": "Ich bin sehr stolz auf unsere Ergebnisse".

Auf dem zweiten Platz landete der bisherige sozialistische Juniorpartner in der
Regierung. Die SPS kam auf knapp 12 Prozent und 33 Abgeordnete. Erstmals seit
Jahren schafften es auch die extremen Nationalisten (SRS) unter dem vom
UN-Kriegsverbrechertribunal freigesprochenen Vojislav Seselj wieder ins
Parlament. Sie stiegen mit knapp acht Prozent und 22 Sitzen zur drittstärksten
politischen Kraft auf. Eine zweite nationalistische Partei (Dveri) kam nach
diesen vorläufigen Ergebnissen auf fünf Prozent und 14 Sitze.

Die vorgezogenen Wahlen - nur zwei Jahre nach seinem überwältigenden Wahlsieg
2014 - hatte Vucic mit der Begründung angesetzt, er brauche ein noch klareres
Mandat, um Serbien gegen wachsenden inneren Widerstand an die EU heranzuführen.
Das Land ist seit Mitte 2013 Beitrittskandidat, aber die überall in Europa
wachsende EU-Skepsis ist in Serbien erst recht zu spüren.

Viele Menschen betrachten "den Westen" und Europa immer noch mit Misstrauen,
machen die Europäer mit verantwortlich für den Verlust des Kosovo und den
Zerfall Jugoslawiens.

70 Prozent der jungen Serben wollen in Europa arbeiten

Im Jahr 2014, kurze nachdem das Land Beitrittskandidat geworden war, sprach sich
laut Umfragen immerhin eine knappe Mehrheit der Serben, 51 Prozent, für den
Beitritt aus. Im Februar 2016 waren es allerdings nur noch 48 Prozent.

Für die meisten Serben, besonders für die jüngere Generation, hat eine
eventuelle EU-Mitgliedschaft eigentlich nur eine Bedeutung: Bessere
Möglichkeiten auszuwandern. 70 Prozent der Serben im Alter von 18 bis 30 Jahren
gaben in Umfragen an, sie wollten nach Möglichkeit in der EU arbeiten. Das ist
dann aber auch bereits alles, was die allermeisten an Europa gut finden. 65
Prozent geben an, die russische Außenpolitik (Krim, Syrien) gut zu finden, und
mehr als die Hälfte spricht sich für eine russische Militärbasis in Serbien aus.

Das Land hat in den letzten 20 Jahren bereits gut zehn Prozent seiner
Bevölkerung durch Auswanderung und die demographische Entwicklung verloren (ohne
Kosovo) und zählt jetzt nur noch rund sieben Millionen Einwohner - davon sind
weniger als sechs Millionen ethnische Serben.

Auch bei absoluter Mehrheit will Vucic einen Koalitionspartner

Vucic hat mit seinem überzeugenden Wahlsieg nun die Möglichkeit, mit einer
stabilen Regierungsmehrheit in den nächsten vier Jahren die
Beitrittsverhandlungen mit der EU voranzutreiben. Als einen ersten Schritt hatte
er noch vor dem Urnengang eine weitgehende Privatisierung des immer noch
riesigen serbischen Staatssektors in der Wirtschaft angekündigt.

Darüber hatte er sich vor der Wahl mit den mitregierenden Sozialisten (SPS)
überworfen, und es wird eine der spannenden Fragen der nächsten Tage sein, ob
SNS und SPS erneut bereit sein werden, eine Koalition einzugehen. Vucic hatte
vor der Wahl angekündigt, er wolle auch im Falle einer absoluten Mehrheit nach
Koalitionspartnern suchen.

Westliche Experten in Belgrad sind jedoch der Meinung, dass ein tatsächlicher
EU-Beitritt Serbiens noch in weiter Ferne steht. Vor allem, weil es aus
europäischer Perspektive strategisch nur Sinn macht, alle Westbalkan-Staaten
gemeinsam aufzunehmen, also neben Serbien auch Montenegro, Bosnien, eventuell
Albanien. Denn eine neuerliche Erweiterung der EU ist in Europa selbst so schwer
durchzusetzen, dass eine "Einzelabfertigung" dieser Länder schwerer machbar wäre
als eine "Paketlösung".

Mit oder ohne Kosovo Mitglied der EU?

Eine solche Aufnahme mehrerer Länder der Region in die EU stößt jedoch auf
zahlreiche Probleme. Montenegro (ebenfalls bereits Beitrittskandidat, die
Verhandlungen laufen seit 2012) wäre noch der einfachste Fall, aber ein
eventueller Beitritt Serbiens wirft beispielsweise die Frage auf, ob das Land
mit oder ohne Kosovo Mitglied werden soll oder kann. Bosnien hat erst in diesem
Jahr die Kandidatur beantragt.

Das Land ist dysfunktional und zerrissen zwischen den Bestrebungen seiner
diversen Volksgruppen, jeweils eigene Wege zu gehen. Besonders Serben und
Kroaten würden sich gerne von dem künstlichen Konstrukt "Bosnien" verabschieden.

Aber erste Dinge zuerst. Vucic muss nun seine neue Mehrheit nutzen, um ein
konsequentes Reformprogramm durchzusetzen. Im Vorfeld der Wahl waren Sorgen laut
geworden, ob die Rückkehr der nationalistischen SRP und ihres umstrittenen
Führers Vojislav Seselj ins Parlament Vucic' Spielraum für Reformen einengen
könnte.

Ihr vorläufiges Ergebnis von sieben Prozent blieb weit zurück hinter den
Spitzenwerten der Partei in den Umfragen, nachdem Seselj vom Haager
Kriegsverbrechertribunal freigesprochen worden war. Dort hatte seine Partei in
den Umfragen zeitweise bei 12 Prozent gelegen. Dass sie am Ende ein doch eher
bescheidenes Ergebnis erzielte zeigt, dass sie Serben eine Zukunft wohl
tatsächlich doch eher in der EU als in einem "Großserbien" erblicken.

UPDATE: 25. April 2016

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Montag 25. April 2016 12:57 PM GMT+1

Ebru Umar;
Türkei nimmt niederländische Journalistin kurzzeitig fest

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 524 Wörter

HIGHLIGHT: Erneut gerät eine Journalistin in der Türkei ins Visier der
Ermittler: Die türkischstämmige Niederländerin Ebru Umar wurde kurzzeitig
festgenommen. Als Grund nennt sie Erdogan-kritische Äußerungen.

Wegen kritischer Äußerungen über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan
ist eine niederländische Journalistin in der Türkei festgenommen worden. Ebru
Umar, die türkischer Abstammung ist, wurde nach eigenen Angaben in der Nacht zum
Sonntag aus ihrer Wohnung in der westlichen Küstenstadt Kusadasi von der Polizei
abgeführt. Am Sonntag teilte sie via Twitter mit, sie sei wieder frei, dürfe das
Land aber nicht verlassen. In den Niederlanden löste der Fall große Empörung in
den sozialen Medien aus.

"Polizei vor der Tür. Kein Witz", schrieb Umar im Kurzmitteilungsdienst Twitter
am Samstagabend. Als sie ihr Haus verlassen musste, textete sie: "Ich bin nicht
frei, wir fahren zum Krankenhaus zu einer medizinischen Untersuchung." Danach
solle sie dem Staatsanwalt vorgeführt werden.

Die niederländische Website Geenstijl teilte mit, Umar habe in einer SMS
geschrieben, dass sie noch am Sonntag einem Richter vorgeführt werden solle. Sie
sei festgenommen worden, nachdem jemand ihre Twitterbotschaften einer von
türkischen Behörden eingerichteten Hotline gemeldet habe.

Konsulat soll Türken in Rotterdam zur Mitarbeit aufgerufen haben

Die Journalistin hatte jüngst für die niederländische Zeitung "Metro" eine sehr
kritische Kolumne über Erdogan verfasst. Auszüge daraus verbreitete sie
anschließend über Twitter. In dem Text ging es um ein Schreiben des türkischen
Konsulats in Rotterdam an Türken in der Region Rotterdam, die darin aufgefordert
wurden, jede mutmaßliche Beleidigung Erdogans in den sozialen Netzwerken zu
melden.

Das Schreiben hatte für heftige Kritik gesorgt. Das Konsulat sprach anschließend
von einem "Missverständnis". Angeblich wurde das Schreiben demnach von einem
Konsulatsmitarbeiter verschickt, der "eine unglückliche Wortwahl" gebraucht
habe. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte kündigte an, von Ankara
Aufklärung in dem Fall zu verlangen.

Rutte twitterte am Sonntag, die niederländische Botschaft stehe in "engem


Kontakt" mit Umar, um ihr beizustehen. Bildungsministerin Jet Bussemaker sagte
dem Fernsehsender WNL, eine Festnahme wegen eines Tweets sei "absurd". Das
Außenministerium teilte mit, es verfolge den Fall genau und stehe mit den
zuständigen Behörden in der Türkei in Verbindung. Diese waren zunächst für eine
Stellungnahme nicht zu erreichen.

Festnahme während Merkel-Besuch in der Türkei

Die Festnahme sorgte in den sozialen Medien in den Niederlanden für großes
Aufsehen. der Hashtag "#freeebru" verbreitete sich rasant. Politiker und
Journalisten forderten die Freilassung Umars.

In der Türkei ist derzeit ein starker Anstieg von Prozessen gegen Kritiker des
seit 2014 amtierenden und zunehmend autoritär herrschenden Erdogan zu
beobachten. Derzeit laufen rund 2000 Verfahren, viele gegen Künstler,
Journalisten und Intellektuelle, aber auch gegen Privatleute.

Umars Festnahme erfolgte am selben Tag, an dem sich Bundeskanzlerin Angela


Merkel und ranghohe EU-Vertreter im türkischen Grenzgebiet zu Syrien ein Bild
von der Lage der Flüchtlinge dort machten. Kritiker werfen Merkel und der EU
vor, zu nachgiebig auf Repressalien des türkischen Staates gegen Presse- und
Meinungsfreiheit zu reagieren.

UPDATE: 25. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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Dienstag 26. April 2016 8:43 AM GMT+1

Antike Seefahrt;
Wie Piraten die Römische Republik ruinierten

AUTOR: Berthold Seewald

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 1522 Wörter

HIGHLIGHT: Sie raubten Menschen und handelten mit Luxusgütern: Die Seeräuber
spielten eine zentrale Rolle in der antiken Ökonomie. Sie kollaborierten mit
höchsten Kreisen, und Roms Generäle trieben Piratenspiele.

Am Anfang war der Pirat. Zumindest in der Literaturgeschichte des Okzidents. Den
Auftakt von Homers "Ilias" bildet der Raub der schönen Helena, nachdem der
trojanische Prinz mit seinem Schiff der Küste des Königreichs Sparta einen
Besuch abgestattet hatte. Die "Odyssee" handelt sogar fast ausschließlich von
einem Piraten. "Da verheert' ich die Stadt und würgte die Männer", erklärt ihr
Held Odysseus sein Tagewerk. "Aber die jungen Weiber und Schätze teilten wir
alle gleich, dass keiner leer von der Beute mir ausging."

Wenn man im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. ein Segel am Horizont wahrnahm,


stellte sich im Grunde nur eine Frage: "Oh Fremde wer seid ihr?", legt Homer dem
Landbewohner in den Mund. "Woher kommt ihr auf den nassen Wegen der Gewässer?
Seid ihr geschäftlich unterwegs oder fahrt ihr zufällig hin und her, so wie es
Seeräuber zu tun pflegen, die herumfahren, dabei ihr Leben riskieren und Unglück
über andere bringen?"

Bis zum Ende des ersten Jahrtausends v. Chr. sollten diese Sätze noch oft
fallen. Pirat oder Kaufmann, das war die Frage, und oft ergab sich die richtige
Antwort nur aus der Perspektive. Viele Handelsgüter wurden als Beute in den
Wirtschaftskreislauf der mediterranen Welt eingespeist. Wie das geschah, zeigt
die Ausstellung "Gefahr auf See - Piraten in der Antike". Der Ort, Museum und
Park Kalkriese nördlich von Osnabrück, hat sich eigentlich der Präsentation des
mutmaßlichen Varusschlachtfeldes verschrieben. Aber der Besucher erkennt bald,
dass zwischen einem römischen Aristokraten vom Schlage eines Varus und den
Freibeutern nicht nur Welten klafften, sondern oft auch sehr enge Beziehungen
bestanden.
"Beute war ein Schlüsselfaktor der Ökonomie, der Beutekrieg nicht nur im Epos,
sondern auch in der Realität eine übliche Erwerbsform", erklärt Museumsleiterin
Heidrun Derks die Rolle der Piraterie im maritimen Fernhandel. Die Zitate aus
Homers Epen machen deutlich, wie man sich das vorzustellen hat: Ein offizieller
Besuch konnte umgehend in Beutemachen umschlagen. Kapitäne hatten sich auch nach
den Wünschen ihrer Mannschaft zur richten. Ob Handel oder Raub, auf dem Meer war
beides gefährlich. Dieses Risiko sollte entlohnt werden.

Während der Bronzezeit, also im 2. Jahrtausend v. Chr., waren wohl die Minoer
Kretas und die mykenischen Griechen die ersten gewesen, die sich weit auf das
Mittelmeer wagten und seine Routen erschlossen. Darüber versorgten sie die
Großreiche im Nahen Osten mit Luxuswaren und strategischen Gütern wie Kupfer und
Zinn für die Bronzeherstellung. Den Weg eines Kupferbarrens verfolgt die
Ausstellung bis ins oberägyptische Theben. Nach dem Zusammenbruch dieses
Mächtesystems, das bezeichnenderweise auch räuberischen Seevölkern zugeschrieben
wurde, machten im 1. Jahrtausend randständige Spezialisten die Seefahrt zu ihrer
Domäne.

Die Ersten waren die Phönizier. Auf sie folgten im Westen die Etrusker und die
große Seemacht Karthago, ursprünglich eine phönizische Kolonie. Und natürlich
die Griechen. Viele ihrer Stadtstaaten spezialisierten sich auf den Fernhandel,
was der Piraterie aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: Viele Aristokraten
nahmen sich an Odysseus ein Beispiel. Der machte kein Hehl daraus, dass "einer
regelmäßigen Arbeit nachzugehen ... nicht mein Ding war ... was ich dagegen
liebte waren Ruderboote, Krieg und Gewalt". In diesem Sinn zog es viele junge
Adelige und ihren Anhang auf See. Dort kamen sie zu Ansehen und - wenn alles gut
ging - einem Vermögen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass ganze griechische Kolonien von Piraten
gegründet worden waren. "Raubüberfälle finanzierten den Trip, hielten die
Mitfahrer bei Laune oder waren das Startkapital für den Neuanfang", schreibt
Museumsdirektorin Dierks in einem Aufsatz für die Zeitschrift "Antike Welt".

Dabei funktionierte Piraterie nur in enger Kollaboration mit den Spitzen der
Gesellschaft. Denn die wichtigsten Handelsgüter, die die Ausstellung vorführt,
waren Luxusgüter mit elitärem Kundenstamm: Goldschmuck, Elfenbein, Gläser,
Parfüm, Öle oder Purpur.

Die Konjunktur des Piratengewerbes verhielt sich allerdings umgekehrt


proportional zu dem militärischen Potenzial, das Land- oder Seemächte in die
Waagschale werfen konnten. Im 5. und 4. Jahrhundert sorgten karthagische oder
athenische Flotten für eine trügerische Sicherheit auf dem Meer, denn ihre
Kapitäne konnten gegenüber Schwächeren leicht in überkommene Verhaltensmuster
verfallen. So wurde "Seeräuber" auch zum Schlagwort in der politischen
Propaganda.

Im 3. Jahrhundert sorgten der Inselstaat Rhodos und die hellenistischen


Königreiche in Ägypten und Syrien für Ordnung. Denn sie konnten ihre Macht an
den Küsten zur Geltung bringen, da, wo viele Piraten ihre Schlupfwinkel hatten
oder ihre Beute suchten. Wie schon Prinz Paris in Sparta gezeigt hatte: Die
meisten Piratenüberfälle ereigneten sich an Land und nicht auf See.

Der Aufstieg Roms beförderte die zivile und die räuberische Variante des Handels
in ungeahnter Weise. Wieder spielten die Eliten der aufstrebenden Weltmacht eine
Schlüsselrolle. Sie gierten danach, ihren neuen Reichtum in Luxusgütern zur
Schau zu stellen. Und sie sorgten mit ihrer Politik zugleich dafür, dass diese
leicht in Piratenmanier beschafft wurden.

Wrackfunde geben Aufschluss darüber, was in Rom das große Geld brachte: Statuen
aus Marmor und Bronze, Schmuck, erlesene Weine, Duftstoffe, ausgefallene
technische Geräte. Auch wertvolle Stoffe wie Seide werden nicht nur auf legalem
Weg an den Tiber gelangt sein. Das galt auch und besonders für Sklaven. Auf der
Kykladeninsel Delos entstand ein regelrechter Großmarkt für die Ware, die von
Menschenjägern beschafft wurde. Deren Aktivitäten schlugen schließlich auf die
Kundschaft zurück. Selbst ein Aristokrat wie der junge Cäsar wurde von Piraten
gefangen genommen.

Die Piratenplage hatte Rom auch auf andere Weise befördert. Indem es Karthago
zerstört und Rhodos und das Seleukidenreich in Syrien entmachtet hatte, konnten
sich auf Kreta, Zypern oder in Kilikien im südlichen Kleinasien regelrechte
Seeräubergemeinwesen etablieren. Halbherzig geführte Polizeiaktionen endeten mit
peinlichen Fehlschlägen.

Schließlich konnte der Senat nicht mehr die Augen vor dem Problem verschließen.
Kein Geringerer als der große Redner Cicero hielt seinen Kollegen 69 v. Chr. das
Problem mit drastischen Worten vor Augen: "Eure Häfen, und zwar die Häfen, durch
die ihr lebt und atmet, waren in der Gewalt der Räuber." Denn die Piraten
bedrohten die lebenswichtige Getreideversorgung von Rom, ein Aufstand der
hungernden Einwohner drohte.

Der folgende "Seeräuberkrieg" gehört zu den großen Kapiteln der römischen


Bürgerkriege. Wieder waren Aristokraten und Piraten verbunden, diesmal aber auf
besonders subtile Weise. Wolfgang Blösel, Althistoriker an der Universität
Duisburg-Essen, hat in seinem neuen Buch "Die römische Republik" (C. H. Beck,
2015) eine verblüffende Deutung vorgelegt.

Danach zog der bekannte Feldherr Pompeius im Hintergrund die Strippen. Nachdem
Cicero sein Bedrohungsszenario ausgeführt hatte, legte ein Strohmann, der
Volkstribun Gabinius, ein Gesetz vor, das einem ungenannten Kommandeur den
Oberbefehl über die gigantische Streitmacht von 120.000 Mann, 500 Schiffen und
5000 Reitern sowie unbegrenzten Kredit aus dem Staatsschatz übertrug. Das
Imperium sollte im gesamten Mittelmeer bis zu 75 Kilometer landeinwärts gelten
und drei Jahre gültig sein. Um den Druck auf den Senat durch die
Volksversammlung zu erhöhen, habe, so Blösel, Pompeius Getreide gehortet und
damit Preis und Unzufriedenheit bewusst in die Höhe getrieben.

Gegen den massiven Widerstand der Senatoren konnte Gabinius sowohl seinen Antrag
und schließlich auch den einzigen geeigneten Kandidaten durchbringen: Pompeius.
Der brauchte ganze drei Monate, um sich seines Auftrags mit Erfolg zu
entledigen. Dazu mag beigetragen haben, dass die überlebenden Freibeuter nicht
in Massen hingerichtet, sondern in Kilikien angesiedelt wurden. Dass das gelang,
wirft ein Licht auf das soziale Herkommen vieler Piraten der unteren Ränge. Oft
hatten sie ein Handwerk gelernt oder waren Söldner gewesen. In der Seeräuberei
hatten sie eine Möglichkeit gesehen, ihren prekären Verhältnissen zu entfliehen.
Nun versuchten sie es in der Landwirtschaft.

Anschließend machte sich Pompeius an die umfassende Neuordnung des Orients. Sein
"außerordentliches Kommando" über ein riesiges Heer und zahlreiche Provinzen
wurde zum entscheidenden Hebel, um die republikanische Verfassung aus den Angeln
zu heben. Nach diesem Muster sollte Cäsar Gallien erobern und sollten sich seine
Erben das Imperium über das Reich teilen.

Erst der Sieger im Bürgerkrieg, Augustus, konnte von sich mit Fug und Recht
behaupten, das Mittelmeer von den Piraten gesäubert zu haben. Doch auch das ging
vorbei. 150 Jahre später klagte der Senator Cassius Dio: "Es gab nie eine Zeit,
in der die Seeräuberei nicht ausgeübt wurde. Noch wird es sie geben, solange der
Mensch sich nicht wandelt."
"Gefahr auf See - Piraten in der Antike", Varusschlacht Museum und Park
Kalkriese bei Osnabrück, bis 3. Oktober; Katalog (Theiss) 14,99 Euro

Sie finden "Weltgeschichte" auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

UPDATE: 27. April 2016

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Dienstag 26. April 2016 1:05 PM GMT+1

Bremen;
Salafisten streiten über Islam - und lösen Razzia aus

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 223 Wörter

HIGHLIGHT: Es gärt in der Salafisten-Szene: In Bremen haben sich Islamisten


offenbar so über die Auslegung des Koran gestritten, dass die Polizei zum
Großeinsatz anrückte. Angeblich gab es sogar Mordpläne.

Die Polizei ist mit einem Großeinsatz gegen Salafisten in Bremen vorgegangen.
Spezialkräfte aus mehreren Bundesländern durchsuchten am Dienstagmorgen neun
Wohnungen und Geschäfte in den Stadtteilen Gröpelingen, Lesum, Walle und
Woltmershausen.

Hintergrund soll ein Streit zwischen Salafisten über die Auslegung des Islam
gewesen sein. In dem Zusammenhang habe es zwei Verletzte gegeben, sagte eine
Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Außerdem soll es Pläne gegeben haben, einen
Menschen zu töten.

Die Polizei stellte nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Identität mehrerer
Verdächtiger fest. Haftbefehle habe es aber nicht gegeben, sagte die Sprecherin.
Bei den Durchsuchungen in mehreren Stadtteilen stellten die Ermittler Handys und
Computer sicher. Über weitere Details will die Staatsanwaltschaft am Mittag
informieren.

Bremen gilt als Salafisten-Hochburg

Der islamistischen Szene in Deutschland werden mehr als 43.000 Menschen


zugerechnet, darunter schätzungsweise 8650 Salafisten. Bremen gilt als eine
Salafistenhochburg. Experten schätzen die Zahl der Anhänger dieser extrem
konservativen islamistischen Strömung im kleinsten Bundesland auf rund 360.

Erst im Februar hatte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) einen


salafistischen Verein verboten, weil dieser im Verdacht stand, Terrorkämpfer für
den Syrien-Einsatz zu rekrutieren.

UPDATE: 27. April 2016

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Mittwoch 27. April 2016 11:43 AM GMT+1

"Hologramm für den König";


Ein Film, der die westlichen Werte nicht braucht

AUTOR: Hanns-Georg Rodek

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1385 Wörter

HIGHLIGHT: Tom Hanks spielt im Tom-Tykwer-Drama "Hologramm für den König" einen
abgehalfterten Firmenvertreter in Saudi-Arabien. Der Film zeigt, dass sich nicht
alle nach westlichen Waren und Werten sehnen.

Es ist erstaunlich, mit wie vielen Ländern wir uns in letzter Zeit wieder
heimlich verfeindet haben, Ländern, zu denen wir noch vor ein paar Jahren
ungetrübte Beziehungen pflegten. Die Rede ist von Staaten, bei deren Erwähnung
Frank-Walter Steinmeier zuerst eine bedenkliche Miene aufsetzt und dann
beruhigend sagt, man werde bei allen Differenzen im Gespräch bleiben. Und man
solle bitte die Reisewarnungen auf der Internetseite des Auswärtigen Amts
beachten.

Nein, es geht nicht um Boykotte und Botschafterrauswürfe, noch nicht. Es handelt


sich um keinen diplomatischen, eher um einen medialen Kriegszustand, und ein
Gradmesser für die Eskalation ist die jeweilige Titulierung der Regierenden:
"Präsident" deutet auf gute Beziehungen, "Regime" kennzeichnet eine
Verschlechterung, und "Machthaber" ist die Aufforderung zum Umsturz.
Mit Russland ist es gerade schwierig. Mit Syrien. Mit der Türkei. Mit Polen. Ja,
mit Griechenland. Allesamt Failed-State-Kandidaten. Zuletzt auch mit
Saudi-Arabien, denn wir haben plötzlich entdeckt, dass das dortige Regime alle
möglichen islamistischen Bewegungen finanziert und Frauen dort nicht Auto fahren
dürfen. Das kann nicht toleriert werden.

Nun aber mal halblang, reduzieren wir die Erregungsstufe. Gehen wir ins Kino.
Was eigentlich ein merkwürdiger Ratschlag ist. Denn im Kino geht der
Erregungsregler meistens nach oben. Auch der Firmenvertreter Alan Clay (Tom
Hanks) kommt in "Hologramm für den König" energiegeladen in Saudi-Arabien an:
morgen Treffen mit dem Monarchen wegen des neuen Konferenzsystems, übermorgen
Vertragsabschluss, damit Rettung seiner Karriere und Geld fürs Studium seiner
Tochter. Es ist die letzte Chance für den Mittfünfziger, über den die
Globalisierungsmoderne längst hinweggegangen ist.

Am Anfang charakterisiert Regisseur Tykwer die Lebenslage dieses Alan Clay mit
einer der schönsten Filmeinführungen der letzten Zeit. Tom Hanks schreitet durch
seine heile Welt und singt dazu "Once in a Lifetime" von den Talking Heads: "And
you may find yourself looking for your large automobile" (puff, löst sich in
einer rosa Wolke auf), "and you may find yourself without a beautiful house"
(große rosa Explosion), "and without a beautiful wife" (noch ein rosa Wölkchen),
"and you may ask yourself: How did I get there?"

Tykwer, seit "Lola rennt" Spezialist für sich beschleunigende Fortbewegung,


nimmt hier die exakt umgekehrte Herausforderung an: Wie bringe ich einen
rasenden Prozess langsam zum Stillstand? Und wie kann aus einem Film, der immer
langsamer wird, interessantes Kino werden?

Vermutlich geht das nur mit Tom Hanks und seiner Fähigkeit, das Komische aus dem
Tragischen zu kitzeln. Als Tykwer vor drei Jahren mit den Wachowski-Brüdern in
Babelsberg drehte, waren die Szenen dem Vernehmen nach so aufgeteilt, dass Hanks
vorwiegend mit den Wachowskis zu tun hatte.

Dave Eggers' "Hologramm"-Roman war nun die Gelegenheit, Hanks ganz für sich zu
haben. Tykwer flog mit dem Drehbuch nach New York, wo Hanks gerade am Broadway
auftrat, und lud ihn zum Abendessen ein. Und Hanks reagierte wie erhofft: "Oh
yeah, boy, oh boy. What can I do? It has to be me!"

Im Rückblick könnte man sagen, Hanks habe die letzten zwanzig Jahre auf diesen
Alan Clay hingespielt, mit jedem seiner amerikanischen Durchschnittsbürger.
Forrest Gump war noch der naive Tor, dem die Belohnungen des Lebens zuflogen,
weil er das Herz auf dem richtigen Fleck hatte. Larry Crowne hatte es nach
seinem Jobverlust schwerer, aber Optimismus und Fortbildung bewältigten die
Krise.

Der König kommt nicht

In Sachen existenzieller Verunsicherung stehen sich "Cast Away - Verschollen"


und "Ein Hologramm für den König" erstaunlich nahe. In Ersterem findet sich
Hanks als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes auf einer menschenleeren
Südpazifikinsel wieder und muss lernen, sich in der ungewohnten Umgebung
zurechtzufinden.

In Letzterem ist ihm Saudi-Arabien so fremd wie eine einsame Insel. Seine
Business-Überlebensfähigkeiten erweisen sich hier als nutzlos. Der König kommt
nicht. Das Internet funktioniert nicht. Er wird an der langen Leine gehalten und
weiß nicht einmal, von wem.

Den Chuck Noland auf der "Cast Away"-Insel retten seine Monologe mit dem
Volleyball Wilson vor der Verzweiflung. Der Wilson von "Ein Hologramm für den
König" heißt Yousef, kutschiert Clay herum und verschafft ihm eine gewisse
Vorstellung von diesem anderen Planeten, auf dem er da gelandet ist: "Hier
drüben ist der Platz, wo immer die öffentlichen Hinrichtungen stattfinden.
Sollen wir einmal vorbeifahren?"

Hollywoodfilme der üblichen Handelsklasse folgen dem Schema, dass der Held in
der Fremde zu sich findet und damit gleichzeitig die Fremde verändert. Bill
Murray zum Beispiel ist in "Rock the Kasbah" als Musikmanager in Afghanistan so
verloren wie Tom Hanks in Saudi-Arabien, aber er bewegt etwas: Er bringt eine
junge Frau mit unglaublicher Stimme in "Afghanistan sucht den Superstar" unter.
Das Tauschprinzip lautet: Bill Murray verliert seinen Zynismus, Afghanistan
gewinnt durch Emanzipation.

Aber "Ein Hologramm für den König" ist kein amerikanischer Film, obwohl der
zugrunde liegende Roman von dem Amerikaner Dave Eggers stammt, obwohl ein Teil
des 30-Millionen-Budgets aus Amerika kommt und obwohl komplett in Englisch
gedreht wurde.

Bei Tykwer und Eggers ist die existenzielle Verunsicherung nicht in


Puff-Wölkchen aufzulösen, denn sie rührt tiefer, an den Kern des westlichen
Selbstverständnisses: Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich
jedes Fleckchen auf diesem Erdball im Grunde seines Herzens nach westlichen
Waren und Werten sehnt. Das ist der eigentliche Schock, den Alan Clay bei den
Saudis erleidet: Diese Kultur braucht die Verlockungen des westlichen
Schaufensters nicht. Was sie braucht, kann sie auch anderswo bekommen.

Augenzwinkernde Milde statt Kriegsrhetorik

Es ist eine Einsicht, an der Tom Hanks schon einmal nahe dran war: Als sein
Robinson in "Cast Away" in die Zivilisation zurückkehrte, musste er feststellen,
dass ihm der Western Way of Life nichts mehr bedeutete.

Tykwer ist weit davon entfernt, den westlichen Lebensentwurf durch einen
nahöstlichen zu ersetzen, gewissermaßen sind ihm beide fremd. Es gibt eine
wunderbare, so amüsante wie bedrohliche Szene, in der Tom Hanks bei einem Besuch
bei den Eltern des Fahrers in den Bergen einen Witz zu reißen versucht: Hin und
wieder arbeite er auch für die CIA. Sofort ziehen seine Gastgeber die Gewehre
und sind so schwer zu beruhigen wie Sicherheitsleute auf dem Flughafen, denen
man im Scherz erzählt, man führe eine Bombe im Kulturbeutel mit.

Das Angenehme an "Hologramm" ist die augenzwinkernde Milde, mit der Romanautor
und Regisseur an ihr Werk gehen und die weit entfernt ist von jener
kriegerischen Rhetorik eines Kampfes der Zivilisationen, die uns heute aus den
Medien entgegenspringt. Es ist eine moderate Stimme, die das alte Konzept von
den Kulturen, die voneinander lernen sollen, beim Wort nimmt; jenes inzwischen
als naiv verschriene Konzept, das im Wir-oder-ihr-Crescendo allenfalls noch
Frank-Walter Steinmeier über die Lippen kommt.

Denn Clay macht eine merkwürdige Feststellung: Je länger er sich in dieser


archaischen Gesellschaft bewegt, desto stärker wird deren Reiz. Wir beobachten
ihn, wie er sich zurücknimmt, und irgendwann, unter der Dusche, stellt er einen
Höcker auf seinem Rücken fest, der dort nichts zu suchen hat. Es ist, als habe
sich der ganze Lebenseiter aus Enttäuschung und Demütigung materialisiert.
Instinktiv nimmt sich Clay - selbst ist der Mann - ein Messer und rührt in dem
Klumpen herum, was ihm aber nur eine Wunde einbringt, die durch das Pflaster,
das Hemd und den Anzug suppt und die Erfüllung seines Auftrages noch mehr
verunmöglicht.
Die Wunde wird nur zu schließen, der Stillstand nur zu überwinden sein, wenn
Clay das Fremde an sich heranlässt. Die Ungeheuerlichkeit dieses Mainstreamfilms
besteht darin, dass er seiner Hauptfigur eine Tür aus dem Mainstream, aus seinem
Kulturkreis heraus öffnet - und dass die Figur hindurchgeht.

Forrest Gump, Larry Crowne, Chuck Noland - alle sind sie am Ende wieder da, wo
sie schon immer waren, trotz aller Zweifel. Alan Clay jedoch lässt sich ins
Ungewisse fallen. Er ist ein wahrer Held für unsere Tage. "Hologramm" für den
König" ist nichts mehr und nichts weniger als ein ganz sanfter Superheldenfilm

UPDATE: 27. April 2016

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Donnerstag 28. April 2016 10:35 AM GMT+1

Berlin;
800 Flüchtlinge müssen wegen Feuer Unterkunft räumen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 268 Wörter

HIGHLIGHT: In der Nacht zum Donnerstag mussten rund 800 Asylsuchende eine
Berliner Notunterkunft verlassen. Die Brandursache ist noch unklar, gewiss ist
nur: Sichtschutzwände zwischen Feldbetten fingen Feuer.

In einer Flüchtlingsnotunterkunft in Berlin ist am frühen Donnerstagmorgen ein


Feuer ausgebrochen. Rund 800 Asylsuchende mussten das Gebäude im Stadtteil
Hakenfelde verlassen, wie Feuerwehrsprecher Sven Gerling dem Evangelischen
Pressedienst (epd) bestätigte. Zwei Flüchtlinge wurden wegen einer
Rauchgasvergiftung im Krankenhaus behandelt. Die Polizei nahm Ermittlungen zur
Brandursache auf.

In Brand geraten waren laut Feuerwehr rund 15 Quadratmeter Sichtschutzwände, die


in der Massenunterkunft für Flüchtlinge zwischen den Feldbetten aufgestellt
waren. Die Unterkunft in einem ehemalige Industriegebäude erstreckt sich über
eine Fläche von insgesamt 3.000 Quadratmetern.

Nach bisherigen Erkenntnissen fingen einzelne Möbel Feuer, wie der Sprecher
sagte. Die genaue Ursache war zunächst unklar. Rund 40 Einsatzkräfte konnten den
Brand löschen.

Offen sei auch, ob und wann die Halle wieder genutzt werden kann, hieß es
weiter. Das "Inforadio" meldete am Morgen, sie sei nicht mehr bewohnbar. Derzeit
würden die Flüchtlinge in einem sicheren Bereich betreut. Gerling betonte, dass
die Brandfläche zwar nicht sehr groß sei. Einen Einsatz mit der Evakuierung von
800 Flüchtlingen habe es in dieser Größenordnung in Berlin bislang aber noch
nicht gegeben.

In der Unterkunft leben den Angaben zufolge vor allem Flüchtlinge aus Syrien,
anderen arabischen Staaten und Afghanistan. Das Heim sorgte bereits im November
für Schlagzeilen, weil es unter den Bewohnern zu einer Massenschlägerei gekommen
war. Die Halle dient seit Oktober 2015 als Unterkunft für bis zu 1000
Flüchtlingen. Betreiber ist die Berliner Stadtmission.

UPDATE: 28. April 2016

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Freitag 29. April 2016 9:08 AM GMT+1

Pentagon-Chef Carter;
US-Spezialeinheit startet Cyber-Offensive gegen IS

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 195 Wörter

HIGHLIGHT: Vor sechs Jahren hat die US-Armee eine Spezialeinheit für
Cyberangriffe gegründet. Nun startet das U.S. Army Cyber Command seine erste
größere Kampfoperation - gegen den Islamischen Staat.

Mit Cyberattacken wollen die US-Streitkräfte die Internetverbindungen der


Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) kappen. Die Extremisten sollten in die
"virtuelle Isolation" getrieben werden, sagte Generalstabschef Joe Dunford am
Donnerstag im Kongress in Washington.

Für die Angriffe im Internet ist die geheimnisumrankte Einheit U.S. Army Cyber
Command zuständig, die vor sechs Jahren gegründet wurde. Die Attacken gegen den
IS seien "die erste größere Kampfoperation" des Kommandos, sagte
Verteidigungsminister Ashton Carter in der Anhörung durch den
Streitkräfteausschuss des Senats.

Rekrutierung und Geldwäsche sollen erschwert werden

Als Ziele der Cyberangriffe nannte Carter unter anderem, die internen
Kommunikationsflüsse der Gruppe zu unterbrechen sowie ihr die Rekrutierung und
die Geldwäsche zu erschweren. Die Angriffe über das Internet spielten in der
US-geführten Militäroperation gegen den IS eine wichtige Rolle, betonte der
Pentagon-Chef.

Eine US-geführte Militärallianz bekämpft die IS-Dschihadisten seit dem Jahr 2014
in Syrien und im Irak. Trotz Gebietsverlusten in jüngster Zeit kontrolliert die
Miliz aber nach wie vor weite Regionen in beiden Ländern.

UPDATE: 30. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Freitag 29. April 2016 9:26 AM GMT+1

Sikh-Tempel in Essen;
Attentäter war in Präventionsprojekt für Salafisten

AUTOR: Kristian Frigelj, Düsseldorf

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 545 Wörter

HIGHLIGHT: Einer der jungen Islamisten, die den Anschlag auf den Essener
Sikh-Tempel verübten, besuchte das Salafisten-Präventionsprojekt "Wegweiser".
Einer jüdischen Mitschülerin wollte er "das Genick brechen".

Bei den Ermittlungen zum Bombenanschlag auf den Sikh-Tempel in Essen verdichten
sich die Hinweise auf ein islamistisches Motiv weiter. Nach Erkenntnissen der
Ermittler handelt es sich bei den beiden türkischstämmigen 16-jährigen
Tatverdächtigen Mohammed B. aus Essen und Yussuf T. aus Gelsenkirchen um
Salafisten und Sympathisanten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).

Beide haben in Vernehmungen den Anschlag am 16. April während einer


Sikh-Hochzeit in dem Tempel mit drei Verletzten gestanden. Sie gaben jedoch als
Motiv "Spaß am Böllerbauen" an. Es gebe aktuell keine Hinweise, dass die
Attentäter im Auftrag des IS gehandelt hätten oder in Netzwerke eingebunden
seien, sagte ein Referatsleiter von Nordrhein-Westfalens Innenministerium im
Innenausschuss des Landtags.

Allerdings wurden brisante Details zu den Tätern bekannt: Yussuf T. aus


Gelsenkirchen befand sich nach neuestens Erkenntnissen im Präventionsprojekt
"Wegweiser". Mit diesem will das Land NRW das Abgleiten junger Menschen in den
Islamismus verhindern.

Die Schulleitung hatte sich erstmals im Oktober 2014 gemeldet und über das
auffällige Verhalten von T. berichtet. Er schwärmte vom IS. Später lobte er
demnach die Pariser Terroranschläge und drohte einer jüdischen Mitschülerin, ihr
"das Genick zu brechen". Er stand auch in Verdacht, eine Ausreise in den
Dschihad nach Syrien geplant zu haben. Am 12. April dieses Jahres, vier Tage vor
dem Attentat auf den Sikh-Tempel, nahm er mit seinen Eltern zum letzten Mal an
einer "Wegweiser"-Sitzung teil.

Trotz dieses erheblichen Rückschlages verteidigten NRW-Innenminister Ralf Jäger


und der Chef des NRW-Verfassungsschutzes, Burkhard Freier (beide SPD), das
freiwillige Präventionsprojekt, da ein erheblicher Bedarf bestehe. Aktuell
werden 160 Jugendliche mit salafistischen Einstellungen betreut; mehr als 4600
Anfragen sind eingegangen. Das Projekt soll "flächendeckend" ausgebaut werden.

Beide hatten Kontakt zu drittem Jung-Dschihadist

Der Komplize Mohammed B. aus Essen war im Internet unter dem Aliasnamen
"kuffarkiller" (Ungläubigen-Mörder) aktiv und bereits strafrechtlich
aufgefallen. Er hatte zum Jahresanfang 2016 eine Köperverletzung begangen. Zudem
wurde er am 15. April dieses Jahres - einen Tag vor dem Attentat auf den
Sikh-Tempel - bei einem Einbruch vorübergehend festgenommen.

Die detonierte Bombe der beiden Islamisten bestand aus einem umgebauten
Feuerlöscher, der mit Magnesium, Schwefel und Aluminium gefüllt war. Offenbar
hatten die beiden Täter während der Sikh-Hochzeit vergeblich versucht, in den
Gebetsraum einzudringen, um dort den Anschlag zu verüben.

Wäre die Bombe dort detoniert, wäre "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine hohe
Anzahl von Personen schwer verletzt oder getötet worden", erklärte ein
Referatsleiter des Ministeriums. An der Hochzeit im Sikh-Tempel hatten etwa 100
Personen teilgenommen. Bei der Explosion im Eingangsbereich wurden ein Priester
und zwei weitere Personen zum Teil erheblich verletzt. Es entstand erheblicher
Sachschaden.

Beide Täter standen in Kontakt mit einem weiteren 16-jährigen Salafisten aus dem
Kreis Wesel. Dieser gilt nicht als Komplize bei dem Bombenanschlag. Der
Jugendliche hatte schon Versuche unternommen, in den Dschihad auszureisen,
weshalb ihm die Papiere entzogen wurden.

UPDATE: 30. April 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 29. April 2016 12:30 PM GMT+1

Sicherheit;
Soll der Reiseverband seine Türkei-Tagung absagen?

AUTOR: Maria Menzel

RUBRIK: REISE; Reise

LÄNGE: 781 Wörter

HIGHLIGHT: Während Reiseveranstalter ihre Türkei-Touren absagen, will der


Branchenverband seine Jahrestagung wie geplant an der Ägäisküste abhalten. Ein
Tourismuswissenschaftler hält das für gefährlich.

Die Türkei ist eines der beliebtesten Reiseziele der Deutschen. Doch seit den
Terroranschlägen in Istanbul und Ankara im Frühjahr 2016 sind die Besucherzahlen
deutlich zurückgegangen - die Sorge, es könnte weitere Anschläge geben, die sich
gezielt gegen Touristen richten, ist gestiegen. Trotzdem will der Deutsche
Reiseverband (DRV) als Interessenvertretung der Tourismusbranche an seiner für
Oktober geplanten Jahrestagung in Kusadasi an der türkischen Ägäisküste
festhalten - und erntet dafür Kritik.

"Eine Veranstaltung mit derart hochrangigen Vertretern des Landes, die auf
engstem Raum zusammenkommen, könnte aus Sicht der Terroristen ein hervorragendes
Ziel sein, um dem Land zu schaden," sagt Torsten Kirstges, der als
Tourismuswissenschaftler aus Wilhelmshaven selbst zur Tagung eingeladen ist.
Solche Räume seien schwierig abzusichern. Kirstges hat einen offenen Brief an
den DRV geschrieben, in dem er fordert, eine ehrliche und transparente
Diskussion über die Risiken zu führen - und die Tagung gegebenenfalls abzusagen.

US-Botschaft hält Warnung aufrecht

Kirstges weist in seinem Brief auf den Fall des Reisebüroverbands


"Schmetterling" hin. Dieser hatte nach den Anschlägen seine für Mitte April
geplante Jahrestagung bei Izmir abgesagt. Auch einige Reiseveranstalter zogen
Konsequenzen. Studios cancelte mehrere Türkeireisen mit Aufenthalt in Istanbul.
Die Kreuzfahrtreederei Aida Cruises sagte ihre für diesen Sommer geplanten
Fahrten mit Zielen in der Türkei ab.

Tatsächlich ist dem Auswärtigen Amt zufolge auch weiterhin "mit politischen
Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen
zu rechnen". Reisenden vor allem in Istanbul, Ankara und anderen Großstädten
wird "zu erhöhter Vorsicht geraten", von Reisen in das Grenzgebiet der Türkei zu
Syrien und dem Irak wird dringend abgeraten. Eine explizite Reise- oder
Teilreisewarnung gibt es allerdings nicht.
Auch die US-Botschaft in Ankara hält ihre Warnung aufrecht. Es gebe weiterhin
"glaubwürdige Hinweise" auf geplante Terroranschläge auf Touristen in der
Türkei, heißt es auf der Website. Die Botschaft rief US-Bürger dazu auf, achtsam
an belebten Plätzen und touristischen Orten zu sein.

Zahl der Touristen stark gesunken

Die Türkei war im Frühjahr 2016 mehrfach Ziel von Terroranschlägen geworden, die
sich zum Teil gezielt gegen Touristen richteten. Im Januar hatte sich ein
Attentäter in der Istanbuler Altstadt inmitten einer Reisegruppe in die Luft
gesprengt und zwölf Deutsche mit in den Tod gerissen.

Beim jüngsten Anschlag am 19. März sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf
der zentralen Einkaufsstraße Istiklal in die Luft. Fünf Menschen kamen ums
Leben. In der Hauptstadt Ankara wurden bei einem Autobombenanschlag mindestens
37 Menschen getötet.

Seit den Attentaten ist die Zahl der Touristen stark gesunken. Im März 2016
zählte das türkische Tourismusministerium fast 13 Prozent weniger ausländische
Gäste als im Vorjahresmonat. Mit einem Einbruch von mehr als 17 Prozent lag das
Minus bei den deutschen Urlaubern überdurchschnittlich hoch. Eine Katastrophe
für das Land, in dem zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts vom Tourismus
abhängen.

Angst, ein falsches Signal zu setzen?

Warum der Verband trotzdem am Veranstaltungsort festhält? Vom DRV selbst heißt
es nur, die Vorbereitungen liefen planmäßig - das Thema Sicherheit spiele dabei
eine große Rolle. Man arbeite "eng, vertrauensvoll und konstruktiv mit unseren
türkischen Partnern zusammen", sagte DRV-Pressesprecher Torsten Schäfer auf
Nachfrage der "Welt". Das Interesse an einer offenen Diskussion der Risiken, wie
Kirstges sie fordert, scheint gering.

Hat der Verband Angst, mit einer Absage oder Verlegung der Tagung an einen
anderen Ort ein Signal zu setzen, das Urlauber abschrecken und der
Tourismusindustrie schaden könnte? Natürlich wolle die Branche die eigenen
Kunden nicht verunsichern, sagt Kirstges. "Die Türkei ist natürlich ein
wichtiger Markt für Touristikunternehmen."

Er glaubt allerdings nicht, dass die Absage eines Branchentreffens, für das sich
der Urlauber auch sonst nicht interessiert, Folgen für die Destination hätte.
Darüber hinaus sei fraglich, ob es eine sinnvolle Informationspolitik ist, ein
vorhandenes Problem totzuschweigen.

Ob Kirstges der Veranstaltung fernbleiben wird, will er in den kommenden Tagen


entscheiden. Als Boykottaufruf an Urlauber will er seine Offensive aber nicht
verstanden wissen.

"Es geht nicht darum, die Türkei als Urlaubsland infrage zu stellen. Es geht
darum, die Risiken und Möglichkeiten einer Touristikertagung in der Türkei
angesichts der aktuellen Situation branchenintern zu thematisieren." Als
Urlauber würde er die Reise antreten - trotz der Warnungen.

UPDATE: 30. April 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Samstag 30. April 2016 4:18 AM GMT+1

Moschee-Überwachung;
"Kauder zündelt am Pulverfass der Islamfeindlichkeit"

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 715 Wörter

HIGHLIGHT: Obwohl die Behörden nicht einmal alle Terror-Gefährder überwachen


können, will der Unionsfraktionschef jetzt Moscheen überwachen. Die Opposition
ist empört und verweist auf Recht und Gesetz.

Staatliche Kontrolle für islamische Prediger in Deutschland - mit dieser


Forderung heizt Unionsfraktionschef Volker Kauder unmittelbar vor dem
AfD-Parteitag die Islamdebatte an. "Wir müssen darüber reden, dass in einigen
Moscheen Predigten gehalten werden, die mit unserem Staatsverständnis nicht im
Einklang stehen", sagte der CDU-Politiker der "Berliner Zeitung". Und: "Der
Staat ist hier gefordert. Er muss das kontrollieren."

Für Ulla Jelpke von der Linkspartei ist der Vorstoß Kauders "unverantwortlich".
"Mit seinem Pauschalverdacht gegen alle Muslime zündelt Kauder am Pulverfass der
Islamfeindlichkeit", sagte die innenpolitische Sprecherin der "Welt". Zur
Religionsfreiheit gehöre auch die Freiheit, seine Religion ohne staatliche
Aufsicht auszuüben.

"Die Idee, jeder Moschee einen staatlichen Aufpasser zu verordnen, ist völlig
abwegig. Damit würden sämtliche Muslime unter den Generalverdacht des
Terrorismus gestellt. Wenn es einen konkreten Verdacht auf Straftaten gibt, ist
das ein Fall für die Polizei - aber nur dann", so Jelpke weiter.

Irene Mihalic, die Frau der Grünen für die innere Sicherheit, sieht das ähnlich.
Erst mögliche Straftaten begründeten polizeiliche Kontrolle. "Das passiert
sowieso schon", sagt Mihalic der "Welt". "Im Übrigen ist staatliche Überwachung
nur in engen Grenzen zulässig. Das sind Grundsätze, an denen wir festhalten
sollten - auch aufgrund der Erfahrungen aus der deutschen Geschichte."

Überwachung nur bei begründetem Verdacht möglich

In der Tat darf die Polizei nach geltendem Recht nicht grundlos Moscheevereine
überwachen - ganz abgesehen von der Frage, wie Kontrolle angesichts mehrerer
Tausend muslimischer Gotteshäuser in Deutschland flächendeckend überhaupt
möglich sein sollte.

Einzelne muslimische Gemeinden werden freilich schon heute nicht nur durch die
Polizei, sondern auch durch den Verfassungsschutz beobachtet. Allerdings geht es
dort nicht um die von Kauder geforderte Kontrolle problematischer
Wertevorstellungen, sondern um Erkenntnisse über einzelne als gefährlich
geltende Personen. Laut Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen haben die
Sicherheitsbehörden in Deutschland ein islamistisch-terroristisches Potenzial
von rund 1000 Personen im Visier.

Aber sie können nicht rund um die Uhr überwacht werden, geschweige denn
gegebenenfalls die von ihnen besuchten Moscheen. Selbst bei den als besonders
gefährlich eingeschätzten etwa 200 Rückkehrern aus dem Syrien-Krieg ist dies
nicht möglich.

CSU übt sich bereits seit Wochen in Islamkritik

Damit muss Kauders Forderung weniger als praktischer Vorschlag denn eher als
öffentliche Wortmeldung gewertet werden. So will die Union in der
Auseinandersetzung mit der AfD deutlicher wahrgenommen werden. Darum bemüht sich
auch schon seit einigen Wochen die CSU. Ihr Generalsekretär Andreas Scheuer
hatte vor zwei Wochen in der "Welt" die Forderung nach einem "Islam-Gesetz"
formuliert.

Unter anderem verlangt Scheuer, dass Deutsch die Sprache der Moscheen werden
müsse. Es dürften nicht die Augen davor verschlossen werden, "was in den
Moscheen gepredigt wird und von wem". Es könne nicht sein, "dass andere zum Teil
extreme Wertvorstellungen aus dem Ausland importiert werden".

Und vor wenigen Tagen dann schlug der CSU-Abgeordnete Alexander Radwan eine
"Moschee-Steuer" ähnlich der Kirchensteuer vor, um die Unterstützung deutscher
Moscheen durch ausländische Geldgeber zu unterbinden. Es dürfe "nicht sein, dass
aus dem Ausland finanzierte Imame in Deutschland gegen unsere Grundwerte
predigen".

So kann es kaum verwundern, dass Kauder Rückendeckung für seine Forderung aus
Bayern bekommt - und dies sogar von höchster Stelle. Horst Seehofer, der sich in
Flüchtlingsfragen zuletzt gern mit Kauder kabbelte, sagte bei einem Auftritt in
Unterschleißheim, das halte er für sinnvoll. Und der CSU-Chef fügte hinzu: "Wir
wollen die Religionsfreiheit, dass das klar ist, aber nicht den Missbrauch."

Der Zentralrat der Muslime möchte sich an der Debatte zunächst nicht beteiligen.
Dafür fällt die Reaktion auf Kauders Forderung bei den Ahmadiyya-Muslimen
drastisch aus. Ihr Bundesvorsitzender, Abdullah Uwe Wagishauser, sagte der
"Welt": "Es ist unerhört, mit solchen pauschalen Forderungen an die
Öffentlichkeit zu treten! Als Muslim fühlt man sich dann wie am Nasenring durch
die Arena gezogen."

UPDATE: 30. April 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Sonntag 1. Mai 2016 1:44 PM GMT+1

Scharfe Kritik;
Bayern weist knapp 300 minderjährige Flüchtlinge ab

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 426 Wörter

HIGHLIGHT: Allein Bayern hat 280 Minderjährige zurückgewiesen, die unbegleitet


auf der Flucht waren. Die Grünen fordern deshalb einen besseren Schutz für die
"im Niemandsland" lebenden Kinder und Jugendlichen.

An Deutschlands Grenzen sind seit Jahresbeginn mehr als 300 unbegleitete


minderjährige Flüchtlinge zurückgewiesen worden. Das geht aus einer Antwort des
Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor,
über die die "Passauer Neuen Presse" am Samstag berichtete. Die Grünen
kritisierten die Praxis scharf.

Bis Ende März seien insgesamt 309 Kinder und Jugendliche zurückgewiesen worden,
280 davon allein an der bayerisch-österreichischen Grenze, meldete die Zeitung
unter Berufung auf die Angaben aus dem Ministerium. 160 der zurückgewiesenen
minderjährigen Flüchtlinge stammten demnach aus Afghanistan, 46 aus Syrien, 30
aus dem Irak, 17 aus Marokko, zwölf aus Pakistan und sieben aus Algerien.

Grund der Einreiseverweigerung seien fehlende Einreisevoraussetzungen nach dem


Schengener Grenzkodex gewesen. "Ein Schutzersuchen stellten sie nicht", erklärte
das Bundesinnenministerium demnach.

Nach Ansicht der Grünen haben die Jugendlichen aber gar "keine Chance" einen
Asylantrag zu stellen. "Die Bundespolizei ignoriert die Zuständigkeit der
Jugendämter", sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin der
Grünen-Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg, dem Blatt. "Die Jugendlichen erhalten
keinen Vormund" und könnten deswegen auch keinen Asylantrag stellen. Viele der
Betroffenen hätten eigentlich gute Chancen, in Deutschland als Flüchtlinge
anerkannt zu werden. Dafür bräuchten sie aber Beratung und Unterstützung, sagte
Amtsberg.

"Nicht im rechtlichen Niemandsland landen"

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner nannte die Situation von


unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen "auf der gesamten Route wirklich sehr
schwierig". Sie verwies im Deutschlandfunk darauf, dass die Jugendlichen
beispielsweise in Griechenland teilweise über Monate in Polizeigewahrsam seien.
"Wir halten es für nicht tragbar, das sind Kinder, Jugendliche, und die im
Niemandsland zu lassen, hin und her zu schieben, auf Polizeistationen
festzuhalten, in schlechten Unterkünften. Das ist für uns nicht akzeptabel."

Deutschland müsse diese jungen Menschen aufnehmen und ihnen eine Perspektive
geben, forderte Brantner. Die Bundesrepublik sei "rechtlich verpflichtet, für
diese Menschen besonderen Schutz zu organisieren und zu garantieren."

Auch die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), forderte


einen besseren Schutz von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen. "Wir müssen
sicherstellen, dass alle umgehend von einem Jugendamt versorgt werden und nicht
im rechtlichen Niemandsland landen", sagte sie der "Bild am Sonntag".

UPDATE: 1. Mai 2016

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Die Welt

Mittwoch 13. Januar 2016

"Das archaische Frauenbild bedroht uns alle";


Von Neukölln nach Köln und zurück: Für die Autorin und Filmemacherin Güner Balci
ist der Islam frauenfeindlich. Muslimische Männer sollten den Rechtsstaat
fürchten

AUTOR: Andrea Seibel

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 10

LÄNGE: 2533 Wörter

Welch zarte, anmutige Frau: Güner Balci spricht mit Bestimmtheit und Expertise,
ohne je laut werden zu müssen. Berlin-Neukölln ist ihre Heimat und Schule, hier
lernte sie als Kind türkischer Einwanderer von Frau Arndt, einer Nachbarin, viel
über die Deutschen. "Wäre ich in einem arabischen Getto groß geworden, ich hätte
sicherlich auch mit 18 heiraten wollen." Balci blickt mit ihren 40 Jahren auf
eine stattliche Karriere zurück. Ihre Bücher sind beeindruckend, so auch ihre
Fernsehfilme, besonders jene über die Jugendrichterin Kirsten Heisig, die sich
das Leben nahm, oder zuletzt ihr "Jungfrauenwahn" über die sexuelle
Unterdrückung im Islam. Ein neues Buch "Das Mädchen und der Gotteskrieger" wird
Mitte des Jahres erscheinen. Von neuen Filmprojekten ganz zu schweigen.

Die Welt:

Was haben Sie gedacht, als Sie von den schrecklichen Geschehnissen in Köln
hörten?
Güner Balci:

Alles erinnert mich an den Tahrir-Platz in Kairo, wo es ja auch im Laufe der


Rebellion zu unglaublichen Übergriffen gegen Frauen gekommen war. Es klingt
gemein, aber ich fühle mich eigentlich nur bestätigt in dem, was ich seit Jahren
erzähle. Ich hätte nur nicht gedacht, dass das in so einem Ausmaß passieren
könnte, denn vereinzelte Übergriffe gibt es schon lange. Die Polizei erzählt
auch, dass sich die Gewalt nicht nur auf junge westliche Frauen beschränkt,
sondern mittlerweile auch Mädchen mit Kopftuch betroffen sind.

Es gibt Vermutungen über die Täter, aber auch viele Gerüchte.

Das sind keinesfalls Männer, die als Gastarbeiter oder Gastarbeiterkinder hier
sind. Sie sind wahrscheinlich noch nicht so lange hier. Und es sind Menschen,
die wahrscheinlich irgendwann auch Flüchtlinge waren. Aber darum geht's gar
nicht. Sondern, dass das einfach Männer sind, die ein extrem archaisches,
frauenfeindliches Weltbild mit sich tragen und das auch in ihren Communitys
weiterleben.

Die Deutschen sind weltoffener geworden, auch wenn sie wissen, dass die Bilanz
der ersten Einwanderung durchwachsen ist. Doch nun haben wir auf einen Schlag
eine Million an fremden Menschen im Land. Es sind Flüchtlinge, aber sie werden
quasi schon als perfekte Einwanderer präsentiert. Kann das gut gehen?

Das kann kaum jemand bisher beurteilen. Aber was man auf jeden Fall sagen muss,
ist, dass es ein Unterschied ist, ob man türkische Gastarbeiter hier hat
einwandern lassen oder Menschen aus dem arabischen Raum. Auch wenn sich das Land
heute unter Erdogan islamisiert, war die Türkei lange laizistisch geprägt. Die
Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum ist eine völlig andere als in der
arabischen Welt. Von Integration reden wir noch lange nicht. Wir haben ja noch
nicht einmal darüber gesprochen, was die angekommenen Flüchtlinge denken und wie
sie ticken.

Wenn so viele neue Fremde kommen, sind uns die alten Migranten näher, und auch
die fühlen sich deutscher.

Ich höre mich in diesen Milieus um, nicht nur in den türkischstämmigen, auch den
arabischen. Ich würde mich nicht wundern, wenn irgendwann eine Bürgerwehr gegen
kriminelle Flüchtlinge entstünde. Man hat auch extreme Vorbehalte gegen
Flüchtlingsheime in den eigenen Wohngebieten.

Was nervt Sie am meisten an der migrantischen Existenz, wie sie sich in
Deutschland entwickelt hat?

Was mich am meisten nervt, ist immer wieder diese Suche nach Identität in einer
Herkunftskultur. Das betrifft fast alle, die hier einwandern. Sie glauben, eine
bestimmte Kultur oder Religion hier konservieren zu können. Ein verkrampfter,
antiquierter Nationalstolz. Das hindert viele, offen für Neues zu sein. Was man
in einer so freien Gesellschaft wie der deutschen doch wunderbar kann. Leider
brauchen Menschen viel zu sehr klare Grenzen und enge Räume, um sich sicher zu
fühlen, und Freiheit macht den meisten einfach Angst. Freiheit bedeutet auch
wirklich, selbst mal auf die Idee zu kommen, was richtig für einen ist. Auch auf
die Gefahr hin, alleine zu entscheiden und alleine dazustehen und sich nicht
immer fallen lassen zu können in ein Netz, sei es Familie oder Clan.

Sie leben heute in Berlin-Mitte. Das ist sinnbildlich auch für die Mitte der
Gesellschaft.
Von Köln ist es nicht weit bis Neukölln. In dem Milieu, in dem ich aufgewachsen
bin, habe ich als Mädchen und junge Frau die Sexualisierung des Alltags sehr
stark miterlebt. Es ist ein ganz großer Unterschied, ob man in Mitte in einem
Café in einem luftigen Sommerkleid sitzt oder ob man das auf der Sonnenallee
abends macht. Und jeder, der diesen Unterschied nicht kennt, der kann das gerne
mal als Experiment wagen. Das und die Alltäglichkeit von Gewalt, das war mir
einfach widerlich. Widerlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder dort
Gewalt erfahren und Gewalt weitergeben. Deswegen wollte ich da nicht mehr leben.

Wie wurden Sie, wie Sie sind? Waren es die Eltern? War es die Schule?

Ich glaube, die beste Grundvoraussetzung ist, dass man nicht indoktriniert wird
von seinen Eltern. Stattdessen habe ich humanistische Werte vermittelt bekommen.
Das hat aber wiederum mit dem Alevitentum zu tun, das auch meine Eltern prägte.
Vielleicht war es auch einfach nur Glück, dass mein Vater ein Freigeist war. Der
wollte ausbrechen aus seinen kleinen dörflichen Verhältnissen, wollte in die
nächste Stadt und dann nach Deutschland.

Wie kann man den syrischen Frauen und Männern helfen?

Ganz simpel. Man muss sich nur an die Frauenbewegung der 80er-Jahre erinnern
oder auch noch weiter zurückgehen. Zu 68. Ich meine, was braucht es, um zu
gewissen Veränderungen zu kommen? Es waren immer Minderheiten, die standhaft
blieben und kämpften. Bis auf Alice Schwarzer, die die Probleme immer wieder
öffentlich thematisiert, gibt es heute aber kaum jemanden. Unsere ganzen jungen,
superemanzipierten Frauen kämpfen nicht für die Frau von nebenan, sondern bäumen
sich auf gegen einen vermeintlichen Uraltfeminismus, der in ihren Augen schon
lange überholt ist. Aber das archaische Frauenbild bedroht uns alle.

Die Frage der Gleichheit von Mann und Frau ist elementar für jede Gesellschaft.
Auch im 21. Jahrhundert.

Gleichberechtigung muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, die in keinster


Weise, nirgendwo, weder in der Schule, noch sonst wo im öffentlichen Raum
verhandelbar ist. Weil nämlich genau davon abhängt, inwieweit wir wirklich eine
zivilisierte Gesellschaft sind. Die Flüchtlingsfrauen, die aus Verhältnissen
kommen, die man sich für keine Frau wünscht, können das selbst nicht erkennen,
daher muss es Aufklärungsarbeit in den Flüchtlingsheimen geben. Es muss die
Möglichkeit für diese Frauen geben, auszubrechen aus diesen Strukturen. Ein
immenser Aufwand, der betrieben werden muss.

Wie lernt man nicht nur Deutsch, sondern auch das Deutschsein? Sicherlich nicht
allein, indem man das Grundgesetz aufsagt?

Nein, man lernt es eigentlich nur, indem man früh in der Schule und im
Kindergarten vermittelt bekommt, was unsere Gesellschaft für den Einzelnen
ausmacht. Das heißt, das ist ganz einfach. Da geht es um Kinderrechte, um
Menschenrechte, um geschlechtsspezifische Erziehung der Kinder. Wir haben ja
schon ein gut ausgebautes Erziehungssystem. Irgendwo muss es da ganz große
Defizite geben, sonst könnte es nicht sein, dass jemand, der zehn Jahre von
unserem Bildungssystem profitiert hat, plötzlich auf die Straße geht und nichts
verstanden hat von all dem, was unsere Gesellschaft eigentlich ausmacht. Schule
und Kindergarten müssen noch viel mehr zu Orten der Erziehung zu einem
eigenständig denkenden, freien Individuum, das Rechte und Pflichten kennt,
werden.

Und die Erwachsenen? Die Hunderttausenden jungen Männer? Verlorene Seelen?

Die, die sich an keine Regeln halten, kann man nur noch sanktionieren. Und
darauf hoffen, dass sie den Rechtsstaat fürchten lernen. Vielleicht schaffen wir
es, dass sie irgendwann die Vorzüge dieser Gesellschaft für sich solcherart
nutzen, dass sie niemandem mehr schaden.

Deutsch ist aber auch so etwas wie Zuverlässigkeit, Gründlichkeit,


Bildungshunger, technische Neugierde, im neudeutschen Sinne Fahrradfahren,
Mülltrennung, liebevolle Väter, einen Hund haben, aber auch geschieden zu sein

Na ja. Für mich ist Deutschsein in erster Linie diese große Gabe, alles kritisch
und auch selbstkritisch zu hinterfragen. Ich glaube, das ist das Allertollste an
Deutschland. Wenn man diese Selbstkritik spiegeln würde auf das Gegenüber, auf
das Fremde, dann wäre es für mich der Idealzustand. All das, was man am anderen
kritisiert, auch an sich zu kritisieren, würde eigentlich die erste richtige
gesunde Basis für ein Miteinander schaffen. Jenseits aller politisch korrekten
oder unkorrekten Diskussionen.

Warum hat die deutsche Gesellschaft zu wenig getan bei der ersten Integration,
also bei den Gastarbeitern? Aus Ignoranz, aus Unfähigkeit?

Aus Gleichgültigkeit. Auch viele Deutsche begreifen den großen Reichtum ihres
Landes nicht, dass man hier ohne krampfhafte kulturelle oder religiöse
Zugehörigkeit glücklich werden kann. Und genau das der Grund ist, weshalb wir so
viele Menschen anziehen aus allen Ländern, auch den europäischen. Es ist nicht
nur die wirtschaftliche Schwäche ihrer Herkunftsländer, sondern die Erkenntnis,
dass Deutschland offen sein kann für das andere.

Die Deutschen haben also immer noch nicht gelernt, Einwanderungsgesellschaft zu


sein?

Noch lange nicht. Wir behandeln den Fremden als den Hilfsbedürftigen. Auch das
ist eine gewisse Form von Apartheid. Die Menschen, die kommen, werden die
Gesellschaft aber nicht immer nur positiv verändern. Und das ist etwas, was noch
viel zu sehr vom rechten Rand bedient wird, der ja nur Ängste schürt. Es gibt
noch keine Offenheit zu verhandeln, wie weit wir gehen wollen, was wir wollen
und was nicht.

Durch falsch verstandene Toleranz haben wir Parallelgesellschaften geradezu


gefördert, die wir nun beklagen.

Die Deutschen sind viel zu selbstgefällig. Welch falsche Selbstsicherheit, sich


einzubilden, man sei ein Einwanderungsland, in dem doch alles gut laufe, solange
sie nicht vor der Tür stehen und nerven mit ihren kulturellen oder religiösen
Eigenarten. Doch es läuft nicht gut, weil jeder seins macht und es gar kein
Miteinander gibt. Das ist auch in den anderen Einwanderungsländern nicht gut
gelaufen.

Wir reden immer davon, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Doch
angesichts der schieren Masse der Neuankömmlinge, kann man etwas anderes tun,
als Gettos zu bauen?

Ja, die werden auch entstehen. Das ist fast unvermeidbar. Denn die meisten
wollen doch bevorzugt in Milieus leben, in denen sich Migranten schon lange
festgesetzt haben. Das heißt, man ist am Ende wieder in so einem muslimischen
Migrantenmilieu, was ja nicht schlimm sein muss. Die Sache ist nur die, man darf
nicht die Kontrolle verlieren. Überall aber sind salafistische Gemeinden aus dem
Boden geschossen, mittlerweile haben die schon Kindergärten. Das muss
unterbunden werden. Denn man muss die muslimischen Einwanderer vor diesen
Extremisten schützen. Aber ansonsten, Parallelgesellschaften gehören zur
Einwanderungsgesellschaft dazu. Man muss nur die Möglichkeit schaffen, dass es
trotzdem Übergänge gibt. Und zwar für all die jungen Menschen, die anderes
wollen. In meiner Kindheit in den 80er-Jahren war es selbstverständlich, dass
man deutsche Klassenkameraden hatte. Wenn man die nicht mehr hat, dann verliert
man die Bildungsgerechtigkeit, die dieses Land eigentlich verspricht. Teilhabe
an der Gesellschaft bedeutet, zu sehen, was deutsches Leben sein kann und ist.
Auch alternative Lebenswelten zu erfahren. Genauso schlecht ist das für
nicht-migrantische Kinder, wenn sie nur in so einer behüteten Mittelschicht
aufwachsen. Das ist genauso ein Getto.

Sie beginnen Ihren neuen Film dramatisch, denn Sie packen ein künstliches Hymen
mit falschem Blut aus, das sich offenbar viele junge muslimische Bräute
bestellen und in die Vagina schieben, um eine Jungfernschaft in der
Hochzeitsnacht vorzutäuschen. Warum diese Obsession?

Weil sie von klein auf eingetrichtert bekommen, dass ihr Wert als Mensch genau
von dieser Jungfräulichkeit abhängt. Es ist ein Wert, der auch finanziell
verhandelt wird. Am Ende entscheidet das manchmal sogar über Leben und Tod.

Ähnlich wie Seyran Ate , Necla Kelek oder auch Hirsi Ali kommen Sie zu dem
Schluss, dass der Kern des ganzen Problems mit dem Islam dessen Frauenbild ist.
Aber ist dies eine Frage der Religion oder nicht eher der Kultur?

Das ist auf jeden Fall auch eine Frage der Religion, denn der Islam hat genau
diese Sexualisierung der Frau und auch diese Abwertung der Frau festgesetzt.
Wenn der Koran und die Hadithe die Leitlinien für Muslime sind, dann muss ich
sagen, dass ein großer Teil von dem, was dort steht, einfach nur frauen- und
menschenfeindlich ist. Und natürlich ist deswegen auch der unkritische,
unreflektierte Umgang mit dem Islam ein Problem, denn er bekämpft die liberale,
offene Gesellschaft.

Wie erreicht man eine Veränderung im Kopf des muslimischen Mannes?

Es geht immer nur um Sex. Diese Obsession mit dem Sex ist eine, die extrem
verbreitet ist in patriarchalischen Gesellschaften. Und es dreht sich nur um die
Kontrolle der Frau und die Sanktionierung von Sex und darum, wie man ihn dennoch
heimlich ausleben kann. Ich meine, die jungen Männer gehen in den Dschihad, um
Sexsklavinnen zu haben, das ist für viele einer der größten Anreize. Vielleicht
überschätzen wir auch einfach Männer. Sie fragten mich, ob ich schon einmal eine
Burka anprobiert habe. Und da musste ich dann an diese Prostituierten auf der
Oranienburger Straße denken, die ich immer sehe. Für mich ist das dasselbe.
Beides ist der Ausverkauf des weiblichen Körpers.

Wenn heute alle Musliminnen in Deutschland auf einen Schlag ihr Kopftuch
abnähmen, wären wir dann alle Sorgen los?

Das wäre auf jeden Fall interessant. Denn zum Ablegen des Kopftuchs gehört ja
auch eine gewisse Rebellionsbereitschaft.

In Ihrem Film wird auch die Mutter von Seyran Ate gezeigt. Sie hat sich bei
ihrer Tochter, deren Werdegang sie nun bewundern kann, entschuldigt für ihre
große Strenge und Gnadenlosigkeit in frühen Jahren. Gibt es heute mehr solcher
Mütter?

Natürlich. Wir haben zum Beispiel auch ganz viele alleinerziehende türkische
Frauen. Bei denen hat es tatsächlich einen Wandel gegeben. Es gibt auch viel
mehr junge türkische Mädchen, die einen Freund haben oder die auch alleine in
einer anderen Stadt studieren können. Bei den arabischen Familien ist das noch
weniger ausgeprägt. Aber auch da gibt es hier und da kleine Veränderungen.
Mädchen dürfen dann zumindest schon mal den Bräutigam selbst aussuchen, ohne
dass fünf Cousins vorgeschlagen werden. Das könnte alles noch viel schneller
gehen.

Merkels Satz, wie haben Sie ihn aufgenommen?

Na ja, wir schaffen das, erzählen ja viele. Das weiß man erst nach 20 Jahren.
Mein Leben ist geprägt davon, dass meine Eltern hier eingewandert sind. Das hat
meine Wahrnehmung geschult. Ich bin wirklich gespannt, wie sich Deutschland
entwickeln wird. Ich habe keine Ängste. Deutschland ist ein großes Land, ein
reiches Land und ein sehr sicheres Land. Auch politisch stabil. Das heißt,
jeder, der ein bisschen Grips in der Birne hat, wird seine Nische finden. Aber
natürlich ist es traurig, wenn es rechtsfreie Räume gibt oder Gettos. Das hat
dieses Land einfach nicht verdient.

Die Deutschen sind viel zu selbstgefällig Güner Balci

UPDATE: 13. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: picture-alliance/MIKE WOLFF TSP


Güner Balci ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen. Heute lebt sie mit ihrer
Familie und "Lotte", einem türkischen Straßenhund, in Mitte
MIKE WOLFF TSP

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Die Welt

Samstag 16. Januar 2016

"Sexuelle Gewalt kann eine Kriegswaffe sein";


Nach den Übergriffen in Köln fordert Alice Schwarzer eine Debatte über den Islam
ohne politische Korrektheit. Für sie der einzige Weg, die Flüchtlinge ernst zu
nehmen

AUTOR: Ulf Poschardt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 13

LÄNGE: 2900 Wörter

Das "Manzini" ist eine elegante West-Berliner Institution. Deutschlands


berühmteste Feministin ist hier Stammgast. Die schrecklichen Ereignisse von Köln
haben Alice Schwarzer nicht die Laune verdorben. Sie lacht viel, auch und
besonders über die unzähligen Kritiker ihrer Klartexte, die sie auch nach Köln
über die Homepage ihres feministischen Magazins unter die Leute brachte.

Die Welt:

Auf "Emma.de" sprachen Sie nach den Ereignissen von Köln von "falscher Toleranz"
und "Terror". Hat Sie das Echo auf Ihre Aussage auf "Emma.de" überrascht?

Nein, überhaupt nicht. Das bin ich jetzt seit 36 Jahren gewöhnt.

Was ist Ihr intellektueller Zugang zum Frauenbild im Islam?

Ich habe seit 36 Jahren sehr konkrete und vielfältige Kontakte zu Frauen im
islamischen Kulturkreis, sowohl in Nahost wie in Nordafrika. Schon 1979 war ich
ein paar Wochen nach der Machtergreifung von Khomeini mit einer Gruppe
französischer Intellektueller auf den Hilferuf von Iranerinnen hin in Teheran.
Und da war mir schon klar, was sich da entwickelte.

Was denn?

Ich habe dort mit vielen beeindruckenden Menschen gesprochen. Vom


Ministerpräsidenten - der wenig später ins Exil flüchtete - bis hin zu starken
Frauen, die den Schah mit der Kalaschnikow unter dem Tschador bekämpft hatten.
Und die haben alle mit dem liebenswürdigsten Lächeln zu mir gesagt: "Ja,
selbstverständlich werden wir ein Gottesstaat und führen die Scharia ein. Und
ja, dann gilt: Steinigung bei außerehelichem Sexualverkehr der Frau oder bei
Homosexualität." Als ich zurückkam, habe ich veröffentlicht, was ich gesehen und
gehört hatte. Und was daraus erwachsen könnte. Ich habe leider mehr als recht
behalten. Es ist eine Reportage, an der ich bis heute kein Wort verändern
müsste.

Wie sind Sie seitdem mit dem Thema umgegangen?

Das Thema hat mich nie mehr losgelassen. Über 25 Jahre lang war "Emma" das quasi
einzige Organ im deutschsprachigen Raum, das die Gefahr des politisierten Islam
thematisierte: von Afghanistan über Tschetschenien und Algerien bis nach Köln.
Ich habe auch zwei Bücher dazu herausgegeben. Das erste 2002, "Die Gotteskrieger
und die falsche Toleranz". Das könnte ich heute so nachdrucken lassen, und Sie
würden nicht merken, dass es vor 14 Jahren erschienen ist. Ich will sagen:
Mindestens so lange schon hätte auch die Politik das Problem erkennen können.

Das hat Ihnen nicht nur Lob eingebracht.

So kann man das sagen. Seither werde ich in gewissen Kreisen - Multikulti-Grüne,
Linke, Konvertiten - munter als Rassistin beschimpft. Zum Glück bin ich mir
ziemlich sicher, dass mir wenig ferner ist als Rassismus. Aber es ist doch eine
enorme Einschüchterung. Ganze Bücher haben die gegen mich veröffentlicht und
versucht, mich mundtot zu machen. In meinem Fall ist das nicht gelungen.

Bei anderen schon?

Bei vielen. Und bis heute wagen Menschen, die ein berechtigtes oder auch
unberechtigtes Unbehagen haben, das man aufklären könnte, es nicht, etwas
Kritisches über die Entwicklung mancher Migranten und Flüchtlinge in Deutschland
sowie die versäumte Integration zu sagen. Aus Angst vor dem Rassismusvorwurf.
Diese Blase ist jetzt geplatzt.

Woher rührt dieses Tabu?

Dieses Muster kenne ich als Feministin seit Ende der 60er- und Anfang der
70er-Jahre, damals in der Form vom Hauptwiderspruch und Nebenwiderspruch. Bevor
deutsche Frauenrechtlerinnen früher auch nur das Wort "Frau" aussprachen, gab es
erst mal einen langen Diskurs über den Hauptwiderspruch, den Klassenkampf. Erst
dann wurde das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern angesprochen. Und
dann stand man in der Linken sofort als sogenannte bürgerliche Frauenrechtlerin
am Pranger. Das war das Totschlagargument.

Was den Klassenstandpunkt nicht ändert

Was den Klassenstandpunkt absolut überordnet. Von Klassen redet heute niemand
mehr. Trotzdem haben wir heute bei den Grünen, in der linken Szene und in einer
gewissen Internetszene eine ähnlich groteske Situation in der
Feminismus-Debatte: Jetzt gilt der Rassismus als Hauptwiderspruch. Und wieder
sollen wir die Klappe halten und nicht über unsere Probleme als Frauen reden -
egal, welcher Hautfarbe oder Ethnie wir sind. Die Leugnung des
Geschlechterwiderspruchs hat inzwischen in der Szene, die sich heute
selbstgerecht als Hüterin des Antirassismus versteht, groteske Ausmaße
angenommen. Und genau das ist rassistisch! Weil man mit diesem Argument
verhindert, dass wir die Fremden, die zu uns kommen, ernst nehmen als Menschen
wie wir. Die sind in Wahrheit nämlich gar nicht so fremd und könnten durchaus
auch dazulernen. Aber für diese Szene bleiben sie die schönen Wilden sozusagen.
Der Fremdenhass ihrer Eltern schlägt bei ihnen um in eine in Wahrheit nicht
minder verachtende Fremdenliebe. Fremdenhass und Fremdenliebe sind ja nur zwei
Seiten ein und derselben Medaille.

Man sollte nicht paternalisieren?

Richtig, nicht bevormunden. Diese Stellvertreterpolitik ist ja genau das, was


unsereins schon früher so wahnsinnig gemacht hat. Und man weiß inzwischen auch
gar nicht mehr, was man überhaupt noch sagen darf. Es wechselt ja jeden Tag die
politische Korrektheit. Das soll uns am freien Denken hindern. Form statt
Inhalt. Da geht es nicht um die Menschen, sondern um Ideologie.

Wie sollte man die Menschen behandeln?

Nicht ideologisch, sondern menschlich. Man sollte ihnen sagen: Ihr habt die
gleichen Rechte - aber auch die gleichen Pflichten! Nach den Ereignissen in Köln
habe ich bei einer der sogenannten jungen Feministinnen gelesen, auch "weiße
Bio-Deutsche vergewaltigen". Da kann ich nur sagen: Richtig, das sagen wir
feministischen Pionierinnen seit 40 Jahren! Doch jetzt müssen wir weiterdenken,
denn die Ereignisse in Köln und an anderen Orten hatten über die uns bisher
bekannte sexuelle Gewalt hinaus eine neue Qualität, eine ganz andere Dimension.

"Emma" analysiert die sexuelle Gewalt gegen Frauen mit kulturellen Hintergründen
schon länger.

Bereits vor 20 Jahren hat ein Kölner Polizist zu mir gesagt: Frau Schwarzer, 70
bis 80 Prozent aller Vergewaltigungen in Köln gehen auf das Konto von Türken.
Ich war entsetzt und habe geantwortet: Das müssen Sie unbedingt öffentlich
machen! Denn auch ein Türke wird ja nicht als Vergewaltiger geboren. Das hat ja
Gründe. Was ist los bei denen? Was können wir tun? Doch es kam die klare Ansage:
"No way, das ist politisch nicht opportun." Und genau diese Art politischer
Correctness verschleiert die Verhältnisse. Reaktionärer geht es nicht.

Spielt diese Einstellung nicht denen in die Hände, die den Medien nicht mehr
glauben?

Ja, leider. Ich persönlich bin seit Langem davon überzeugt, dass die Erstarkung
der Rechtspopulisten in Westeuropa nicht möglich gewesen wäre, wenn die Parteien
nicht durch die Bank seit Jahren und Jahrzehnten die Politisierung des Islams
völlig ignoriert oder verharmlost hätten. Und die Medien haben mitgespielt.

Seit wann geht das so?

Die Machtergreifung Khomeinis 1979 war der Startschuss für die Politisierung des
Islam. Die ideologische Munition kommt aus Iran und Pakistan, das Geld aus
Saudi-Arabien, womit wir ja beste wirtschaftliche Beziehungen haben. Wir hatten
auch vor den 80er-Jahren schon Millionen Türken im Land. Dabei spielte es damals
keine Rolle, ob sie Moslems waren. Es spielte aber eine Rolle, dass sie arm
waren und vom Land kamen.

Zivilisationsfern, aber keine größere Differenz?

So ist es. Ab und zu sah man früher auch mal eine ältere oder junge Frau vom
Land mit Kopftuch. Aber nicht mit dem islamistischen Kopftuch. Das gibt es bei
uns erst seit Mitte der 80er-Jahre. Dieses Kopftuch, das jedes Haar abdeckt und
auch den Körper verhüllt, weil eben die Frau an sich Sünde ist.

Das ist eigentlich ein unfassbares Kompliment an den weiblichen Körper, oder?

Na ja, geht so. Es ist die Begrenzung der Frau auf ihren Körper und die
Sexualität. Und was für ein Männerbild ist das eigentlich? Jeder Mann, der ein
Haar oder eine Silhouette sieht, stürzt sich wie ein Tier auf sie. Ist natürlich
auch ein drolliges Männerbild, wenn ich das mal sagen darf.

Gegen das ich mich natürlich verwehren muss.

Ja, das sollten gerade Sie als emanzipierter Mann unbedingt! Übrigens: Aus einer
großen Studie des Innenministeriums wissen wir: 70 Prozent der Musliminnen in
Deutschland haben noch nie ein Kopftuch getragen. Selbst von denen, die sich
selber als streng religiös definieren, hat jede zweite noch nie ein Kopftuch
getragen. Das Kopftuch hat also nichts mit Glauben zu tun. Es ist ein
politisches Signal.

An die Väter, die Brüder?

An alle Männer und die Umwelt. Die individuellen Gründe für das Kopftuchtragen
sind vielfältig: Identitätssuche, eine anständige Frau sein wollen etc. - aber
es gibt auch Druck oder gar Zwang. Wir wissen ja, dass zum Beispiel Islamisten
den Eltern Geld bieten, wenn ihre Töchter sich verschleiern. Ich bin viel dafür
angegriffen worden, dass ich für ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst und
in der Schule bin. Das scheint mir aber eine Selbstverständlichkeit. So wie in
Frankreich. Und in einer weltlichen Schule hat das Kopftuch schon gar nichts zu
suchen. Aber darüber hinaus bin ich natürlich nicht für ein Verbot, sondern für
das Gespräch mit den Kopftuchträgerinnen.

Die Frage ging bis vor das Verfassungsgericht.

Ja, ich werde nie den Fall von Fereshta Ludin vergessen. Tochter von Afghanen,
Vater Diplomat, Mutter Lehrerin, die nie ein Kopftuch getragen hat. Dann haben
die Eltern aber fatalerweise ein paar Jahre in Saudi-Arabien gelebt, wo das
Mädchen zur Schule ging - und mit dem Kopftuch wieder rauskam. In Deutschland
hat Ludin dann einen schwäbischen Konvertiten geheiratet, der seiner Mutter
nicht mehr die Hand gab - wegen der Unreinheit der Frau. Fereshta Ludin ist dann
von muslimischen Verbänden aufs Pferd gehoben und bis vor das Verfassungsgericht
begleitet worden: um das Recht, als Lehrerin ein Kopftuch zu tragen,
durchzusetzen.
Viele Medien sahen das Kopftuchverbot nicht so streng wie Sie.

Ja, ich erinnere mich speziell in der "Zeit" an den Satz: "So ein Kopftuch ist
nur ein Stückchen Stoff; so harmlos wie das Kreuzlein um den Hals". Seite an
Seite mit der grünen Multikulti-Szene sind ja vor allem die linksliberalen
Medien pro Kopftuch. Sie halten das für eine individuelle oder gar religiöse
Neigung - und durchschauen nicht die politische Struktur dahinter. Im Fall Ludin
hatte sich nur die "Emma" die Mühe gemacht, investigativ zu recherchieren. Und
herausgefunden, dass Muslimverbände dahinterstecken, die in Deutschland ja
rückwärtsgewandt orthodox bis islamistisch sind.

Was waren die Reaktionen?

Man hat mir gesagt: "Ausgerechnet Sie als Feministin wollen den Frauen
absprechen, freiwillig das Kopftuch zu tragen?" Entschuldigung, seit wann finde
ich denn alles gut, was Frauen gerne machen? Hier darf man nicht nur
individualistisch argumentieren, sondern muss durchschauen, dass das Kopftuch
seit 1979 die Flagge der Islamisten ist.

Kommen wir zu einem anderen Punkt, der Flüchtlingskrise. Wie nehmen Sie die
Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin wahr?

Angela Merkel hat grundsätzlich menschlich recht. Sie kann auch keine Obergrenze
nennen. Aber konkret müssen wir schon sehr genau hinschauen. Wir können und
dürfen nicht alle nehmen. Aus Griechenland ist zu hören, dass früher drei
Viertel der Flüchtlinge aus Nahost kamen. Jetzt sagen sie, die Hälfte kommt aus
Tunesien und Marokko. Aber das sind erstens keine Kriegsländer. Und zweitens
liegt der Verdacht nahe, dass gerade unter den Ankommenden aus diesen Ländern
die Anzahl der Islamisten sehr hoch ist.

"Wir schaffen das!"

Sagen wir es besser so: Wir könnten das schaffen. Aber jetzt muss alles getan
werden, um versäumte Integration nachzuholen und die Flüchtlinge sofort auf den
Prüfstand zu stellen.

Ist das Kind nicht schon zu tief in den Brunnen gefallen?

Irgendwann muss man ja anfangen, es richtiger zu machen. Wir müssen reingehen in


diese Communitys, in diese Milieus, wir müssen den Müttern sagen: "Kommt heraus
aus dem Haus, und lernt Deutsch!" Bei Asylsuchenden verbunden mit Auflagen. Die
Töchter müssen die gleichen Freiheiten haben wie ihre deutschen Freundinnen! Und
die Söhne die gleichen Chancen. Wir müssen der seit 25 Jahren ungebremst
laufenden islamistischen Agitation endlich etwas entgegensetzen. Und lernen,
stolz zu sein auf das, was wir so hart errungen haben: Rechtsstaat,
Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter.

Sind mit Blick auf die Silvesternacht Gesetzesverschärfungen nötig?

Ich würde sagen, die bestehenden Gesetze anwenden wäre auch schon mal ganz
schön. Und wenn jetzt der Justizminister die von der EU seit Jahren geforderte
Verbesserung des Vergewaltigungsgesetzes endlich aus der Schublade holt, begrüße
ich das. Aber Sie könnten 100 Grapscher vom Kölner Bahnhof überführen - denen
droht gar nix. Denn das verharmlosend genannte Grapschen ist in Deutschland noch
nicht einmal ein Straftatbestand.

Viele dieser mutmaßlichen Täter haben Krieg erlebt.

Genau. Was bedeutet, diese Männer waren Täter oder Opfer oder beides. Sind
verroht, brutalisiert, traumatisiert. Bei uns würde man zu so jemandem sagen:
"Ab in die Therapie, damit du wieder lernst, dass du bei Konflikten nicht immer
die Knarre ziehen kannst." Das ist ja auch ein Problem bei amerikanischen
Kriegsveteranen.

Früher war das bei uns auch anders.

Wohl wahr. Aber wir haben in diesen letzten 40 Jahren viel erreicht. Unendlich
viel. Die Opfer wissen heute, dass nicht sie sich schämen müssen, sondern die
Täter. Wir haben neue Gesetze, Frauenhäuser, Notrufe, Hilfe für die Opfer. Wenn
auch noch nicht genug.

Auch bei der Toleranz gegenüber anderen Religionen gibt es Probleme.

Ja, der flagrante Antisemitismus der arabischen Welt wird ausgerechnet in


Deutschland nicht benannt. Das hat Tradition. Gerade die Linke pflegt unter dem
Vorwand der - ja durchaus berechtigten - Kritik an Israel schon lange einen
schamlosen Antisemitismus.

Zentralratschef Josef Schuster warnte in der "Welt" vor Judenhass unter den
Flüchtlingen und erntete dafür jede Menge Kritik.

Das ist unerhört! Dabei hatte gerade der Zentralrat der Juden lange Zeit generös
Antisemitismus mit einer vorgeblichen Islamophobie in Deutschland gleichgesetzt.
Ich will sagen, gerade die offiziellen Vertreter der Juden in Deutschland haben
sich wirklich Mühe gegeben, nicht unangenehm aufzufallen. Gut, dass sich das
gerade ändert. Denn wie bekannt, haben die Migranten und Flüchtlinge aus dem
islamischen Kulturkreis nicht nur ihren traditionellen Sexismus im Gepäck,
sondern auch den Antisemitismus.

Kommen wir noch mal zurück auf die Silvesternacht in Köln

Gerne. Denn da stelle ich mir eine Menge Fragen. Zum Beispiel die: Könnte es
sein, dass im Kern dieser sexuellen Gewalt eine kleine Gruppe von Provokateuren
agiert hat, die gezielt zur Destabilisierung der Willkommenskultur in
Deutschland gehandelt hat?

Meinen Sie wirklich?

Es liegt nahe. Wenn Sie die Schriften der Islamisten und des IS lesen, ist deren
Besessenheit Nummer eins die Emanzipation der Frau. Das ist die große Obsession.

Da gibt es Schnittmengen mit den erzkonservativen Katholiken.

Jede Religion ist missbrauchbar. Und in allen Kriegen war die systematische
Vergewaltigung von Frauen Teil der Kriegsstrategie. Denn mit der sexuellen
Gewalt gegen Frauen erreicht man zweierlei. Erstens: Man bricht die Frauen.
Zweitens: Man demütigt deren Männer. Das hätte dann wirklich eine brisante
politische Dimension: Zu den Kalaschnikows und Sprenggürteln käme jetzt noch die
Waffe der sexuellen Gewalt.

Also Teil einer Kriegsstrategie?

Ja. Und nicht zufällig in den Ländern, die die offensten waren. In denen die
Emanzipation der Frauen am weitesten fortgeschritten ist: Deutschland, Dänemark,
Schweden. Und dann kommt da noch ein demografisches Problem auf uns zu: Wir
wissen seit Langem, dass ein starker Überhang an jungen, noch nicht gebundenen
Männern zwischen 18 und 30 sehr heikel werden kann. Das kann sogar
kriegsauslösend sein. China hat bei 117 auf 100 Frauen die Notbremse gezogen und
die Ein-Kind-Politik geändert. Schweden hat jetzt schon, dank der Flüchtlinge,
125 auf 100. Und in Deutschland wird es ähnlich werden bei 70 bis 80 Prozent
junger Männer unter den Flüchtlingen. Dieser Männerüberschuss ist eine Gefahr,
unabhängig von dem kulturellen Hintergrund.

"In der Gefahr wächst das Rettende auch", heißt es im "Patmos" von Friedrich
Hölderlin.

Dann sieht man auch das kleinste Licht.

Wo sehen Sie es?

In dem wirklichen Erschrecken unserer gesamten Gesellschaft. Endlich reden wir


offen darüber. Wenn jetzt die Medien einfach ihrer Informationspflicht
nachkommen und die Parteien die Probleme klar erkennen, könnten endlich
Gegenstrategien entwickelt werden.

Haben Sie Flüchtlingen auch schon einmal direkt geholfen?

Vor ein paar Monaten habe ich zwei junge syrische Männer, sichtlich wohlerzogen,
nachts in Berlin zusammen mit einer Freundin vom Lageso zu deren Schlafquartier
gefahren. Und in meinem Dorf habe ich um Weihnachten die Patenschaft für eine
junge afghanische Familie übernommen, mit zwei entzückenden Kindern. Der Junge
ist ein bisschen schüchtern, und das Mädchen ist sehr keck. Anfang des Jahres
hatte ich die beiden Kinder, sieben und zehn Jahre alt, zusammen mit
Nachbarskindern zu mir eingeladen. Dass die kleinen Afghanen (bisher)
ausschließlich Farsi sprechen, hat die Kinder nicht daran gehindert, drei, vier
Stunden lang zusammen herumzutoben. Am liebsten haben sie Verstecken gespielt.
Und zwei Tage später gingen die zwei zum ersten Mal in die Schule. Da sitzen sie
jetzt neben ihren neuen Freunden.

UPDATE: 16. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: IMAGO/IPON
Kämpft seit den 70er-Jahren für die Thematisierung des Frauenbilds im Islam:
Alice Schwarzer
imago/IPON

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Alle Rechte vorbehalten

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Die Welt

Montag 18. Januar 2016

Wonach die Satten hungern;


"Bewusste" Ernährung hin oder her: Unsere Versorgung mit Lebensmitteln ist so
vielfältig, so preisgünstig und so hochwertigwie nie zuvor

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: FORUM; Essay; S. 2 Ausg. 14

LÄNGE: 996 Wörter

Die einen rufen: "Wir haben es satt". Schon seit Jahren organisiert anlässlich
der Grünen Woche ein breites Bündnis von Kritikern der konventionellen
Landwirtschaft unter dieser Parole den Protest "gegen Agrarindustrie" und "für
Bauern". Die anderen antworten dieses Jahr zum ersten Mal: "Wir machen euch
satt." Zwischen den einen und den anderen ist die Schnittmenge erheblich. Bauern
nämlich demonstrieren auf beiden Seiten, aus guten Gründen. Die einen sehen in
einer grundlegenden Agrarwende für sich die einzige Zukunftschance. Die anderen
fordern von der agrarkritischen bis lebensmittelhysterischen Öffentlichkeit ein
Minimum an Respekt dafür, dass in Europa die Versorgung der Verbraucher mit
Lebensmitteln seit Jahrzehnten so sicher, so vielfältig, so preisgünstig und so
hochwertig ist, wie man es noch vor einem halben Jahrhundert nicht für möglich
halten konnte.

Daran ändern auch die immer wieder aufflackernden Lebensmittelskandale nichts,


die in den allermeisten Fällen in der Substanz völlig belanglos sind. Nein,
niemand geht das Risiko unfreiwilliger Selbstverstümmelung ein, wenn er sich aus
Billigangeboten der Discounter ernährt. Nur weil wir satt sind, können wir es
uns leisten, es satt zu haben. Es ist eben das Wort "satt", welches die beiden
Protestparteien verbindet. Dass das nicht völlig bedeutungslos ist, sollte
spätestens klar werden, wenn man sich die jüngsten Bilder aus der ausgehungerten
syrischen Stadt Madaja in Erinnerung ruft. Hunger als Kriegswaffe ist so alt wie
die Menschheitsgeschichte. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, sich satt essen zu
können und in Frieden zu leben, seien Selbstverständlichkeiten.

Warum aber sind so viele Satte so unzufrieden mit der modernen Landwirtschaft?
Wonach hungern sie? Es gibt zwei Hauptgründe, die das Unbehagen an der
"Agrarindustrie" mit ihrer "Massentierhaltung" und ihren "Monokulturen"
befeuern. Der eine liegt im Stofflichen, der andere im Ideellen. Das kommt
daher, dass Landwirtschaft einerseits ein systematisch organisierter
Stoffwechsel zum Zwecke der Nahrungsmittelerzeugung ist, andererseits aber eben
auch Idee, Kultur, Lebensform, Sehnsucht und Ideal.

Die Kritik an der stofflichen Seite industrieller Landwirtschaftsformen ist


unabweisbar. Es mag sein, dass die "gute fachliche Praxis" bäuerlicher
Landwirtschaft aus sich heraus nachhaltig ist, also etwa die Bodenfruchtbarkeit
und die Artenvielfalt erhält. Industrielle Schweineproduktion hat aus sich
heraus aber kein Nachhaltigkeitspotenzial. Hier kann man die Schäden für Boden,
Wasser und Luft nur so gut es geht begrenzen. Stofflich gesehen spricht sehr
viel für eine ökologische Agrarwende, ja sie erscheint zwingend, wenn wir unsere
wichtigsten Ressourcen bewahren wollen.

Zum politisch-gesellschaftlichen Projekt wird die Agrarwende aber erst mit dem
ideellen Überbau. Es gibt keine Debatte über Landwirtschaftsreform ohne
Agrarromantik, was, wie gesagt, der Tatsache geschuldet ist, dass Bauern niemals
nur etwas zum Essen, sondern immer auch etwas fürs Gemüt erzeugen. In der
zuweilen aufgeregten öffentlichen Debatte über die Landwirtschaft wird immer
auch ein Verlust verhandelt. Noch in den 60er- und 70er-Jahren hatten in
Deutschland die meisten wenigstens Großeltern, die in irgend einer Weise
landwirtschaftlich tätig waren.
Zwei Generationen später ist dieses Band völlig gekappt. Für die allermeisten
ist Landwirtschaft eine fremde, ja exotische Welt. Eine Zeit lang schien es die
Gesellschaft als Entlastung empfunden zu haben, sich um die Urproduktion keine
Gedanken mehr machen zu müssen. Man konsumierte fröhlich das immer vielfältiger
werdende Angebot. Die Supermärkte wurden zu Schaufenstern europäischer
Esskulturen. In den Budgets der Mittelschicht hörten die Ausgaben für
Nahrungsmittel auf, die zentrale Rolle zu spielen. Essen wurde gemessen an den
Einkommen immer billiger.

Etwa seit den 90er-Jahren traten die Kosten, die Schattenseiten dieser
Entwicklung ins Bewusstsein. Als Folge des Strukturwandels wurden Dörfer ohne
Bauern erfahrbare Realität. Katastrophen wie die BSE-Krise in der
Rinderwirtschaft ließen die Landwirtschaft plötzlich nicht mehr als das
scheinbar Einfache erscheinen, das doch jeder im Prinzip kennt, sondern als eine
Welt der Finsternis, wo aus Profitgier und Verantwortungslosigkeit Frevel an der
Schöpfung begangen wird, indem man Wiederkäuer via Tiermehl zu Leichenfressern
macht.

Nicht dass sich nun nachhaltig das Verbraucherverhalten geändert hätte. Auch der
Rindfleischverzehr kam wieder aus dem Keller. Die bewusstlose Freude am
Überfluss stellte sich allerdings nicht mehr ein. Zumindest in der urbanen
Mittelschicht gehört es seither zum Selbstverständnis und zum Lebensstil, sich
bewusst zu ernähren. Anders als die Aktivisten sich selbst und der
Öffentlichkeit gern suggerieren, findet deshalb noch lange keine Massenbewegung
in Richtung veganer oder vegetarischer Ernährung statt. Wie der neueste
Ernährungsbericht bestätigt, bleibt der Fleischverzicht die Sache einer kleinen
Minderheit.

Die Nachfrage nach Lebensmitteln aus ökologischer Erzeugung wächst zwar ständig,
und Biobauern suchen im harten Konkurrenzkampf mit den Energiewirten verzweifelt
nach Anbauflächen. Das bestätigt, dass die stoffliche Agrarwende auch von der
Verbraucherseite her in Gang gekommen ist. Als wirkliche Herzensangelegenheit
dieser Verbraucher erscheint aber der Wunsch, sich mit Produkten aus der eigenen
Region, aus der Nachbarschaft zu ernähren. Und damit ist der große
Sehnsuchtshimmel über dem agrarischen Stoffumsatz geöffnet.

Man kann diesen Wunsch nach kurzen Wegen, nach persönlichem Vertrauen, nach
Authentizität, nach Identifikation mit einer Landschaft, nach Heimat nicht als
billige Romantik abtun, schon weil Romantik sowieso niemals billig ist.
Insbesondere in der Agrarromantik steckt eine Menge Zukunftspotenzial. Man muss
sie nur aus ihrer Verkitschung auf Milchtüten und Joghurtbechern befreien. Dann
wird der Bauer als Nachbar zur Zukunftsfigur.

UPDATE: 18. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: M. Lengemann

PUBLICATION-TYPE: Zeitung

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Die Welt

Samstag 30. Januar 2016

Wir müssen mehr zuhören;


Bekannt ist Diane Rehm als Grande Dame der amerikanischen Talkshows. Seit dem
Tod ihres Mannes setzt sie sich auch für Sterbehilfe ein. Ein Gespräch über
letzte Dinge

AUTOR: Huberta Von Voss

RUBRIK: PANORAMA; Panorama; S. 31 Ausg. 25

LÄNGE: 1445 Wörter

Seit 36 Jahren ist sie auf Sendung: Diane Rehm, die zierliche Schönheit mit
syrisch-orthodoxen Wurzeln, ist eine Institution in Washington. Unnachgiebig,
zuweilen streng und doch stets ausgesprochen höflich befragt sie ihr Gäste. Ob
Politik, Umweltschutz, Streitthemen oder Showbiz - Diane Rehms Neugier und
Wissen hat eine Spannbreite wie bei kaum einem anderen Journalisten. Von Bill
Clinton über Toni Morrison bis zu Kevin Spacey - für die zwei Stunden dauernde
Sendung haben die Stars Zeit. 2014 verlieh ihr Präsident Obama die National
Humanities Medal als Anerkennung für ihre Verdienste.

Als sie im Jahr 1998 an spasmodischer Dysphonie - eine Art Stimmbandlähmung -


erkrankte, stand ihre Karriere am Abgrund. Aber die jung verwaiste Tochter
arabischer Emigranten ist keine, die schnell aufgibt. Ihr langsames Sprechen
wurde zur Tugend: In ihren entschleunigten Sendungen wird nachgedacht statt
nachgetreten. Aufgewachsen in einer Arabisch sprechenden Familie in Washington
lernte sie früh, die Gesten von Menschen zu lesen. Deutschland bewundert sie für
die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen. Vergangenen Sommer hungerte sich ihr
schwer an Parkinson erkrankter Mann zu Tode. Seither setzt sie sich für
Sterbehilfe ein. Gerade erschien ihr neues Buch: "On My Own" im angesehenen
Knopf-Verlag.

Die Welt:

Diane, ich gebe zu, dass ich ein bisschen eifersüchtig bin: Heute hatten Sie
Dick Van Dyke in der Show. Der hat nicht nur als Schornsteinfeger in Mary
Poppins unsere Herzen gestohlen. Wie war es, ihn zu treffen?

Diane Rehm:

Er ist unglaublich! Er ist 90 Jahre alt. Seine Frau ist 46 Jahre jünger als er
und das gibt ihm viel Energie. Er tanzt und singt. Seine Stimme ist unverändert.
Ich war total beeindruckt.

Wie schafft er das?

Vieles im Leben hängt von der persönlichen Sichtweise und Haltung ab. Als er 40
Jahre alt war, sagte ihm der Arzt, dass sein Körper voll von Arthritis sei und
er bald im Rollstuhl sitzen werde. Er sagte nur: Das wollen wir doch mal sehen!
Nun ist er immer noch da und macht Bauchtanz auf der Bühne. Er ist geistig total
präsent. Man muss sein Gehirn aktiv halten.

Sie sind das beste Beispiel dafür. Gerade haben Sie Ihren 79. Geburtstag
gefeiert.

Ich schätze mich so glücklich, dass ich auf den Beinen bin, meine Karriere
fortsetzen kann und all diese wunderbaren Leute in meiner Show habe. Ich hatte
nie die Gelegenheit, zur Uni zu gehen. Meine Gäste und ihr Wissen sind wie
Einzelstunden.

Die Bandbreite der Themen, die Sie täglich seit 36 Jahren abdecken, ist
atemberaubend. Gibt es auch Dinge, die Sie nicht interessieren?

Nein, nein, nein! Aber es gibt Themen, auf die ich nicht so scharf bin. Das ist
das Waffenrecht, Abtreibung und der Arabisch-Israelische Konflikt. Alle drei
sind seit Jahren festgefahren. Das ist sehr frustrierend. Trotzdem müssen wir
darüber sprechen.

Im Gegensatz zu anderen Sendungen schreien sich Ihre Gäste nicht an. Welchen Rat
geben Sie anderen Talkshows?

Mein Rat ist, diese Talkshows in Zuhören-Shows umzubenennen. Der Grund für die
lange Dauer meiner Sendung ist, dass ich zuhöre und dadurch hört auch mein
Publikum zu und lernt.

Ihr Programm ist sehr einflussreich. Wen laden Sie nicht wieder ein?

Leute, die übereinander hinweg reden. Leute, die rüpelhaft mit anderen Gästen
umgehen. Ich glaube, Interviewer und Zuhörer verdienen es, Antworten zu
bekommen.

Sie hören mit Empathie zu, aber untersuchen genau, wo die Wahrheit liegt. War
das auch der Schlüssel zu Ihrer langen Ehe mit Ihrem verstorbenen Mann John
Rehm?

Wir haben beide zutiefst an Ehrlichkeit geglaubt. Das war manchmal schmerzhaft,
aber es hat uns sehr stark gemacht.

Sie haben 54 Jahre miteinander verbracht. Die meisten Menschen halten das
Innenleben ihrer Ehe verborgen, aber Sie entschlossen sich dazu, andere Menschen
sehr tief in Ihre Beziehung schauen zu lassen. Wie kam es zu dem Buch "Toward
Commitment: A Dialogue about Marriage"?

Als wir gemeinsam ein paar Sendungen gemacht hatten, schlug jemand vor, wir
sollten wirklich ein Buch schreiben. Also wählten wir lauter Themen aus, die
unser Leben bestimmten - Kindererziehung, den Umgang mit Berufsleben und Geld,
Sex und Zorn und viele andere. Wir schrieben unsere Essays getrennt voneinander.
Dann sind wir für drei ganze Wochen auf unsere Farm gefahren, lasen jeweils ein
Essay des anderen und stellten den Kassettenrekorder an.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Die Tiefe unserer Liebe und die Tiefe unseres Zorns, die in diesen Gesprächen
rauskam. Wir stritten, wir brüllten und vergaben einander, versicherten uns
unsere ewige Liebe. Ich bin so stolz auf dieses Buch.

Was ist das größte Missverständnis über Ehe?

Dass uns der Sex zusammenhalten wird. Sex ist eine Inspiration, die uns glauben
lässt, dass die Liebe ewig halten wird, aber es braucht mehr, damit das
passiert. Eine Portion Glück ist notwendig. Und wir waren gesegnet mit zwei
begabten Kindern, die uns beide liebten und unterstützten. Wir hatten wunderbare
Freunde. Und wir hatten beide letzten Endes erfüllende Karrieren.

Hatten John und Sie eine einfache Beziehung?

Wir hatten eine sehr liebevolle Beziehung, aber keine einfache. Es gab Zeiten,
da waren wir sehr nahe an der Trennung. Darüber schreibe ich ausführlich in
meinem neuen Buch "On my Own".

Ihr Mann litt jahrelang an Parkinson. Als er sich entschloss, sein Leben zu
beenden, unterstützten Sie ihn. Erzählen Sie mir von diesen Tagen.

Es war ein Rückzugsakt. Mein Sohn David, der Philosoph ist, Johns Arzt und ich
waren in seinem Zimmer als er ankündigte, dass er bereit sei, zu sterben. Er
sagte: "Ich kann meine Hände nicht mehr benutzen. Ich kann nicht laufen. Ich
kann nicht selber essen. Ich bin bereit zu sterben." Unsere Tochter Jennifer,
die Ärztin in Boston ist, verfolgte die Unterhaltung über das Telefon. Sie
sagte: "Aber Dad, wir können es dir angenehm machen." John wurde sehr ärgerlich:
"Ich will keinen Komfort. Ich will sterben." Der Doktor sagte ihm, dass er einen
Eid abgelegt habe und ihm nicht helfen könne. Dass er, John, der Einzige sei,
der seinem Leben ein Ende setzen könne, indem er völlig damit aufhöre, zu
trinken, zu essen oder Medizin einzunehmen. Man sagte ihm, es könne bis zu zwei
Wochen dauern. John fragte, ob er Schmerzen haben werde, was verneint wurde. Er
entschied sich, eine Nacht darüber zu schlafen.

Fühlten Sie sich auf die Situation vorbereitet?

In mancher Hinsicht schon, aber es war trotzdem überwältigend. Wir hatten zwar
lange bevor John erkrankte über den Tod gesprochen, aber ich war tief betrübt
als John ankündigte, dass er bereit war zu sterben. Meine beiden Eltern starben
sehr jung. Johns Mutter wurde sehr alt. Also war ich immer davon ausgegangen,
dass ich als erstes sterben würde. Wir hatten uns versprochen, uns gegenseitig
zu helfen. Damals waren wir in unseren Vierzigern. Ich dachte, John besäße
Langlebigkeit.

Was passierte am nächsten Tag?

Ich brachte ihm ein selbst gemachtes Fotoalbum mit Bildern von seiner frühen
Kindheit bis hin zu seiner Studienzeit an der Law School. Wir saßen zusammen,
mein Arm um seine Schultern, und betrachteten sein Leben. Das machte ihn
wirklich glücklich. Wir sprachen über unser Leben. Wie viel Zeit wir
verschwendet hatten. Wie viel wir durch unseren Zorn verloren hatten. Wie
wichtig unsere Ehe für uns beide gewesen war. Ich fragte ihn, ob er glücklicher
geworden wäre in einem Leben alleine. Er war ein sehr in sich gekehrter Mann. Er
sagte, er habe das manchmal geglaubt, aber dass er dann David, Jenny und mich
verpasst hätte.

Waren Sie bei ihm, als er starb?

Ich hatte die Nacht in seinem Heim verbracht, hatte versucht, mit meinem kleinen
Hund auf dem Bauch auf zwei Stühlen zu schlafen. Ich fand keine Ruhe, machte in
der Nacht mein iPad an und begann zu schreiben. Früh am Morgen ging ich nach
Hause, um zu duschen und den Hund zu füttern. Der Arzt rief mich an und sagte,
dass John in den nächsten 12 bis 24 Stunden sterben werde. Also eilte ich
zurück. Leider kam ich 20 Minuten zu spät, genau wie beim Tod meiner Mutter.

Sie setzen sich seit seinem Tod für Sterbehilfe ein.


Ja, ich glaube sehr stark an das Recht, sich für den Tod zu entscheiden, wenn es
keine Hoffnung mehr gibt, ein sinnvolles Leben ohne Schmerzen zu führen. Ich bin
nicht dafür, das Leben von Patienten zu beenden. Aber ich bin dagegen, Menschen
zum Leben zu zwingen, deren Tod unausweichlich und deren Leiden unerträglich
ist.

Wie schwierig ist es für Sie, sich zwischen Ihrem sehr öffentlichen Berufsleben
und Ihrer privaten Trauer zu bewegen?

Ich trauere nicht öffentlich. Ich werde ihn bei mir tragen, solange ich lebe.
Mit John Rehm verheiratet zu sein, war das Beste, was mir jemals passiert ist.
Aber das heißt nicht, dass ich nicht mein Leben leben werde.

UPDATE: 30. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Jürgen Frank


Ihr Lachen hat sie sich nie nehmen lassen: Diane Rehm spricht und schreibt auch
über Persönliches wie den Tod ihres Mannes
Jürgen Frank

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Die Welt

Mittwoch 3. Februar 2016

Politischer Triumph im türkischen Pokal;


Drittligaklub Amed SK aus der Kurden-Metropole Diyarbakir sorgt für Furore

AUTOR: Deniz Yücel

RUBRIK: SPORT; Sport; S. 19 Ausg. 28

LÄNGE: 957 Wörter

Im Schatten des Krieges, der seit Monaten in der Metropole Diyarbakir und
anderen kurdischen Orten herrscht, rollt ein Drittligist aus Diyarbakir den
türkischen Pokalwettbewerb auf: Amed SK. Im Achtelfinale siegte der Klub beim
Erstligisten Bursaspor 2:1. Ein toller sportlicher Erfolg - immerhin war der
Gegner 2010 türkischer Meister und schloss die Vorsaison als Tabellensechster
ab. Vor allem aber ist es ein politischer Triumph.

Im Vorfeld hatten Fans von Bursa, einer Industriestadt im Nordwesten des Landes,
das Spiel zu einer Art Duell mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK
erklärt. Im Internet kursierten Flyer zum Spiel, bebildert mit Fotos von
Soldaten und Sondereinheiten. Schon beim vorangegangenen Pokalspiel gegen den
Istanbuler Klub Basaksehir, derzeit auf Platz vier der ersten Liga, war die
Atmosphäre ähnlich; der ehemalige Nationalspieler Semih Sentürk feierte sein Tor
mit einem Salut ans türkische Militär, auch wenn er hinterher kleinlaut zugeben
musste, dass er sich einst selbst vom Wehrdienst freigekauft hatte.

Im Achtelfinale in Bursa vermieden sowohl der Stadionsprecher als auch der


Kommentator des regierungsnahen Senders ATV, auch nur den Namen Amed zu nennen.
Stattdessen sprachen sie zumeist von "den Gästen", "dem Gegner" oder schlicht
von den "anderen". Der Hintergrund: Amed ist der kurdische Name von Diyarbakir.
Die Namensänderung vollzog sich zu dieser Saison - quasi pünktlich zum Ende des
Waffenstillstands zwischen dem Staat und der PKK.

Damit nicht genug. Der Klub läuft auch in den kurdischen Farben Gelb-Rot-Grün
auf. Und er gehört der Stadtverwaltung von Diyarbakir. Klubs im Besitz von
Kommunalverwaltungen sind im türkischen Fußball zwar keine Seltenheit. Doch
Diyarbakir wird von Oberbürgermeisterin Gültan Kisanak regiert. Sie gehört der
prokurdischen HDP an - in den Augen der türkischen Nationalisten, aber auch der
Regierung und von Recep Tayyip Erdogan eine Art legaler Arm der PKK. So
verwunderte es nicht, dass der Fernsehkommentator in einer derart parteiischen
Weise kommentierte, wie man es sonst nur von Spielen der Nationalmannschaft
kennt.

Doch auch für Fans von Amed SK hatte dieses Spiel politische Bedeutung. Auf den
Vorwurf des Vaterlandsverrats konterten sie mit einem Hinweis auf die Teams: Bei
Bursa standen zwei türkische Staatsbürger in der ersten Elf, bei Amed waren es
alle elf. Auf einem Twitter-Account, der sich als offizieller Account des Klubs
ausgibt, hieß es: "Wir widmen diesen Sieg der Guerilla in den Stellungen von
Cizre und dem opferbereiten Volk Kurdistans." Klubpräsident Ali Karakas
distanziert sich von derlei Äußerungen. Dieser Account habe nichts mit dem Klub
zu tun, beteuert er im Gespräch mit der "Welt". Sein Klub sei auch keine
inoffizielle kurdische Nationalmannschaft, im Team seien Spieler aus dem
gesamten Land. Doch die symbolische Bedeutung, die den Spielen von Amed SK
derzeit zukommt, leugnet er nicht: "Wenn wir in dieser gewalttätigen Atmosphäre
unsere Menschen für ein paar Stunden glücklich machen und die Öffentlichkeit auf
die Situation in Diyarbakir aufmerksam machen können, dann machen wir das gern."

Auf der Straße dauerte diese Freude über den Einzug ins Viertelfinale allerdings
nicht lange. Kaum dass sich in Diyarbakir die ersten Fans versammelt hatten,
wurden sie von der Polizei mit Tränengas vertrieben.

Im Stadion in Bursa waren sie aus Sicherheitsgründen erst gar nicht zugelassen.
"Die Klubführung von Bursa hat uns freundlich empfangen", sagt Klubchef Karakas.
Doch die gegnerischen Fans hätten das ganze Spiel über seine Mannschaft
beleidigt und "Terroristen raus" oder "PKK-Bastarde" gerufen.

Für Amed SK inzwischen Alltag: "Wir erleben Spiele, bei denen die Fans 90
Minuten lang 'Die Märtyrer sind unsterblich, das Vaterland ist unteilbar' oder
'Allahu akbar' rufen", erzählt Karakas - Parolen, mit denen nationalistische
Fans zuvor Gedenkminuten für die Terroranschläge von Ankara und Paris gestört
hatten. Der Verein habe sich etliche Male an den Fußball-Verband gewandt,
bislang ohne Erfolg.

Dabei ist der Verband an anderer Stelle nicht zimperlich, Geldstrafen und
Zuschauersperren zu verhängen. Nach den Gezi-Protesten 2013 wurden mehrere Klubs
wegen Fanparolen gegen Staatspräsident Erdogan bestraft. Auch Amed SK musste
schon Strafen zahlen. "Die Kinder sollen nicht sterben, sie sollen zum Fußball",
hatten die Fans skandiert. Und: "Amed ist überall, Freiheit ist überall." Das
kostete den Klub bislang umgerechnet 65.000 Euro - zehn Prozent des
Jahresbudgets.

Den entscheidenden zweiten Treffer auf dem Weg ins Viertelfinale schoss übrigens
Deniz Naki. Der in Düren geborene Stürmer, einst deutscher Jugendnationalspieler
und Profi beim FC St. Pauli und in Paderborn, hatte in der vorigen Saison seinen
Vertrag beim Hauptstadtklub Genclerbirligi aufgelöst. Naki, selber kurdischer
Abstammung, hatte während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani
durch die Terrormiliz Islamischer Staat eine Grußbotschaft nach Kobani geschickt
und wurde daraufhin von Nationalisten in Ankara auf der Straße angegriffen. Seit
dieser Saison spielt er für Amed in der dritten Liga. "Wir widmen diesen Sieg
den Menschen, die in den 50 Tagen der Unterdrückung getötet oder verletzt
wurden", schreibt er auf seiner Facebook-Seite.

Gestern wurden die Paarungen für das Pokalviertelfinale ausgelost: Fenerbahce


mit den Superstars Robin van Persie und Nani gastiert nächste Woche in
Diyarbakir. Doch möglicherweise muss der Drittligist im größten Spiel der
Klubgeschichte ohne seine Fans auskommen. Der türkische Verband will die
Zuschauer wegen der jüngsten Äußerungen aussperren.

Wenn wir in dieser gewalttätigen Atmosphäre Leute glücklich machen, tun wir das
gern Ali Karakas, Klubpräsident

UPDATE: 3. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: pa/Photoshot; Präsident Amed SK Diyarbakir


Aziz Behich (l.) von Bursaspor entscheidet zwar diesen Zweikampf für sich, doch
Önder Karaboga gewinnt mit Amed SK die Pokalpartie 2:1
Präsident Amed SK Diyarbakir
Spieler von Amed SK in der Kabine
Seskimphoto
Präsident Amed SK Diyarbakir

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Die Welt

Dienstag 9. Februar 2016

Trumps Klassiker;
Donald Trump gilt als Kulturbanause. Ein Vorurteil? Über den Kanon des
umstrittensten Kandidaten fürs Amt des US-Präsidenten

AUTOR: Hannes Stein


RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 21 Ausg. 33

LÄNGE: 1206 Wörter

Immerhin darf als gesichert gelten, dass er einen Renoir an der Wand hängen hat.
Oder sagen wir vorsichtiger: hatte. Es ist jetzt knapp 20 Jahre her, seit ein
Zeuge das Bild sah: der Reporter Mark Bowden, dem wir (unter anderem) die
Vorlage für den Film "Black Hawk Down" verdanken. Er war 1996 bei Donald Trump
zu Gast, weil er ihn für die Zeitschrift "Playboy" porträtieren sollte. Trump
bat Bowden an Bord seiner Privatmaschine - einer schwarzen Boeing 727 - und gab
dann sehr damit an, dass an Bord alles vergoldet war.

Schließlich zeigte Trump seinem Gast den Renoir: Er lud ihn ein, das Gemälde aus
nächster Nähe zu betrachten. Um die Brillanz des Pinselstrichs, den
meisterhaften Gebrauch der Farbpalette zu würdigen? Nein: Mark Bowden sollte
einfach nur Renoirs Unterschrift sehen. "Ist zehn Millionen Dollar wert", sagte
Donald Trump.

Niemand kann also behaupten, der Bewerber für die republikanische


Präsidentschaftskandidatur habe kein Verhältnis zu den schönen Künsten. Aber wie
steht es mit seiner Lektüre? Was für Bücher liest der Mann? Mittlerweile kann
ein Gerücht als gesichert gelten, das seine Ex-Gattin Ivana in die Welt gesetzt
hat: Sie erzählte ihrem Anwalt, Trump besitze ein Exemplar von "Meine neue
Ordnung" - eine Sammlung der Reden, die Hitler bis 1939 hielt.

Marie Brenner, eine Reporterin für "Vanity Fair", fragte Trump, ob sich dieses
Buch tatsächlich in seinem Besitz befinde. Trump erwiderte, sein Freund Marty
Davis, der für die Filmfirma Paramount arbeite, habe es ihm geschenkt - "und der
ist ein Jude". Besagter Marty Davis bestätigte das Geschenk des Hitler-Buches;
allerdings sei er kein Jude. Trump ruderte nun gegenüber der "Vanity
Fair"-Reporterin zurück: Er besäße jenes Hitler-Buch nicht. Wenn aber doch, so
habe er es nicht gelesen. Hitlers Reden ruhen also ungelesen in Trumps
Nachtkästchen. Hingegen hat er nach eigenem Bekunden die folgende Werke mit
heißem Bemühen durchaus studiert: Sun Tzus Klassiker "Die Kunst des Krieges".
Niccolò Machiavellis "Der Fürst". "Kollaps oder Evolution?" von Rebecca Costa,
ein Buch über den drohenden Weltuntergang. "Rebecca Costa hat eine fesselnde
Untersuchung der düstersten und komplexesten Themen unserer Welt vorgelegt", so
Trump über diesen Bestseller. "Ihre Botschaft für die Menschheit ist letztlich
hoffnungsvoll, denn sie entdeckt ihre faszinierende Theorie über die Fähigkeit
des Gehirns, in Krisenzeiten Problemlösungstechniken zu entwickeln. Ein Muss!"

Mehr lässt sich über das Verhältnis Donald Trumps zu Büchern und Bildern nicht
herausfinden. Es gibt von ihm keine einzige Äußerung über Belletristik; möglich,
dass er heimlich Marcel Proust verehrt und die "Recherche" zu seinen liebsten
Romanen zählt - ausgelassen hat er sich darüber nicht. Wie steht es nun aber
umgekehrt mit dem Verhältnis der Künstler zu Donald Trump?

Der letzte Prominente, der sich öffentlich zu Trump bekannt hat, war kein
Intellektueller, sondern ein Baseballspieler: John Rocker von den Atlanta
Braves. Er bewundere, dass dieser Mann die Dinge beim Namen nenne, ohne sich um
die Folgen zu kümmern - auf so jemanden hätten die Amerikaner eigentlich seit
Ronald Reagan gewartet. Rocker war vor Jahren durch eine rassistische Tirade in
einer Sportzeitschrift aufgefallen: Er könne die ganzen Ausländer in New York
nicht leiden.

Vor John Rocker hatte allerdings tatsächlich eine Künstlerin ihre tief
empfundene Sympathie für Donald Trump erklärt - die 83 Jahre alte
Countrysängerin Loretta Lynn. "Er hat mich überzeugt, was kann ich noch sagen?",
erklärte sie. Lynn, die immer noch acht bis zehn Mal pro Monat mit selbst
verfassten Liedern auftritt, berichtet, dass sie am Ende ihrer Auftritte
kostenlosen Wahlkampf für Trump mache und dass ihre Botschaft vom Publikum jedes
Mal mit Wärme aufgenommen werde. Auch der Regisseur Clint Eastwood hat sich als
Trump-Fan geoutet. "Die Leute suchen nach jemandem, der freimütig ist und keine
Angst hat", so Eastwood. "Er scheint furchtlos zu sein."

Sieht man von Loretta Lynn und Clint Eastwood ab, hat sich bislang freilich kein
prominenter Künstler oder Schriftsteller an die Seite von Donald Trump gestellt.
Auch der Klub Rabbis für Trump weist bisher nur ein einziges Mitglied aus: einen
gewissen Dr. Bernhard Rosenberg aus Edison, New Jersey. (Viele Rabbiner
unterstützen dagegen Hillary Clinton oder Bernie Sanders.) Dr. Rosenberg aus New
Jersey ist deshalb für Donald Trump, weil er sich vor dem Islam fürchtet und
weil er glaubt, dass syrische Flüchtlinge ganz schlecht für Amerika wären.

Allerdings gibt es jede Menge No-Name-Künstler, die sich für Trump engagieren -
Leute, die auf YouTube-Videos mit Songs hochladen, um den Ruhm des Milliardärs
zu verkünden. "Ich würde dieses Land stolz und stark machen, die USA
zurückbringen, wo sie hingehören, eine Mauer dort unten an der Grenze bauen, wir
müssen Gesetz und Ordnung wieder einführen", heißt es in einer jener
Lobeshymnen, und die Bässe wummern im Hintergrund dazu.

Auf einem anderen Musikvideo sind Kampfflugzeuge, demonstrierende Menschenmassen


und hübsche, tanzende Mädchen zu bestaunen. Dazwischen immer wieder der Mann mit
der blonden Haartolle. "Schlimmeres als Political Correctness kann es nicht
geben: als würde man am falschen Ende einer Zigarette ziehen, während China auf
Deck wartet und noch nicht einmal in Schweiß ausbricht und darauf wettet, dass
Amerika in die Katastrophe rast. Habt ihr denn alle vergessen, dass diese
Regierung verrottet ist?" Am Schluss dann der Refrain: "Lasst uns Amerika wieder
groß machen, ehe es zu spät ist!"

Indessen hat Donald Trump als Inspirationsquell auch für eher feindliche
Kunstwerke gedient. Nachdem er uncharmant angedeutet hatte, eine Journalistin,
die ihn unfreundlich interviewte, habe wohl gerade ihre Monatsregel gehabt,
malte die wutentbrannte Künstlerin Sarah Levy ein (übrigens hervorragendes)
Porträt von Trump mithilfe ihres Tampons und ihres Menstruationsbluts.

Nicht viel freundlicher ist ein Gemälde des Künstlers Knowledge Bennett, das
jetzt auf der Kunstmesse in Los Angeles gezeigt wurde. Es verschmilzt das
Gesicht Trumps mit der Visage von Mao Tse-tung. Zwar zitiert "Mao Trump"
ironisch ein berühmtes Bildnis von Andy Warhol, aber es ist wohl kein Zufall,
dass Bennett sich entschied, Trump im Warhol-Mao-Stil zu zeigen, während er
Obama als Elvis malte.

Der Rest steht in dem anfangs erwähnten Artikel von Mark Bowden. "Trump kam mir
pubertär, auf lachhafte Weise pompös, unfreundlich, gottlos, unehrlich,
lautstark und rechthaberisch vor, und er hatte konsequent Unrecht." Untergebene
behandle Trump so rüde, dass er zum permanenten Fremdschämen eingeladen habe -
nach dem Motto: "Tony, putz das! Jetzt auf der Stelle!"

Allerdings wäre es falsch, Trump als Faschisten zu beschimpfen: "Er hat keine
kohärente politische Philosophie ... Er reagiert nur." Bowden erlebte mit, wie
Trump sich über ein paar Tennisplätze auf seinen Ländereien führen ließ. Er
ärgerte sich über einen Metallkasten. Er fand ihn hässlich. Dann fing er an, ihn
rüde zu beschimpfen, schließlich trat er ihn. Danach bückte er sich, um den
Metallkasten mit hochrotem Kopf aus seiner Verankerung zu reißen. Dabei brach er
ein Wasserrohr entzwei und setzte so gleich mehrere Tennisplätze unter Wasser.
UPDATE: 9. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: akg images/picture alliance/akg images/picture alliance


Mann der Tat: Clint Eastwood als Dirty Harry
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Die Welt

Dienstag 9. Februar 2016

Champion auf Friedensmission im Kriegsgebiet;


Deniz Naki holte 2009 mit den Bender-Brüdern den U19-EM-Titel. Heute spielt er
für den kurdischen Klub Amed SK - und wird angefeindet

AUTOR: Deniz Yücel

RUBRIK: SPORT; Sport; S. 19 Ausg. 33

LÄNGE: 1185 Wörter

Diyarbakir

Der Klub Amed SK hat vergangene Woche Fußballgeschichte geschrieben: Als erster
Drittligist überhaupt zog er ins Viertelfinale des türkischen Pokals ein. Und
der ehemalige deutsche Jugendnationalspieler Deniz Naki wurde wegen eines
Facebook-Postings für zwölf Spiele gesperrt - auch das ist ein Rekord. Doch am
Ende dieser bewegten Woche wartet der Alltag: dritte Liga, Heimspiel zu Hause in
Diyarbakir gegen den Istanbuler Vorstadtklub Kartal.

Auf der Fahrt ins kleine Stadion am Stadtrand hört man Schüsse und Granaten, wie
fast überall in Amed, wie die Millionenmetropole auf Kurdisch heißt. In der
Altstadt liefern sich Sicherheitskräfte und Kämpfer der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) bewaffnete Auseinandersetzungen. Und gekämpft wird nicht nur
hier. "Wir widmen diesen Sieg den Menschen, die in den 50 Tagen der
Unterdrückung getötet oder verletzt wurden", verkündete darum Deniz Naki nach
dem Achtelfinalsieg über den Erstligisten Bursaspor. "Die Kinder sollen nicht
sterben, sie sollen zum Fußball", hatten Fans bei vergangenen Spielen skandiert.
Wenige Stunden nachdem Amed als Viertelfinalgegner den großen Istanbuler Klub
Fenerbahce zugelost bekam, gab der Verband die Strafen bekannt: Nakis Sperre
gilt für alle Pflichtspiele, während der Verein kein Ligaspiel, sondern das
Viertelfinale an diesem Dienstag ohne Zuschauer bestreiten muss. Für
Vereinspräsident Ali Karakas steht fest: "Auch das hat politische Gründe."
Wer mit Naki in der Stadt läuft, erkennt schnell die Euphorie, die er mit seinem
Klub ausgelöst hat. Er kann keine zehn Meter gehen, ohne dass jemand ein Selfie
mit ihm knipsen möchte. Doch im Stadion spiegelt sich das nicht wider. Knapp
2000 Fans sind an diesem verregneten Samstagnachmittag gekommen - angesichts der
Zuschauerzahlen manches Erstligisten nicht schlecht, aber gemessen an der
Aufregung enttäuschend. Doch die, die gekommen sind, sind laut. "Rot", brüllt
die Gegengerade eine der Vereinsfarben, "Grün", antwortet die Haupttribüne mit
der anderen. Nur politische Parolen gibt es nicht, darum hat die Klubführung die
Fans gebeten. Bei der Nationalhymne, mit der in der Türkei auch in unteren Ligen
sämtlichen Partien beginnen, singen manche Amed-Spieler mit, andere nicht. Bei
den Gästen singen alle. Besser: Sie brüllen mit einer Inbrunst, fast wie die
Brasilianer bei der vergangenen Weltmeisterschaft. "Das ist noch nichts", sagt
Naki. "Auswärts ist das alles noch viel krasser."

Er habe nichts gegen die Hymne und die Fahne, beteuert er. "Wenn die Fans bei
jedem Spiel so viele türkische Fahnen haben wie in den Spielen gegen uns, dann
wäre das okay. Aber so ist das nicht." Dazu die Beschimpfungen als
"PKK-Terroristen" und "Vaterlandsverräter", ohne dass dafür bislang ein Klub
sanktioniert worden wäre.

Ob ihn diese Reaktionen an seine Spiele mit dem FC St. Pauli gegen Hansa Rostock
erinnern? "Das hier ist viel krasser", sagt Naki. "Wir haben nicht nur gegen
Bursaspor gespielt, sondern gegen die Medien, den Verband, den Staat." Sonst
würden bei Europapokalspielen die Fans der Istanbuler Klubs immer zu den Gegnern
halten. Nur wenn es gegen Amed gehe, sei es anders. Doch nicht alle Fans seien
so, der Besiktas-Fanklub Carsi etwa habe gratuliert.

Eine heimliche kurdische Nationalmannschaft will Amed SK nicht sein. Naki selber
wuchs in Düren auf, seine Familie stammt aus der kurdisch-alevitischen Provinz
Tunceli. Aber die Hälfte der Mannschaft sind Türken. Die Innenverteidiger Sevket
Güngör und Sercan Özcelik etwa, die in diesem unansehnlichen Spiel noch die
Besten auf dem Platz sind und es am Dienstag mit Robin van Persie und Nani zu
tun bekommen werden. "Diese Reaktionen sind nicht schön", sagt Güngör, der aus
der westtürkischen Kleinstadt Turgutlu stammt. "Aber wenn du dich damit
beschäftigst, kannst du kein Fußball spielen." Überhaupt habe der Klub nicht nur
Hass auf sich gezogen, sondern auch Sympathien gewonnen. "Wenn wir ein
Merchandising hätten, könnten wir genug Geld verdienen, um locker alle Strafen
zu bezahlen", sagt Angreifer Naki zum Präsidenten. "Ich habe das schon an meinem
ersten Tag gesagt: Wir brauchen einen Fan-Store. Aber die hören ja nicht."

"Das ist alles nicht so einfach", wirft der Präsident leise ein. Schwer
vorstellbar, dass ein anderer Spieler so mit ihm sprechen könnte. Aber Naki
genießt eine Sonderrolle: Everybody's Darling, politischer Botschafter,
sportliche Führungsfigur. Seine fußballerische Karriere mag nicht alle
Hoffnungen erfüllt haben, die sie versprach, als er mit Ron-Robert Zieler und
den Bender-Brüdern U19-Europameister wurde. Doch für Amed SK ist er als
Fußballer ein paar Nummern zu groß. "Ich hätte locker in der türkischen ersten
Liga spielen können, wenn ich meine Klappe gehalten hätte", sagt er.

Aber die Klappe zu halten war noch nie seine Sache - nicht auf St. Pauli und
auch nicht bei Genclerbirligi in Ankara, wohin er nach einer Zwischenstation in
Paderborn gewechselt war. Als im Herbst 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobani
vom Islamischen Staat belagert wurde, bekundete Naki Solidarität mit den Kurden,
wurde darauf in den sozialen Medien angefeindet, dann auf offener Straße tätlich
angegriffen. Vom Verein fühlte er sich alleingelassen und kündigte den Vertrag.
Zunächst kehrte er nach Deutschland zurück.

"Er hat da auf kurdischen Hochzeiten gesungen, da haben wir ihn aufgegabelt",
scherzt ein Funktionär. Naki lacht, will das aber nicht stehen lassen: "Es gab
Kontakte zu Klubs in Deutschland. Aber das Angebot von Amed war für mich eine
Herzensangelegenheit. Ich wollte dazu beitragen, dass die Menschen in dieser
schwierigen Zeit etwas glücklicher werden." Deswegen will er auch bleiben, egal,
was noch passiert. Schon vergleichen sie ihn hier mit dem Pop-Folkmusiker Ahmet
Kaya, der 1999 mit einer Hetzkampagne und Strafverfahren vergrault wurde, weil
er angekündigt hatte, ein Lied auf Kurdisch aufzunehmen.

Jetzt ist Naki mitten in einem Krieg, den er zuvor nur aus Erzählungen und den
Medien kannte. Und er versucht erst gar nicht, das alles von sich fernzuhalten,
im Gegenteil. So besuchte er im Herbst eine Familie in der Stadt Cizre. Deren
zehnjährige Tochter war mutmaßlich von Sicherheitskräften erschossen worden, die
Eltern hatten den Leichnam tagelang in ihrer Tiefkühltruhe aufbewahrt, weil sie
ihn wegen der Ausgangssperre nicht beerdigen konnten. "Und trotzdem sagen diese
Leute: Wir wollen Frieden", erzählt Naki beeindruckt.

Weniger beeindruckt ist er von dem Spiel, das sein Team ohne ihn zeigt. Die
Verteidigung steht solide, aber der Aufbau ist voller Fehler, zwei gute Chancen
vergibt die Offensive kläglich. Zum Glück für Amed ist der Gegner auch nicht
besser, das Spiel endet 0:0. Nakis knapper Kommentar: "schlecht".

Vereinschef Karakas ist milder: "Die Jungs waren vor dem Viertelfinale nervös.
Immerhin haben wir nicht verloren - anders als Fenerbahce." Und was erwarten sie
von dem Pokalspiel? "Wir haben nichts zu verlieren", sagt Verteidiger Güngör.
"Im Pokal ist alles möglich", sagt Naki. Trotz aller Politik - wenn Amed auf
Fenerbahce trifft, ist es nicht nur ein Politikum. Ein bisschen ist es auch
Fußball.

UPDATE: 9. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Esra Gültekin/OMEDIA TIJA SODIR


Deniz Naki (mit Schal) zusammen mit Fans des Fußball-Drittligisten Amed SK
OMEDIA TIJA SODIR

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Die Welt

Montag 22. Februar 2016

Gladbachs Straßenfußballer will nur spielen;


Talent Dahoud überragt. Aber reden mag er nicht

AUTOR: Andreas Reiners


RUBRIK: SPORT; Matchwinner des Tages; S. 17 Ausg. 44

LÄNGE: 437 Wörter

Matchwinner genießen in der Regel die üblichen Mechanismen des Geschäfts. Das
Spiel mit den Medien, den Kameras und den immer wiederkehrenden Fragen nach der
eigenen starken Leistung. Das Lob und das Rampenlicht, die Bühne mit den
Scheinwerfern, die in diesem Moment zu Recht auf sie gerichtet sind.

Mahmoud Dahoud kann damit wenig bis gar nichts anfangen. Der Mittelfeldspieler
von Borussia Mönchengladbach widersteht seit Monaten den Rufen der Medien, wenn
er immer ein wenig gehetzt und geduckt durch die Mixed Zone eilt. Ein kurzes
Lächeln, ein kurzer Gruß, dann ist der 20-Jährige in der Kabine verschwunden.
Stattdessen sprechen stets andere über das Supertalent, das innerhalb eines
halben Jahres unverzichtbar für die Mönchengladbacher geworden ist.

Ein böser Wille sei nicht dabei, dass er nicht mit der Presse spreche, versuchte
Sportdirektor Max Eberl nach dem 1:0-(1:0)-Sieg der Borussia im Derby gegen den
1. FC Köln das für die heutige Zeit ungewöhnliche Verhalten Dahouds zu erklären.
Schließlich war Dahoud mit seinem Treffer eingangs erwähnter Matchwinner. "Er
ist ein klassischer Straßenfußballer, der nur Fußball spielen möchte. Er möchte
das ganze Ballyhoo drumherum nicht", sagte Eberl. Trainer André Schubert
verriet, dass Dahoud dieses "Drumherum" sogar "suspekt" sei. Dass Dahoud
syrische Wurzeln hat und deshalb womöglich auch politisch brisante Fragen
gestellt werden könnten, ist wohl auch ein Grund, warum der Verein versucht, ihn
so gut es geht zu schützen.

Dahouds Sprache ist stattdessen sein Spiel. Sein unbekümmertes Auftreten, das
Verspielte und Intuitive verleiht dem Gladbacher Spiel eine unberechenbare Note.
Daneben reißt er auch mit die meisten Kilometer ab. Der U20-Nationalspieler
versucht stets, mit seinem temporeichen und präzisen Passspiel komplexe
Situationen spielerisch zu lösen. Alles oftmals verbunden mit einem gewissen
Hang zum Risiko. Ein schmaler Grat für seine Position als Sechser, aber "er
macht aus dem Bauch heraus sehr viele Dinge richtig", lobte Eberl, der zugleich
aber auch vor möglichen Leistungsschwankungen warnte.

Doch Dahoud macht derzeit so viele Dinge richtig, dass auch die Konkurrenz auf
ihn aufmerksam geworden ist. Sein Vertrag läuft noch bis 2018, doch Borussia
Dortmund soll ihn als möglichen Ersatz für Ilkay Gündogan bereits auf dem Zettel
haben. Auch das gehört zu den üblichen Mechanismen des Geschäfts. Groß
interessieren wird Dahoud das im Moment aber wohl auch (noch) nicht. Trainer
Schubert meint: "Dahoud hat einen langfristigen Vertrag. Daher machen wir uns
keine Gedanken." Auch derlei Aussagen gehören zum Geschäft.

UPDATE: 22. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Bongarts/Getty/Lars Baron


Mahmoud Dahoud (l.) trifft im Derby gegen den 1. FC Köln zum 1:0
Lars Baron

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Die Welt

Samstag 27. Februar 2016

Wo sich die AfD dem Opferkult hingibt;


Die Partei und ihre Anhänger verstehen sich als Ausgestoßene. Doch Umfragen
lassen einige träumen. Beim Wahlkampf in Merseburg

AUTOR: Uwe Schmitt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 49

LÄNGE: 1771 Wörter

Merseburg

Es gibt kein Bier, keine Gegendemonstranten, nicht einmal ein Fahnenmeer und das
Deutschlandlied, um die rund 200 Seelen zu wärmen auf der Merseburger
Kliaplatte. Dabei hätte die Alternative für Deutschland (AfD) in Sachsen-Anhalt
an diesem Februarabend Grund zu feiern: Tags zuvor hat die Partei auf dem Weg
zur Landtagswahl in einer Umfrage zum ersten Mal die SPD überholt, sie wäre
dritte Kraft hinter der CDU und der Linken. Ein erster Geschmack von Macht.

Vielleicht verdirbt die Aussicht auf Macht den Getreuen auf dem Platz die Laune:
Denn Ohnmacht ist es, der unerhörte Protest des beleidigten Volkes gegen "die
Politiker", der sie im Inneren zusammenhält. Politik ist dreckig, die skandierte
Wahrheit ist rein: "Wir sind das Volk!!" Und weil es rhythmisch dazu prima
passt: "Merkel muss weg!!" Nun aber stehen sie vermummt, sanglos und nüchtern in
der Kälte und hören Reden. Sie höhnen ein bisschen und brüllen ein paar Parolen.
Kalt bleibt es, an den Füßen wie im Sinn. Das liegt auch an den drei Rednern,
darunter AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg.

Sie können sich nicht recht auf einen Ton einigen, schwanken zwischen Agitation,
Amtsdeutsch ("diesbezüglich") und unfreiwilliger Büttenrede. Da "häuft sich die
Frage" bei Poggenburg, der samt AfD "nach rechts außen degradiert" wird. Seine
Schöpfung "Lückenpresse" will Lügenpresse lite sein und zündet nicht, eben weil
es den Leuten nicht frech genug ist. Bisweilen wird er pubertär, wenn er
politische Gegner "Pöbel-Ralle" und "Hasi, unser Landes-Stiefvater" nennt.
Immerhin gibt es da Applaus. Aber hitzig wird es nicht.

Das Trinken hat die Polizei verboten, neben Eisenstangen, Zeichen der
"Verbundenheit mit der NS-Vergangenheit", zudem die Verächtlichmachung und
Verleumdung "insbesondere von Ausländern". Die Verbotsliste ist lang, sie wird
verlesen, bis eine Frau ruft: "Sagen Se uns mal, was wir dürfen, das iss
vielleicht kürzer!" Gelächter. Poggenburg stellt klar: "Wir wollen keine
zerstörerische Revolution." Sondern Sitze und Gewicht im Landtag erobern.

Merseburg: 36.642 Einwohner Ende November 2015; davon 2029 Ausländer (15. Juli
2015), in diesem Mai tausendundein Jahre Dom, 25 Kilometer von Halle,
Chemieregion, Arbeitslosenquote im Saalekreis: 10,4 Prozent. In ihrem
Wahlprogramm für Sachsen-Anhalt beklagt die AfD den Niedergang von dem einst
stolzen Industriezentrum zur "strukturschwachen Problemregion", deren herrliche
Landschaften von Windrädern verschandelt und deren Menschen samt ihrem
bescheidenen Wohlstand von "zügelloser Masseneinwanderung" bedroht werden.

Ebenso schlimm wie der Ansturm der fremden Massen ist nach Auffassung der AfD
die Entfremdung vom Deutschsein: "Die einseitige Konzentration auf zwölf
Unglücksjahre unserer Geschichte verstellt den Blick auf Jahrhunderte", heißt es
in der Präambel des Programms. Folgerichtig wird die NS-Zeit auf den folgenden
68 Seiten ignoriert.

Es gibt so viel Schönes, und manches reimt sich sogar: "Sachsen-Anhalt ist ein
reiches Land - reich an Menschen mit gesundem Verstand." So beginnt das Ganze,
gefolgt von einer Lobpreisung der Wiege Preußens, der Reformation, des
römisch-deutschen Kaiserreichs, der Merseburger Zaubersprüche: "In keinem
anderen Bundesland herrscht eine solche Dichte an Denkmälern von nationaler
Bedeutung. Nirgendwo liegen so viele Wurzeln deutscher Geschichte wie hier. Wir
sind stolz auf Sachsen-Anhalt!"

Heimatverbundenheit ist eine feine Sache, die gewiss nicht nur einer Partei am
Herzen liegt. So sollte man meinen. Doch Hans-Thomas Tillschneider, 38, aus
Sachsen zugewanderter Sachsen-Anhaltiner und Nummer zehn auf der Landesliste der
AfD, sieht das mindestens für die Linke anders. Er wolle keinesfalls die
SED-Diktatur schönreden: "Aber die Genossen von damals hatten wenigstens noch
ein Vaterland - heute heißt es in der Linkspartei ,Nie wieder Deutschland'." Das
Buhen nach der Pointe tut ihm hier sichtlich wohl.

Dies ist nicht ganz das adäquate Publikum für den promovierten
Islamwissenschaftler, der 2001 aus dem Westen kam, "weil sich so viel Deutsches
hier erhalten hat", wie er den Leuten schmeichelt. Tillschneider liebt
sarkastische Polemik, so die Karikatur von der "Fünf-Sterne-Rundumversorgung"
für nach Deutschland Fliehende: "Eintrittskarte syrischer Pass, unbegrenzte
Aufenthaltsdauer, und wir sind das Personal und arbeiten für die Gäste."

Im Gespräch mit der "Welt" hat er zuvor verraten, dass in der Partei durchaus
über eine mögliche Tolerierung einer CDU-Minderheitsregierung debattiert werde.
Nur um "Schwarz-Rot-Tiefrot" zu verhindern. Die Duldung werde sich die AfD
"teuer abkaufen lassen". Er finde Verständnis dafür an der Basis. Damit könnte
es ganz plötzlich vorbei sein, wenn sich die AfD auf eine Koalition mit der CDU
einließe. So unrealistisch die sei, sagt Tillschneider, man könne sie nicht
völlig ausschließen. Zum Verdacht eines Abtrünnigen, die AfD-Politiker würden
sich im Landtag politisch nicht überanstrengen und an Diäten gütlich tun, sagt
er: "Nein, nein, wir wollen nicht nur an die Fleischtöpfe; es wäre doch töricht,
die Chance auszuschlagen, Politik massiv zu verändern."

Tillschneider argumentiert ruhig, sachlich, der Mann kennt die Fallen des
Völkischen und der Hetze. "Wir finden nicht jeden gut, der uns gut findet",
erklärt er einem Kamerateam, als er nach militanten Mitläufern der AfD gefragt
wird. Nur wenn es an Deutschland geht, lässt er sich mehr durchgehen. Das
Vaterland nämlich "werde ich mir von einer durchgeknallten FDJ-Sekretärin für
Agitation und Propaganda nicht kaputt machen lassen!" Das saß, dafür bekommt er
endlich echten Jubel.

Der Hass auf "Mama Merkel" und "Muttis Asylpolitik" ist das im Ausdruck seltsam
kindisch anmutende Grundbekenntnis der Partei. Mindestens seit der Spaltung im
Sommer 2015, als sich aus der Anti-Euro-Bewegung die Anti-Asyl-Partei geschält
hat. Seither zählt es zum Repertoire der weniger prominenten AfD-Redner,
Multi-Milliarden Euro für Flüchtlinge mit Peanuts-Millionen für Kitas zu
verrechnen.
Unvergleichliches zu vergleichen, das gelingt auch mühelos Willi Mittelstädt,
Jahrgang 1947, dem AfD-Mann für Merseburg. Er gibt den Beleidigten ihre
Beleidigungen: "Pack" und "Abschaum" habe man sie in den Eliten geschimpft,
"eine bodenlose Frechheit". Das Publikum zischt und stöhnt auf vor Wut.

Opfer sein - da finden sie sich wieder, verhöhnte Patrioten, die furchtlos die
Wahrheit sprechen. Ihr Leid ist ihnen eine Ehre. Auch deshalb wollen sie sich
nicht mit Merkel "in amerikanische Gefangenschaft begeben", wie Mittelstädt
schwört, und in die Konfrontation mit einem friedliebenden Russland: "Wir wollen
keinen dritten Weltkrieg!", ruft er aus und erhält mächtig Zuspruch. Genau,
kommt nicht infrage. Die Altparteien, ganz klar, wollen diesen Krieg.

Es ist nicht sonderlich schwer, Kuriositäten und Plattitüden in Reden wie im


Wahlprogramm der AfD Sachsen-Anhalts zu finden. Sei es die Forderung nach
Rückkehr der Schulen zu "klassisch preußischen Tugenden" und der Herausbildung
einer "gefestigten Nationalidentität", so, als sei weder 1000 Jahre lang noch
seit Kriegsende Nennenswertes geschehen. Sei es die Sprengung von
"Gender-Studien", einfach weil in der AfD noch Männer Männer sind und Frauen
Frauen. Im Übrigen möge, so das Wahlprogramm, der Verfassungsschutz "nicht das
politische Tun der Bürger bewerten". Ein Rat, der von Justizminister Heiko Maas
(SPD) gerade für die AfD ausgeschlagen wurde.

Wichtiger als alles andere für den Wahlerfolg der Partei dürfte die Einschätzung
sein, dass die Asylpolitik "geradewegs in die soziale Katastrophe führt". Die
Gewissheit der Deutschlanddämmerung und der tapfere Widerstand der Anständigen
gegen "die Opferung der Deutschen auf dem Altar von Multikulti", so ein
beliebtes Bild mit Menschenopfer-Flair, überragen alle anderen Ideen der AfD.

Wie jede Partei, die sich zur Verfassung bekennt, hat die AfD das Recht, beim
Wort und jedenfalls ernst genommen zu werden. Wer mit den Funktionären wie den
Wählern das Gespräch suchen will, kommt mit Nazi-Vergleichen und anderen
rhetorischen Kurzschlüssen nicht weiter. Er gibt dem Opfermythos Futter. Der
lebt.

Es trägt beinahe masochistisch-lustvolle Züge, wenn André Poggenburg vor den


"lieben Wut- und Mutbürgern" in Merseburg ihr tägliches Martyrium zelebriert:
"verbale Anfeindungen, Ausgrenzungen, bösartige Unterstellungen, sogar tätliche
Angriffe". Es ist eine Klageliste, die von Flüchtlingen, hätten sie einen
Lobbyisten, wörtlich übernommen werden könnte. Eine Frau im Publikum beschwert
sich: "Unsere Jungen kommen mit dunklen Sonnenbrillen zur Demonstration, damit
sie nicht erkannt werden. Eine Schande ist das."

Gleichwohl wirken die Leute harmlos und eher gutmütig als gehässig in den
Parolen. Pegida und AfD mögen sich immer mehr annähern und miteinander
verschmelzen. Die Merseburger scheinen an diesem Abend noch eine Verrohung
entfernt von den gewaltfiebrigen Jungs im Pulk bei den Pegida-Treffen.

Siebzehn Prozent in Sachsen-Anhalt am 13. März sind durchaus drin, sagen


Wahlforscher. Die Vorwürfe des AfD-Verfemten Carsten Schmidt, bis zum
Parteiaustritt im November enger Mitstreiter von Poggenburg, haben erstaunlich
wenig verfangen. Dieser würde nicht aus politischen Gründen, sondern aus
persönlichen finanziellen Interessen kandidierten, sagt Schmidt jedem, der es
hören will. Poggenburg habe "noch nichts vollbracht" und einzig auf das Thema
Asyl gekloppt". Nicht zu leugnen scheint eine lausige Zahlungsmoral bei
Rechnungen für seine Firma zu sein, die Autokühler repariert. "Von einer
Geschäftsverbindung wird abgeraten" und "Kredite werden abgelehnt" lautete einem
"Welt"-Bericht vom 31. Januar zufolge das niederschmetternde Bonitätsurteil
einer Wirtschaftsauskunftei.
Schmidt ist sicher, dass Poggenburg "wenig Ahnung von Politik an der Basis hat".
Schon das Kreiswahlprogramm von 2014 sei "ein Märchen" gewesen. Nicht ein
einziger Punkt wurde bis heute umgesetzt." Obendrein: "Wenn die AfD mit der CDU
zusammenginge, würden sie jämmerlich Prügel beziehen. Lauter Amateure." Der
Rumor, Poggenburg sei selbstherrlich, karrieregeil, faul und - am schlimmsten -
an Politik nicht sonderlich interessiert, geht auch unter anderen Enttäuschten
um. Namentlich äußert sich keiner, Beleidigungsklagen braucht niemand. Neid für
den Aufgestiegenen mag eine Rolle spielen; auch bei Carsten Schmidt klingt eine
Kränkung durch, die er nicht offenbart.

Es mangelte für diesen Artikel nicht an Versuchen, Poggenburg für ein Interview
zu gewinnen. Vergebens, wie auch bei Daniel Roi, dem Zweitplatzierten auf der
Landesliste. Es ist Wahlkampf, die Herren sind beschäftigt. Wir auch. So
entstehen Lücken in der Presse.

UPDATE: 27. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: pa/dpa
André Poggenburg, Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland (AfD) in
Sachsen-Anhalt. Für ein Interview war er nicht zu gewinnen
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Die Welt

Montag 29. Februar 2016

"Hardliner steigen in die zweite Liga ab";


In Teheran gewinnen die Reformer alle Sitze bei der Parlamentswahl. Auch aus dem
Expertenrat wurden Radikale abgewählt

AUTOR: Stephanie Rupp

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 50

LÄNGE: 1325 Wörter

Irans Staatspräsident Hassan Ruhani bekommt durch das Ergebnis der


Parlamentswahlen deutlichen Rückenwind - ganz besonders von den Wählern der
Hauptstadt. Seine Liste aus Reformern und gemäßigten Konservativen "Hoffnung"
hat nach vorläufigen Ergebnissen alle 30 Sitze gewonnen, darunter acht Frauen.
Sämtliche radikalen Hardliner aus Teheran wurden demnach aus dem Parlament
geworfen. Auch im Expertenrat liegen die gemäßigten Konservativen vor den
Hardlinern. In dieses religiöse Gremium, das den geistlichen Führer bestimmt,
wurde auch Ruhani selbst wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung im Iran war mit 60
Prozent (33 von 55 Millionen Stimmberechtigten) zwar niedriger als erwartet.
Doch die Menschen haben damit unmissverständliche Signale an das religiöse
Establishment gesendet: Sie wollten mit aller Macht den erneuten massenhaften
Einzug der Radikal-Konservativen ins Parlament verhindern, was sie nach
bisherigen Ergebnissen erreicht haben.

Für den 88-köpfigen Expertenrat haben sich Reformer mit den Stimmen aus Teheran
Platz eins (für den Moderaten Ali Akbar Rafsandschani-Haschemi) und Platz zwei
(Ruhani) gesichert. Ansonsten sind dort weiter viele Konservative und auch
einige Radikale vertreten. Zwei entscheidende Mitglieder des bei der Bevölkerung
äußerst umstrittenen "Top-Trios" der radikalen Hardliner mit den Ajatollahs
Ahmad Dschannati, Mohammed Jasdi und Mesbah Jasdi sind aber nach vorläufigem
Ergebnis aus dem Gremium geflogen. Lediglich Dschannati ist derzeit noch im
Rennen (Platz 15 von 16 möglichen in Teheran). Er hatte als Vorsitzender des
Wächterrats den beliebten Khomeini-Enkel Hassan Khomeini disqualifiziert, was
viele wütend machte. Mesbah Jasdi, Chefideologe der Radikal-Konservativen, hatte
durch seine frauenfeindlichen Äußerungen und abschätzige Bemerkungen, wonach der
Wille des Volkes bei Wahlen für ihn ohnehin nicht zähle, für Wirbel gesorgt.
Mohammed Jasdi ist der derzeitige Chef des Expertenrats. Sollten sich die
vorläufigen Ergebnisse in den kommenden Tagen bestätigen, wäre das ein harter
Schlag für die radikalen Kleriker.

Auch die Parlamentswahl-Ergebnisse aus Teheran sind noch nicht endgültig. Doch
der Riesenerfolg für die Kräfte aus der Hauptstadt, die Ruhanis Kurs stützen,
wird in die Geschichte eingehen, sollte es dabei bleiben. Dass dort nach
aktuellem Stand kein einziger Sitz an die Ultrakonservativen gehen wird, halten
Beobachter für phänomenal. Abgewählt wurden sehr viele Abgeordnete der radikalen
Hardliner, die Außenminister Mohammed Dschawad Sarif wegen der Atomverhandlungen
aufs Heftigste beschimpft hatten. In den sozialen Netzwerken wird kommentiert:
"Die Hardliner sind in die zweite Liga abgestiegen." Oder: "Die
Radikal-Konservativen haben unsere Reform-Kandidaten disqualifiziert - jetzt hat
das Volk die Radikal-Konservativen disqualifiziert."

Aber auch gegen eine Abgeordnete aus Teheran, die für die Hardliner im Parlament
saß und den Wiedereinzug verfehlte, wurde gewettert. Auf einem Foto ist Fatemeh
Alija in kämpferischer Pose zu sehen und mit einer Sprechblase: "Die Pflicht
einer Frau ist es, Kinder zu erziehen und sich um den Mann zu kümmern - und
nicht, sich draußen ein Volleyball-Spiel anzuschauen." Auf dem zweiten Foto
sieht sie niedergeschlagen aus. Darunter wird kommentiert: "Wir haben Ihre
Botschaft verstanden und helfen Ihnen, zuhause zu bleiben und sich um Mann und
Kinder zu kümmern."

Es ist noch unklar, ob auch landesweit eines der drei Lager - Reformer,
gemäßigte Konservative und radikale Hardliner - die Mehrheit für sich
beanspruchen kann. Aber eine Koalition (oder anderweitige Zusammenarbeit) aus
Reformern und moderaten Konservativen gilt als wahrscheinlich. Weil viele
reformnahe Kandidaten im Vorfeld disqualifiziert worden waren, haben die
Reformparteien vielerorts moderate Konservative auf ihre Empfehlungslisten
gehievt. Zusammen mit ihnen wollen die Reformer im neuen Parlament verhindern,
dass radikale Erzkonservative weiterhin die Arbeit des moderaten
Staatspräsidenten Ruhani blockieren.

In der radikalen Schiiten-Hochburg Ghom etwa konnten die Reformer keinen


Spitzenkandidaten aus den eigenen Reihen aufstellen. Dort nominierten sie
deshalb den früher als Hardliner gefürchteten derzeitigen Parlamentssprecher Ali
Laridschani sogar als ihren Spitzenmann. Inzwischen unterstützt allerdings auch
er den Kurs Ruhanis, insbesondere, was die Aushandlung des Atomdeals mit der
internationalen Staatengemeinschaft angeht. Laridschani wurde als einer von drei
Vertretern ins Parlament gewählt - zusammen mit zwei Radikal-Konservativen, was
für Ghom allerdings normal ist. Das Beispiel Laridschani zeigt nach Ansicht
politischer Beobachter, dass sich die Konservativen im Zuge der Verhandlungen
über den Atomdeal in zwei Lager gespalten haben: in radikal Erzkonservative und
moderate Konservative. Die stützen den Kurs Ruhanis jetzt auch innenpolitisch.

Yadollah Eslami, der in der Regierung des reformorientierten Präsidenten


Mohammed Khatami stellvertretender Gesundheitsminister war und 2009 den Anführer
der Grünen Welle, Mir Hussein Mussawi, aktiv unterstützte, schreibt in einer
politisch sehr aktiven Gruppe des weitverbreiteten sozialen Netzwerks Telegram:
"Noch ist das Endergebnis der Wahlen nicht auf dem Tisch. Aber schon jetzt sehen
wir, dass das Volk ein friedliches Zeichen für Demokratie und Freiheit gesetzt
hat. Die Iraner sind reif für die Demokratie." Die Möglichkeit, ihren wirklichen
Willen kundzutun, sei angesichts der verschwindend geringen Zahl echter
reformorientierter Kandidaten - gerade einmal 70 von 3000 - absolut minimal
gewesen, schreibt er. "Trotzdem haben die Menschen diese winzige Möglichkeit zur
Willensbekundung zu einer ganz großen Sache gemacht - und zwar friedlich. Seit
heute erleben wir eine neue Qualität der politischen Auseinandersetzung in
unserem Land", sagt er optimistisch. Das Verhalten der Menschen zeige, in welche
Richtung sich das Land bewegen müsse - nämlich in eine Zukunft, in der
Forderungen ohne radikale Kräfte, die auf Gewalt setzten, ausdiskutiert werden
müssten.

Der Schauspieler Hamid Farrokh-Nedschad sagte in einem vom Staatsfernsehen


geführten Interview, das höchstwahrscheinlich niemals gesendet wird, aber sehr
wohl im Netzwerk Telegram landete: "Einer der Gründe dafür, dass die Menschen
zur Wahl gingen, war, so wenige Radikal-Konservative wie möglich ins Parlament
zu lassen. Denn diese Leute leben geradezu von Gewalt, Unruhe und Kriegen. Sie
konnten im Iran gut leben und reich werden, weil es die Sanktionen gab." Davon
hätten sie durch ihre lukrativen Umweggeschäfte jahrzehntelang profitiert. "Das
Volk aber ist müde vom Embargo." Die Wahlbeteiligung zeige das. Die Menschen
werfen den radikalen Hardlinern vor, "dass diese blind dafür sind, was mit
unseren Nachbarn passiert ist".

Obwohl sie die Fotos von ertrunkenen syrischen Kindern sehen, die aufgrund der
Gewalt in ihrer Heimat fliehen müssten, würden sie weiter "nur an ihren eigenen
Profit" denken, sagte Farrokh-Nedschad. Wenn die Radikalen im Iran weiter so
stark wie bisher das Geschehen bestimmen dürften, bestehe auch im Iran die
Gefahr, dass die Lage kippe und es einen Bürgerkrieg gebe. "Dann könnten wir
alle gezwungen sein, mit unseren Familien nach Europa zu fliehen - und das
wollen wir nicht", sagt er.

Die Rolle der sozialen Netzwerke, insbesondere des Messenger-Dienstes Telegram,


war entscheidend für die Mobilisierung der Wähler. Denn im Iran nutzt jeder
Vierte ein Smartphone, in der Hauptstadt Teheran ist es sogar jeder Zweite. Über
die sozialen Netzwerke wurden auch Bilder des inoffiziellen Oppositionsführers
Mussawi verbreitet, der seit der mutmaßlichen Wahlfälschung im Jahr 2009 in
Hausarrest sitzt. Sogar er und seine Frau Sahra Rahnavard haben ihre Stimme
abgegeben, statt die Wahl zu boykottieren. Und selbst politische Gefangene im
Evin-Gefängnis haben teilgenommen - ganz sicher nicht, um radikale Konservative
zu wählen, sondern um deren Anteil zu mindern.

UPDATE: 29. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: dpa/Abedin Taherkenareh
"Deutlicher Sieg für die Reformer" lautet die Zeile zu Fotos von Präsident
Ruhani (l.) und Ex-Präsident Rafsandschani in der reformorientierten Zeitung
"Shargh"
Abedin Taherkenareh

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Die Welt

Montag 7. März 2016

Hochzeit der großen Töne;


Verleger Rupert Murdoch heiratet das Ex-Model Jerry Hall. Die Zeremonie fand
ausgerechnet in der Londoner Kirche St. Bride's im ehemaligen Zeitungsviertel
statt

AUTOR: Stefanie Bolzen

RUBRIK: PANORAMA; Panorama; S. 24 Ausg. 56

LÄNGE: 1046 Wörter

London

Rupert Murdoch hat sein Milliardenimperium auf Wörtern gebaut, starken Wörtern,
derer er sich selbst gern bedient. Für seine Wutausbrüche von Untergebenen
gefürchtet ("Ich will heute noch Ihre Kündigung!", schrie er einen Chefredakteur
einst an), ist der 84-jährige australische Medienmagnat auch in den sozialen
Netzwerken kein Mann leiser Töne. An diesem Wochenende macht Murdoch einmal mehr
von sich reden, und er trägt gern selbst als erste Quelle zum Nachrichtenfluss
bei. "Keine Tweets mehr für die nächsten zehn Tage, oder je wieder. Ich fühle
mich als der glücklichste Mann der Welt."

Der Tweet Nummer 1714 kam am Freitagnachmittag, unmittelbar zuvor hatte er eine
der einst attraktivsten Frauen der Welt geheiratet. Jerry Hall, mit immerhin 59
Jahren ein Vierteljahrhundert jünger als der Bräutigam. Ehemaliges Supermodell,
Texanerin, Ex-Frau von Mick Jagger, immer perfekte blonde Mähne und mit
Rücksicht auf ihre Begleiter meist flache Schuhe tragend. Und obwohl weder Braut
noch Bräutigam die britische Staatsangehörigkeit besitzen, haben sie sich London
als Veranstaltungsort für ihre Glamour-Hochzeit ausgesucht. Ausgerechnet, wie
manch Eingeborener unkt. Denn dem 13-fachen Großvater Murdoch sind viele im
Königreich nur mäßig zugeneigt. "Hoffentlich hält Murdochs Herz die
Hochzeitsnacht durch. "Oh, stopp, er hat ja gar kein Herz", schrieb ein
Twitter-Nutzer über den Chef der größten britischen Boulevardzeitung "The Sun",
deren "Recherchemethoden" einige Reporter und sogar ein Ex-Chefredakteur in den
vergangenen Jahren mit Gefängnis bezahlen mussten.
Der Australier Murdoch ist einer der mächtigsten Verleger ("The Times", "Wall
Street Journal") und TV- und Filmunternehmer (Sky, 21st Century Fox). Und er ist
seit den 80er-Jahren Teil der britischen Geschichte. In den Augen der Nation
nicht immer im guten Sinn. Wer seine Unterstützung genoss, konnte sich im
Regierungsamt sicher wähnen. Margaret Thatcher tat das, aber genauso Tony Blair.
Die Verwobenheit zwischen Politik und Presse im Königreich, sie hat viel mit
Murdoch zu tun. Diese Nähe wie auch die Arbeitsmethoden von Murdochs
Boulevardmedien waren immer heftig umstritten - und mitunter kriminell. 2005
musste sich Murdochs Firma News Corp verantworten, weil Reporter die mobilen
Mailboxen von Prinz William und anderen britischen Berühmtheiten gehackt hatten.

Zum existenziellen Skandal für Murdoch wurde die "Arbeitsweise" seiner


Journalisten 2011, als bekannt wurde, dass "News of the World"-Reporter die
Mailbox des entführten und später ermordeten Schulmädchens Milly Dowler abgehört
hatten, wie auch die von Opfern der Terroranschläge in London im Juli 2005.
Seither bemühen sich Politik wie der britische Boulevard zumindest um höhere
ethische Standards in den Medien. Dass Murdoch, nachdem er Jerry Hall am
Freitagnachmittag in einem der nobelsten Stadtpalais in Sichtweite des
Buckingham Palace standesamtlich geehelicht hatte, am Samstag ausgerechnet die
"Journalistenkirche" in der City für seine Feier auserkoren hatte, bringt ein
weiteres Kapitel britischer Geschichte ins öffentliche Gedächtnis zurück, das
eng mit Murdoch verflochten ist: den Druckerstreik.

Fraglich, ob der eine weiße Vivienne-Westwood-Robe tragenden Jerry Hall bewusst


ist, welche Symbolik ihre Trauungskirche St. Bride's für die traditionsreiche
britische Journalistengilde besitzt. Sie ist ein Wallfahrtsort für jeden
Schreiber, der um die Bedeutung der brillanten britischen Reporterkunst weiß.
Hier kommt die Branche hin, um ihre Besten zu betrauern. Gleich links neben dem
Hauptaltar, am schmalen "Journalistenaltar", könnte Rupert Murdoch eine Kerze
anzünden für seine Mitarbeiterin Marie Colvin - die 2012 im syrischen Homs
getötete berühmte Kriegskorrespondentin der "Sunday Times". Dutzender anderer
Verstorbener wird hier gedacht, gerahmte Fotos erinnern an die Größen des
Geschäfts.

Wie die Kirche, so ist auch das Viertel, in dem St. Bride's liegt, voller
Symbolik. Bereits um 1500 stand hier eine erste Druckpresse, und aus diesem
Gewerbe entstand das legendäre Presseviertel Fleet Street. Fleet Street - ein
Name, der Journalistenaugen einst zum Leuchten brachte. Das Herz der britischen
und internationalen Presse, die Lebensader der ganz großen Medienhäuser: "The
Times", "The Sun", "The Daily Telegraph", Reuters, "The Jewish Chronicle" - sie
alle lebten an und auf der Fleet Street. 1702 wurde hier die erste britische
Tageszeitung geboren, "The Daily Courant". Wenige Jahre später erschienen
bereits 31 Zeitungen.

Aber die Fleet Street ist schon lange tot. Der Anfang vom Ende war ein
einjähriger, harter Kampf zwischen den damals noch machtvollen Druckern und -
Rupert Murdoch. Der Aufstand der Branche im Jahr 1986 gehört so zur jüngeren
britischen Geschichte wie die Streiks der Bergbauarbeiter im Norden. Es waren
die Regierungsjahre von Margaret Thatcher. Diese verschaffte Murdoch Anfang der
80er-Jahre das größte Medienmonopol des Königreichs. Murdoch bedankte sich erst
mit regierungsfreundlichen Schlagzeilen. Und half dann bei Thatchers großem
Ziel: die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Als seine Drucker im Januar 1986
einen erneuten Streik ausriefen, schickte Murdoch jedem Streikenden die
fristlose Kündigung - insgesamt 6000 Angestellten. Gleichzeitig hatte er in
einer Geheimaktion in Wapping, einem weiter östlich gelegenen Stadtteil, eine
moderne, computergesteuerte Druckzentrale einrichten lassen.

Die Drucker streikten ein ganzes Jahr lang, Murdochs Printprodukte erschienen
weiter. Das war das Ende der Übermacht britischer Gewerkschaften genauso wie der
Tod der Fleet Street. "Wenige Monate später war der Druckerei-Dinosaurier, der
die Fleet Street war, gestorben. Bis 1989 waren auch alle anderen nationalen
Tageszeitungen ausgezogen, die Murdochs Beispiel folgten", heißt es in den
Annalen von St. Bride's.

Genau 30 Jahre später kommt Murdoch just an diesen Ort zurück, um eine der
vermutlich letzten großen Feiern in seinem Leben abzuhalten. Es scheint, als
wollte der Mediengigant auf seine alten Tage einen Kreis schließen. Noch einmal
an der Fleet Street auftreten, um die Welt an sein in jeder Hinsicht reiches
Erbe zu erinnern, das prägend für die Branche bleibt.

Hoffentlich hält Murdochs Herz die Hochzeitsnacht durch Ein Twitter-Nutzer

UPDATE: 7. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: REUTERS/PETER NICHOLLS


Rupert Murdoch, 84, mit seiner Frau nach der Trauung. "Ich fühle mich als der
glücklichste Mann der Welt", sagt er
PETER NICHOLLS

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Die Welt

Samstag 12. März 2016

Die Stimmungsfalle;
Heinz Bude denkt über die Macht von gesellschaftlichen Stimmungen nach. Sein
neues Buch ist ein Orakel für unser Zeitalter der Publikumsdemokratie

AUTOR: Marc Reichwein

RUBRIK: LITERARISCHE-WELT; Literarische Welt; S. 1 Ausg. 61

LÄNGE: 1771 Wörter

Und, wie ist die Stimmung so? Sie ist jeden Fall immer da. Man kann nicht nicht
gestimmt sein, sagt Heinz Bude (mit Paul Watzlawick und Martin Heidegger), und
instinktiv stimmen wir ihm zu: Wenn man an die Stimmung beim letzten
Stadionbesuch, am Arbeitsplatz oder in bestimmten Lebensabschnitten denkt
(Abitur, Geburt des ersten Kindes) - als biografische, individuell erfahrbare
Kategorie leuchtet Stimmung sofort ein.
"Aber wie kann man sich den Prozess des Gestimmtwerdens durch eine
gesellschaftsgeschichtliche Situation vorstellen?", fragt Bude, Professor für
Makrosoziologie an der Uni Kassel und Spezialist für Zeitgeistthemen wie
"Bildungspanik" (2011) oder "Gesellschaft der Angst" (2014). Sein neues Buch
"Das Gefühl der Welt" hat das Anliegen, die Macht von Stimmungen als
soziologisches Thema zu markieren.

Die Kategorie liegt in der Luft, und zwar nicht nur, weil in diesen Tagen jede
Landtags-, ja sogar die hessische Kommunalwahl als sogenannter Stimmungstest
fürs große Ganze herhalten muss. Aktuelle Protestbewegungen wie Pegida und AfD
"machen Stimmung" gegen die Kanzlerin, die mit ihrer Flüchtlingspolitik
"ungefragt unser Land verändert". Medien raunten lange vor der Kölner
Silvesternacht, dass "die Stimmung kippt", bevor sie dann tatsächlich kippte.
Die Kategorie der Stimmung scheint auch virulent, wenn sich in vielen
europäischen Ländern eine islamfeindliche oder wenigstens misstrauische
Atmosphäre breitmacht. Europa selbst steht als gedachte Solidar- und
Wertegemeinschaft unter Vorbehalt wie noch nie.

In Amerika bewirbt sich ein Kandidat ums Präsidentenamt, der eine schon länger
schwelende Grundstimmung gegen das politische Establishment in Washington zum
Markenkern seiner Kampagne gemacht hat. Und im Internet, wo die unzivilisierte
Hassrede Urständ feiert, ist die Stimmung generell gern im
Weltverschwörungseimer. Ein vielleicht Letztes noch, für das Stimmungsbarometer
von immerhin 1,5 Milliarden online organisierten Menschen relevant: Facebook hat
soeben seine Währung, den Like-Button, für mehr Stimmungen als bloße Zustimmung
("Gefällt mir") diversifiziert. Auch wenn User lieben, lachen, überrascht,
traurig oder wütend sind, sollen sie das künftig ausweisen dürfen.

Alles Stimmung, oder was? Bude geht von einem Manko aus: die
Sozialwissenschaften hätten sich, von der konkreten Markt- und Meinungsforschung
der Umfrageinstitute abgesehen, kaum grundsätzlich mit der Kategorie der
Stimmung befasst, die die Philosophie und Ästhetik immerhin seit Kant
beschäftigt.

Sprachlich vordergründig haben wir es übrigens mit einem deutschen Sonderweg zu


tun: Anders als die meisten anderen Sprachen, die die subjektive und objektive
Komponente der Stimmung in zwei Wörter scheiden (mood und atmosphere),
impliziert der deutsche Begriff beides, sowohl die persönliche Laune wie die
gesellschaftliche Atmosphäre. Und um genau den Konnex geht es Bude. Wenn wir an
so manche Silvesterböllerei in deutschen Großstädten denken, leuchtet seine
Grunddiagnose sofort ein: Er bescheinigt unserer Gegenwart eine "generelle
Stimmung der Gereiztheit". Die einen - Bude nennt sie "heimatlose
Antikapitalisten" - sind ein bisschen gereizter als die anderen, die bei Bude
"Systemfatalisten" heißen. Ein kollektives Unbehagen am Kapitalismus prägt uns
alle, glaubt Bude, und zwar sowohl historisch wie gegenwärtig.

"Das Gefühl der Welt" ist keine systematische Gesellschaftsstudie, sondern


essayistisch angelegt, in lose Gedankenblöcke gegliedert. Bude skizziert die
Stimmung aufeinanderfolgender Generationen (die ihn als Forscher schon länger
umtreiben). Er erzählt vom Erfolg epochaler Stimmungsumschwünge, etwa Willy
Brandts Losung "Wir wollen mehr Demokratie wagen", die 1969 zum Ausdruck
brachte, dass der Staat sich nicht mehr nur autoritär auf seine Institutionen
verlassen konnte, sondern um die "ständige Fühlungsnahme mit den repräsentativen
Gruppen unseres Volkes" bemüht sein wollte. Mit "Fühlungsnahme" (gemeint war
wohl Tuchfühlung) wurde qua Regierungsverlautbarung deutlich, dass "Stimmung die
Münze der Politik" ist.

Zur allerjüngsten Stimmungsgeschichte des Landes zählt die Willkommenskultur für


Flüchtlinge im letzten Sommer. Im Nachhinein, so Bude jüngst gegenüber dem
"Spiegel", könne man bereits die Fußballweltmeisterschaft 2006 (Motto: Die Welt
zu Gast bei Freunden) als Auftakt jener "Fremdenfreundlichkeit" lesen, mit der
sich Deutschland gern selbst gefällt - schon um sein historisch belastetes Image
und seine regional und lokal weiter aufwallende Fremdenfeindlichkeit zu
kompensieren.

Was bedeutet es, wenn syrische Flüchtlinge mit Applaus begrüßt werden? Hat diese
Geste der Willkommenskultur etablierte "Hierarchien des Hierseins" außer Kraft
gesetzt, fragt Bude - mit Blick auf die Stimmung im Land. Er liefert eine
Erklärung, warum Ostdeutsche und Migranten der zweiten Generation sich in ihrer
Ablehnung von aktuellen Flüchtlingen durchaus einig sein können. Für beide
Gruppen, so Bude, stelle Deutschland eine Ankunftsgesellschaft dar. Es definiere
sich durch Etablierte und Zugereiste. Die Etablierten beherrschen das Feld, die
Zugereisten sind Außenseiter: Die für die Unterscheidung von Außenseitern und
Etablierten entscheidende Frage, wer zuerst da war, begünstige einen
gelegentlichen "Ethnorassismus" unter Einwanderergruppen, etwa die Ablehnung von
Flüchtlingen durch Russlanddeutsche. Sie erklärt auch regional verstärkte
Gefühle von Neid, Missgunst und Angst gegenüber Migranten: "Ostdeutsche sehen
sich gegenüber den etablierten Westdeutschen immer noch in der Rolle der
Außenseiter."

An dieser Stelle ist Bude beim Kern seiner Fragestellung: Gesellschaftliche


Gestimmtheit, egal wie naiv oder munitioniert kommuniziert, stellt "eine
Realität eigener Art" dar, die dringend einer "Soziologie der Stimmung" bedarf.
Genau diese Soziologie - im Sinne eines Grundlagenwerks - liefert Bude nicht,
dazu ist er dann doch Bude, und nicht Bourdieu, Luhmann oder Habermas. Wichtige
Ansatzpunkte enthält sein Essay aber allemal.

Besonders ergiebig - und ausbaufähig - scheint sein Bezug auf die


Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann und ihre Theorie der
Schweigespirale. Die besagt, dass Menschen nur dann zu ihrem Standpunkt stehen,
wenn sie sich von der Gesellschaft bestätigt fühlen und sich nicht einer
divergierenden Mehrheitsmeinung gegenübergestellt sehen. Wer merkt, dass die
eigene Meinung (medial) zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich. Wer notiert,
dass seine Meinung an Boden verliert, schweigt. Dieses Gesetz galt, solange die
veröffentlichte Meinung eine relativ knappe, von professionellen Journalisten
exklusiv in Massenmedien besorgte Ressource war. In der Netzgesellschaft können
sich Minderheiten noch im kleinsten Nischenforum gegenseitig groß machen und
großartig finden.

Historisch gesehen hat die Massenpresse das Gefühl, in einer gemeinsamen


sozialen Welt zu leben, seit dem 19. Jahrhundert demokratisiert. Das Internet
hat die "demokratische Teilhabe an Stimmungen", die sich vormedial im
wesentlichen lokal formierte (Motto: die Piazza protestiert vor dem Palazzo),
erheblich verstärkt, es hat die "Räume der Stimmung, die durch einen
gleichmäßigen Strom von relevanten Informationen und gemeinsamen Erregungen
aufrecht erhalten werden und das Erleben von Gesellschaft intensivieren",
erheblich erweitert und das Prinzip der "Publikumsdemokratie" - allerorten
ausgewiesen durch Statistiken wie "Meist gelesene Artikel" oder "Likes" bei
Facebook - etabliert. "Publikumsdemokratie" in der digitalen Gesellschaft heißt,
dass die Erlebnisintensität immer dann am höchsten scheint, wenn ganz viele
irgendetwas gleichzeitig tun und finden. Ob Shitstorm oder
Solidarisierungswelle: Das Internet dynamisiert jede "Wildheit des
Massenverhaltens". Im Zeichen von "Systemaversion, Betrogenheitsempfindung und
Selbstmandatierung" finden sich die "Besorgten, Übergangenen und Verbitterten"
in ihren, wie Bude hübsch formuliert, "kommunikativen Katakomben einer
rebellischen Grundstimmung" zusammen.

Publikumsdemokratie suggeriert, dass man sich noch im abseitigsten Forum als


eine - und wenn nur heimliche - Macht begreifen kann, die es besser weiß und
"sich gegen die vermittelnden Instanzen der Repräsentation eines allgemeinen
Interesses wendet: gegen die 'Medienkaste' genauso wie gegen die
'Politikerkaste', die sich anmaßen, in einem System der Gewaltenteilung für
das Volk zu sprechen, anstatt das Volk selbst sprechen zu lassen."

Budes Argument für die zunehmende Macht von Stimmungen ist aber nur in Teilen
ein mediales. Es hat einen harten sozialen Kern, in etwa umrissen durch das, was
Thomas Piketty oder George Packer in ihren Büchern und nicht nur für die USA
beschrieben haben. Man darf Bude, der sich mit Mechanismen von Exklusion
beschäftigt hat, glauben, dass die gesellschaftliche Kohäsion in dem Maße
verloren geht, in dem die Mittelschicht schwindet und sich, jenseits von
Kollektivkategorien wie Klasse, Nation oder Generation, ein wachsendes Gefühl
des Unbehagens zwischen Etablierten und Außenseitern der Gesellschaft
manifestiert.

"In dem Maße, wie die Bindung an Großgruppenkategorien wie Arbeiter, Bürger oder
Mittelstand zurückgeht und zudem das Publikum von Werbung, Unterhaltung und
Berichterstattung in weiteren als nur lokalen oder nationalen Bezügen
angesprochen wird, werden die Einzelnen zum Spielball von Anreizen, Verführungen
und Belustigungen. So erfährt sich das Ich als ein affektives Wesen, das auf
Verstärkungen angewiesen und Stimmungen ausgesetzt ist. Dieses Ich ist
schreckhaft und schweigsam, wenn es sich allein gelassen fühlt, und es blüht auf
und findet Anklang, wenn es glauben kann, dass viele andere auch so denken und
fühlen wie es selbst."

Die gesellschaftliche Stimmung, so kann man Bude lesen, ist volatiler geworden,
weil die Individuen anfälliger für Stimmungen geworden sind. Im Zeitalter der
Infosphäre ticken immer mehr Menschen so, als seien sie Hugo von Hofmannsthal,
den Bude seinem Buch als Motto - und gleichsam als dichterischen Gewährsmann für
nervösen Dauerempfang - vorangestellt hat: "Er kann nichts auslassen. Keinem
Wesen, keinem Ding, keinem Phantom, keiner Spukgeburt des menschlichen Hirns
darf er seine Augen verschließen. Es ist, als hätten seine Augen keine Lider
In ihm muss und will alles zusammenkommen. Er ist es, der in sich die Elemente
der Zeit verknüpft." Ob es einer Gesellschaft guttut, wenn sie sich im
Informationszeitalter permanent die Stimmung misst, ist eine müßige Frage, die
auch Bude nicht beantwortet. Wir leben in keiner anderen Gesellschaft.

Heinz Bude: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen. Hanser, München.
160 S., 18,90 .

UPDATE: 12. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Stimmung kann schon mal mit einem durchgehen: Bei der Feier zum WM-Titel 2014
besangen die deutschen Fußballer die unterlegenen Argentinier mit dem
Schmach-Song: "So gehen die Gauchos!"
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Die Welt

Samstag 19. März 2016

Fünf sonnige Aussichten;


Die Reiselust der Deutschen reißt kaum ab - doch ihre Sommerziele haben sich
verschoben

AUTOR: Maria Menzel

RUBRIK: REISE; Reise Ausg. 67

LÄNGE: 1549 Wörter

Eines scheint am Ende der Frühbuchersaison für den Sommer 2016 sicher: Die
Reiselust der Deutschen bleibt auch in Zeiten von Terror und politischen Krisen
ungebrochen. Bei einer aktuellen Umfrage des Buchungsportals Holidaycheck
zeigten sich 76 Prozent zwar verunsichert von den Terroranschlägen in Tunesien,
Paris, Ägypten und Istanbul, nur einer von fünf Befragten aber würde deswegen
grundsätzlich auf eine Flugreise verzichten.

Bleibt also alles beim Alten? Keineswegs. Während die Klassiker sowohl unter den
deutschen Urlaubsregionen als auch unter den Fernzielen in Amerika, Asien und
der Karibik mit konstanten oder sogar steigenden Buchungszahlen aus Deutschland
rechnen dürfen, zeichnet sich bei den Nahzielen eine deutliche Verschiebung von
Nordafrika und dem östlichen ins westliche Mittelmeer ab. Die großen Verlierer
am Ende der Frühbucherphase: Tunesien, Ägypten und auch die Türkei. Dem
Präsident des Deutschen Reiseverbands, Norbert Fiebig, zufolge sind die
Buchungen für diese Destinationen um 40 Prozent oder sogar mehr eingebrochen -
und das trotz Dumpingpreisen, mit denen Hoteliers, Fluggesellschaften und
Reiseveranstalter längst versucht hatten, die Kontingente an den Mann zu
bringen.

Dabei hat Tunesien mit elf Prozent den größten Preisverfall zu verzeichnen.
Holidaycheck zufolge kosten Flug, Hotel und Verpflegung den Urlauber dort
aktuell nur noch durchschnittlich 57 Euro pro Kopf und Tag. Auch in Ägypten und
der Türkei liegen die Preise mit 72 und 73 Euro deutlich unter dem
Vorjahresniveau.

Doch auch in den Ländern, in die viele Urlauber nun ausweichen, sind die Preise
nicht unbedingt gestiegen. Bulgarien beispielsweise hält sich - wohlgemerkt im
Gegensatz zu Spanien - trotz großem Zulauf für die Sommersaison auf Rang zwei
unter den günstigsten Pauschalreisezielen. Idealo.de-Sprecherin Susan Saß
zufolge liegt das unter anderem an einer erhöhten Konkurrenz im Hotelmarkt.

Der Auftakt einer Trendverlagerung? "Eher nicht", sagt Prof. Dr. Ulrich
Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen. Der wichtigste Aspekt bei der
Wahl eines Urlaubsziel sei die Sicherheit. Zwar würden 2016 weniger Touristen
die Türkei, Tunesien und Ägypten besuchen als zuvor. "Sobald sich die Lage dort
beruhigt, werden die, die vorher regelmäßig dort Urlaub gemacht haben, dies aber
auch wieder tun."
Auch DRV-Sprecher Torsten Schäfer hält sich mit einer abschließenden Beurteilung
zurück: "Es gibt noch keine Gewinner oder Verlierer, das können wir erst im
Oktober sagen." In einem Punkt aber sind sich Reiseveranstalter, Verbände und
Analysten schon jetzt einig: Von der aktuellen Krise profitieren im Sommer 2016
vor allem die Länder, die sich bei den deutschen Urlaubern sowieso schon großer
Beliebtheit erfreuen.

1. Spanien

Spanien ist der größte Profiteur der Krise. Vor allem die Balearen und die
Kanaren erfahren derzeit auf der Suche nach Sorglos-Destinationen einen sehr
hohen Zulauf. Beim Vergleichsportal Check24 lag die Zahl der Buchungen für
Spanien im Januar 19 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Fuerteventura
verzeichnete einer Analyse des Datenspezialisten Trevotrend zufolge sogar ein
Plus von 59 Prozent bei den Buchungsanfragen und ist mit einem Marktanteil von
23 Prozent damit die am stärksten nachgefragte Destination auf der Nahstrecke.
Der Reiseveranstalter Tui spricht gar von einem bevorstehenden Spanien-Jahr. Wer
gedenkt, seinen Sommerurlaub auf den Kanaren oder den Balearen zu verbringen,
sollte allerdings nicht mehr allzu lange warten mit dem Buchen - es wird voll.

Wettergarantie **** Je nach Region liegen die Temperaturen in Spanien am Tag


zwischen 17 und 27 Grad Celsius. 60 Prozent Sonnenstunden und ein mittleres
Niederschlagsvolumen von 59 Millimetern dürften sonnenhungrige Urlauber auf ihre
Kosten bringen.

Preis Zwei Personen im DZ mit Flug und sieben Übernachtungen im


Drei-Sterne-Hotel kosten idealo.de zufolge 1606 Euro bzw. 2768 Euro im
Fünf-Sterne-Haus.

Günstigster Buchungszeitpunkt Einer Analyse von Skyscanner zufolgeliegt der


günstige Buchungszeitpunkt für eine Reise nach Spanien elf Wochen vor Abflug.
Wer also Anfang August möglichst günstig ins Warme fliegen möchte, sollte
bereits Mitte Mai buchen.

2. Italien

Auch Italien profitiert als Klassiker unter den europäischen Reisezielen der
Deutschen zusätzlich von der aktuellen Situation. Die Buchungen liegen klar im
Plus; vor allem für die Lieblinge unter den Urlaubsregionen - die Adria, den
Gardasee, Südtirol, Venetien, die Lombardei und die Toskana. Das verdankt
Italien nicht zuletzt seinem klimatischen Facettenreichtum, der sich vom sehr
heißen Süden bis in den auch im Hochsommer mediterran milden Norden erstreckt,
der sich vor allem bei Autourlaubern großer Beliebtheit erfreut.

Wettergarantie *** Bis zu 28 Grad Celsius, 57 Prozent Sonnenstunden: So sieht


mediterranes Leben aus - zumindest im Durchschnitt. Zwar liegt die landesweite
Niederschlagswahrscheinlichkeit mit 106 Millimetern relativ hoch. Sonnenanbeter
haben aber vor allem in südlicheren Gefilden wie Sizilien und auch Rom in den
Hochsommermonaten Juni bis August wahrlich nichts zu befürchten.

Preis Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im Drei-Sterne-Haus 1760


Euro bzw. 3216 Euro im Fünf-Sterne-Haus.

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

3. Griechenland

An Griechenland scheiden sich in diesen Zeiten die touristischen Geister. So


sind die Buchungen für die Insel Lesbos, auf der seit Monaten syrische und
afghanische Flüchtlinge stranden, um 90 Prozent eingebrochen. Auch für Chios,
Samos, Kos und Leros werden massive Buchungsrückgänge erwartet. So extrem wie
vor fünf Monaten ist die Situation allerdings längst nicht mehr. Die
Flüchtlingszahlen sind seither zurückgegangen, auch wird man des Zustroms
mittlerweile besser Herr. Das Land, in dem der Tourismus ein Viertel zur
Wirtschaftsleistung beisteuert, verzeichnete Tourismusverbandschef Andreas
Andreadis zufolge insgesamt sogar ein Buchungsplus von zwei bis drei Prozent.
Auch die deutschen Reiseveranstalter sehen Griechenland vor einer starken
Sommersaison. Tui verzeichnet für den deutschen Markt derzeit ein Buchungsplus
von stattlichen zwölf Prozent im Vergleich zum Vorsommer mit besonders hohen
Zuwächsen auf Kreta und Korfu sowie auf dem griechischen Festland. "Was das
Thema Flüchtlingsrouten betrifft, wissen die Urlauber offenbar zwischen den
einzelnen griechischen Zielen zu unterscheiden", hieß es vonseiten des
Unternehmens. Auch Thomas Cook spricht von "guten Wachstumsraten".

Wettergarantie ***** Gerade im August ist Griechenland heiß und extrem


sonnensicher. Während die Temperatur bis Mai und ab Oktober wesentlich niedriger
liegen, die Regenwahrscheinlichkeit dafür umso höher ist, ist das Wetter in den
Sommermonaten mit 18 bis 29 Grad Celsius Tagestemperatur, fast 90 Prozent
Sonnenstunden und nur 18 Millimeter Niederschlag ein Garant für Badeurlaub.

Preis Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im Drei-Sterne-Haus 1700


Euro bzw. 4724 Euro im Fünf-Sterne-Haus.

Günstigster Buchungszeitpunkt Neun Wochen vor Abflug / Mai, Anfang Juni

4. Bulgarien

Hinsichtlich der Zuwächse gibt es einen eindeutigen Gewinner unter den


Sommerurlaubszielen 2016: Warna, mit 330.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt
des Landes. Gelegen am Schwarzen Meer, verzeichnete sie Trevotrend zufolge mit
67 Prozent europaweit das stärkste Plus gegenüber 2015. Aber auch insgesamt hat
Bulgarien bei den Buchungen zugelegt. Bislang gebe es ein Plus von fünf Prozent.
Im vergangenen Jahr kamen insgesamt 620.000 deutsche Gäste nach Bulgarien - nach
Rumänen und Bulgaren die drittgrößte Besuchergruppe. Was die Kapazitäten
anbelangt, sei man für den Ansturm gewappnet: "Unsere Tourismusindustrie ist
bereit, alle Touristen willkommen zu heißen", sagte Tourismusministerin Nikolina
Angelkova.

Wettergarantie **** Mit 14 bis 25 Grad gibt sich der August zwar etwas kühler,
dürfte damit aber vor allem bei denjenigen Anklang finden, die die allzu
hochsommerliche Hitze meiden und doch nicht auf das Sonnenbaden verzichten
möchten. Denn mit 64 Prozent Sonnenstunden und einer mittleren
Niederschlagsmenge von 53 Millimetern zeigt sich Bulgarien im Schnitt sonst von
einer sommerlich soliden Seite.

Preis Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im Drei-Sterne-Haus 1382


Euro bzw. 1788 Euro im Fünf-Sterne-Haus.

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

5. Kroatien

Betrachtet man die Frühbuchersaison 2016, so verzeichnen deutsche


Reiseveranstalter wie Tui und Thomas Cook auch für Kroatien "überproportionale"
Steigerungsraten in puncto Gästezahlen. Immerhin zwei von 100 Deutschen, die die
Stiftung für Zukunftsfragen befragt hatte, gaben an, ihren Haupturlaub 2016 dort
verbringen zu wollen.
Wettergarantie *** Auch wenn die Niederschlagswahrscheinlichkeit mit 109
Millimetern relativ hoch und die Temperaturen im Landesdurchschnitt
verhältnismäßig niedrig sind: Vor allem an der südlichen kroatischen Riviera, an
die es ohnehin die meisten zieht, dürfen Urlauber sich im Juli und August über
relativ beständige Sonnentage mit bis zu 30 Grad Celsius freuen.

Preis Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterbringung im Drei-Sterne-Haus 1787


Euro bzw. 2830 Euro im Fünf-Sterne-Haus.

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

UPDATE: 19. März 2016

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Die Welt

Dienstag 22. März 2016

Auch die Bundesländer sollen in Griechenland helfen;


Gewerkschaft der Polizei rechnet damit, dass rund 600 deutsche Beamte benötigt
werden, um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei durchzusetzen

AUTOR: Manuel Bewarder

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 69

LÄNGE: 727 Wörter

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat die Bundesländer aufgefordert, sich an
der geplanten Hilfe für Griechenland zu beteiligen. Der stellvertretende
GdP-Vorsitzende Jörg Radek sagte der "Welt": "Ich appelliere an den
Bundesinnenminister, dass er die Bundesländer schnell ins Boot holt."

Bei der Sicherung der EU-Außengrenze und bei der Rückführung illegaler Migranten
in die Türkei handele es sich um Gemeinschaftsaufgaben. "Wenn jetzt von 200
Polizeibeamten vor Ort die Rede ist, dann brauchen wir de facto insgesamt 600
Beamte, die abwechselnd in Griechenland eingesetzt werden können", erklärte
Radek.

Der GdP-Vize fügte hinzu: "In der Vergangenheit bestand Einvernehmen, dass
internationale Missionen von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden." Die
Gewerkschaft sieht vor allem Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) in
der Pflicht: "Er wollte Grenzkontrollen, hat aber auch kein Personal übrig für
einen Grenzschutz - und zwar an der EU-Außengrenze in Griechenland", erklärte
Radek.

Nach Einschätzung des Chefs der Innenministerkonferenz, des saarländischen


Ministers Klaus Bouillon (CDU), ist absehbar, dass auch die Länder Beamte nach
Griechenland schicken. Bisher sei im Saarland noch keine Anfrage des Bundes
eingegangen. Er rechne aber damit, sagte Bouillon. Dann werde sich auch das
Saarland mit "einem kleinen Kontingent" beteiligen.

Laut einem Schreiben der Innenminister Deutschlands und Frankreichs an die


EU-Kommission, das unter anderem der "Welt" vorliegt, haben sich Thomas de
Maizière (CDU) sowie Bernard Cazeneuve bereit erklärt, nach Griechenland
zusätzliche Experten für die Grenzsicherung, das Asylverfahren und für die
Umsetzung von Rückführungen bereitzustellen. Dabei handelt es sich um bis zu 200
Polizeibeamte. Außerdem bieten die Minister jeweils 100 Asylfachleute an, die
bei der Bearbeitung von Anträgen helfen, in Deutschland aus dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das deutsch-französische Angebot deckt etwa
ein Viertel des Bedarfs, den die EU-Kommission errechnet hat, um die
beschleunigte Rückführung von Migranten in die Türkei praktisch umzusetzen.

"Dies ist angesichts der aktuellen Lage in Griechenland geboten und ein
besonderer Ausdruck der europäischen Solidarität", schreiben die beiden
Minister. Sie äußern die Hoffnung, "dass sich viele Mitgliedsstaaten unserem
Beispiel anschließen werden". Beide weisen darauf hin, dass sie auch bei der
Versorgung von Flüchtlingen in Griechenland helfen. So hat Deutschland
Hochleistungspumpen für die Trinkwasserversorgung von Flüchtlingen
bereitgestellt.

Die Sprecherin für Innere Sicherheit der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene


Mihalic, äußerte Bedenken zu dem geplanten Einsatz: "Die Bundespolizei ist
aktuell an der Belastungsgrenze", sagte die Innenexpertin dieser Zeitung. "Der
Innenminister wird erklären müssen, wie er angesichts der angespannten
Personalsituation mehrere Hundert weitere Stellen bereitstellen kann. Es wäre
fatal, wenn das auf Kosten weiterer Überstundenberge oder gar der
Sicherheitslage im Land gehen würde."

Die EU-Kommission will in den nächsten beiden Wochen mehr als 4000 Beamte aus
Griechenland, den Mitgliedsstaaten und EU-Behörden mobilisieren, um die
Vereinbarungen mit der Türkei umzusetzen, die am Sonntag in Kraft traten. Die
Mitgliedsstaaten sollen 2400 Beamte abstellen, so die Zeitung unter Berufung auf
ein Planungsdokument der Kommission.

De Maizière nannte die Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens eine "gewaltige


logistische Herausforderung". Deutschland werde dabei helfen, diese
Herausforderung zum Erfolg zu führen, sagte de Maizière am Montag in Berlin.
Jetzt komme es darauf an, die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs schnell
umzusetzen. Das Ziel bestehe darin, den Schleusern das Geschäft wegzunehmen.
"Das geht nur dann, wenn tatsächlich auch diejenigen, die jetzt auf die Inseln
nach Griechenland kommen, zurückgeschickt werden in die Türkei", sagte er. Die
EU und die Türkei hatten am Freitag vereinbart, dass alle ab dem 20. März in
Griechenland ankommenden Flüchtlinge zurückgeschickt werden. Zuvor müssen diese
aber registriert und ihre Asylanträge aufgenommen werden. Im Gegenzug will die
EU der Türkei bis zu 72.000 syrische Flüchtlinge in einem geordneten Verfahren
direkt abnehmen. Wie groß der deutsche Anteil an diesem Kontingent sein wird,
steht noch nicht fest.

UPDATE: 22. März 2016

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Die Welt

Montag 4. April 2016

In Bergkarabach prallt Putins Ego auf Erdogans Muskelspiel;


Zwischen Aserbaidschan und Armenien eskaliert die Lage so heftig wie zuletzt vor
dem Waffenstillstand von 1994. Moskau rüstete beide Länder mit Waffen aus

AUTOR: Julia Smirnova

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 78

LÄNGE: 812 Wörter

Moskau

Eingefrorene Konflikte - das klingt beruhigend, fast harmlos. Doch der


Artilleriehagel in Bergkarabach führte in der Nacht zu Samstag vor Augen, wie
dünn und brüchig dieses Eis sein kann. Mindestens 30 Soldaten kamen bei den
Gefechten in der von Armenien und Aserbaidschan umkämpften Region ums Leben.

Es gibt Berichte über tote und verletzte Zivilisten. Das ist die schärfste
Eskalation seit 1994, als sich die beiden Länder auf einen Waffenstillstand
einigten. Am Sonntag erklärte das aserbaidschanische Verteidigungsministerium,
Baku habe nach internationalen Appellen beschlossen, eine einseitige Feuerpause
auszurufen. Sollte es allerdings "Provokationen" von der armenischen Seite
geben, dann werde von Aserbaidschan eine "harte Antwort" folgen, und die
Offensive werde fortgesetzt.

Ist die blutige Episode damit beendet? Darauf sollte man sich nicht verlassen.
In der letzten Zeit schaukelte sich der Konflikt zwischen Armenien und
Aserbaidschan im Schatten der großen Weltkrisen immer weiter hoch. Die Lage in
Bergkarabach bleibt sehr labil. Und eine Eskalation zu einem echten Krieg hätte
verheerende Folgen für die ganze Region im Südkaukasus und im benachbarten Nahen
Osten. Die schlimmstmögliche Wendung wäre eine direkte Verwicklung der
Nachbarländer, denn dann droht angesichts der Spannungen zwischen Russland und
der Türkei ein Stellvertreterkrieg.
In den letzten Jahren hat das ölreiche Aserbaidschan seine Armee kräftig
aufgerüstet. Laut dem letzten Bericht des Stockholmer internationalen
Friedensforschungsinstituts (Sipri) sind die aserbaidschanischen Waffenimporte
zwischen 2010 und 2015 um 217 Prozent gestiegen. Den Großteil der Waffen - unter
anderem moderne Panzer vom Typ T-90S, Luftabwehrsysteme und
Mehrfachraketenwerfer sowie Kampfhubschrauber - kaufte Baku in Russland. Auf der
anderen Seite rüstete Moskau auch Armenien zu günstigeren Konditionen aus und
stellte dem Land sogar einen Kredit von 200 Millionen Dollar für den Kauf
russischer Waffen zu Verfügung.

Die erhöhte Konzentration von schweren Waffen macht die Krisenregion zunehmend
zu einem Pulverfass. Seit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens 1994
war es in Bergkarabach nie wirklich friedlich. Immer wieder gab es
Schusswechsel. Doch in den letzten zwei Jahren haben sich solche Zwischenfälle
gehäuft. Beunruhigend war, dass dabei auch Artillerie zum Einsatz kam. Bei jeder
Eskalation haben Baku und Eriwan sich wie am Samstag gegenseitig die Schuld
zugewiesen. Die Wirtschaftskrise in den beiden Ländern dürfte zu der Steigerung
der militanten nationalistischen Rhetorik beigetragen haben. Nicht selten wird
die Waffenruhe vor wichtigen politischen Gesprächen gebrochen. Auch jetzt waren
der armenische Präsident Sersch Sargsjan und der aserbaidschanische Präsident
Ilham Alijew kurz vor den Gefechten gleichzeitig in Washington beim
Nukleargipfel. Ein bilaterales Treffen fand nicht statt, doch sie sprachen beide
am Freitag mit dem US-Vizepräsidenten Joe Biden.

Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan kommt der von der OSZE
beaufsichtigte Friedensprozess seit Jahren nicht voran. Nach dem Zerfall der
Sowjetunion kostete der Krieg rund 30.000 Menschen das Leben. 1994 wurde er ohne
einen Friedensvertrag auf Eis gelegt, eine Lösung ist bis heute nicht in Sicht.
International gilt Bergkarabach weiter als Territorium Aserbaidschans. Beide
Seiten bleiben unnachgiebig, die Minsk-Gruppe hat bei den Verhandlungen keine
Erfolge zu verzeichnen. Das führt zu Frustration, Enttäuschung und im
schlimmsten Fall zu der Annahme, dass man mit militärischen Mitteln mehr
erreichen könne. Russland hat parallel versucht, im Konflikt zu schlichten,
scheiterte jedoch ebenfalls. Zuletzt hat sich der Iran als Vermittler angeboten.

Der Streit zwischen Russland und der Türkei nach dem Abschuss des russischen
Militärflugzeugs an der türkisch-syrischen Grenze hat die Lage im Südkaukasus
noch heikler gemacht. Die Türkei ist ein traditioneller Verbündeter
Aserbaidschans. Die türkischen Beziehungen zu Eriwan dagegen sind historisch
belastet durch den Völkermord an den Armeniern 1915, den Ankara bis heute nicht
anerkennt. Die Türkei hält die Grenzen zu Armenien geschlossen. Nach der
Eskalation am Samstag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
Aserbaidschan seine Unterstützung "bis zum Ende" versprochen.

Für Russland ist dagegen Armenien ein enger Verbündeter. Das Land ist Mitglied
in der von Russland angeführten Organisation des Vertrags über kollektive
Sicherheit sowie der Eurasischen Union. Russland hat dort seine Militärbasis und
stärkt Eriwan im Bergkarabach-Konflikt den Rücken. Sollte sich aus der aktuellen
Eskalation ein neuer Krieg entwickeln, würde das die Lage enorm gefährlich
machen. Die jüngsten Gefechte sprechen auch dafür, dass niemand die Lage im
Südkaukasus vollständig unter Kontrolle hat. Auch Moskau nicht.

UPDATE: 4. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Samstag 9. April 2016

Obamas kleiner Bruder;


Jung, linksliberal und ein halbes Jahr im Amt: PremierministerJustin Trudeau
verschafft Kanada ein neues Politikgefühl - und viele neue Schulden

AUTOR: Uwe Schmitt

RUBRIK: FORUM; Porträt; S. 2 Ausg. 83

LÄNGE: 1109 Wörter

An der Seite Amerikas zu liegen, erklärte Premierminister Trudeau seinen


amüsierten Gastgebern in Washington, sei, "wie neben einem Elefanten zu
schlafen: Ganz gleich, wie freundlich und ausgeglichen das Biest ist, wenn ich
es so nennen darf, man achtet auf jedes Zucken und Grunzen." Weder an Gewicht
und Wucht der Vereinigten Staaten noch an der Empfindlichkeit des Nachbarn hat
sich etwas geändert, seit Pierre Trudeau (1919 - 2000) vor 47 Jahren die
gemischten Gefühle der Kanadier beschrieb. Seinem ältesten Sohn Justin, der ihm
im November vergangenen Jahres im Amt nachfolgte, ist ein ähnliches Sprachtalent
eigen. So bot er scherzhaft Trump-Flüchtlingen Asyl in Kanada an. Und auf die
Frage, warum sein Kabinett zur Hälfte aus Frauen bestehe, sagte er knapp: "Weil
wir 2015 haben." Pointen-Sicherheit wird Justin Trudeau, 44, brauchen: Kanada
wurde wirtschaftlich schwer getroffen, als der Ölpreis absackte. Und die
Geräusche des Elefanten im Wahljahr lassen unruhige Zeiten erwarten.

Die guten Nachrichten über Justin Trudeau zuerst: Nie zuvor haben sich die eher
kühlen Kanadier für einen neuen Regierungschef auf so amerikanische Weise
begeistert. Wenige hatten es nach einem Jahrzehnt konservativer Dominanz in
Ottawa ausgerechnet Trudeau zugetraut, Kanada in ein Obama-Fieber zu versetzen.
Politische Dynastien in der Art der Bushs und Clintons sind unbekannt; Politik
in dem riesigen Flächenland mit seinen gerade 35 Millionen Einwohnern ist ein
mühsames, graues Ringen um regierungsfähige Mehrheiten. Und plötzlich stieg ein
junger Kerl in der Liberalen Partei auf, der studierter Lehrer und Ingenieur war
und mehr von Snowboarding verstand als vom Gewerbe seines Vaters - und er meinte
es ernst.

Kameras lieben ihn und seine attraktive Ehefrau Sophie Grégoire Trudeau, die
Mikrofone meinen es nicht gut mit dem beredten, aber leicht lispelnden
Politiker. Eine umso bessere Figur macht der 1,88 Meter große Politiker beim
Benefiz-Boxen (Sieg in der dritten Runde über einen konservativen Senator), bei
Gastauftritten als TV-Schauspieler und in den sozialen Netzwerken, deren Spiel
der gewitzten Einzeiler er beherrscht. Auf dem Höhepunkt der Obama-Verzückung in
Amerika 2008 gelang ihm der knappe Einzug als Oppositionsabgeordneter ins
Parlament, wo er sich als Schattenminister für Jugend und Multikulturalismus
empfahl. Im bilingualen Kanada mit fünf Prozent Ureinwohnern keine Nebensache.

Die Himmelfahrt Barack Obamas zum Präsidenten-Messias muss Justin Trudeau ebenso
beeindruckt haben wie die zwangsläufig folgende Entzauberung. Als Trudeau mit
Gemahlin Mitte März zum ersten offiziellen Besuch eines kanadischen Premiers
seit 19 Jahren in Washington eintraf, zogen US-Medien den schmeichelhaften
Vergleich mit John und Jackie Kennedy. Man beschrieb das herzliche Verhältnis
mit dem zehn Jahre älteren Obama als "bromance", eine Romanze unter Brüdern. Der
amerikanische Präsident selbst spielte den älteren Bruder und rühmte die
"Botschaft von Hoffnung und Wandel" seines Gastes, die gerade den jungen
Kanadiern wieder Optimismus einflöße; er genoss grinsend den Anklang von
Eigenlob.

Betont seriös äußerte sich Trudeau auf eine Frage nach dem Trump-Asyl: Kritik an
Kandidaten stehe ihm nicht zu, selbstverständlich werde er mit jedem Präsidenten
gut zusammenarbeiten, den die US-Amerikaner wählten. Das hätte sein
Amtsvorgänger Stephen Harper wortgleich gesagt, nur auf die Demokraten gemünzt.
Die wenigen bilateralen Streitpunkte sind luxuriös: Seit Jahrzehnten beklagt
Washington, Weichhölzer für den Export würden von Ottawa zu hoch subventioniert.
Glückliche Nachbarn, die solche Probleme haben.

Man sollte sich nicht nur mit den Kürelementen Justin Trudeaus beschäftigen:
Kraulfotos mit Pandas, Bier mit Bono und Leonardo DiCaprio in Davos, der jüngst
zur Sensation stilisierte Yoga-Bauchstand ("Pfau") auf einem Tisch - alles ganz
nett. Doch Trudeau kennt auch die Pflicht. So hatte er im Wahlkampf versprochen
- und die Amerikaner erzürnt - , die Streitkräfte Kanadas so weit wie möglich
aus Kampfhandlungen herauszuziehen. Er lässt das von Washington vorangetriebene
Freihandelsabkommen TTIP einstweilen nur "prüfen". Dafür hat er sein
Versprechen, die reichsten Kanadier "ein wenig mehr Steuern" zahlen zu lassen,
schon umgesetzt. Die übrigen Kanadier würden schon reichlich besteuert, meint er
und findet erwartungsgemäß Beifall bei 90 Prozent der Wähler.

Es ist schmerzfrei, zusammen mit Barack Obama zu geloben, die Arktis zu


schützen, viel härter dagegen, den Kursverfall des kanadischen Dollar
aufzuhalten, der die Lebenshaltungskosten emportreibt. Umgerechnet 20 Milliarden
Euro beträgt die Verschuldung im ersten Haushalt Trudeaus. Kanada brauche
Wachstum, Jobs, Infrastruktur-Investitionen, argumentiert er. Die konservative
Politik, "das Land zum Wohlstand zurückzusparen", sei gescheitert. Naturgemäß
sieht das die Opposition anders. Sie verdammt Trudeaus Politik als "Albtraum",
"katastrophal", "planlos". Der Premierminister habe keine Ahnung, was Kanadas
Wirtschaft antreibe.

Noch sind die Wähler unbeeindruckt: Justin Trudeaus persönliche Umfragewerte


sind mit 57 Prozent auch nach der höheren Staatsverschuldung komfortabel. Die
Konservativen hoffen auf die destruktive Wirkung des Ölsandgeschäfts, das
zurzeit nicht mehr lohnt. Der Preissturz des Rohöls hilft zwar Trudeau, seine
Umweltinitiativen voranzutreiben, zugleich macht sie Provinzen wie Alberta zu
Notstandsgebieten mit enormer Arbeitslosigkeit. Für zwölf besonders bedürftige
Regionen wurde das Arbeitslosengeld angehoben. Eingelöst hat der Premier auch
das bei seiner Amtseinführung gegebene Versprechen, 25.000 syrische Flüchtlinge
bis Ende März in Kanada aufzunehmen. Trudeau empfing im Dezember einige von
ihnen persönlich mitten in der Nacht am Flughafen mit den Worten: "Willkommen zu
Hause."

Einstweilen wird niemand darauf wetten, dass Justin Trudeau Kanada so dauerhaft
prägen wird wie sein Vater. Von 1968 bis 1984, mit einigen Unterbrechungen, war
Pierre Trudeau das narbig-attraktive Gesicht Kanadas. Seine Ehefrau bis 1977,
Justins Mutter, 29 Jahre jünger als der Premier, betörte Anfang der 70er-Jahre
junge Kanadier (und schockierte manche Ältere), als sie sich in der New Yorker
Prominenten-Disco "Studio 54" beim Tanzen fotografieren ließ. Einer First Lady
unwürdig, stöhnten die einen. Die coolste Kanadierin, die je lebte, schwärmten
andere.

Justin Trudeau und Gemahlin setzen die Familientradition fort. Der


Hippie-Familien-Charme 2.0 wird nicht ewig halten. Aber bisher bringen sie die
Kanadier in einen seltenen Genuss: das kostbare Gefühl, von den Amerikanern
ernst genommen zu werden. Vielleicht sogar beneidet.

UPDATE: 9. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: REUTERS/ CHRIS WATTIE


Auch ein halbes Jahr nach Amtsantritt bleibt Justin Trudeau für die meisten
Kanadier ein Mister Sunshine, ein Barack Obama seines Landes und ein Kennedy
zugleich. Ähnlich beliebt ist seine Frau Sophie
Martin U. K. Lengemann
CHRIS WATTIE

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Die Welt

Donnerstag 14. April 2016

Unvermögen und Trallala

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: TITEL; Kommentar; S. 1 Ausg. 87

LÄNGE: 413 Wörter

Wie oft ist im vergangenen Jubiläumsjahr das Glück der deutschen Einheit
beschworen worden und jene Zuversicht, die doch auch vor den neuen großen
Herausforderungen nötig sei! Nun muss man sich fragen, was solche Reden wert
sind, die von Zynikern ohnehin für heiße Luft gehalten werden. Sicher: Man
braucht kein Einheits- und Freiheitsdenkmal, um Einheit und Freiheit zu
verteidigen. Aber das peinliche Scheitern des Berliner Denkmals wirft doch die
Frage auf, ob eine Nation dazu stark genug ist, wenn sie es noch nicht einmal
schafft, ein Zeichen für das zu setzen, was sie als den Kern ihrer Gemeinsamkeit
betrachtet, und ein Bild zu finden, in dem sie sich selbst feiert.

Glückliche Momente sind in der jüngeren deutschen Geschichte schließlich nicht


so häufig, dass man sie in der in Berlin wahrlich überall präsenten Gedenkkultur
einfach aussparen könnte. Genau dazu kommt es aber jetzt, und das ist bitter. Da
tröstet es auch nicht, dass man in Berlin überall auf Spuren der Einheits- und
Freiheitsgeschichte stößt. Historische Spurensuche ersetzt die Anstrengung aber
nicht, nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen des Gedenkens zu suchen.

Schuld an diesem Scheitern sind viele. Die Politiker stehen beim Versieben
diesmal nicht in der ersten Reihe. Es sind die Künstler, die darin versagten,
das Gute in der deutschen Geschichte ästhetisch zu bearbeiten. Nun gut, wir
leben in postheroischen und postpathetischen Zeiten. Da haben es
Denkmalarchitekten nun einmal schwer. Aber was in den beiden Wettbewerben an
Entwürfen präsentiert wurde, das war zum allergrößten Teil schlicht
indiskutabel. Der mutige Beschluss des Bundestages, ein Einheitsdenkmal in der
Mitte Berlins zu bauen, fand in der Künstler- und Architektenszene ein Echo aus
Unernst, Unvermögen und Trallala.

Der größte Fehler der Kulturpolitiker war, dass sie aus lauter Angst, sich vor
dem Feuilleton zu blamieren, am Ende der pseudoavantgardistischen
"Einheitswippe" den Vorzug vor einem figürlich-schlichten Entwurf Stephan
Balkenhols gaben. Ein kniender Mann auf dem Sockel des alten wilhelminischen
Reiterstandbildes hätte nicht nur ein schönes Bild von Demut, innerer Sammlung
und Zuversicht gegeben, sondern auch keine Kostenexplosion verursacht.
Vielleicht errichten in 30 Jahren syrische Einwanderer ein Denkmal, mit dem sie
ihre Rettung und Freiheit feiern und ganz nebenbei die eingesessenen Deutschen
daran erinnern, dass sie sich selbst auch einmal gerettet und befreit haben.

UPDATE: 14. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Samstag 16. April 2016

Undifferenzierte Akademisierung

AUTOR: Jörg Krämer; Marco Wagner

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Gastbeitrag; S. 13 Ausg. 89

LÄNGE: 795 Wörter

Der Fachkräftemangel ist nicht nur ein Ärgernis für einzelne Unternehmen,
sondern entwickelt sich zum Bremsklotz für die gesamte Wirtschaft. Für drei von
vier Betrieben stellt er ein Investitionshemmnis dar. Fast 40 Prozent der Firmen
sehen im Mangel an qualifizierten Bewerbern ein Risiko für die wirtschaftliche
Entwicklung. Der Fachkräftemangel ist vor allem ein Facharbeitermangel. Es
fehlen überwiegend Arbeitskräfte, die eine Lehre absolviert haben. Schließlich
haben die Unternehmen 60.000 unbesetzte Facharbeiter-Stellen gemeldet, während
es bei Stellen für Akademiker nur 12.000 sind. Außerdem stehen nur rund 80
arbeitslose Facharbeiter für 100 offene Stellen zur Verfügung - bei Akademikern
sind es mit 170 Arbeitslosen mehr als doppelt so viele.

Der Fachkräftemangel wird sich in Zukunft verschärfen, weil bis 2027 jährlich
225.000 Facharbeiter in Rente gehen und die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter
schrumpft. Daran dürfte die Masseneinwanderung des Jahres 2015 wenig ändern, da
die Vorbildung der Migranten niedrig ist - abgesehen von einer schmalen Schicht
gut Ausgebildeter. So können zwei Drittel der syrischen Schulabgänger kaum
schreiben und rechnen.

Der Fachkräftemangel ist nicht nur demografisch bedingt. Vielmehr ist er auch
hausgemacht. Das fängt in der Schule an, wie die Pisa-Studie 2012 zeigt: Fast
jedem fünften Schulabgänger fehlen in Deutschland die Basiskenntnisse im Rechnen
und jedem Sechsten im Lesen. Diese Zahlen sind erschütternd. Nicht von ungefähr
klagen 44 Prozent der Betriebe über mangelnde mathematische Fähigkeiten der
Schulabgänger und lassen zunehmend Lehrstellen wegen der mangelnden
Ausbildungsfähigkeit der Bewerber unbesetzt.

Ein vielleicht noch größeres Problem ist die undifferenzierte Akademisierung. In


den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Studienanfänger von rund 350.000
auf nun über 500.000 pro Jahr angeschwollen. Dagegen ist die Zahl derjenigen,
die eine Berufsausbildung anfangen, seit 2007 kontinuierlich gesunken. Seit 2013
beginnen mehr junge Menschen ein Studium als eine betriebliche Ausbildung.
Dagegen wäre wenig einzuwenden, wenn die Studenten erfolgreich wären. Aber
mittlerweile bricht jeder dritte Universitätsstudent bereits sein
Bachelorstudium ohne Abschluss ab. Deutschland hat nach Österreich und Slowenien
die dritthöchste Abbrecherquote im Euro-Raum. Das ist nicht nur ökonomisch eine
Verschwendung, sondern demotiviert junge Menschen, die später beruflich oft
nicht mehr Fuß fassen.

In Deutschland hat sich ein System etabliert, das zu vielen Schulabgängern


suggeriert, an einer Hochschule studieren zu können, statt zunächst mit einer
Berufsausbildung Erfahrung zu sammeln und eine solide Basis für eine berufliche
Entwicklung zu legen. Diese undifferenzierte Akademisierung sollte im Interesse
der jungen Menschen und der Gesellschaft beendet werden.

Erstens muss die Noteninflation beim Abitur aufhören. Allein zwischen 2006 und
2013 ist der Anteil der Abiturzeugnisse mit der Note "sehr gut" um 20 Prozent
auf fast ein Viertel gestiegen. Die guten Abiturnoten gaukeln zu vielen jungen
Menschen vor, für ein Hochschulstudium geeignet zu sein. Ein qualitativ
aufgewertetes Abitur mit realistischeren Abschlussnoten würde besser Chancen und
Grenzen aufzeigen. Hilfreich wären auch mehr Eingangsprüfungen an den
Universitäten, um sicherzustellen, dass Studienanfänger das nötige
Grundlagenwissen mitbringen.

Zweitens brauchen wir mehr Alternativen zum reinen Hochschulstudium. Leider


führen Mischformen zwischen betrieblicher Ausbildung und Studium noch immer ein
Schattendasein. So entscheiden sich nur vier Prozent der Studienanfänger für ein
Duales Studium, das Berufsausbildung und Studium verbindet. Kaum bekannt ist das
Triale Studium, das sich durch eine Ausbildung zum Gesellen, die Weiterbildung
zum Handwerksmeister und das betriebswirtschaftliche Bachelor-Studium
"Handwerksmanagement" auszeichnet.
Drittens braucht die berufliche Ausbildung ein besseres Image. Politiker und
Eltern sollten aufhören, Jugendlichen undifferenziert ein Hochschulstudium als
das "einzig Wahre" nahezulegen. Für viele Jugendliche sind Alternativen wie die
berufliche Ausbildung oder die Kombination von Ausbildung und Studium
geeigneter. Junge Menschen müssen wissen, dass es ein Kontinuum an
Ausbildungswegen zwischen Lehre und Master gibt. Politiker, Unternehmer und
Manager sollten das häufiger öffentlich sagen und an Beispielen belegen. In
einer alternden Gesellschaft ist Fachkräftemangel nicht komplett vermeidbar.
Aber das Problem lässt sich merklich lindern - durch eine höhere Qualität der
Schulbildung und ein Zurückdrängen der undifferenzierten Akademisierung.

Dr. Jörg Krämer ist Chefvolkswirt und Dr. Marco Wagner Volkswirt im Economic
Research der Commerzbank

UPDATE: 16. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Pavel Becker


Pavel Becker

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Die Welt

Donnerstag 28. April 2016

"Schicken Sie die Rechnung an die Stadt";


In Düsseldorf soll eine Unterkunft für Flüchtlinge gebaut werden. Die Anwohner
fühlen sich überrumpelt, halten aber still

AUTOR: Henryk M. Broder

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 99

LÄNGE: 1449 Wörter

Düsseldorf

Es muss so um den 13. März herum gewesen sein, erinnert sich Svetlana P., da
fand sie in ihrem Briefkasten ein Flugblatt, dessen Inhalt sie "in Angst und
Panik" versetzte. Die Stadt Düsseldorf, hieß es da, habe "den Bau eines
Flüchtlingsheimes mit Unterbringungsmöglichkeiten für bis zu 500 Flüchtlinge an
der Ecke Ickerswarder/Münchner Straße" beschlossen. Eine
"Informationsveranstaltung für die Anwohner" solle stattfinden, allerdings "erst
Mitte/Ende April 2016".
Es sei aber fraglich, "inwiefern zu diesem Zeitpunkt eine Einflussnahme noch
möglich sein wird", hieß es weiter. Dabei gehe es "nicht um ein Verhindern
dieses Vorhabens, sondern um einen konstruktiven Austausch zwischen der Stadt
Düsseldorf und den zahlreichen betroffenen Anwohnern", denn: "Die Anzahl von bis
zu 500 Personen erscheint einer Gruppe von Anwohnern zu hoch."

Das Flugblatt war anonym, niemand zeigte sich für den Inhalt verantwortlich.
"Kein Wunder", sagt Svetlana P., die mit ihrer Familie in unmittelbarer Nähe des
geplanten Flüchtlingsheimes lebt, "kein Mensch möchte etwas gegen Flüchtlinge
haben und in die rechte Ecke gestellt werden." Auch ihre Nachbarn seien von der
Aussicht, eine Wohnanlage für mehrere Hundert Flüchtlinge vor die Nase gesetzt
zu bekommen, wenig angetan, würden aber lieber "die Klappe halten".

Dabei muss sich Düsseldorf seiner Willkommenskultur nicht schämen. Die Stadt hat
rund 600.000 Einwohner und von Mitte letzten Jahres bis jetzt etwa 6500
Flüchtlinge aufgenommen, also etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Aber
auf die Anzahl der Schutzsuchenden kommt es weniger an als auf die Frage, wie
sie über das Stadtgebiet verteilt werden. 2015 wurden zehn Wohnanlagen gebaut,
dieses Jahr sollen sechs bis acht dazukommen. Damit sollen die provisorischen
Unterkünfte, die Zelthallen, Traglufthallen und Turnhallen abgebaut oder ihrem
eigentlichen Verwendungszweck wieder dienen können. "Aber jedes Mal, wenn wir
etwas planen, erleben wir das Gleiche", sagt die Flüchtlingsbeauftragte der
Stadt. "Die Leute sind dafür, dass wir Flüchtlinge aufnehmen, aber bitte nicht
dort, wo sie selber wohnen. Je weiter weg, umso besser."

Bevor Miriam Koch, 50, im Februar vergangenen Jahres zur Flüchtlingsbeauftragten


berufen wurde, war sie hauptamtliche Geschäftsführerin der Grünen im Rat der
Stadt. Dort hat sie gelernt, was ihr heute zugutekommt: aus jeder Situation das
Beste zu machen und nicht aufzugeben, bevor sie ihr Ziel erreicht hat. Nun steht
sie vor etwa 300 besorgten Bürgern, die sie zu einem "Bürgerforum" in die Aula
der Theodor-Heuss-Schule im Ortsteil Wersten eingeladen hat, um mit ihnen über
das Projekt zu diskutieren, vor dem sie bereits in dem anonymen Flugblatt
gewarnt worden sind: die Flüchtlingsunterkunft Ickerswarder/Münchner Straße.

Man habe, sagt Frau Koch, bereits im Jahre 2015 "große Anstrengungen
unternommen, um die Menschen, die zu uns gekommen sind, unterzubringen". Als sie
angefangen habe, seien es 150 "Zuweisungen" monatlich gewesen, im Sommer wurden
es dann 600 und mehr.

Dann holt sie aus: Diese "Herausforderung" habe man "sehr gut geschafft"; auch
wenn die "Balkanroute inzwischen zu ist", seien allein im ersten Quartal des
Jahres 1800 Menschen "neu zu uns gekommen". Deswegen habe der Rat der Stadt den
Bau sechs neuer Anlagen beschlossen; eine "Machbarkeitsstudie" für die
Ickerswalder/Münchner Straße geht von "maximal 500 Plätzen" aus, inzwischen habe
man "die Planung verfeinert" und auf "400 Plätze reduziert". Genau 384. Dabei
sei das Düsseldorfer Modell zum Einsatz gekommen. Familien und Alleinreisende
würden zusammen untergebracht. "Die Familien haben einen eigenen Küchen- und
Sanitärbereich. Die Alleinreisenden müssen sich Küche und Sanitärbereich
teilen." Das Ganze sei "sehr kleinteilig", und das wiederum führe zu einer
"guten sozialen Kontrolle in den Unterkünften". Deswegen gebe es - anders als in
anderen Städten in NRW - so gut wie keine Gewalt oder Kriminalität in den
Unterkünften, alles laufe sehr ruhig ab, "die Polizei bestätigt es". Im ersten
Quartal 2016 habe es "an allen Düsseldorfer Flüchtlingsunterkünften 300
Polizeieinsätze" gegeben. Im gesamten Stadtgebiet käme es an einem Tag zu "400
bis 800 Einsätzen". Wobei Frau Koch ungesagt lässt, um was für Arten von
Einsätzen es sich handelt.

Werden bei der Polizeistatistik für das Stadtgebiet auch die Verkehrsunfälle
mitgezählt, die es in den Flüchtlingsunterkünften nicht gibt? Eigentlich müsste
die Zahl der Einsätze auch ins Verhältnis zu der jeweiligen Population gesetzt
werden. Also 600.000 Düsseldorfer zu etwa 6500 Flüchtlingen. Und dann müsste man
die Statistik schon anders interpretieren. Dann würden die Einsatzzahlen für
"das gesamte Stadtgebiet" und "alle Flüchtlingsunterkünfte" gar nicht mehr so
weit auseinanderliegen, wie es Frau Koch suggeriert.

Die besorgten Einwohner von Wersten sind aber nicht in die Theodor-Heuss-Schule
gekommen, um etwas über das Wesen der Statistik zu lernen. Sie wollen beruhigt
werden. Miriam Koch kommt diesem Bedürfnis weit entgegen. Die Flüchtlinge, sagt
sie, seien eine "sehr heterogene Gruppe, eine bunte Mischung". Da sei ein junger
Mann aus Afrika dabei, der seinen Hauptschulabschluss nachgemacht hat, ein
syrischer Ingenieur genauso wie andere Menschen von Bangladesch über Russland
bis in die Mongolei.

An dieser Stelle wäre die Frage fällig, was Menschen aus Ländern, in denen kein
Krieg herrscht, mit denen "wir" ganz normale diplomatische und wirtschaftliche
Beziehungen unterhalten, als "Flüchtlinge" qualifiziert. Aber die Frage kommt
nicht. Die besorgten Bürger wollen wissen, was sie machen sollen, wenn ihnen ein
Flüchtling mit seinem Fahrrad "ins Auto" fährt. "Schicken Sie die Rechnung an
die Stadt", sagt Frau Koch und erklärt, wie wichtig es ist, dass man sich "auf
Augenhöhe begegnet": "Gemeinsames Kochen, gemeinsame Freizeitaktivitäten, das
ist sehr schön für die, die zu uns kommen, aber es ist auch eine Bereicherung
für uns, weil wir sehr viel über andere Kulturen lernen können."

Ein Bürger, der sich "als Freiwilliger einbringen" und wissen möchte, was er
dafür tun müsste, bekommt von Frau Koch den Rat: "Sie müssen ein polizeiliches
Führungszeugnis haben." Eine Bürgerin, die eben noch vor dem Eingang zum
Schulgebäude ein Plakat hochgehalten hat ("Flüchtlinge ja - Ghettos nein!"),
schüttelt ab und zu den Kopf, sagt aber nichts. Der Bürgeraufstand findet nicht
einmal im Saal statt. Vor einem Jahr waren die Emotionen in Düsseldorf bei so
einer Bürgerversammung hochgekocht.

Von der Theodor-Heuss-Schule bis zu dem Areal an der Ecke Ickerswarder/Münchner


Straße sind es weniger als zwei Kilometer. Das kommunale Gelände am Rande von
Wersten, das demnächst bebaut werden soll, ist etwa so groß wie zwei
Fußballfelder, gegenüber liegt der Stadtteil Himmelgeist. Dessen Infrastruktur
besteht aus einem Hofladen für Obst, Gemüse, Kartoffeln und Südfrüchte, einem
Aldi-Supermarkt, einer Filiale der Düsseldorfer Sparkasse und einem Küchenladen,
eingebettet in ein Ensemble aus Ein- und Mehrfamilienhäusern, das an "Twin
Peaks" erinnert. Eine US-Fernsehserie aus den Jahren 1990 und 1991, die
Kriminal-, Mystery- und Horrorfilm miteinander vermischt.

Die Idylle wäre nicht perfekt ohne eine Gartenkolonie. Der Kleingartenverein
Ickersward e.V., 1976 gegründet, versteckt sich hinter einer Hecke - 139
Parzellen, die man vom vereinseigenen Parkplatz nur über einen Fußweg erreichen
kann. Eine davon gehört Christiane, 50, und Gertrud, 80. Die
Kinderkrankenschwester und ihre Mutter haben das Grundstück vor zehn Jahren von
der Stadt gepachtet.

"Es ist unser Garten Eden, wir verbringen hier jede freie Minute", sagt
Christiane. "Und wir möchten, dass alles so bleibt, wie es ist", sagt Gertrud.
Man kennt sich, man hilft sich gegenseitig, man feiert zusammen. "Wir möchten
nicht, dass hier wildfremde Menschen durchlaufen"; außerdem müsste der Parkplatz
von der Peripherie ins Innere der Kolonie verlegt und dafür das Vereinshaus
aufgegeben werden. "Das wollen wir auch nicht."

Das sind alles kleinliche Bedenken gemessen an der Aufgabe, einigen Hundert
Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf und eine Zukunftsperspektive zu geben. Aber
wie erklärt man Menschen, die sich von der Geschichte überrollt fühlen, dass ihr
kleines Glück nicht in den Rahmen des Düsseldorfer Modells passt, dass sie Opfer
bringen müssen, damit andere eine Chance bekommen? Christiane und ihre Mutter
Gertrud waren bei dem Bürgerforum in der Schulaula nicht dabei. "Was sollen wir
da?", sagt Gertrud. "Es ist doch alles längst beschlossen und entschieden." Wenn
es so weit ist, werden sie ihr kleines Häuschen im Kleingartenverein Ickersward
e.V. aufgeben und sich einen neuen Garten Eden suchen.

UPDATE: 28. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Henryk M. Broder


Zwei Anwohnerinnen äußern ihre Meinung - vor der Bürgerversammlung im
Düsseldorfer Süden
Henryk M.Broder

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WELT ONLINE (Deutsch)

Mittwoch 13. Januar 2016 9:55 AM GMT+1

Güner Balci;
"Das archaische Frauenbild bedroht uns alle"

AUTOR: Andrea Seibel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 2740 Wörter

HIGHLIGHT: Autorin Güner Balci kritisiert antiquierten Nationalstolz von


Migranten. Frauenfeindlichkeit von Muslimen sei auch im Islam begründet. Die
Deutschen warnt sie vor zu viel Integrationsoptimismus.

Die Welt: Was haben Sie gedacht, als Sie von den schrecklichen Geschehnissen in
Köln hörten?

Güner Balci: Alles erinnert mich an den Tahrir-Platz in Kairo, wo es ja auch im


Laufe der Rebellion zu unglaublichen Übergriffen gegen Frauen gekommen war. Es
klingt gemein, aber ich fühle mich eigentlich nur bestätigt in dem, was ich seit
Jahren erzähle. Ich hätte nur nicht gedacht, dass das in so einem Ausmaß
passieren könnte, denn vereinzelte Übergriffe gibt es schon lange. Die Polizei
erzählt auch, dass sich die Gewalt nicht nur auf junge westliche Frauen
beschränkt, sondern mittlerweile auch Mädchen mit Kopftuch betroffen sind.

Die Welt: Es gibt Vermutungen über die Täter, aber auch viele Gerüchte.

Balci: Das sind keinesfalls Männer, die als Gastarbeiter oder


Gastarbeiterkinder hier sind. Sie sind wahrscheinlich noch nicht so lange hier.
Und es sind Menschen, die wahrscheinlich irgendwann auch Flüchtlinge waren. Aber
darum geht's gar nicht. Sondern, dass das einfach Männer sind, die ein extrem
archaisches, frauenfeindliches Weltbild mit sich tragen und das auch in ihren
Communitys weiter leben.

Die Welt: Und wie finden Sie die Äußerungen von Frau Reker, die ja in den
sozialen Netzwerken für ziemliche Furore sorgt: Die jungen Frauen sollten
Abstand wahren und bestimmte Plätze meiden. Wird dadurch nicht auch noch die
Frau verantwortlich gemacht?

Balci: Das kann man so sehen, aber geht es nicht eher darum, sich vor solchen
Situationen zu schützen? Was würden Sie denn Ihrer jungen Tochter raten, wenn
die irgendwie auf eine Party gehen will? Ich würde ihr genau dasselbe raten, man
muss mit der Realität umgehen. Natürlich wünschen wir uns alle eine Welt, in der
Frauen ganz unproblematisch jederzeit an jedem Ort sein können, auch alleine und
nachts und auch durchaus im Minirock, aber wir leben leider nicht in so einer
Welt.

Das ist ja auch immer schon in der feministischen Bewegung ein Thema gewesen.
Welche Orte sind die Orte, die besonders gefährlich für Frauen sind? Die sollen
Frauen meiden, da sollen mehr Laternen aufgestellt werden. Da soll mehr Polizei
kontrollieren. Ich finde das nicht verwerflich als Reaktion.

Die Welt: Die Deutschen sind weltoffener geworden, auch wenn sie wissen, dass
die Bilanz der ersten Einwanderung durchwachsen ist. Doch nun haben wir auf
einen Schlag eine Million an fremden Menschen im Land. Eigentlich sind sie
Flüchtlinge, aber sie werden quasi schon als perfekte Einwanderer präsentiert.
Kann das gut gehen?

Balci: Das kann kaum jemand bisher beurteilen. Aber was man auf jeden Fall
sagen muss, ist, dass es ein Unterschied ist, ob man türkische Gastarbeiter hier
hat einwandern lassen oder Menschen aus dem arabischen Raum. Auch wenn sich das
Land heute unter Erdogan islamisiert, war die Türkei lange laizistisch geprägt.
Die Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum ist eine völlig andere als in der
arabischen Welt. Von Integration reden wir noch lange nicht. Wir haben ja noch
nicht einmal darüber gesprochen, was die angekommenen Flüchtlinge denken und wie
sie ticken.

Die Welt: Wenn so viele neue Fremde kommen, sind uns die alten Migranten näher,
und auch die fühlen sich deutscher.

Balci: Ich höre mich in diesen Milieus um, nicht nur in den türkisch-stämmigen,
auch den arabischen. Ich würde mich nicht wundern, wenn irgendwann eine
Bürgerwehr gegen kriminelle Flüchtlinge entstünde. Man hat auch extreme
Vorbehalte gegen Flüchtlingsheime in den eigenen Wohngebieten.

Die Welt: Was nervt Sie am meisten an der migrantischen Existenz, wie sie sich
in Deutschland entwickelt hat?

Balci: Was mich am meisten nervt, ist immer wieder diese Suche nach Identität
in einer Herkunftskultur. Das betrifft fast alle, die hier einwandern. Sie
glauben, eine bestimmte Kultur oder Religion hier konservieren zu können. Ein
verkrampfter, antiquierter Nationalstolz. Das hindert viele, offen für Neues zu
sein. Was man in einer so freien Gesellschaft wie der deutschen doch wunderbar
kann.

Schade, aber offenbar brauchen Menschen viel zu sehr klare Grenzen und enge
Räume, um sich sicher zu fühlen und Freiheit macht den meisten einfach Angst.
Freiheit bedeutet auch wirklich, selbst mal auf die Idee zu kommen, was richtig
für einen ist. Auch auf die Gefahr hin, alleine zu entscheiden und alleine
dazustehen und sich nicht immer fallen lassen zu können in ein Netz, sei es
Familie oder Clan.

Die Welt: Sie leben heute in Berlin-Mitte. Das ist sinnbildlich auch für die
Mitte der Gesellschaft.

Balci: Von Köln ist es nicht weit bis Neukölln. In dem Milieu, in dem ich
aufgewachsen bin, habe ich als Mädchen und junge Frau die Sexualisierung des
Alltags sehr stark miterlebt. Es ist ein ganz großer Unterschied, ob man in
Mitte in einem Café in einem luftigen Sommerkleid sitzt oder ob man das auf der
Sonnenallee abends macht.

Und jeder, der diesen Unterschied nicht kennt, der kann das gerne mal als
Experiment wagen. Das und die Alltäglichkeit von Gewalt, das war mir einfach
widerlich. Widerlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder dort Gewalt
erfahren und Gewalt weitergeben. Deswegen wollte ich da nicht mehr leben.

Die Welt: Wie wurden Sie, wie Sie sind? Waren es die Eltern? War es die Schule?

Balci: Ich glaube, die beste Grundvoraussetzung ist, dass man nicht
indoktriniert wird von seinen Eltern. Stattdessen habe ich humanistische Werte
vermittelt bekommen. Das hat aber wiederum mit dem Alevitentum zu tun, das auch
meine Eltern prägte. Vielleicht war es auch einfach nur Glück, dass mein Vater
ein Freigeist war. Der wollte ausbrechen aus seinen kleinen dörflichen
Verhältnissen, wollte in die nächste Stadt und dann nach Deutschland.

Die Welt: Wie kann man den syrischen Frauen und Männern helfen?

Balci: Ganz simpel. Man muss sich nur an die Frauenbewegung der 80er-Jahre
erinnern oder auch noch weiter zurückgehen. Zu 68. Ich meine, was braucht es, um
zu gewissen Veränderungen zu kommen? Es waren immer Minderheiten, die standhaft
blieben und kämpften. Bis auf Alice Schwarzer, die die Probleme immer wieder
öffentlich thematisiert, gibt es heute aber kaum jemanden.

Unsere ganzen jungen, super emanzipierten Frauen kämpfen nicht für die Frau von
nebenan, sondern bäumen sich auf gegen einen vermeintlichen Uralt-Feminismus,
der in ihren Augen schon lange überholt ist. Aber das archaische Frauenbild
bedroht uns alle.

Die Welt: Die Frage der Gleichheit von Mann und Frau ist elementar für jede
Gesellschaft. Auch im 21. Jahrhundert.

Balci: Gleichberechtigung muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, die in


keinster Weise, nirgendwo, weder in der Schule, noch sonstwo im öffentlichen
Raum verhandelbar ist. Weil nämlich genau davon abhängt, inwieweit wir wirklich
eine zivilisierte Gesellschaft sind.

Die Flüchtlingsfrauen, die aus Verhältnissen kommen, die man sich für keine Frau
wünscht, können das selbst nicht erkennen, daher muss es Aufklärungsarbeit in
den Flüchtlingsheimen geben. Es muss die Möglichkeit für diese Frauen geben,
auszubrechen aus diesen Strukturen. Ein immenser Aufwand, der betrieben werden
muss.

Die Welt: Wie lernt man nicht nur Deutsch, sondern auch das Deutschsein?
Sicherlich nicht allein, indem man das Grundgesetz aufsagt?

Balci: Nein, man lernt es eigentlich nur, indem man früh in der Schule und im
Kindergarten vermittelt bekommt, was unsere Gesellschaft für den Einzelnen
ausmacht. Das heißt, das ist ganz einfach. Da geht es um Kinderrechte, um
Menschenrechte, um geschlechtsspezifische Erziehung der Kinder. Wir haben ja
schon ein gut ausgebautes Erziehungssystem.

Irgendwo muss es da ganz große Defizite geben, sonst könnte es nicht sein, dass
jemand, der zehn Jahre von unserem Bildungssystem profitiert hat, plötzlich auf
die Straße geht und nichts verstanden hat von all dem, was unsere Gesellschaft
eigentlich ausmacht. Schule und Kindergarten müssen noch viel mehr zu Orten der
Erziehung zu einem eigenständig denkenden, freien Individuum, das Rechte und
Pflichten kennt, werden.

Die Welt: Und die Erwachsenen? Die Hunderttausenden jungen Männer? Verlorene
Seelen?

Balci: Die, die sich an keine Regeln halten, kann man nur noch sanktionieren.
Und darauf hoffen, dass sie den Rechtsstaat fürchten lernen. Vielleicht schaffen
wir es, dass sie irgendwann die Vorzüge dieser Gesellschaft für sich solcherart
nutzen, dass sie niemandem mehr schaden.

Die Welt: Deutsch ist aber auch so etwas wie Zuverlässigkeit, Gründlichkeit,
Bildungshunger, technische Neugierde, im neudeutschen Sinne Fahrradfahren,
Mülltrennung, liebevolle Väter, einen Hund haben, aber auch geschieden zu sein
...

Balci: Na ja. Für mich ist Deutschsein in erster Linie diese große Gabe, alles
kritisch und auch selbstkritisch zu hinterfragen. Ich glaube, das ist das
Allertollste an Deutschland. Wenn man diese Selbstkritik spiegeln würde auf das
Gegenüber, auf das Fremde, dann wäre es für mich der Idealzustand. All das, was
man am anderen kritisiert, auch an sich zu kritisieren, würde eigentlich die
erste richtige gesunde Basis für ein Miteinander schaffen. Jenseits aller
politisch korrekten oder unkorrekten Diskussionen.

Die Welt: Warum hat die deutsche Gesellschaft zu wenig getan bei der ersten
Integration, also bei den Gastarbeitern? Aus Ignoranz, aus Unfähigkeit?

Balci: Aus Gleichgültigkeit. Auch viele Deutsche begreifen den großen Reichtum
ihres Landes nicht, dass man hier ohne krampfhafte kulturelle oder religiöse
Zugehörigkeit glücklich werden kann. Und genau das der Grund ist, weshalb wir so
viele Menschen anziehen aus allen Ländern, auch den europäischen. Es ist nicht
nur die wirtschaftliche Schwäche ihrer Herkunftsländer, sondern die Erkenntnis,
dass Deutschland offen sein kann für das andere.

Die Welt: Die Deutschen haben also immer noch nicht gelernt,
Einwanderungsgesellschaft zu sein?

Balci: Noch lange nicht. Wir behandeln den Fremden als den Hilfsbedürftigen.
Auch das ist eine gewisse Form von Apartheid. Die Menschen, die kommen, werden
die Gesellschaft aber nicht immer nur positiv verändern. Und das ist etwas, was
noch viel zu sehr vom rechten Rand bedient wird, der ja nur Ängste schürt. Es
gibt noch keine Offenheit, zu verhandeln, wie weit wir gehen wollen, was wir
wollen und was nicht.
Die Welt: Durch falsch verstandene Toleranz, eine Art Appeasement, haben wir
Europäer Parallelgesellschaften geradezu gefördert, die wir nun beklagen.

Balci: Die Deutschen sind viel zu selbstgefällig. Welch falsche


Selbstsicherheit, sich einzubilden, man sei ein Einwanderungsland, in dem doch
alles gut laufe, solange sie nicht vor der Tür stehen und nerven mit ihren
kulturellen oder religiösen Eigenarten. Doch es läuft nicht gut, weil jeder
seins macht und es gar kein Miteinander gibt. Das ist auch in den anderen
Einwanderungsländern nicht gut gelaufen.

Die Welt: Wir reden immer davon, die Fehler der Vergangenheit nicht zu
wiederholen. Doch angesichts der schieren Masse der Neuankömmlinge, kann man
etwas anderes tun als Gettos zu bauen?

Balci: Ja, die werden auch entstehen. Das ist fast unvermeidbar. Denn die
meisten wollen doch bevorzugt in Milieus leben, in denen sich Migranten schon
lange festgesetzt haben. Das heißt, man ist am Ende wieder in so einem
muslimischen Migrantenmilieu, was ja nicht schlimm sein muss. Die Sache ist nur
die, man darf nicht die Kontrolle verlieren.

Überall aber sind salafistische Gemeinden aus dem Boden geschossen, mittlerweile
haben die schon Kindergärten. Das muss unterbunden werden. Denn man muss die
muslimischen Einwanderer vor diesen Extremisten schützen. Aber ansonsten,
Parallelgesellschaften gehören zur Einwanderungsgesellschaft dazu. Man muss nur
die Möglichkeit schaffen, dass es trotzdem Übergänge gibt. Und zwar für all die
jungen Menschen, die anderes wollen.

In meiner Kindheit in den 80er-Jahren war es selbstverständlich, dass man


deutsche Klassenkameraden hatte. Wenn man die nicht mehr hat, dann verliert man
die Bildungsgerechtigkeit, die dieses Land eigentlich verspricht. Teilhabe an
der Gesellschaft bedeutet, zu sehen, was deutsches Leben sein kann und ist. Auch
alternative Lebenswelten zu erfahren. Genauso schlecht ist das für nicht
migrantische Kinder, wenn sie nur in so einer behüteten Mittelschicht aufwachsen
und nichts anderes mehr kennenlernen. Das ist genauso ein Getto.

Die Welt: Sie beginnen Ihren neuen Film dramatisch, denn Sie packen ein
künstliches Hymen mit falschem Blut aus, das sich offenbar viele junge
muslimische Bräute bestellen und in die Vagina schieben, um eine Jungfernschaft
in der Hochzeitsnacht vorzutäuschen. Warum diese Obsession?

Balci: Weil sie von klein auf eingetrichtert bekommen, dass ihr Wert als Mensch
genau von dieser Jungfräulichkeit abhängt. Es ist ein Wert, der auch finanziell
verhandelt wird. Am Ende entscheidet das manchmal sogar über Leben und Tod.

Die Welt: Ähnlich wie Seyran Ate , Nekla Kelek oder auch Hirsi Ali kommen Sie
zu dem Schluss, dass der Kern des ganzen Problems mit dem Islam dessen
Frauenbild ist. Aber ist dies eine Frage der Religion oder nicht eher der
Kultur?

Balci: Das ist auf jeden Fall auch eine Frage der Religion, denn der Islam hat
genau diese Sexualisierung der Frau und auch diese Abwertung der Frau
festgesetzt. Wenn der Koran und die Hadithe die Leitlinien für Muslime sind,
dann muss ich sagen, dass ein großer Teil von dem, was dort steht, einfach nur
frauen- und menschenfeindlich ist. Und natürlich ist deswegen auch der
unkritische, unreflektierte Umgang mit dem Islam ein Problem, denn er bekämpft
die liberale, offene Gesellschaft.

Die Welt: Wie erreicht man eine Veränderung im Kopf des muslimischen Mannes?
Balci: Es geht immer nur um Sex. Diese Obsession mit dem Sex ist eine, die
extrem verbreitet ist in patriarchalischen Gesellschaften. Und es dreht sich nur
um die Kontrolle der Frau und die Sanktionierung von Sex und darum, wie man ihn
dennoch heimlich ausleben kann. Ich meine, die jungen Männer gehen in den
Dschihad, um Sexsklavinnen zu haben, das ist für viele einer der größten
Anreize. Vielleicht überschätzen wir auch einfach Männer.

Sie fragten mich, ob ich schon einmal eine Burka anprobiert habe. Und da musste
ich dann an diese Prostituierten auf der Oranienburger Straße denken, die ich
immer sehe. Für mich ist das dasselbe. Beides ist der Ausverkauf des weiblichen
Körpers.

Die Welt: Wenn heute alle Musliminnen in Deutschland auf einen Schlag ihr
Kopftuch abnähmen, wären wir dann alle Sorgen los?

Balci: Das wäre auf jeden Fall interessant. Denn zum Ablegen des Kopftuchs
gehört ja auch eine gewisse Rebellionsbereitschaft.

Die Welt: In Ihrem Film wird auch die Mutter von Seyran Ates gezeigt. Sie hat
sich bei ihrer Tochter, deren Werdegang sie nun bewundern kann, entschuldigt für
ihre große Strenge und Gnadenlosigkeit in frühen Jahren. Gibt es heute mehr
solcher Mütter?

Balci: Natürlich. Wir haben zum Beispiel auch ganz viele alleinerziehende
türkische Frauen. Bei denen hat es tatsächlich einen Wandel gegeben. Es gibt
auch viel mehr junge türkische Mädchen, die einen Freund haben oder die auch
alleine in einer anderen Stadt studieren können.

Bei den arabischen Familien ist das noch weniger ausgeprägt. Aber auch da gibt
es hier und da kleine Veränderungen. Mädchen dürfen dann zumindest schon mal den
Bräutigam selbst aussuchen, ohne dass fünf Cousins vorgeschlagen werden. Aber
das könnte alles noch viel schneller gehen.

Die Welt: Glauben Sie noch einen Euro-Islam? Ist er nicht ein Phantom?

Balci: Es gibt ihn schon lange. Für mich ist der Euro-Islam ein Islam, der
nicht institutionalisiert ist. Leider brauchen wir in Deutschland immer dieses
Institutionalisierte. Verbände müssen fast künstlich erzeugt werden, damit alles
ein Gesicht bekommt. Und damit der Staat einen Ansprechpartner erhält. Aber ein
Großteil der Muslime, vielleicht sogar die Mehrheit, lebt einen ganz
individuellen Islam, der auch sehr liberal sein kann. Davon bin ich überzeugt.

Die Welt: Merkels Satz des vergangenen Jahres, wie haben Sie ihn aufgenommen?

Balci: Na ja, wir schaffen das, erzählen ja viele. Das weiß man erst nach 20
Jahren. Mein Leben ist geprägt davon, dass meine Eltern hier eingewandert sind.
Das hat meine Wahrnehmung geschult. Ich bin wirklich gespannt, wie sich
Deutschland entwickeln wird. Ich habe keine Ängste.

Deutschland ist ein großes Land, und ein reiches Land und ein sehr sicheres
Land. Auch politisch stabil. Das heißt, jeder, der ein bisschen Grips in der
Birne hat, wird seine Nische finden. Aber natürlich ist es traurig, wenn es
rechtsfreie Räume gibt, oder Gettos. Das hat dieses Land einfach nicht verdient.

UPDATE: 13. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 15. Januar 2016 11:29 AM GMT+1

Gunnar Heinsohn;
"Es gibt in der islamischen Welt keine ,girl friends'"

AUTOR: Claudia Becker

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1545 Wörter

HIGHLIGHT: Kein Job, kein Sex: Ein Gespräch mit dem Soziologen Gunnar Heinsohn
über die Ereignisse von Köln, frustrierte männliche Flüchtlinge, unberührbare
muslimische Mädchen und westliche Frauen als Beute.

Die Welt: Herr Professor Heinsohn, 2003 haben Sie mit Ihrem Buch "Söhne und
Weltmacht" für Aufsehen gesorgt. Bestätigt sich mit Blick auf die Ereignisse von
Köln Ihre damals aufgestellte These von der Gewaltbereitschaft junger
unterbeschäftigter Männer?

Gunnar Heinsohn: Zuerst muss man sich fragen: Warum haben wir so viele Männer
auf den Routen nach Europa? In den Heimatländern gibt es einen "youth bulge",
einen deutlichen Jugendüberschuss oder, wenn man es anders formulieren will,
einen hohen Kriegsindex.

Die Welt: Was versteht man unter dem Begriff?

Heinsohn: Der Kriegsindex misst das Verhältnis von 55- bis 59-jährigen Männern,
die sich der Rente nähern, und den 15- bis 19-jährigen Männern, die den
Lebenskampf aufnehmen. Wenn wir, wie in den Herkunftsländern, einen Kriegsindex
von drei bis sechs haben, dann kommen also auf 1000 alte Männer, die eine
Position frei machen, 3000 bis 6000 junge Männer. In Deutschland sind das gerade
mal 660.

Die Welt: Eigentlich kein Wunder, dass die jungen Männer ihr Glück woanders
suchen.

Heinsohn: Richtig, es ist verständlich, dass die, die in ihren Ländern keine
Chance auf eine Position haben, Wirtschaftsflüchtlinge werden wollen. Aber wenn
sie das nicht werden können, dann besteht die Gefahr, dass sie in ihren
Heimatländern einen Kampf gegen diejenigen anfangen, die Positionen haben. Und
dann werden ihre Heimatländer zu Kriegsgebieten. Und alle Mitbewohner werden,
wenn sie auf unseren Kontinent kommen, Menschen mit Anspruch auf Schutz oder
Asyl. Das ist der Hintergrund für die Masseneinwanderung, die erst ganz am
Anfang steht. Die wirklichen Dimensionen liegen ja im Bereich von Hunderten von
Millionen.

Die Welt: Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

Heinsohn: Wir können das relativ genau berechnen. Wir kennen die Bevölkerung
zwischen Marokko, Indonesien und Südafrika, das sind etwa zwei Milliarden
Menschen. Sie wurden befragt, ob sie bleiben oder gehen wollen. Es sind etwa 500
Millionen Menschen, die diese Region am liebsten verlassen würden. Wenn diese
Abwanderungswünsche stabil bleiben, dann erwarten wir in Europa bis 2050
ungefähr 1,2 Milliarden Menschen.

Die Welt: Auf welche Umfrage berufen Sie sich?

Heinsohn: Das war eine Umfrage, die das Unternehmen Gallup 2009 durchgeführt
hat. Die ist noch optimistisch. Das war noch vor dem Ölpreisverfall, vor den
arabischen Bürgerkriegen, vor Boko Haram usw. Inzwischen haben wir die
Umfrageergebnisse des Arabischen Zentrums für Forschung und Politikstudien in
Katar, für die 2015 in zwölf arabischen Staaten Menschen zu verschiedenen Themen
befragt wurden. Die haben auch gefragt, wie viele Araber ihre Länder verlassen
wollen. Das sind jetzt 35 Prozent. 2009 waren es noch 23 Prozent.

Die Welt: Stehen die Ereignisse von Köln tatsächlich in einem Zusammenhang mit
den großen Flüchtlingsströmen, oder war das ein schlimmer Zwischenfall, der sich
so nicht zwangsläufig wiederholen muss?

Heinsohn: Beim Wandern gehen junge Männer zuerst. Das sind meist zweite, dritte
Brüder. Der erste Sohn hat ja zu Hause eine Chance. Die anderen, die zu uns
kommen, haben zu Hause keine Chance auf eine Position, und das heißt, sie haben
auch keine Chance auf ein Familienleben. Und damit auch nicht auf ein legales
Sexualleben. Deswegen haben wir auch in den arabischen Ländern Übergriffe, wie
wir sie jetzt zwischen England und Deutschland und Schweden erleben.

Die Welt: "Kein Job" plus "kein Sex" ist gleich "sexuelle Übergriffigkeit" - ist
das nicht eine etwas zu simple Rechnung?

Heinsohn: Schauen Sie doch auf die jungen Männer, die zu uns kommen. Entweder
sie können etwas. Dann steigen sie bei uns auf und haben außerhalb ihrer
Religionsgruppe keine Schwierigkeiten, Partnerinnen zu finden. Das ist aber eine
Minderheit. Bei etwa 90 Prozent sieht das anders aus. Die haben schlecht
bezahlte Jobs oder beziehen Sozialhilfe. Denen fehlt, was man im
Soziologenjargon "Status-Sex" nennt. Jetzt sind das junge Männer mit ihrer
ganzen sexuellen Begehrlichkeit. Die haben in ihrer eigenen Gruppe Mädchen. Aber
die sind absolut tabu. Diese Frauen bleiben unberührt bis zur Ehe.

Die Welt: Ist das denn wirklich noch so verbreitet oder auch unsere Vorstellung
von einer rigiden islamischen Moral?

Heinsohn: Es gibt in der muslimischen Kultur kein "girl friend". Ich bin
Jahrgang 1943. Ich kann mich erinnern, dass es auch in Deutschland eine Zeit
ohne "girl friend" gab. Es gab eine Braut und eine Ehefrau. Alles andere spielte
sich im halbseidenen Milieu ab. In der muslimischen Gruppe gilt das immer noch.
Da drohen unerhört harte Strafen, wenn sich Männer an ihre Mädchen heranmachen.
Das Paradoxe ist, dass diese jungen Männer, die Frauen angegriffen haben, in
ihrer eigenen Gruppe junge Frauen mindestens so heftig schützen.

Die Welt: Welches Bild haben die jungen Araber von westlichen Frauen?
Heinsohn: Die gelten schnell als Huren, weil die vorehelichen Verkehr haben. Sie
werden zur Beute, auf die sie auch von den Eltern verwiesen werden, damit die
Töchter rein und ehefähig bleiben. Da folgen die sexuellen Übergriffe quasi
naturgesetzlich. Wenn man das vorher nicht weiß und die Einwanderung als
Fortschritt zu allgemeiner Harmonie gepriesen hat, dann steht man als Naivling
oder gar Täuscher da und sucht im Vertuschen einen Ausweg. Von der Polizei
angefangen bis in die Politik.

Die Welt: Zu den größten aktuellen Vertuschungsskandalen gehört die


Missbrauchsserie von Rotherham. Über Jahre wurden in der mittelenglischen Stadt
1400 Kinder und Jugendliche von britisch-pakistanischen Banden missbraucht.
Behörden und Politikern konnte nachgewiesen werden, die Taten verschleiert zu
haben.

Heinsohn: Diesen Vertuschungsmechanismus haben wir auch in Schweden und in


Deutschland. Überall haben nette, fortschrittliche Menschen ein Problem
überhaupt nicht auf dem Radar. Und dann nimmt es mit Wucht seinen eigenen
naturwüchsigen kriminellen Weg. Doch wenn ich das einräume, dann stehe ich als
Versager mit meiner fortschrittlichen Linie da. Und dann geht das Vertuschen
weiter.

Die Welt: Ich kann diesen von Ihnen beschriebenen Mechanismus, der zu sexueller
Gewalt führt, nachvollziehen. Tatsächlich aber wissen wir ja noch gar nicht so
viel über die Täter von Köln. 19 Verdächtige, zehn davon Asylbewerber. Was ist,
wenn unter denen tatsächlich die Einzelsöhne syrischer Oberschichtfamilien sind
und nicht die frustrierten Zweit- und Drittsöhne ohne Zukunftsperspektive?

Heinsohn: Wir reden ja von einem allgemeinen Muster, einer Dynamik. Aber auch
bei genauerer Betrachtung der Verhältnisse in den Herkunftsländern liegt der
Eindruck nahe, dass es sich bei den Flüchtlingen nicht um Einzelsöhne oder
Erstgeborene handelt. Einzelsöhne gibt es in der arabischen Welt bisher noch
kaum. Die Erstgeborenen finden in den Heimatländern am ehesten eine akzeptable
Position. In Deutschland, wo die jungen Männer, statistisch gesehen, einzige
Söhne sind, häufig sogar Einzelkinder, da entwickelt sich diese Dynamik nicht.
Da glänzt man mit Pazifismus.

Die Welt: Ich möchte noch einmal auf Rotherham zurückkommen. Die Taten sind
unfassbar, die Verschleierung ebenso. Aber mein Entsetzen über die
Missbrauchsskandale in Großbritannien endet nicht bei Rotherham. Dem
Missbrauchsskandal beim BBC sollen mehr als 500 Menschen zum Opfer gefallen
sein. Das ist offenbar auch ein Problem der weißen Oberschicht, nicht nur der
Migranten.

Heinsohn: Nein, das ist kein Migrantenproblem. Vor einigen Jahrzehnten lief das
doch im tiefkatholischen Europa kaum anders. Da gab es auch Ehrenmorde. Solange
es Gesellschaften gibt, in denen Sexualität nur in der Ehe legal und sündenfrei
ist, gibt es das Problem. Junge europäische Welteroberer des 16. bis 19.
Jahrhunderts träumten auch von Sex-Sklavinnen, die ihnen sogar in Romanen
angepriesen wurden. Genauso wie die jungen Leute vom Kalifat, die davon träumen,
wie sie Frauen versklaven und untereinander verhandeln können. Ich würde es
nicht als Migrantenproblem betrachten, auch nicht im Prinzip als ein
Islam-Problem. Aber ich würde es als Problem einer Religion bezeichnen, in der
der Kontakt zwischen den Geschlechtern in jeder außerehelichen oder vorehelichen
Form tabu ist. Wenn das sich kombiniert, wie im Islam, wo 100 wohlhabende Männer
400 Frauen haben, weil sie die versorgen können, und 300 Männer sich das nicht
leisten können, dann haben wir eine Explosivierung des Problems. Zumindest
dieses spezielle Problem hatte das Christentum nicht, sodass pro Mann im
Normalfall auch eine Frau vorhanden war.
Die Welt: Wie groß ist Ihr Glaube an Integrationsmöglichkeiten?

Heinsohn: Ich glaube, bei der Frage der Integration gibt es weder
Rassenprobleme noch Religionsprobleme, sondern nur Kompetenzprobleme. Aber wenn
die Leute in der Schule versagen, von Hartz IV leben müssen und dann nur gesehen
wird: das sind Afrikaner, das sind Muslime - dann wird das Kompetenzproblem
überdeckt mit einem Rassenetikett oder einem Religionsetikett. Kompetenz ist der
Schlüssel zur Integration. Ich hatte an der Uni in Bremen ja Studenten aller
Couleur und Religion. Da geht die Integration relativ schnell. Aber
Exzellenzstudenten und Schulabbrecher bringen Sie nicht einmal bei gleicher
Religion, Sprache und Hautfarbe dazu, miteinander zu leben. Deshalb sagen Länder
mit Weitblick: Wir machen nur kompetente Einwanderung, um den inneren Frieden zu
sichern.

UPDATE: 15. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Samstag 16. Januar 2016 10:31 AM GMT+1

Alice Schwarzer;
"Kalaschnikows, Sprenggürtel und jetzt die sexuelle Gewalt"

AUTOR: Ulf Poschardt

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 3030 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Köln-Übergriffen fordert Alice Schwarzer eine Islam-Debatte


ohne politische Korrektheit. Sexuelle Gewalt könne auch Terrorwaffe sein. Das
Kopftuch sieht sie als "Flagge der Islamisten".

Das "Manzini" ist eine elegante West-Berliner Institution. Deutschlands


berühmteste Feministin ist hier Stammgast. Die schrecklichen Ereignisse von Köln
haben Alice Schwarzer nicht die Laune verdorben. Sie lacht viel, auch und
besonders über die unzähligen Kritiker ihrer Klartexte, die sie auch nach Köln
über die Homepage ihres feministischen Magazins unter die Leute brachte.

Die Welt: Auf "Emma.de" sprachen Sie nach den Ereignissen von Köln von "falscher
Toleranz" und "Terror". Hat Sie das Echo auf Ihre Aussage auf "Emma.de"
überrascht?

Alice Schwarzer: Nein, überhaupt nicht. Das bin ich jetzt seit 36 Jahren
gewöhnt.

Die Welt: Was ist Ihr intellektueller Zugang zum Frauenbild im Islam?

Schwarzer: Ich habe seit 36 Jahren sehr konkrete und vielfältige Kontakte zu
Frauen im islamischen Kulturkreis, sowohl in Nahost wie in Nordafrika. Schon
1979 war ich ein paar Wochen nach der Machtergreifung von Khomeini mit einer
Gruppe französischer Intellektueller auf den Hilferuf von Iranerinnen hin in
Teheran. Und da war mir schon klar, was sich da entwickelte.

Die Welt: Was denn?

Schwarzer: Ich habe dort mit vielen beeindruckenden Menschen gesprochen. Vom
Ministerpräsidenten - der wenig später ins Exil flüchtete - bis hin zu starken
Frauen, die den Schah mit der Kalaschnikow unter dem Tschador bekämpft hatten.
Und die haben alle mit dem liebenswürdigsten Lächeln zu mir gesagt: "Ja,
selbstverständlich werden wir ein Gottesstaat und führen die Scharia ein. Und
ja, dann gilt: Steinigung bei außerehelichem Sexualverkehr der Frau oder bei
Homosexualität."

Als ich zurückkam, habe ich veröffentlicht, was ich gesehen und gehört hatte.
Und was daraus erwachsen könnte. Ich habe leider mehr als recht behalten. Es ist
eine Reportage, an der ich bis heute kein Wort verändern müsste.

Die Welt: Wie sind Sie seitdem mit dem Thema umgegangen?

Schwarzer: Das Thema hat mich nie mehr losgelassen. Über 25 Jahre lang war
"Emma" das quasi einzige Organ im deutschsprachigen Raum, das die Gefahr des
politisierten Islam thematisierte: von Afghanistan über Tschetschenien und
Algerien bis nach Köln. Ich habe auch zwei Bücher dazu herausgegeben. Das erste
2002, "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz". Das könnte ich heute so
nachdrucken lassen, und Sie würden nicht merken, dass es vor 14 Jahren
erschienen ist. Ich will sagen: Mindestens so lange schon hätte auch die Politik
das Problem erkennen können.

Die Welt: Das hat Ihnen nicht nur Lob eingebracht.

Schwarzer: So kann man das sagen. Seither werde ich in gewissen Kreisen -
Multikulti-Grüne, Linke, Konvertiten - munter als Rassistin beschimpft. Zum
Glück bin ich mir ziemlich sicher, dass mir wenig ferner ist als Rassismus. Aber
es ist doch eine enorme Einschüchterung. Ganze Bücher haben die gegen mich
veröffentlicht und versucht, mich mundtot zu machen. In meinem Fall ist das
nicht gelungen.

Die Welt: Bei anderen schon?

Schwarzer: Bei vielen. Und bis heute wagen Menschen, die ein berechtigtes oder
auch unberechtigtes Unbehagen haben, das man aufklären könnte, es nicht, etwas
Kritisches über die Entwicklung mancher Migranten und Flüchtlinge in Deutschland
sowie die versäumte Integration zu sagen. Aus Angst vor dem Rassismusvorwurf.
Diese Blase ist jetzt geplatzt.

Die Welt: Woher rührt dieses Tabu?

Schwarzer: Dieses Muster kenne ich als Feministin seit Ende der 60er- und Anfang
der 70er-Jahre, damals in der Form vom Hauptwiderspruch und Nebenwiderspruch.
Bevor deutsche Frauenrechtlerinnen früher auch nur das Wort "Frau" aussprachen,
gab es erst mal einen langen Diskurs über den Hauptwiderspruch, den
Klassenkampf. Erst dann wurde das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern
angesprochen. Und dann stand man in der Linken sofort als sogenannte bürgerliche
Frauenrechtlerin am Pranger. Das war das Totschlagargument.

Die Welt: Was den Klassenstandpunkt nicht ändert ...

Schwarzer: Was den Klassenstandpunkt absolut überordnet. Von Klassen redet heute
niemand mehr. Trotzdem haben wir heute bei den Grünen, in der linken Szene und
in einer gewissen Internetszene eine ähnlich groteske Situation in der
Feminismus-Debatte: Jetzt gilt der Rassismus als Hauptwiderspruch. Und wieder
sollen wir die Klappe halten und nicht über unsere Probleme als Frauen reden -
egal, welcher Hautfarbe oder Ethnie wir sind.

Die Leugnung des Geschlechterwiderspruchs hat inzwischen in der Szene, die sich
heute selbstgerecht als Hüterin des Antirassismus versteht, groteske Ausmaße
angenommen. Und genau das ist rassistisch! Weil man mit diesem Argument
verhindert, dass wir die Fremden, die zu uns kommen, ernst nehmen als Menschen
wie wir. Die sind in Wahrheit nämlich gar nicht so fremd und könnten durchaus
auch dazulernen.

Aber für diese Szene bleiben sie die schönen Wilden sozusagen. Der Fremdenhass
ihrer Eltern schlägt bei ihnen um in eine in Wahrheit nicht minder verachtende
Fremdenliebe. Fremdenhass und Fremdenliebe sind ja nur zwei Seiten ein und
derselben Medaille.

Die Welt: Man sollte nicht paternalisieren?

Schwarzer: Richtig, nicht bevormunden. Diese Stellvertreterpolitik ist ja genau


das, was unsereins schon früher so wahnsinnig gemacht hat. Und man weiß
inzwischen auch gar nicht mehr, was man überhaupt noch sagen darf. Es wechselt
ja jeden Tag die politische Korrektheit. Das soll uns am freien Denken hindern.
Form statt Inhalt. Da geht es nicht um die Menschen, sondern um Ideologie.

Die Welt: Wie sollte man die Menschen behandeln?

Schwarzer: Nicht ideologisch, sondern menschlich. Man sollte ihnen sagen: Ihr
habt die gleichen Rechte - aber auch die gleichen Pflichten! Nach den
Ereignissen in Köln habe ich bei einer der sogenannten jungen Feministinnen
gelesen, auch "weiße Bio-Deutsche vergewaltigen".

Da kann ich nur sagen: Richtig, das sagen wir feministischen Pionierinnen seit
40 Jahren! Doch jetzt müssen wir weiterdenken, denn die Ereignisse in Köln und
an anderen Orten hatten über die uns bisher bekannte sexuelle Gewalt hinaus eine
neue Qualität, eine ganz andere Dimension.

Die Welt: "Emma" analysiert die sexuelle Gewalt gegen Frauen mit kulturellen
Hintergründen schon länger.

Schwarzer: Bereits vor 20 Jahren hat ein Kölner Polizist zu mir gesagt: Frau
Schwarzer, 70 bis 80 Prozent aller Vergewaltigungen in Köln gehen auf das Konto
von Türken. Ich war entsetzt und habe geantwortet: Das müssen Sie unbedingt
öffentlich machen! Denn auch ein Türke wird ja nicht als Vergewaltiger geboren.
Das hat ja Gründe. Was ist los bei denen? Was können wir tun?

Doch es kam die klare Ansage: "No way, das ist politisch nicht opportun." Und
genau diese Art politischer Correctness verschleiert die Verhältnisse.
Reaktionärer geht es nicht.

Die Welt: Spielt diese Einstellung nicht denen in die Hände, die den Medien
nicht mehr glauben?

Schwarzer: Ja, leider. Ich persönlich bin seit Langem davon überzeugt, dass die
Erstarkung der Rechtspopulisten in Westeuropa nicht möglich gewesen wäre, wenn
die Parteien nicht durch die Bank seit Jahren und Jahrzehnten die Politisierung
des Islams völlig ignoriert oder verharmlost hätten. Und die Medien haben
mitgespielt.

Die Welt: Seit wann geht das so?

Schwarzer: Die Machtergreifung Khomeinis 1979 war der Startschuss für die
Politisierung des Islam. Die ideologische Munition kommt aus Iran und Pakistan,
das Geld aus Saudi-Arabien, womit wir ja beste wirtschaftliche Beziehungen
haben. Wir hatten auch vor den 80er-Jahren schon Millionen Türken im Land. Dabei
spielte es damals keine Rolle, ob sie Moslems waren. Es spielte aber eine Rolle,
dass sie arm waren und vom Land kamen.

Die Welt: Zivilisationsfern, aber keine größere Differenz?

Schwarzer: So ist es. Ab und zu sah man früher auch mal eine ältere oder junge
Frau vom Land mit Kopftuch. Aber nicht mit dem islamistischen Kopftuch. Das gibt
es bei uns erst seit Mitte der 80er-Jahre. Dieses Kopftuch, das jedes Haar
abdeckt und auch den Körper verhüllt, weil eben die Frau an sich Sünde ist.

Die Welt: Das ist eigentlich ein unfassbares Kompliment an den weiblichen
Körper, oder?

Schwarzer: Na ja, geht so. Es ist die Begrenzung der Frau auf ihren Körper und
die Sexualität. Und was für ein Männerbild ist das eigentlich? Jeder Mann, der
ein Haar oder eine Silhouette sieht, stürzt sich wie ein Tier auf sie. Ist
natürlich auch ein drolliges Männerbild, wenn ich das mal sagen darf.

Die Welt: Gegen das ich mich natürlich verwehren muss.

Schwarzer: Ja, das sollten gerade Sie als emanzipierter Mann unbedingt!
Übrigens: Aus einer großen Studie des Innenministeriums wissen wir: 70 Prozent
der Musliminnen in Deutschland haben noch nie ein Kopftuch getragen. Selbst von
denen, die sich selber als streng religiös definieren, hat jede zweite noch nie
ein Kopftuch getragen. Das Kopftuch hat also nichts mit Glauben zu tun. Es ist
ein politisches Signal.

Die Welt: An die Väter, die Brüder?

Schwarzer: An alle Männer und die Umwelt. Die individuellen Gründe für das
Kopftuchtragen sind vielfältig: Identitätssuche, eine anständige Frau sein
wollen etc. - aber es gibt auch Druck oder gar Zwang. Wir wissen ja, dass zum
Beispiel Islamisten den Eltern Geld bieten, wenn ihre Töchter sich verschleiern.

Ich bin viel dafür angegriffen worden, dass ich für ein Kopftuchverbot im
öffentlichen Dienst und in der Schule bin. Das scheint mir aber eine
Selbstverständlichkeit. So wie in Frankreich. Und in einer weltlichen Schule hat
das Kopftuch schon gar nichts zu suchen. Aber darüber hinaus bin ich natürlich
nicht für ein Verbot, sondern für das Gespräch mit den Kopftuchträgerinnen.

Die Welt: Die Frage ging bis vor das Verfassungsgericht.


Schwarzer: Ja, ich werde nie den Fall von Fereshta Ludin vergessen. Tochter von
Afghanen, Vater Diplomat, Mutter Lehrerin, die nie ein Kopftuch getragen hat.
Dann haben die Eltern aber fatalerweise ein paar Jahre in Saudi-Arabien gelebt,
wo das Mädchen zur Schule ging - und mit dem Kopftuch wieder rauskam.

In Deutschland hat Ludin dann einen schwäbischen Konvertiten geheiratet, der


seiner Mutter nicht mehr die Hand gab - wegen der Unreinheit der Frau. Fereshta
Ludin ist dann von muslimischen Verbänden aufs Pferd gehoben und bis vor das
Verfassungsgericht begleitet worden: um das Recht, als Lehrerin ein Kopftuch zu
tragen, durchzusetzen.

Die Welt: Viele Medien sahen das Kopftuchverbot nicht so streng wie Sie.

Schwarzer: Ja, ich erinnere mich speziell in der "Zeit" an den Satz: "So ein
Kopftuch ist nur ein Stückchen Stoff; so harmlos wie das Kreuzlein um den Hals".
Seite an Seite mit der grünen Multikulti-Szene sind ja vor allem die
linksliberalen Medien pro Kopftuch. Sie halten das für eine individuelle oder
gar religiöse Neigung - und durchschauen nicht die politische Struktur dahinter.

Im Fall Ludin hatte sich nur die "Emma" die Mühe gemacht, investigativ zu
recherchieren. Und herausgefunden, dass Muslimverbände dahinterstecken, die in
Deutschland ja rückwärtsgewandt orthodox bis islamistisch sind.

Die Welt: Was waren die Reaktionen?

Schwarzer: Man hat mir gesagt: "Ausgerechnet Sie als Feministin wollen den
Frauen absprechen, freiwillig das Kopftuch zu tragen?" Entschuldigung, seit wann
finde ich denn alles gut, was Frauen gerne machen? Hier darf man nicht nur
individualistisch argumentieren, sondern muss durchschauen, dass das Kopftuch
seit 1979 die Flagge der Islamisten ist.

Die Welt: Kommen wir zu einem anderen Punkt, der Flüchtlingskrise. Wie nehmen
Sie die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin wahr?

Schwarzer: Angela Merkel hat grundsätzlich menschlich recht. Sie kann auch keine
Obergrenze nennen. Aber konkret müssen wir schon sehr genau hinschauen. Wir
können und dürfen nicht alle nehmen. Aus Griechenland ist zu hören, dass früher
drei Viertel der Flüchtlinge aus Nahost kamen. Jetzt sagen sie, die Hälfte kommt
aus Tunesien und Marokko. Aber das sind erstens keine Kriegsländer. Und zweitens
liegt der Verdacht nahe, dass gerade unter den Ankommenden aus diesen Ländern
die Anzahl der Islamisten sehr hoch ist.

Die Welt: "Wir schaffen das!"

Schwarzer: Sagen wir es besser so: Wir könnten das schaffen. Aber jetzt muss
alles getan werden, um versäumte Integration nachzuholen und die Flüchtlinge
sofort auf den Prüfstand zu stellen.

Die Welt: Ist das Kind nicht schon zu tief in den Brunnen gefallen?

Schwarzer: Irgendwann muss man ja anfangen, es richtiger zu machen. Wir müssen


reingehen in diese Communitys, in diese Milieus, wir müssen den Müttern sagen:
"Kommt heraus aus dem Haus, und lernt Deutsch!" Bei Asylsuchenden verbunden mit
Auflagen. Die Töchter müssen die gleichen Freiheiten haben wie ihre deutschen
Freundinnen! Und die Söhne die gleichen Chancen.

Wir müssen der seit 25 Jahren ungebremst laufenden islamistischen Agitation


endlich etwas entgegensetzen. Und lernen, stolz zu sein auf das, was wir so hart
errungen haben: Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit,
Gleichberechtigung der Geschlechter.

Die Welt: Sind mit Blick auf die Silvesternacht Gesetzesverschärfungen nötig?

Schwarzer: Ich würde sagen, die bestehenden Gesetze anwenden wäre auch schon mal
ganz schön. Und wenn jetzt der Justizminister die von der EU seit Jahren
geforderte Verbesserung des Vergewaltigungsgesetzes endlich aus der Schublade
holt, begrüße ich das. Aber Sie könnten 100 Grapscher vom Kölner Bahnhof
überführen - denen droht gar nix. Denn das verharmlosend genannte Grapschen ist
in Deutschland noch nicht einmal ein Straftatbestand.

Die Welt: Viele dieser mutmaßlichen Täter haben Krieg erlebt.

Schwarzer: Genau. Was bedeutet, diese Männer waren Täter oder Opfer oder beides.
Sind verroht, brutalisiert, traumatisiert. Bei uns würde man zu so jemandem
sagen: "Ab in die Therapie, damit du wieder lernst, dass du bei Konflikten nicht
immer die Knarre ziehen kannst." Das ist ja auch ein Problem bei amerikanischen
Kriegsveteranen.

Die Welt: Früher war das bei uns auch anders.

Schwarzer: Wohl wahr. Aber wir haben in diesen letzten 40 Jahren viel erreicht.
Unendlich viel. Die Opfer wissen heute, dass nicht sie sich schämen müssen,
sondern die Täter. Wir haben neue Gesetze, Frauenhäuser, Notrufe, Hilfe für die
Opfer. Wenn auch noch nicht genug.

Die Welt: Auch bei der Toleranz gegenüber anderen Religionen gibt es Probleme.

Schwarzer: Ja, der flagrante Antisemitismus der arabischen Welt wird


ausgerechnet in Deutschland nicht benannt. Das hat Tradition. Gerade die Linke
pflegt unter dem Vorwand der - ja durchaus berechtigten - Kritik an Israel schon
lange einen schamlosen Antisemitismus.

Die Welt: Zentralratschef Josef Schuster warnte in der "Welt" vor Judenhass
unter den Flüchtlingen und erntete dafür jede Menge Kritik.

Schwarzer: Das ist unerhört! Dabei hatte gerade der Zentralrat der Juden lange
Zeit generös Antisemitismus mit einer vorgeblichen Islamophobie in Deutschland
gleichgesetzt. Ich will sagen, gerade die offiziellen Vertreter der Juden in
Deutschland haben sich wirklich Mühe gegeben, nicht unangenehm aufzufallen.

Gut, dass sich das gerade ändert. Denn wie bekannt, haben die Migranten und
Flüchtlinge aus dem islamischen Kulturkreis nicht nur ihren traditionellen
Sexismus im Gepäck, sondern auch den Antisemitismus.

Die Welt: Kommen wir noch mal zurück auf die Silvesternacht in Köln ...

Schwarzer: Gerne. Denn da stelle ich mir eine Menge Fragen. Zum Beispiel die:
Könnte es sein, dass im Kern dieser sexuellen Gewalt eine kleine Gruppe von
Provokateuren agiert hat, die gezielt zur Destabilisierung der Willkommenskultur
in Deutschland gehandelt hat?

Die Welt: Meinen Sie wirklich?

Schwarzer: Es liegt nahe. Wenn Sie die Schriften der Islamisten und des IS
lesen, ist deren Besessenheit Nummer eins die Emanzipation der Frau. Das ist die
große Obsession.

Die Welt: Da gibt es Schnittmengen mit den erzkonservativen Katholiken.


Schwarzer: Jede Religion ist missbrauchbar. Und in allen Kriegen war die
systematische Vergewaltigung von Frauen Teil der Kriegsstrategie. Denn mit der
sexuellen Gewalt gegen Frauen erreicht man zweierlei.

Erstens: Man bricht die Frauen. Zweitens: Man demütigt deren Männer. Das hätte
dann wirklich eine brisante politische Dimension: Zu den Kalaschnikows und
Sprenggürteln käme jetzt noch die Waffe der sexuellen Gewalt.

Die Welt: Also Teil einer Kriegsstrategie?

Schwarzer: Ja. Und nicht zufällig in den Ländern, die die offensten waren. In
denen die Emanzipation der Frauen am weitesten fortgeschritten ist: Deutschland,
Dänemark, Schweden. Und dann kommt da noch ein demografisches Problem auf uns
zu: Wir wissen seit Langem, dass ein starker Überhang an jungen, noch nicht
gebundenen Männern zwischen 18 und 30 sehr heikel werden kann. Das kann sogar
kriegsauslösend sein.

China hat bei 117 auf 100 Frauen die Notbremse gezogen und die Ein-Kind-Politik
geändert. Schweden hat jetzt schon, dank der Flüchtlinge, 125 auf 100. Und in
Deutschland wird es ähnlich werden bei 70 bis 80 Prozent junger Männer unter den
Flüchtlingen. Dieser Männerüberschuss ist eine Gefahr, unabhängig von dem
kulturellen Hintergrund.

Die Welt: "In der Gefahr wächst das Rettende auch", heißt es im "Patmos" von
Friedrich Hölderlin.

Schwarzer: Dann sieht man auch das kleinste Licht.

Die Welt: Wo sehen Sie es?

Schwarzer: In dem wirklichen Erschrecken unserer gesamten Gesellschaft. Endlich


reden wir offen darüber. Wenn jetzt die Medien einfach ihrer Informationspflicht
nachkommen und die Parteien die Probleme klar erkennen, könnten endlich
Gegenstrategien entwickelt werden.

Die Welt: Haben Sie Flüchtlingen auch schon einmal direkt geholfen?

Schwarzer: Vor ein paar Monaten habe ich zwei junge syrische Männer, sichtlich
wohlerzogen, nachts in Berlin zusammen mit einer Freundin vom Lageso zu deren
Schlafquartier gefahren. Und in meinem Dorf habe ich um Weihnachten die
Patenschaft für eine junge afghanische Familie übernommen, mit zwei entzückenden
Kindern. Der Junge ist ein bisschen schüchtern, und das Mädchen ist sehr keck.

Anfang des Jahres hatte ich die beiden Kinder, sieben und zehn Jahre alt,
zusammen mit Nachbarskindern zu mir eingeladen. Dass die kleinen Afghanen
(bisher) ausschließlich Farsi sprechen, hat die Kinder nicht daran gehindert,
drei, vier Stunden lang zusammen herumzutoben. Am liebsten haben sie Verstecken
gespielt. Und zwei Tage später gingen die zwei zum ersten Mal in die Schule. Da
sitzen sie jetzt neben ihren neuen Freunden.

Mehr Informationen auf www.aliceschwarzer.de.

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Mittwoch 20. Januar 2016 10:34 AM GMT+1

Antisemitismus;
Immer mehr Juden tragen Baseballkappe statt Kippa

AUTOR: Alexander Jürgs

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 680 Wörter

HIGHLIGHT: In jüdischen Gemeinden wächst das Gefühl der Bedrohung angesichts der
Zuwanderung von Muslimen. Viele von ihnen seien mit Propaganda wie zur NS-Zeit
aufgewachsen, so Zentralratsvertreter Salomon Korn.

Das immerhin ist ein gutes Zeichen: Salomon Korn, der Vizepräsident des
Zentralrats der Juden, sagt, dass sich sein Lebensgefühl bislang nicht verändert
habe. Er sagt, dass er sich weiterhin sicher fühle, in Deutschland, das er sein
Zuhause, aber nicht seine Heimat nennt, in Frankfurt, wo er seit 1999 die
Jüdische Gemeinde leitet.

Korn ist Architekt, hat das Gemeindezentrum in der Mainmetropole geplant und
gebaut. Als es eingeweiht wurde, im September 1986, da sprach er den Satz: "Wer
ein Haus baut, will bleiben, und wer bleiben will, erhofft sich Sicherheit."

Doch wie steht es darum heute? Drohen auch bei uns Anschläge wie das Attentat
auf einen koscheren Supermarkt in Paris im Januar 2015? Bringt die
Flüchtlingswelle einen Anstieg des Antisemitismus? Sind Juden in Deutschland
noch sicher?

Korn macht sich Sorgen um die Zukunft

Korn diskutiert darüber am Dienstagabend im Casino der Frankfurter Stadtwerke


mit Thomas de Maizière (CDU). Früher am Tag hatte der Bundesinnenminister
bereits die neue Gedenkstätte an der Europäischen Zentralbank, die an die
Deportation der Frankfurter Juden im Dritten Reich erinnert, besucht.

Korn macht sich Sorgen um die Zukunft, das verhehlt er nicht. "Wir können die
bisher hier lebenden Muslime nicht mit denen vergleichen, die jetzt zu uns
kommen", sagt er. "Sie kommen aus einer völlig anderen Kultur, sie bringen
keinen aufgeklärten Islam mit, viele von ihnen sind darauf aus, die Welt zu
islamisieren."
Die muslimischen Einwanderer, die ab den 60er-Jahren aus der Türkei nach
Deutschland gekommen sind, hätten sich Europa von Anfang an nahe gefühlt.

Die heutigen Flüchtlinge aber seien anders geprägt. Sie sind in Ländern
aufgewachsen, in denen der Antisemitismus Teil der Staatsdoktrin sei.

Propaganda im Nahen Osten wie in der NS-Zeit

"Die Propaganda im Nahen Osten ist mindestens so drastisch wie in der NS-Zeit,
die Kinder in den arabischen Ländern werden indoktriniert wie die Kinder im
Dritten Reich", sagt Korn. "Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir
diese Menschen tatsächlich in die Gesellschaft integrieren können, das wird uns
erst mit ihren Kindern oder Enkelkindern gelingen", lautet seine pessimistische
Prognose.

Thomas de Maizière widerspricht ihm nicht. Auch er sieht die Integration als
Herkulesaufgabe, aber eben auch als alternativlos. "Es wird ja nicht besser,
wenn wir dem testosterongesteuerten Nordafrikaner entgegentreten mit dem Satz:
Wir haben Angst. Stattdessen müssen wir uns vor ihn stellen und sagen: So geht
das nicht, Junge", sagt der Innenminister.

De Maizière gibt sich kämpferisch: Nur wenn wir stark sind gegenüber den
Flüchtlingen, wenn wir für unsere Werte einstehen, kann Integration gelingen. Er
berichtet auch, dass die Anzahl der antisemitischen Übergriffe 2015 gegenüber
dem Vorjahr immerhin leicht gesunken sei. Das jedoch hat auch damit zu tun, dass
die Angriffe 2014, als es im Zuge des Gaza-Konflikts eine Vielzahl an
gewalttätigen, antiisraelischen Demonstrationen von Palästinensern in deutschen
Städten gab, besonders zahlreich waren.

Die Mitte droht nach rechts abzudriften

Es gibt ein neues Gefühl der Bedrohung in den Gemeinden, berichtet Korn. Der
Fall von der Ostseeinsel Fehmarn etwa, wo ein syrischer und ein afghanischer
Flüchtling einen Mann angegriffen haben sollen, weil er eine Kippa trug,
verunsichert viele. Schutzmaßnahmen bestimmen das jüdische Leben jedoch schon
viel länger.

Viele Männer tragen heute eine Baseballkappe statt Kippa. Es gibt kaum eine
jüdische Schule, einen Kindergarten oder ein Gemeindehaus, das nicht von der
Polizei oder einem privaten Sicherheitsdienst geschützt wird. "Unsere Kinder
haben sich daran längst gewöhnt, das ist zum Alltag geworden", sagt Korn.

Mehr als den Antisemitismus der Flüchtlinge fürchtet er jedoch noch immer
Angriffe von Rechtsextremen. "Jetzt in der Flüchtlingskrise werden die Rechten
immer dreister", sagt Korn. Er sorgt sich auch, dass die Feindschaft gegenüber
Juden in der Mitte der Gesellschaft wieder wachsen wird. "Die Mitte droht in
Richtung rechts abzudriften", sagt er. "Das bleibt das größte Problem."

UPDATE: 20. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Mittwoch 3. Februar 2016 9:56 AM GMT+1

Türkischer Pokal;
Dieser kurdische Fußballverein trotzt Hass und Gewalt

AUTOR: Deniz Yücel

RUBRIK: SPORT; Sport

LÄNGE: 994 Wörter

HIGHLIGHT: In Diyarbakir bekriegen sich Sicherheitskräfte und PKK. Der


Fußball-Drittligaklub der kurdischen Stadt sorgt derweil für Furore im
türkischen Pokal. Star des Teams ist ein früherer Bundesligaprofi.

Im Schatten des Krieges, der seit Monaten in der Metropole Diyarbakir und
anderen kurdischen Orten herrscht, rollt ein Fußball-Drittligaverein aus
Diyarbakir den türkischen Pokalwettbewerb auf: Amed SK. Am Sonntag siegte der
Klub im Achtelfinale beim Erstligisten Bursaspor 2:1. Ein toller sportlicher
Erfolg - immerhin war der Gegner 2010 türkischer Meister und schloss die
Vorsaison als Tabellensechster ab. Vor allem aber ist es ein politischer
Triumph.

Im Vorfeld hatten Fans von Bursa, einer Industriestadt im Nordwesten des Landes,
das Spiel zu einer Art Duell mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK
erklärt. Im Internet kursierten Flyer zum Spiel, bebildert mit Fotos von
Soldaten und Sondereinheiten. Schon beim letzten Pokalspiel gegen den Istanbuler
Klub Basaksehir, derzeit auf Platz vier der ersten Liga, war die Atmosphäre
ähnlich; der ehemalige Nationalspieler Semih Sentürk feierte sein Tor mit einem
Salut ans türkische Militär, auch wenn er hinterher kleinlaut zugeben musste,
dass er sich selber vom Wehrdienst freigekauft hatte.

Im Achtelfinale in Bursa vermieden sowohl der Stadionsprecher als auch der


Kommentator des regierungsnahen Senders ATV, auch nur den Namen Amed zu nennen.
Stattdessen sprachen sie zumeist von "den Gästen", "dem Gegner" oder schlicht
von den "anderen". Der Hintergrund: Amed ist der kurdische Name von Diyarbakir.
Die Namensänderung vollzog sich zu dieser Saison - quasi pünktlich zum Ende des
Waffenstillstands zwischen dem Staat und der PKK.

Damit nicht genug. Der Klub läuft auch in den kurdischen Farben Gelb-Rot-Grün
auf. Und er gehört der Stadtverwaltung von Diyarbakir. Klubs im Besitz von
Kommunalverwaltungen sind im türkischen Fußball zwar keine Seltenheit. Doch
Diyarbakir wird von Oberbürgermeisterin Gültan Kisanak regiert. Sie gehört der
prokurdischen HDP an - in den Augen der türkischen Nationalisten, aber auch der
Regierung und von Recep Tayyip Erdogan eine Art legaler Arm der PKK. So
verwunderte es nicht, dass der Fernsehkommentator in einer derart parteiischen
Weise kommentierte, wie man es sonst nur von Spielen der Nationalmannschaft
kennt.
Twitter-Account wird missbraucht

Doch auch für Fans von Amed SK hatte dieses Spiel politische Bedeutung. Auf den
Vorwurf des Vaterlandsverrats konterten sie mit einem Hinweis auf die Teams: Bei
Bursa standen zwei türkische Staatsbürger in der ersten Elf, bei Amed waren es
alle elf. Auf einem Twitter-Account, der sich als offizieller Account des Klubs
ausgibt, hieß es: "Wir widmen diesen Sieg der Guerilla in den Stellungen von
Cizre und dem opferbereiten Volk Kurdistans."

Klubpräsident Ali Karakas distanziert sich von derlei Äußerungen. Dieser Account
habe nichts mit dem Klub zu tun, beteuert er im Gespräch mit der "Welt". Sein
Klub sei auch keine inoffizielle kurdische Nationalmannschaft, im Team seien
Spieler aus dem gesamten Land. Doch die symbolische Bedeutung, die den Spielen
von Amed SK derzeit zukommt, leugnet er nicht: "Wenn wir in dieser gewalttätigen
Atmosphäre unsere Menschen für ein paar Stunden glücklich machen und die
Öffentlichkeit auf die Situation in Diyarbakir aufmerksam machen können, dann
machen wir das gerne."

Auf der Straße dauerte diese Freude über den Einzug ins Viertelfinale allerdings
nicht lange. Kaum dass sich in Diyarbakir die ersten Fans versammelt hatten,
wurden sie von der Polizei mit Tränengas vertrieben.

Im Stadion in Bursa waren sie aus Sicherheitsgründen erst gar nicht zugelassen.
"Die Klubführung von Bursa hat uns freundlich empfangen", sagt Klubchef Karakas.
Doch die gegnerischen Fans hätten das ganze Spiel über seine Mannschaft
beleidigt und "Terroristen raus" oder "PKK-Bastarde" gerufen.

"Amed ist überall. Freiheit ist überall"

Für Amed SK inzwischen Alltag: "Wir erleben Spiele, bei denen die Fans 90
Minuten lang 'Die Märtyrer sind unsterblich, das Vaterland ist unteilbar' oder
'Allahu akbar' rufen", erzählt Karakas - Parolen, mit denen nationalistische
Fans vor Gedenkminuten für die Terroranschläge von Ankara und Paris gestört
hatten. Der Verein habe sich etliche Mal an den Fußballverband gewandt, bislang
ohne Erfolg.

Dabei ist der Verband an anderer Stelle nicht zimperlich, Geldstrafen und
Zuschauersperren zu verhängen. Nach den Gezi-Protesten 2013 wurden mehrere Klubs
wegen Fanparolen gegen Staatspräsident Erdogan bestraft. Auch Amed SK musste
schon Strafen zahlen. "Die Kinder sollen nicht sterben, sie sollen zum Fußball",
hatten die Fans skandiert. Und: "Amed ist überall, Freiheit ist überall." Das
kostete den Klub bislang umgerechnet 65.000 Euro - zehn Prozent des
Jahresbudgets.

Den entscheidenden zweiten Treffer auf dem Weg ins Viertelfinale schoss übrigens
Deniz Naki mit einem Distanzschuss aus 20 Metern. Der in Düren gebürtige
Stürmer, einst deutscher Jugendnationalspieler und Profi beim FC St. Pauli und
in Paderborn, hatte in der vorigen Saison seinen Vertrag beim Hauptstadtklub
Genclerbirligi aufgelöst. Naki, selber kurdischer Abstammung, hatte während der
Belagerung des syrisch-kurdischen Stadt Kobani durch die Terrormiliz Islamischer
Staat eine Grußbotschaft nach Kobani geschickt und wurde daraufhin von
Nationalisten in Ankara auf der Straße angegriffen. Seit dieser Saison spielt er
für Amed in der dritten Liga. "Wir widmen diesen Sieg den Menschen, die in den
50 Tagen der Unterdrückung getötet oder verletzt wurden", schreibt er auf seiner
Facebook-Seite.

Am Dienstag wurden die Paarungen für das Pokal-Viertelfinale ausgelost:


Fenerbahçe mit den Superstars Robin van Persie und Nani gastiert nächste Woche
in Diyarbakir. Doch im größten Spiel der Klubgeschichte wird der Drittligist
ohne seine Fans auskommen müssen. Kurz nach der Auslosung verhängte der
türkische Verband wegen Fanparolen bei einem früheren Spiel eine Strafe von
einem Spiel ohne Publikum sowie eine Geldstrafe von umgerechnet 6200 Euro.
Außerdem wurde gegen Naki ein Disziplinarverfahren eröffnet. Gut möglich, dass
er im Viertelfinale gegen Fenerbahçe nicht mitspielen darf.

UPDATE: 3. Februar 2016

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Dienstag 9. Februar 2016 9:57 AM GMT+1

Besuch bei Amed SK;


Deniz Naki - Held der Kurden, Feind vieler Türken

AUTOR: Deniz Yücel, Diyarbakir

RUBRIK: SPORT; Sport

LÄNGE: 1206 Wörter

HIGHLIGHT: Deniz Naki mischt mit einem kurdischen Klub den türkischen Pokal auf.
Und die Gesellschaft. Wegen eines Facebookposts ist er gesperrt. Besuch bei
einem Spieler, der zum politischen Botschafter wurde.

Der Klub Amed SK hat Fußballgeschichte geschrieben: Als erster Drittligist


überhaupt zog er ins Viertelfinale des türkischen Pokals ein. Und der ehemalige
deutsche Jugendnationalspieler Deniz Naki wurde wegen eines Facebook-Postings
für zwölf Spiele gesperrt - auch das ein Rekord. Doch am Ende dieser bewegten
Woche wartet der Alltag: dritte Liga, Heimspiel zu Hause in Diyarbakir gegen den
Istanbuler Vorstadtklub Kartal.

Auf der Fahrt ins kleine Stadion am Stadtrand hört man Schüsse und Granaten, wie
fast überall in Amed, wie die Millionenmetropole auf Kurdisch heißt. In der
Altstadt liefern sich Sicherheitskräfte und Kämpfer der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) bewaffnete Auseinandersetzungen. Und gekämpft wird nicht nur
hier.

"Wir widmen diesen Sieg den Menschen, die in den 50 Tagen der Unterdrückung
getötet oder verletzt wurden", verkündete darum Deniz Naki nach dem
Achtelfinalsieg über den Erstligisten Bursaspor. "Die Kinder sollen nicht
sterben, sie sollen zum Fußball", hatten Fans bei vergangenen Spielen skandiert.

Wenige Stunden nachdem Amed als Viertelfinalgegner den großen Istanbuler Klub
Fenerbahce zugelost bekam, gab der Verband die Strafen bekannt: Nakis Sperre
gilt für alle Pflichtspiele, während der Verein kein Ligaspiel, sondern das
Viertelfinale an diesem Dienstag ohne Zuschauer bestreiten muss. Für
Vereinspräsident Ali Karakas steht fest: "Auch das hat politische Gründe."

Beschimpfungen als "PKK-Terroristen"

Wer mit Naki durch die Stadt geht, erkennt schnell die Euphorie, die er mit
seinem Klub ausgelöst hat. Er kann keine zehn Meter laufen, ohne dass jemand ein
Selfie mit ihm knipsen möchte. Doch im Stadion spiegelt sich das nicht wider.
Knapp 2000 Fans sind an diesem verregneten Samstagnachmittag gekommen -
angesichts der Zuschauerzahlen manches Erstligisten nicht schlecht, aber
gemessen an der Aufregung enttäuschend.

Doch die, die gekommen sind, sind laut. "Rot", brüllt die Gegengerade eine der
Vereinsfarben, "Grün", antwortet die Haupttribüne mit der anderen. Nur
politische Parolen gibt es nicht, darum hat die Klubführung die Fans gebeten.
Bei der Nationalhymne, mit der in der Türkei auch in unteren Ligen sämtlichen
Partien beginnen, singen manche Amed-Spieler mit, andere nicht. Bei den Gästen
singen alle. Besser: Sie brüllen mit einer Inbrunst, fast wie die Brasilianer
bei der vergangenen Weltmeisterschaft. "Das ist noch nichts", sagt Naki.
"Auswärts ist das alles noch viel krasser."

Er habe nichts gegen die Hymne und die Fahne, beteuert er. "Wenn die Fans bei
jedem Spiel so viele türkische Fahnen haben wie in den Spielen gegen uns, dann
wäre das okay. Aber so ist das nicht." Dazu die Beschimpfungen als
"PKK-Terroristen" und "Vaterlandsverräter", ohne dass dafür bislang ein Klub
sanktioniert worden wäre.

Naki redet auf den Klub-Präsidenten ein

Ob ihn diese Reaktionen an seine Spiele mit dem FC St. Pauli gegen Hansa Rostock
erinnern? "Das hier ist viel krasser", sagt Naki. "Wir haben nicht nur gegen
Bursaspor gespielt, sondern gegen die Medien, den Verband, den Staat." Sonst
würden bei Europapokalspielen die Fans der Istanbuler Klubs immer zu den Gegnern
halten. Nur wenn es gegen Amed gehe, sei es anders. Doch nicht alle Fans seien
so, der Besiktas-Fanklub Carsi etwa habe gratuliert.

Eine heimliche kurdische Nationalmannschaft will Amed SK nicht sein. Naki selber
wuchs in Düren auf, seine Familie stammt aus der kurdisch-alevitischen Provinz
Tunceli. Aber die Hälfte der Mannschaft sind Türken. Die Innenverteidiger Sevket
Güngör und Sercan Özcelik etwa, die in diesem unansehnlichen Spiel noch die
Besten auf dem Platz sind und es am Dienstag mit Robin van Persie und Nani zu
tun bekommen werden. "Diese Reaktionen sind nicht schön", sagt Güngör, der aus
der westtürkischen Kleinstadt Turgutlu stammt. "Aber wenn du dich damit
beschäftigst, kannst du kein Fußball spielen."

Überhaupt habe der Klub nicht nur Hass auf sich gezogen, sondern auch Sympathien
gewonnen. "Wenn wir ein Merchandising hätten, könnten wir genug Geld verdienen,
um locker alle Strafen zu bezahlen", sagt Naki zu seinem Präsidenten. "Ich habe
das schon an meinem ersten Tag gesagt: Wir brauchen einen Fan-Store. Aber die
hören ja nicht."

"Ich würde erste Liga spielen, wenn ich die Klappe gehalten hätte"
"Das ist alles nicht so einfach", wirft der Präsident leise ein. Schwer
vorstellbar, dass ein anderer Spieler so mit ihm sprechen könnte. Aber Naki
genießt eine Sonderrolle: Everybody's Darling, politischer Botschafter,
sportliche Führungsfigur. Seine fußballerische Karriere mag nicht alle
Hoffnungen erfüllt haben, die sie versprach, als er mit Ron-Robert Zieler und
den Bender-Brüdern U19-Europameister wurde. Doch für Amed SK ist er als
Fußballer ein paar Nummern zu groß. "Ich hätte locker in der türkischen ersten
Liga spielen können, wenn ich meine Klappe gehalten hätte", sagt er.

Aber die Klappe zu halten war noch nie seine Sache - nicht auf St. Pauli und
auch nicht bei Genclerbirligi in Ankara, wohin er nach einer Zwischenstation in
Paderborn gewechselt war. Als im Herbst 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobani
vom Islamischen Staat belagert wurde, bekundete Naki Solidarität mit den Kurden,
wurde darauf in den sozialen Medien angefeindet, dann auf offener Straße tätlich
angegriffen. Vom Verein fühlte er sich alleingelassen und kündigte den Vertrag.
Zunächst kehrte er nach Deutschland zurück.

"Er hat da auf kurdischen Hochzeiten gesungen, da haben wir ihn aufgegabelt",
scherzt ein Funktionär. Naki lacht, will das aber nicht stehen lassen: "Es gab
Kontakte zu Klubs in Deutschland. Aber das Angebot von Amed war für mich eine
Herzensangelegenheit. Ich wollte dazu beitragen, dass die Menschen in dieser
schwierigen Zeit etwas glücklich werden." Deswegen will er auch bleiben, egal,
was noch passiert. Schon vergleichen sie ihn hier mit dem Pop-Folkmusiker Ahmet
Kaya, der 1999 mit einer Hetzkampagne und Strafverfahren vergrault wurde, weil
er angekündigt hatte, ein Lied auf Kurdisch aufzunehmen.

Naki besuchte Familie, deren Tochter erschossen wurde

Jetzt ist Naki mitten in einem Krieg, den er zuvor nur aus Erzählungen und den
Medien kannte. Und er versucht erst gar nicht, das alles von sich fernzuhalten,
im Gegenteil. So besuchte er im Herbst eine Familie in der Stadt Cizre. Deren
zehnjährige Tochter war mutmaßlich von Sicherheitskräften erschossen worden, die
Eltern hatten den Leichnam tagelang in ihrer Tiefkühltruhe aufbewahrt, weil sie
ihn wegen der Ausgangssperre nicht beerdigen konnten. "Und trotzdem sagen diese
Leute: Wir wollen Frieden", erzählt Naki beeindruckt.

Weniger beeindruckt ist er von dem Spiel, das sein Team ohne ihn zeigt. Die
Verteidigung steht solide, aber der Aufbau ist voller Fehler, zwei gute Chancen
vergibt die Offensive kläglich. Zum Glück für Amed ist der Gegner auch nicht
besser, das Spiel endet 0:0. Nakis knapper Kommentar: "Schlecht."

Vereinschef Karakas ist milder: "Die Jungs waren vor dem Viertelfinale nervös.
Immerhin haben wir nicht verloren - anders als Fenerbahce." Und was erwarten sie
von dem Pokalspiel? "Wir haben nichts zu verlieren", sagt Verteidiger Güngör.
"Im Pokal ist alles möglich", sagt Naki.

Trotz aller Politik - wenn Amed auf Fenerbahce trifft, ist es nicht nur ein
Politikum. Ein bisschen ist es auch Fußball.

UPDATE: 9. Februar 2016

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Dienstag 9. Februar 2016 10:48 AM GMT+1

Kandidat und Kunst;


Wenigstens Clint Eastwood kann Trump leiden

AUTOR: Hannes Stein

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1406 Wörter

HIGHLIGHT: Er besitzt Hitlers Reden, aber er hat sie nicht inhaliert: Wie steht
es um das Verhältnis von Donald Trump zu Literatur und Kunst? Es ist ein
Verhältnis gegenseitiger Missachtung. Mit Ausnahmen.

Immerhin darf als gesichert gelten, dass er einen Renoir an der Wand hängen hat.
Oder sagen wir vorsichtiger: hatte - es ist jetzt knapp zwanzig Jahre her, seit
ein Zeuge das Bild zu Gesicht bekam. Bei jenem Zeugen handelt es sich um den
Reporter Mark Bowden, dem wir (unter anderem) die Vorlage für den Film "Black
Hawk Down" verdanken. Er war 1996 bei Donald Trump zu Gast, weil er ihn für die
Zeitschrift "Playboy" porträtieren sollte. Trump bat Bowden an Bord seiner
Privatmaschine - einer schwarzen Boeing 727 - und gab dann sehr damit an, dass
an Bord alles vergoldet war.

Schließlich zeigte Trump seinem Gast den Renoir: Er lud ihn ein, das Gemälde aus
nächster Nähe zu betrachten. Um die Brillanz des Pinselstrichs, um den
meisterhaften Gebrauch der Farbpalette zu würdigen? Nein: Mark Bowden sollte
einfach nur Renoirs Unterschrift sehen. "Ist zehn Millionen Dollar wert", sagte
Donald Trump.

Hitlers "Meine neue Ordnung" im Bücherregal

Niemand kann also behaupten, der Bewerber für die republikanische


Präsidentschaftskandidatur habe kein Verhältnis zu den schönen Künsten. Aber wie
steht es mit seiner Lektüre? Was für Bücher liest dieser Mann? Mittlerweile kann
ein Gerücht als gesichert gelten, das seine Ex-Gattin Ivana in die Welt gesetzt
hat: Sie erzählte ihrem Anwalt, Donald Trump besitze ein Exemplar von Adolf
Hitlers "Meine neue Ordnung" - eine Sammlung der Reden, die Hitler bis 1939
hielt.

Marie Brenner, eine Reporterin für "Vanity Fair", fragte Trump, ob sich dieses
Buch tatsächlich in seinem Besitz befinde. Trump erwiderte, sein Freund Marty
Davis, der für die Filmfirma Paramount arbeite, habe es ihm geschenkt - "und der
ist ein Jude". Besagter Marty Davis bestätigte das Geschenk des Hitlerbuches
("Ich dachte, es würde ihn interessieren"); allerdings sei er kein Jude. Trump
ruderte nun gegenüber der "Vanity Fair"-Reporterin zurück: Er leugne, dass er
jenes Hitlerbuch besäße. Wenn aber doch, so habe er es auf keinen Fall gelesen.
Hitlers Reden ruhen also ungelesen in Donald Trumps Nachtkästchen. Hingegen hat
er nach eigenem Bekunden die folgenden Werke mit heißem Bemühen durchaus
studiert: Sun Tzus Klassiker "Die Kunst des Krieges". Niccolo Machiavellis "Der
Fürst". "Kollaps oder Evolution?" von Rebecca Costa, ein Buch über den drohenden
Weltuntergang. "Rebecca Costa hat eine fesselnde Untersuchung der düstersten und
komplexesten Themen unserer Welt vorgelegt", urteilte Donald Trump über diesen
Bestseller. "Ihre Botschaft für die Menschheit ist letztlich hoffnungsvoll, denn
sie entdeckt ihre faszinierende Theorie über die Fähigkeit des Gehirns, in
Krisenzeiten fortgeschrittene Problemlösungstechniken zu entwickeln. Ein Muss!"

Mehr lässt sich über das Verhältnis Donald Trumps zu Büchern und Bildern nicht
herausfinden. Es gibt von ihm keine einzige Äußerung über Belletristik; möglich,
dass er heimlich Marcel Proust verehrt und die "Recherche" zu seinen liebsten
Romanen zählt - ausgelassen hat er sich darüber nicht. Wie steht es nun aber
umgekehrt mit dem Verhältnis der Künstler zu Trump?

Der letzte Prominente, der sich öffentlich zu Trump bekannt hat, war kein
Intellektueller, sondern ein Baseballspieler: Mr. John Rocker von den "Atlanta
Braves". Er bewundere, dass dieser Mann die Dinge beim Namen nenne, ohne sich um
die Folgen zu kümmern - just auf so jemanden hätten die Amerikaner eigentlich
seit Ronald Reagan gewartet. Rocker war vor Jahren durch eine rassistische
Tirade in einer Sportzeitschrift aufgefallen: Er könne die ganzen Ausländer in
New York nicht leiden.

Vor John Rocker hatte allerdings tatsächlich eine Künstlerin ihre tief
empfundene Sympathie für Donald Trump erklärt - die 83 Jahre alte
Countrysängerin Loretta Lynn. "Er hat mich überzeugt, was kann ich sonst noch
sagen?", erklärte sie dazu. Lynn, die immer noch acht- bis zehnmal pro Monat mit
selbst verfassten Liedern auftritt ("The Pill", "Coal Miner's Daughter"),
berichtet, dass sie am Ende ihrer Auftritte kostenlosen Wahlkampf für Donald
Trump macht und dass ihre Botschaft vom Publikum jedes Mal mit Wärme aufgenommen
werde.

Auch der Regisseur Clint Eastwood - bekannt unter anderem dafür, dass er sich
bei einem Parteitag der Republikaner öffentlich mit einem leeren Stuhl
unterhielt, der den abwesenden Präsidenten Obama vertreten sollte - hat sich
längst als Trump-Fan geoutet. "Die Leute suchen nach jemandem, der freimütig ist
und keine Angst hat", sagte Eastwood. "Und er scheint eine furchtlose Haltung zu
haben."

Der Klub "Rabbis für Trump" hat nur ein Mitglied

Sieht man von Loretta Lynn und Clint Eastwood ab, hat sich bislang freilich kein
prominenter Künstler oder Schriftsteller an die Seite von Donald Trump gestellt.
Auch der Klub "Rabbis für Trump" weist bisher nur ein einziges Mitglied aus:
einen gewissen Dr. Bernhard Rosenberg aus Edison, New Jersey. (Viele Rabbiner
unterstützen dagegen Hillary Clinton oder Bernie Sanders.) Dr. Rosenberg aus New
Jersey ist deshalb für Donald Trump, weil er sich vor dem Islam fürchtet und
weil er glaubt, dass syrische Flüchtlinge ganz schlecht für Amerika wären.

Allerdings gibt es jede Menge No-Name-Künstler, die sich für Trump engagieren -
Leute, die auf You-Tube Videos mit Songs hochladen, um den Ruhm des Milliardärs
zu verkünden. "Ich würde dieses Land stolz und stark machen, die USA dorthin
zurückbringen, wo sie hingehören, eine Mauer dort unten an der Grenze bauen, wir
müssen Gesetz und Ordnung wieder einführen", heißt es in einer jener
Lobeshymnen, und die Bässe wummern im Hintergrund dazu. Auf einem anderen
Musikvideo sind Kampfflugzeuge, demonstrierende Menschenmassen und hübsche
tanzende Mädchen zu bestaunen. Dazwischen immer wieder der Mann mit der blonden
Haartolle. "Schlimmer als Political Correctness kann es nicht werden: als würde
man am falschen Ende einer Zigarette ziehen, während China auf Deck wartet und
noch nicht einmal in Schweiß ausbricht und darauf wettet, dass Amerika in die
Katastrophe rast. Ja, habt ihr denn alle vergessen, dass diese Regierung
verrottet ist?" Am Schluss dann der Refrain: "Lasst uns Amerika wieder groß
machen, ehe es zu spät ist!"

Indessen hat Donald Trump als Inspirationsquell auch für eher feindliche
Kunstwerke gedient. Nachdem er uncharmant angedeutet hatte, eine Journalistin,
die ihn unfreundlich interviewte, habe wohl gerade ihre Monatsregel gehabt,
malte die wutentbrannte Künstlerin Sarah Levy ein (übrigens hervorragendes)
Porträt von Trump mithilfe ihres Tampons und ihres Menstruationsbluts.

Nicht viel freundlicher ist ein Gemälde des Künstlers Knowledge Bennett, das
jetzt auf der Kunstmesse in Los Angeles gezeigt wurde. Es verschmilzt das
Gesicht Trumps mit der Visage eines der größten Massenmörder des Zwanzigsten
Jahrhunderts. Zwar zitiert "Mao Trump" ironisch ein berühmtest Bildnis von Andy
Warhol, aber es ist wohl kein Zufall, dass Bennett sich entschied, Trump im
Warhol-Mao-Stil zu zeigen, während er Präsident Obama als lässigen Elvis malte.

Der Rest steht in dem anfangs erwähnten Artikel von Mark Bowden. "Trump kam mir
pubertär, auf lachhafte Weise pompös, unfreundlich, gottlos, unehrlich,
lautstark und rechthaberisch vor, und er hatte konsequent unrecht." Untergebene
behandle Donald Trump so rüde, dass er zum permanenten Fremdschämen eingeladen
habe - nach dem Motto: "Tony, putze das! Jetzt auf der Stelle!" Wer von ihm als
"Genie" hofiert werde, müsse schon im nächsten Moment damit rechnen, zum
"Idioten" deklassiert zu werden, wenn der Milliardär aus irgendeinem Grund
"enttäuscht" sei.

Allerdings wäre es laut Mark Bowden falsch, Trump als Faschisten zu beschimpfen:
"Er hat keine kohärente politische Philosophie ... Er reagiert nur. Trump lebt
in einer perfekten Fantasiewelt, deren belebende Kraft er selber ist."

Trumps Titanenkampf mit dem Wasserkasten

Bowden erlebte mit, wie der Geschäftsmann sich über ein paar nach seinen
Vorstellungen gestaltete Tennisplätze auf seinen Ländereien in Florida führen
ließ. Er ärgerte sich über einen Metallkasten zwischen den Tennisplätzen, der
als Pumpe und Kühler für einen Springbrunnen diente. Trump fand ihn irgendwie
hässlich. Zuerst stellte er den Ort infrage, an dem jener Kasten sich befand,
dann fing er an, ihn rüde zu beschimpfen, schließlich trat er ihn.

Danach bückte er sich, um den Metallkasten - mit hochrotem Kopf und wutschäumend
- aus seiner Verankerung zu reißen. Dabei brach er ein Wasserrohr entzwei und
schuf so einen künstlichen Geysir, der gleich mehrere Tennisplätze unter Wasser
setzte.

UPDATE: 9. Februar 2016

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Samstag 13. Februar 2016 11:50 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Wenigstens Clooney ist mit der Kanzlerin einverstanden

AUTOR: Henryk M. Broder

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 769 Wörter

HIGHLIGHT: Etwas Glamour in trister Lage - und wenn das Haus brennt, fragt man
nicht, wer löschen hilft. Die Unterstützung von Hollywood-Star George Clooney
für Merkels Flüchtlingspolitik ist hoch willkommen.

Public Relation ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Eine
Inszenierung des Nichts. Die Simulation eines Geschehens, das nur zu dem Zweck
in Gang gesetzt wird, damit darüber geredet und geschrieben wird. Wie so etwas
geht, konnten wir soeben erleben. Wobei "erleben" schon ein Euphemismus ist. Man
kann es auch ein "Erlebnis" nennen, wenn jemand stundenlang aus dem Fenster
schaut und darauf wartet, dass zwei Autos auf einer Kreuzung zusammenstoßen.

Letzten Donnerstag hat der amerikanische Schauspieler George Clooney auf einer
Pressekonferenz zur Eröffnung der Berlinale angekündigt, er werde die
Bundeskanzlerin treffen, um mit ihr "darüber zu sprechen, was wir tun können, um
zu helfen". Er ließ offen, ob er meinte, der Bundesregierung zu helfen, mit den
Folgen der Fluchtwelle fertig zu werden, oder den Flüchtlingen zu helfen, mit
den Folgen der Politik der Kanzlerin, die Grenzen zu öffnen und jeden willkommen
zu heißen, der Einlass begehrt, klar zu kommen.

Wie er es auch gemeint hatte, Clooney versicherte, er wäre mit der


Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin "absolut einverstanden". Und alle,
die befürchtet hatten, George Clooney könnte mit Merkels Politik nicht
einverstanden sein, atmeten erleichtert auf. Am Morgen des nächsten Tages machte
sich Clooney zusammen mit seiner Frau Amal auf den Weg ins Bundeskanzleramt.

Die "BZ", die größte Zeitung Berlins, titelte: "Clooney berät Merkel". Nach dem
Treffen, das etwa eine Stunde dauerte, ließ die Kanzlerin ihren Sprecher
erklären, "es sei ein sehr gutes Gespräch gewesen". Worüber im Einzelnen
gesprochen wurde und welchen Rat Clooney der Kanzlerin gegeben hatte, den Peter
Altmaier, der "Flüchtlingskoordinator" im Kanzleramt, ihr nicht geben konnte,
blieb ungesagt.

Es geht nicht um Nespresso-Kapseln

Für Clooney sind solche Gespräche reine Routine. Teil des Show-Business wie
Benefiz-Galas zugunsten der Opfer von Dürre-Katastrophen in der Sahel-Zone.
Clooney sammelte Geld für die Opfer des Bürgerkrieges im Sudan, besuchte die
umkämpfte Provinz Darfur und demonstrierte vor der sudanesischen Botschaft in
Washington, wofür er vorübergehend festgenommen und in Handschellen abgeführt
wurde. Es wäre unfair, ihm zu unterstellen, er mache all das der Publicity
halber oder um den Absatz der Nespresso-Kapseln zu befördern.

Er gehört zu den Hollywood-Prominenten, die gerne Gutes tun und darüber reden.
Aber was bewegt die Kanzlerin, sich an einem Freitagmorgen eine Stunde Zeit zu
nehmen, um mit einem Filmstar über Wege aus der Flüchtlingskrise zu plaudern?
Hat sie alle ihre Hausaufgaben erledigt? Ein Jahr nach dem Abkommen von Minsk
wird in der Ost-Ukraine noch immer gekämpft. Griechenland befindet sich weiter
auf dem Weg in den Abgrund. Die CSU droht der Regierung in Berlin mit einer
Klage vor dem Bundesverfassungsgericht und einem Bruch der Koalition. Schengen
ist Geschichte. Aber sonst ist alles in Ordnung.

Könnte es sein, dass die Kanzlerin eine eigene Agenda hat? Dass sie sich auf das
Ende ihres Berliner Matriarchats vorbereitet? Es ist noch nicht lange her, da
wurde sie als Kandidatin für den Friedensnobelpreis ins Gespräch gebracht.
Hartnäckig hält sich da Gerücht, sie möchte Ban Ki Moon als GeneralsekretärIn
der Vereinten Nationen beerben. Geschieht das alles hinter dem Rücken der
Kanzlerin, ohne ihr Wissen und ohne ihre Billigung?

Mehr wert als eine Loyalitätserklärung Seehofers

Angela Merkel hat wiederholt erklärt: "Scheitert der Euro, scheitert Europa."
Auf sie und ihre Zukunft bezogen könnte der Satz lauten: "Scheitere ich an der
Flüchtlingskrise, bin ich als Kanzlerin gescheitert."

Natürlich wird sie ein Gespräch mit George Clooney vor einem solchen Schicksal
nicht bewahren. Aber es kann auch nicht schaden, sich im Glanze eines Stars ein
wenig aufzuwärmen. Und wenn Clooney sagt, er sei mit der Politik der Kanzlerin
"absolut einverstanden", dann ist das mehr wert als eine Loyalitätserklärung von
Horst Seehofer.

Die Frage, wie es mit der Kanzlerin weiter geht, scheint überhaupt wichtiger als
die, wie den Flüchtlingen geholfen werden könnte. Einerseits sollen sie besser
integriert, andererseits schneller abgeschoben werden. Man will die
"Fluchtursachen" bekämpfen, hat aber den Zeitpunkt verpasst, dem syrischen
Präsidenten in den Arm zu fallen. Aus Angst vor einem "Flächenbrand" hat mal
jahrelang einem Völkermord zugeschaut.

Nun, da die Flammen vor der eigenen Tür lodern, soll die Feuerwehr ausrücken und
den Brand eindämmen. Und alles muss schnell passieren. Hoffentlich bleibt George
Clooney noch ein paar Tage in der Stadt. Es wäre unverantwortlich, die Kanzlerin
jetzt allein zu lassen.

UPDATE: 13. Februar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 22. Februar 2016 10:37 AM GMT+1

Neuankömmlinge;
Warum Migranten gegenüber Flüchtlingen skeptisch sind

AUTOR: Philipp Woldin

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1466 Wörter

HIGHLIGHT: Ein wachsender Teil der in Deutschland lebenden Migranten ist


skeptisch gegenüber Flüchtlingen. Manche wollen sich in Bürgerwehren engagieren.
Warum ist das so? Eine Annäherung.

Nach den Silvester-Übergriffen reicht es Amir. Er tritt in die private


Facebook-Gruppe Hamburger Bürgerwehr ein, seine Kumpels und er organisieren sich
in WhatsApp-Gruppen, sie planen eine nächtliche Streife durch die Straßen
Wilhelmsburgs. Einige der Nutzer tragen als Profilbild die türkische Flagge,
andere geben als Geburtsort Städte im Nahen Osten an. Es sind erstaunlich viele
junge Männer mit türkischen, persischen und arabischen Nachnamen. Sie wollen
sich positionieren gegen die vielen Neuankömmlinge, die in die Stadt strömen und
ihnen irgendwie Angst machen. "Wir haben jetzt 'ne Gruppe, 30 Mann stark. Die
sollen mal sehen, wer hier wohnt", schreibt ein Nutzer, der sich Erkan nennt,
auf Facebook.

"Die sind anders als wir", sagt Amir am Telefon. Er, der selbst mit drei Jahren
als Flüchtling aus dem Iran nach Hamburg einreiste und sich längst als
Wilhelmsburger fühlt. Nicht alle Flüchtlinge seien schlecht, sicher, aber viele
hätten einfach eine andere Mentalität, eine andere Kultur, sagt Amir: "Die
sollen sich hier anpassen." Da ist diese unsichtbare Mauer. Wir und die.

In Skepsis vereint: Migranten und Deutsche

Wer durch die sozialen Netzwerke streift, in "Bürgerwehr"-Gruppen mitliest und


sich durch die Kommentarspalten der AfD-Fanseiten klickt, begegnet immer
häufiger Einträgen von Menschen mit ausländischen Wurzeln, aus denen Misstrauen
gegenüber den Neuankömmlingen spricht. Sie fordern "Grenze dichtmachen!" und
sorgen sich um das wohlgeordnete Deutschland. Es ist kein rein digitales
Phänomen und auch keine Position einer radikalen Minderheit.

Auch im Alltag gibt es diese Stimmen, man hört sie in Hamburg auch bei
Informationsveranstaltungen zu Flüchtlingsheimen. Dieses diffuse Gefühl lässt
sich mit konkreten Zahlen untermauern: In einer Umfrage von infratest dimap für
die "Welt am Sonntag" von Ende November finden 40 Prozent der Deutschen mit
Zuwanderungsgeschichte, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen als
derzeit. 24 Prozent sagen sogar, Deutschland sollte gar keine Flüchtlinge mehr
aufnehmen. Das sind 64 Prozent der Migranten, also den Menschen, die laut
Definition des Zensus 2011 nach dem Jahr 1955 zugewandert oder in Deutschland
geborene Ausländer sind und alle mit zumindest einem nach 1955 zugewanderten
oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Damit unterscheiden sich
diese Menschen in ihrer Skepsis kaum von Deutschen ohne Migrationshintergrund.

Dabei müssten Menschen wie Amir doch eigentlich Verständnis haben, Empathie für
jene Menschen, die wie er damals Schutz suchen.

"Es ist anders", sagt Wolfgang Kaschuba, Direktor des Berliner Instituts für
empirische Integrations- und Migrationsforschung. "Die skeptische Reaktion
einiger Migranten auf Neuankömmlinge ist ein bekanntes Muster, das wir auch
schon bei früheren Einwanderungsbewegungen gesehen haben. Viele Migranten haben
noch nicht das Sicherheitsgefühl, zur Gesellschaft dazuzugehören. Sie machen
sich Sorgen, mit den 'Neuen' in einen Topf geworfen zu werden."

Es geht um sozialen Status, nicht Herkunft

Der Forscher beschreibt die Bevölkerung als konzentrischen Kreis, wie eine Art
Zielscheibe. Das "Wir", die deutsche Mehrheitsgesellschaft, liegt in der Mitte.
Jeder neu hinzukommende äußere Kreis, jetzt die Flüchtlinge, schiebt den davor
liegenden Kreis, die schon hier lebenden Migranten, etwas weiter nach Innen,
Richtung "Wir". Eine Art ungeplante Integration, ein neues Gemeinschaftsgefühl -
aber auf Kosten der ganz Neuen.

"Einige der Migranten glauben, durch eine kritische Haltung gegenüber


Flüchtlingen dem inneren Kreis näherzukommen - gerade weil der deutsche Diskurs
seit Silvester ins Negative gekippt ist." Sozialwissenschaftler Kaschuba
beschreibt Integrationsschritte an einem Beispiel wie diesem: Die erste Welle
der Gastarbeiter kam in den 1950er-Jahren, sie malochten in der Zeche oder am
Band bei VW. Der deutsche VW-Kollege blieb zuerst skeptisch, aber nach einer
Zeit sagte er: Italiener finde ich immer noch komisch, aber mein neuer Kollege
Luigi, der ist okay. Als dann Jahre später türkische Arbeiter kamen, wunderten
sich der deutsche und deutsch-italienische Arbeiter gemeinsam über die
Hinterwäldler aus Anatolien. Der Prozess geht weiter: Heute, sagt Kaschuba,
sagen dann Menschen mit türkischen Wurzel: "Was sollen wir in Deutschland denn
mit den neuen Flüchtlingen?"

Doch so einfach ist es nicht. "Herkunft ist nicht die zentrale Erklärung für die
Skepsis gegenüber Flüchtlingen", erklärt der Sozialwissenschaftler. Es gehe eher
um den sozialen Status. Und konkret um die Lebenswelt des einzelnen Migranten:
Um die türkischstämmige Supermarkt-Kassiererin, die sich eher in Konkurrenz um
Jobs und billigen Wohnraum mit den Flüchtlingen sieht als der iranische
Ingenieur. Um Muslime, die in einer liberalen Gemeinde beten, und vor
rückständigen, arabischen Männern warnen, die da nun kommen.

Russlanddeutsche, der Fall Lisa und die Flüchtlinge

Der 24. Januar ist ein wolkenverhangener Tag in Hamburg, 600 Menschen, vor allem
Russlanddeutsche, ziehen in dichten Reihen Richtung Jungfernstieg. Russische und
deutsche Flaggen wehen, auf selbst gebastelten Plakaten steht: "Wir wollen nicht
in Angst leben" und "Kriminalität muss bestraft werden". Ein Redner ruft ins
Mikrofon: "Wir wollen Sicherheit für unsere Kinder und für unsere Frauen!" In
diesen Tagen erhitzt der Fall Lisa die Kommentarspalten, ein 13-jähriges Mädchen
aus Berlin-Mahrzahn mit russischen Wurzeln, angeblich vergewaltigt von
Flüchtlingen. Nur: Der Übergriff fand nie statt, in den Wochen danach wird das
Mädchen der Staatsanwaltschaft beichten, sie sei bei einem Freund untergetaucht
- die Schulnoten. Doch die schon damals bestehenden Zweifel interessieren an
diesem Sonntag niemanden.

Seit Tagen heizen die russischen Nachrichten den Fall an, raunen vom
"Kontrollverlust" der deutschen Behörden. "Objektiv nahm nur ein kleiner Teil
der Community an den Demos teil", sagte Jannis Panagiotidis, Juniorprofessor für
"Russlanddeutsche Migration und Integration" an der Universität Osnabrück. Er
geht von bundesweit 10.000 Teilnehmern aus. Etwa zwei Millionen Russlanddeutsche
leben in Deutschland, insgesamt gelten sie als gut integriert, aber politisch
unsichtbar. Panagiotidis hat sich Videos und Bilder der Demos angesehen und
findet: "Dort lief durchaus ein Querschnitt der Community mit, nicht nur junge
Hitzköpfe." Russlanddeutsche verstehen sich zuerst als Deutsche, sie legen Wert
auf ihr Deutschtum, das gesellschaftlich allerdings manchmal infrage gestellt
wird. Bei den aktiven Teilnehmern sei das Bedürfnis, sich von den Flüchtlingen
abzugrenzen, deshalb recht stark, sagt Panagiotidis.

Es gebe in Deutschland einen stärker werdenden Bevölkerungsteil, der in der


Flüchtlingsfrage für sich entschieden hat: "Wir schaffen es eben nicht." Die
russischen Medien plustern diese Strömung in der Debatte auf. Der
Migrationsforscher sagt: "Der Fall 'Lisa' war nur der spezifische Funke, der an
ein Grundgefühl der Verunsicherung anknüpft, das es auch bei 'Biodeutschen'
gibt." Das Verhalten sei also eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, nicht
Ergebnis einer abgeschlossenen Gettomentalität einer Migrantengruppe. Viele der
älteren Russlanddeutschen kommen zwar selbst aus ehemaligen Sowjetstaaten, die
multiethnisch geprägt waren, doch seien irritiert darüber, dass es in
Deutschland in wachsender Zahl "Ausländer" gebe, erklärt der Migrationsforscher.
"Sie kamen mit einem anderen Deutschlandbild, hatten vielleicht eine andere
Hoffnung."

Die andere Seite: Migranten, die helfen

Das ist die eine Seite, Menschen mit eigener Zuwanderungsgeschichte, die sich
Sorgen machen. Die andere Seite sind die vielen Hamburger Migranten, die helfen.
Da sind die vielen Dolmetscher, die am Hauptbahnhof übersetzen und für ihre
Landsleute das Sprachrohr in eine neue Welt sind. Die Sozialmanager der
Unterkünfte, die Neuankömmlinge auch deshalb besonders gut verstehen, weil sie
selbst eine Fluchtgeschichte haben.

Der syrische Arzt in Blankenese, der unermüdlich nach privaten Wohnungen für die
Gestrandeten sucht. Und Gemeinden wie die Al-Nour-Moschee in St.Georg, die im
Sommer nachts bis zu 600 Flüchtlinge auf der Durchreise nach Schweden in ihrem
Gebetsraum beherbergte, einer umfunktionierten Tiefgarage. "Selbstverständlich"
ist so eine Haltung für den Vorsitzenden Daniel Abdin. Eine ablehnende Stimmung
erlebe er in seiner Gemeinde nicht. "Das fände ich auch paradox, wenn man selbst
geflüchtet oder zugewandert ist. Was ist, wenn Deutschland so auf uns reagiert
hätte?"

Migrationsexperte Wolfgang Kaschuba entgegnet: "Wir können nicht erwarten, dass


Menschen mit eigener Flucht- und Migrationserfahrung, mit oft prekärem Status in
der Gesellschaft, sofort am solidarischsten sind." Die Herkunft ist es nicht,
die entscheidend für die Haltung ist. Sondern jeder Einzelne.

UPDATE: 22. Februar 2016

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Dienstag 23. Februar 2016 9:33 AM GMT+1

Wahlkampf für Klöckner;


Merkel tut so, als sei nichts gewesen

AUTOR: Hannelore Crolly

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1121 Wörter

HIGHLIGHT: Angela Merkel zu Gast bei Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz: Diese


fuhr ihr bei der Flüchtlingspolitik heftig in die Parade. Die Kanzlerin bleibt
stoisch - doch ihr Elefantengedächtnis vergisst nicht.

Ist die Kanzlerin nachtragend? Schwer zu sagen bei einer Meisterin der
Contenance wie Angela Merkel. Die 61-jährige CDU-Chefin lässt sich miese Laune
in der Regel nicht anmerken, selbst dann nicht, wenn ihr gerade die eigene
Stellvertreterin mit Karacho in die Parade gefahren ist.

Pflichtbewusst ist Merkel an diesem Montagabend in die Südpfalz geeilt und


pünktlich in der Landauer Jugendstil-Festhalle eingetroffen, um für Julia
Klöckner Wahlkampf zu machen.

Sollte sich die Kanzlerin über die CDU-Spitzenkandidatin von Rheinland-Pfalz und
ihren baden-württembergischen Kollegen Guido Wolf geärgert haben, lässt sie es
sich mit keinem Mienenzucken anmerken. Dabei haben die beiden Wahlkämpfer ihr
just einen Tag zuvor eine Erklärung vor die Füße geworfen, die Merkel ungefähr
so erfreulich gefunden haben muss wie Zahnweh über die Weihnachtsfeiertage.

In Panik angesichts immer weiter schmelzender Umfragewerte hatten die beiden


Wahlkämpfer die sofortige Einführung tagesaktueller Flüchtlingskontingente wie
in Österreich gefordert. Dabei war Merkel just aus Brüssel heimgekehrt, wo sie
Österreich für eben dieses Vorhaben schwer gerügt hatte.

Überschwängliche Begeisterung klingt anders

Doch in Landau tätschelt Merkel ihrer 18 Jahre jüngeren Stellvertreterin nun


ein, zwei Mal auf der Bühne den Arm, als sei alles in bester Ordnung, sagt vor
1300 Gästen einigermaßen nette Dinge wie: Rheinland-Pfalz brauche frischen
Schwung und neue Kraft und dass Julia Klöckner dafür die richtige Wahl sei.

Dass Klöckner sicher als "bodenständige, frische, kampfesfreudige, als lustige,


wenn's nottut, auch ernste Ministerpräsidentin dieses Land gut führen wird mit
ihrem Team". Zugegeben, überschwängliche Begeisterung klingt anders. Aber
überschwänglich ist Merkel so selten wie offenkundig eingeschnappt.

Aber vergessen wird Merkels Elefantengedächtnis diesen feindlichen Vorstoß


nicht. Das macht sie sehr elegant deutlich, als sie CDU-Urgestein Heiner Geißler
im Publikum entdeckt - ob absichtlich oder weil es sich gerade so ergibt, wer
weiß das schon. "Ich überlege gerade, ob das nicht in diesem Saal hier war, als
mir Heiner Geißler den ersten und einzigen Saumagen in meinem Leben geschenkt
hat", sinniert Merkel gleich zur Begrüßung.

Geißler habe bei dieser Gelegenheit auch versucht, sie von einer Kandidatur
abzubringen. "Ich hatte die Idee, ich müsste Landesvorsitzende in Brandenburg
werden. Er hatte seinen Freund Ulf Fink dort station..., äh, dort hingebracht",
erinnert sich die Kanzlerin. "Ich habe dann folgerichtig verloren. Aber es war
eine interessante Erfahrung." Das Ganze sei wohl 1992 oder 1993 passiert, sagt
sie.

Sie hat fast recht: Fink, ein enger Vertrauter des Ex-CDU-Generalsekretärs
Heiner Geißler, wurde 1991 brandenburgischer Landeschef. Merkel ausgebootet zu
haben hat Fink und Geißler nichts gebracht. Fink wurde schon 1993 wieder
geschasst, weder er noch sein Förderer haben in der CDU danach je wieder eine
maßgebliche Rolle gespielt.

Klöckner abgewatscht vom CDU-Fraktionschef

Vielleicht kann die in jahrzehntelangen Querelen gestählte Kanzlerin über


Affronts aus eigenen Reihen mittlerweile auch tatsächlich mit einem Achselzucken
hinweggehen, vor allem wenn es sich um einen Rohrkrepierer handelt wie im Fall
der am Sonntag von Klöckner und Wolf vorgelegten Forderungen nach einer
Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik.

Schon am Montagmorgen hatten die beiden versucht, in einer Telefonkonferenz mit


dem Bundesvorstand ihren Ausbruchsversuch wieder zu relativieren. Von einer
Distanzierung könne keine Rede sein, die Vorschläge seien als "Ergänzung" zu
Merkels europäischem Weg gedacht, so Klöckner und Wolf.

Doch da war Fraktionschef Volker Kauder, wie Wolf aus dem Süden
Baden-Württembergs, längst im "Morgenmagazin" aufgetreten und hatte die
Abtrünnigen abgewatscht wie Schulkinder. "Jeden Tag neue Vorschläge führt,
glaube ich, nicht zum Ziel", knurrte Kauder, ohne Namen zu nennen, und dass er
"allen" nur raten könne, sich hinter die Kanzlerin zu stellen.

Kurz danach hatte Regierungssprecher Steffen Seibert das Klöckner-Wolf-Papier


zur "parteiinternen Überlegung" kleingeredet, Kanzleramtschef Peter Altmaier
machte daraus gar ein Kompendium "rein technischer Fragen". Und so war der Plan,
mit dem Klöckner und Wolf 21 Tage vor ihren Landtagswahlen einen
Befreiungsschlag hatten wagen wollen, schon wieder im Archivschrank verstaut,
bevor die Kanzlerin in der Pfalz eintraf.

Auf einmal ist Klöckner auf Merkels Seite

In Landau ist denn auch nicht mal andeutungsweise die Rede von Kontingenten oder
Wartezonen fernab von Deutschland, von Steuerungsinstrumenten, wie sie sich
Guido Wolf herbeigewünscht hat, oder schärferen Kontrollen an den Grenzen.

Klöckner wagt lediglich den sehr verklausulierten Satz, dass "unsere Kommunen
eine Atempause brauchen". Doch viel klarer sucht sie den Schulterschluss mit der
Kanzlerin, etwa wenn sie betont, dass "wir diesen europäischen Weg gemeinsam
gehen", und in eindeutiger Anlehnung an einen Merkel-Spruch verkündet: "Wir
müssen uns nicht schämen für unser freundliches Gesicht."

In gewiefter Rhetorik versucht die Landesvorsitzende sogar, die Landtagswahl zu


einer Unterstützungsaktion in Sachen Flüchtlingspolitik der "lieben Angela" zu
machen: "Wir kämpfen hier vor Ort. Wir kämpfen für eine andere Zusammensetzung
im Bundesrat, damit du deine Politik durchsetzen kannst."
Merkel hält es ähnlich, lässt allenfalls Andeutungen fallen, von denen nicht mal
sicher ist, ob es welche sind. Etwa wenn sie von "kontroversen Diskussionen"
spricht, die sie im Übrigen "auch mal gut" findet, "weil wir uns mal wieder mit
unseren Grundwerten beschäftigen, wovon unser Land lebt und was uns ausmacht".

Sie wirbt eindringlich dafür, alles zu tun, um Europas offene Grenzen zu


bewahren, und sie liest der gesamten EU die Leviten, weil diese Gemeinschaft mit
ihren 500 Millionen Einwohnern bisher wohl nicht einmal eine Million syrische
Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat.

"Da stellt sich schon die Frage, wie es mit unseren Werten steht." Die ganze
Welt schaue derzeit darauf, wie die EU mit ihrer Nachbarregion umgehe.

Wenn sie diese Herausforderung jetzt nicht bestehe, brauche die Europäische
Union in der Welt von anderen nicht mehr die Einhaltung von Werten wie
Menschenrechte oder Klimaschutz zu fordern. "Sonst heißt es: Die reden nur und
handeln nicht."

So, wie es jetzt auch die Wähler von Klöckner und Wolf sagen könnten. Laut
"Tagesspiegel" soll jemand aus der CDU-Führung über die beiden Wahlkämpfer
gesagt haben, der gesamte Vorstoß sei unsinnig gewesen. Merkel dürfe ihnen gar
nicht entgegenkommen, um ihr Standing in Brüssel nicht zu gefährden. Also
stünden Klöckner und Wolf jetzt als "ziemlich zahnlose Provinztiger da, die laut
brüllen, hauptsächlich aus Angst".

UPDATE: 23. Februar 2016

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Sonntag 28. Februar 2016 11:59 AM GMT+1

Iran-Wahlen;
In Teheran gewinnt das Reform-Lager deutlich

AUTOR: Stephanie Rupp

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1473 Wörter

HIGHLIGHT: Bei der Parlamentswahl im Iran haben die Reformer um Präsident Hassan
Ruhani nach vorläufigem Ergebnis alle 30 Mandate in Teheran gewonnen. Das wäre
ein herber Schlag für die radikalen Hardliner.

Irans Staatspräsident Hassan Ruhani bekommt durch das Ergebnis der


Parlamentswahlen deutlichen Rückenwind - ganz besonders von den Wählern der
Hauptstadt Teheran. Seine Liste aus Reformern und gemäßigten Konservativen
"Hoffnung" hat nach Auszählung von 90 Prozent der Stimmen alle 30 Sitze
gewonnen, darunter acht Frauen. Sämtliche radikalen Hardliner aus Teheran wurden
demnach aus dem Parlament geworfen. Auch im Expertenrat liegen die gemäßigten
Konservativen vor den Hardlinern. In dieses religiöse Gremium, das den
geistlichen Führer bestimmt, wurde auch Ruhani selbst wiedergewählt.

Die Wahlbeteiligung im Iran war mit 60 Prozent (33 von 55 Millionen


Stimmberechtigten gingen an die Urnen) zwar niedriger als erwartet. Doch die
Menschen haben damit unmissverständliche Signale an das religiöse Establishment
gesendet:

Sie wollten mit aller Macht den erneuten massenhaften Einzug der
Radikal-Konservativen ins Parlament verhindern, was sie nach bisherigen
Ergebnissen erreicht haben. Für den religiösen Expertenrat haben sich Reformer
mit den Stimmen aus Teheran Platz eins (für das moderate Polit-Urgestein Ali
Akbar Rafsandschani-Haschemi) und Platz zwei (Staatspräsident Hassan Ruhani)
sogar die Spitzenplätze gesichert. Ansonsten sind dort zwar weiter viele
Konservative und auch einige Radikale vertreten.

Ein Teil des bei der Bevölkerung äußerst umstrittenen "Top-Trios" der radikalen
Hardliner mit den Ajatollahs Ahmad Dschannati und Mohammed Jasdi liegt nach
bisherigen Auszählungen abgeschlagen auf den Plätzen 11 und 15. Der Radikalste
von ihnen, Mesbah Jasdi, fliegt nach bisherigem Stand sogar komplett aus dem
Gremium. Das bestätigte das Innenministerium.

Bleibt es dabei, wäre das ein harter Schlag ins Gesicht der radikalen Kleriker.
Dschannati hatte als Vorsitzender des Wächterrats den beliebten Khomeini-Enkel
Hassan Khomeini disqualifiziert, was viele äußerst wütend machte. Mesbah Jasdi
hatte durch seine frauenfeindlichen Äußerungen und abschätzige Bemerkungen,
wonach der Wille des Volkes bei Wahlen für ihn ohnehin nicht zähle, für Wirbel
gesorgt.

Die Bürger zeigten durch ihre Stimmabgabe, dass sie ohne Anwendung von Gewalt
demokratische Reformen fordern. Gewaltsame Umstürze könnten zu Bürgerkrieg und
einer riesigen Fluchtbewegung nach Europa führen, warnen prominente Stimmen.
Diese Warnung ist an alle radikalen Kräfte gerichtet.

Hardliner sind die größten Verlierer

Reformer und moderate Konservative, von denen viele inzwischen den Kurs des
Staatspräsidenten Hassan Ruhani unterstützen, haben denn auch nach inoffiziellen
Angaben im neuen Parlament deutlich die Nase vorn. Die größten Verlierer sind
demnach die radikalen Hardliner.

Noch fehlen zwar die kompletten Ergebnisse aus Teheran und anderen Großstädten
wie Shiraz. Doch in der liberalen Hauptstadt haben die Reformer bisher einen
Riesensieg eingefahren: Laut Innenministerium werden wahrscheinlich 29 von 30
Sitzen an Reformer und moderate Konservative gehen - darunter acht Frauen. Nur
ein einziger Sitz wird demnach an die Ultrakonservativen aus Teheran gehen - an
Gholam-Ali Haddad-Adel, der familiäre Beziehungen zum Religionsführer Ayatollah
Ali Khamenei hat. Abgewählt wurden sehr viele radikale Hardliner, die
Außenminister Mohammed Dschawad Sarif wegen der Atomverhandlungen aufs Heftigste
beschimpft hatten. Seit Samstagabend wird in den sozialen Netzwerken
kommentiert: "Die Hardliner sind in die Zweite Liga abgestiegen." Oder: "Die
Radikal-Konservativen haben unsere Reform-Kandidaten disqualifiziert - jetzt hat
das Volk die Radikal-Konservativen disqualifiziert."

Es wird nicht erwartet, dass eines der drei Lager - Reformer, gemäßigte
Konservative und radikale Hardliner - landesweit die Mehrheit beanspruchen kann.
Aber eine Koalition oder anderweitige Zusammenarbeit aus Reformern und moderaten
Konservativen gilt als wahrscheinlich.

Aus der Provinz Kerman und Bam in Südiran beispielsweise wurden zehn Kandidaten
als Abgeordnete gewählt, alle von ihnen allerdings Männer: Sechs sind Reformer
und jeweils zwei moderate Konservative beziehungsweise radikale Hardliner. Aus
der Provinz Fars (bisher aber noch ohne die wichtige Stadt Shiraz) haben es zwar
neun radikale Hardliner geschafft, aber auch sechs Reformer und zwei gemäßigte
Konservative. Auch hier ist keine Frau unter den Gewählten, was für Teheran
anders ist.

Weil viele reformnahe Kandidaten im Vorfeld disqualifiziert worden waren, haben


die Reformparteien vielerorts moderate Konservative auf ihre Empfehlungslisten
gehievt. Zusammen mit ihnen wollen die Reformer im neuen Parlament verhindern,
dass radikale Erzkonservative weiterhin die Arbeit des moderaten
Staatspräsidenten Ruhani blockieren.

In der radikalen Schiiten-Hochburg Ghom etwa konnten die Reformer keinen


Spitzenkandidaten aus den eigenen Reihen aufstellen. Dort nominierten sie
deshalb den früher als Hardliner gefürchteten derzeitigen Parlamentssprecher Ali
Laridschani sogar als ihren Spitzenmann.

Inzwischen unterstützt allerdings auch er den Kurs Ruhanis, insbesondere, was


die Aushandlung des Atomdeals mit der internationalen Staatengemeinschaft
angeht. Laridschani wurde als einer von drei Vertretern ins Parlament gewählt -
zusammen mit zwei Radikal-Konservativen, was für Ghom allerdings normal ist.

Das Beispiel Laridschani zeigt nach Ansicht politischer Beobachter, dass sich
die Konservativen im Zuge der Atomdealverhandlungen in zwei Lager gespalten
haben: zum einen in den radikal-erzkonservativen Flügel, zum anderen in moderate
Konservative. Die stützen den Kurs Ruhanis jetzt auch innenpolitisch.

Erste Ergebnisse sprechen für Reformer

Yadollah Eslami, der in der Regierung des reformorientierten Präsidenten


Mohammed Khatami stellvertretender Gesundheitsminister war und 2009 den Anführer
der Grünen Welle, Mir Hussein Mussawi, aktiv unterstützte, schreibt in einer
politisch sehr aktiven Gruppe des weitverbreiteten sozialen Netzwerks Telegram:
"Noch ist das Endergebnis der Wahlen nicht auf dem Tisch. Aber schon jetzt sehen
wir, dass das Volk ein friedliches Zeichen für Demokratie und Freiheit gesetzt
hat. Die Iraner sind reif für die Demokratie."

Die Möglichkeit, ihren wirklichen Willen kundzutun, sei angesichts der


verschwindend geringen Zahl echter reformorientierter Kandidaten - gerade einmal
70 von 3000 - absolut minimal gewesen, schreibt er.

"Trotzdem haben die Menschen diese winzige Möglichkeit zur Willensbekundung zu


einer ganz großen Sache gemacht - und zwar friedlich. Seit heute erleben wir
eine neue Qualität der politischen Auseinandersetzung in unserem Land", sagt er
optimistisch.

Es wäre in der Tat ein besonders herber Schlag ins Gesicht der radikalen
Hardliner, wenn ein Großteil der 70 Reformer gewählt würde. Die bisherigen
Ergebnisse zeigen, dass es viele von ihnen geschafft haben.

Das Verhalten der Menschen zeige, in welche Richtung sich das Land bewegen müsse
- nämlich in eine Zukunft, in der Forderungen ohne radikale Kräfte, die auf
Gewalt setzten, ausdiskutiert werden müssten.

Angst vor Bürgerkrieg

Der Schauspieler Hamid Farrokh-Nedschad sagte in einem vom Staatsfernsehen


geführten Interview, das höchstwahrscheinlich niemals gesendet wird, aber sehr
wohl im Netzwerk Telegram landete: "Einer der Gründe dafür, dass die Menschen
zur Wahl gingen, war, so wenige Radikal-Konservative wie möglich ins Parlament
zu lassen. Denn diese Leute leben geradezu von Gewalt, Unruhe und Kriegen. Sie
konnten im Iran gut leben und reich werden, weil es die Sanktionen gab." Davon
hätten sie durch ihre lukrativen Umweggeschäfte jahrzehntelang profitiert.

"Das Volk aber ist müde vom Embargo." Die Wahlbeteiligung zeige das. Die
Menschen werfen den radikalen Hardlinern vor, "dass diese blind dafür sind, was
mit unseren Nachbarn passiert ist".

Obwohl sie die Fotos von ertrunkenen syrischen Kindern sehen, die aufgrund der
Gewalt in ihrer Heimat fliehen müssten, würden sie weiter "nur an ihren eigenen
Profit" denken. Wenn die Radikalen im Iran weiter so stark wie bisher das
Geschehen bestimmen dürften, sei auch der Iran in Gefahr, dass die Lage kippe
und es einen Bürgerkrieg gebe. "Dann könnten wir alle gezwungen sein, mit
unseren Familien nach Europa zu fliehen - und das wollen wir nicht", sagt er.

Die Rolle der sozialen Netzwerke, insbesondere des Messenger-Dienstes Telegram,


war entscheidend für die Mobilisierung der Wähler. Denn im Iran nutzt jeder
Vierte ein Smartphone, in der Hauptstadt Teheran ist es sogar jeder Zweite. Über
die sozialen Netzwerke wurden auch Bilder des inoffiziellen Oppositionsführers
Mir Hussein Mussawi verbreitet, der seit der mutmaßlichen Wahlfälschung 2009 in
Hausarrest sitzt.

Sogar er und seine Frau Sahra Rahnavard haben ihre Stimme abgegeben, statt die
Wahl zu boykottieren. Und selbst politische Gefangene im Evin-Gefängnis haben
teilgenommen - ganz sicher nicht, um radikale Konservative zu wählen, sondern
deren Anteil zu mindern.

UPDATE: 28. Februar 2016

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Samstag 12. März 2016 11:39 AM GMT+1

Zeitgeist;
Die Deutschen sind in der Stimmungsfalle

AUTOR: Marc Reichwein

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1783 Wörter

HIGHLIGHT: Wer sind wir - und wenn ja, wie anfällig? Der Soziologie Heinz Bude
hat die Macht von Stimmungen studiert. Sie entscheiden WM-Feiern,
Willkommenskultur und Wahlen. Im Facebook-Zeitalter mehr denn je.

Und, wie ist die Stimmung so? Sie ist jeden Fall immer da. Man kann nicht nicht
gestimmt sein, sagt Heinz Bude (mit Paul Watzlawick und Martin Heidegger), und
instinktiv stimmen wir ihm zu: Wenn man an die Stimmung beim letzten
Stadionbesuch, am Arbeitsplatz oder in bestimmten Lebensabschnitten denkt
(Abitur, Geburt des ersten Kindes) - als biografische, individuell erfahrbare
Kategorie leuchtet Stimmung sofort ein.

"Aber wie kann man sich den Prozess des Gestimmtwerdens durch eine
gesellschaftsgeschichtliche Situation vorstellen?", fragt Bude, Professor für
Makrosoziologie an der Uni Kassel und Spezialist für Zeitgeistthemen wie
"Bildungspanik" (2011) oder "Gesellschaft der Angst" (2014). Sein neues Buch
"Das Gefühl der Welt" hat das Anliegen, die Macht von Stimmungen als
soziologisches Thema zu markieren.

Die Kategorie liegt in der Luft, und zwar nicht nur, weil in diesen Tagen jede
Landtags-, ja sogar die hessische Kommunalwahl als sogenannter Stimmungstest
fürs große Ganze herhalten muss. Aktuelle Protestbewegungen wie Pegida und AfD
"machen Stimmung" gegen die Kanzlerin, die mit ihrer Flüchtlingspolitik
"ungefragt unser Land verändert".

Medien raunten lange vor der Kölner Silvesternacht, dass "die Stimmung kippt",
bevor sie dann tatsächlich kippte. Die Kategorie der Stimmung scheint auch
virulent, wenn sich in vielen europäischen Ländern eine islamfeindliche oder
wenigstens misstrauische Atmosphäre breitmacht. Europa selbst steht als gedachte
Solidar- und Wertegemeinschaft unter Vorbehalt wie noch nie.

Stimmung gegen das Establishment

In Amerika bewirbt sich ein Kandidat ums Präsidentenamt, der eine schon länger
schwelende Grundstimmung gegen das politische Establishment in Washington zum
Markenkern seiner Kampagne gemacht hat. Und im Internet, wo die unzivilisierte
Hassrede Urständ feiert, ist die Stimmung generell gern im
Weltverschwörungseimer.

Ein vielleicht Letztes noch, für das Stimmungsbarometer von immerhin 1,5
Milliarden online organisierten Menschen relevant: Facebook hat soeben seine
Währung, den Like-Button, für mehr Stimmungen als bloße Zustimmung ("Gefällt
mir") diversifiziert. Auch wenn User lieben, lachen, überrascht, traurig oder
wütend sind, sollen sie das künftig ausweisen dürfen.

Alles Stimmung, oder was? Bude geht von einem Manko aus: die
Sozialwissenschaften hätten sich, von der konkreten Markt- und Meinungsforschung
der Umfrageinstitute abgesehen, kaum grundsätzlich mit der Kategorie der
Stimmung befasst, die die Philosophie und Ästhetik immerhin seit Kant
beschäftigt.

Sprachlich vordergründig haben wir es übrigens mit einem deutschen Sonderweg zu


tun: Anders als die meisten anderen Sprachen, die die subjektive und objektive
Komponente der Stimmung in zwei Wörter scheiden (mood und atmosphere ),
impliziert der deutsche Begriff beides, sowohl die persönliche Laune wie die
gesellschaftliche Atmosphäre. Und um genau den Konnex geht es Bude.

Gereizte Stimmung

Wenn wir an so manche Silvesterböllerei in deutschen Großstädten denken,


leuchtet seine Grunddiagnose sofort ein: Er bescheinigt unserer Gegenwart eine
"generelle Stimmung der Gereiztheit". Die einen - Bude nennt sie "heimatlose
Antikapitalisten" - sind ein bisschen gereizter als die anderen, die bei Bude
"Systemfatalisten" heißen.

Ein kollektives Unbehagen am Kapitalismus prägt uns alle, glaubt Bude, und zwar
sowohl historisch wie gegenwärtig. "Das Gefühl der Welt" ist keine systematische
Gesellschaftsstudie, sondern essayistisch angelegt, in lose Gedankenblöcke
gegliedert.

Die Erfindung der "Fühlungsnahme"

Bude skizziert die Stimmung aufeinanderfolgender Generationen (die ihn als


Forscher schon länger umtreiben). Er erzählt vom Erfolg epochaler
Stimmungsumschwünge, etwa Willy Brandts Losung "Wir wollen mehr Demokratie
wagen", die 1969 zum Ausdruck brachte, dass der Staat sich nicht mehr nur
autoritär auf seine Institutionen verlassen konnte, sondern um die "ständige
Fühlungsnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes" bemüht sein
wollte.

Mit "Fühlungsnahme" (gemeint war wohl Tuchfühlung) wurde qua


Regierungsverlautbarung deutlich, dass "Stimmung die Münze der Politik" ist.

Zur allerjüngsten Stimmungsgeschichte des Landes zählt die Willkommenskultur für


Flüchtlinge im letzten Sommer.

Im Nachhinein, so Bude jüngst gegenüber dem "Spiegel", könne man bereits die
Fußballweltmeisterschaft 2006 (Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden) als Auftakt
jener "Fremdenfreundlichkeit" lesen, mit der sich Deutschland gern selbst
gefällt - schon um sein historisch belastetes Image und seine regional und lokal
weiter aufwallende Fremdenfeindlichkeit zu kompensieren.

Was bedeutet es, wenn syrische Flüchtlinge mit Applaus begrüßt werden? Hat diese
Geste der Willkommenskultur etablierte "Hierarchien des Hierseins" außer Kraft
gesetzt, fragt Bude - mit Blick auf die Stimmung im Land. Er liefert eine
Erklärung, warum Ostdeutsche und Migranten der zweiten Generation sich in ihrer
Ablehnung von aktuellen Flüchtlingen durchaus einig sein können.

Für beide Gruppen, so Bude, stelle Deutschland eine Ankunftsgesellschaft dar. Es


definiere sich durch Etablierte und Zugereiste. Die Etablierten beherrschen das
Feld, die Zugereisten sind Außenseiter:

Die für die Unterscheidung von Außenseitern und Etablierten entscheidende Frage,
wer zuerst da war, begünstige einen gelegentlichen "Ethnorassismus" unter
Einwanderergruppen, etwa die Ablehnung von Flüchtlingen durch Russlanddeutsche.
Sie erklärt auch regional verstärkte Gefühle von Neid, Missgunst und Angst
gegenüber Migranten: "Ostdeutsche sehen sich gegenüber den etablierten
Westdeutschen immer noch in der Rolle der Außenseiter."

An dieser Stelle ist Bude beim Kern seiner Fragestellung: Gesellschaftliche


Gestimmtheit, egal wie naiv oder munitioniert kommuniziert, stellt "eine
Realität eigener Art" dar, die dringend einer "Soziologie der Stimmung" bedarf.
Genau diese Soziologie - im Sinne eines Grundlagenwerks - liefert Bude nicht,
dazu ist er dann doch Bude, und nicht Bourdieu, Luhmann oder Habermas. Wichtige
Ansatzpunkte enthält sein Essay aber allemal.

Gilt die Schweigespirale noch?

Besonders ergiebig - und ausbaufähig - scheint sein Bezug auf die


Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann und ihre Theorie der
Schweigespirale. Die besagt, dass Menschen nur dann zu ihrem Standpunkt stehen,
wenn sie sich von der Gesellschaft bestätigt fühlen und sich nicht einer
divergierenden Mehrheitsmeinung gegenübergestellt sehen.

Wer merkt, dass die eigene Meinung (medial) zunimmt, ist gestärkt, redet
öffentlich. Wer notiert, dass seine Meinung an Boden verliert, schweigt. Dieses
Gesetz galt, solange die veröffentlichte Meinung eine relativ knappe, von
professionellen Journalisten exklusiv in Massenmedien besorgte Ressource war. In
der Netzgesellschaft können sich Minderheiten noch im kleinsten Nischenforum
gegenseitig groß machen und großartig finden.

Historisch gesehen hat die Massenpresse das Gefühl, in einer gemeinsamen


sozialen Welt zu leben, seit dem 19. Jahrhundert demokratisiert.

Das Internet hat die "demokratische Teilhabe an Stimmungen", die sich vormedial
im wesentlichen lokal formierte (Motto: die Piazza protestiert vor dem Palazzo),
erheblich verstärkt, es hat die "Räume der Stimmung, die durch einen
gleichmäßigen Strom von relevanten Informationen und gemeinsamen Erregungen
aufrecht erhalten werden und das Erleben von Gesellschaft intensivieren",
erheblich erweitert und das Prinzip der "Publikumsdemokratie" - allerorten
ausgewiesen durch Statistiken wie "Meist gelesene Artikel" oder "Likes" bei
Facebook - etabliert.

Das Prinzip der Publikumsdemokratie

"Publikumsdemokratie" in der digitalen Gesellschaft heißt, dass die


Erlebnisintensität immer dann am höchsten scheint, wenn ganz viele irgendetwas
gleichzeitig tun und finden.

Ob Shitstorm oder Solidarisierungswelle: Das Internet dynamisiert jede "Wildheit


des Massenverhaltens". Im Zeichen von "Systemaversion, Betrogenheitsempfindung
und Selbstmandatierung" finden sich die "Besorgten, Übergangenen und
Verbitterten" in ihren, wie Bude hübsch formuliert, "kommunikativen Katakomben
einer rebellischen Grundstimmung" zusammen.

Publikumsdemokratie suggeriert, dass man sich noch im abseitigsten Forum als


eine - und wenn nur heimliche - Macht begreifen kann, die es besser weiß und
"sich gegen die vermittelnden Instanzen der Repräsentation eines allgemeinen
Interesses wendet: gegen die 'Medienkaste' genauso wie gegen die
'Politikerkaste', die sich anmaßen, in einem System der Gewaltenteilung ... für
das Volk zu sprechen, anstatt das Volk selbst sprechen zu lassen."

Mechanismen der Exklusion


Budes Argument für die zunehmende Macht von Stimmungen ist aber nur in Teilen
ein mediales. Es hat einen harten sozialen Kern, in etwa umrissen durch das, was
Thomas Piketty oder George Packer in ihren Büchern und nicht nur für die USA
beschrieben haben.

Man darf Bude, der sich mit Mechanismen von Exklusion beschäftigt hat, glauben,
dass die gesellschaftliche Kohäsion in dem Maße verloren geht, in dem die
Mittelschicht schwindet und sich, jenseits von Kollektivkategorien wie Klasse,
Nation oder Generation, ein wachsendes Gefühl des Unbehagens zwischen
Etablierten und Außenseitern der Gesellschaft manifestiert.

"In dem Maße, wie die Bindung an Großgruppenkategorien wie Arbeiter, Bürger oder
Mittelstand zurückgeht und zudem das Publikum von Werbung, Unterhaltung und
Berichterstattung in weiteren als nur lokalen oder nationalen Bezügen
angesprochen wird, werden die Einzelnen zum Spielball von Anreizen, Verführungen
und Belustigungen.

So erfährt sich das Ich als ein affektives Wesen, das auf Verstärkungen
angewiesen und Stimmungen ausgesetzt ist. Dieses Ich ist schreckhaft und
schweigsam, wenn es sich allein gelassen fühlt, und es blüht auf und findet
Anklang, wenn es glauben kann, dass viele andere auch so denken und fühlen wie
es selbst."

Nervös wie Hugo von Hofmannsthal

Die gesellschaftliche Stimmung, so kann man Bude lesen, ist volatiler geworden,
weil die Individuen anfälliger für Stimmungen geworden sind. Im Zeitalter der
Infosphäre ticken immer mehr Menschen so, als seien sie Hugo von Hofmannsthal,
den Bude seinem Buch als Motto - und gleichsam als dichterischen Gewährsmann für
nervösen Dauerempfang - vorangestellt hat:

"Er kann nichts auslassen. Keinem Wesen, keinem Ding, keinem Phantom, keiner
Spukgeburt des menschlichen Hirns darf er seine Augen verschließen. Es ist, als
hätten seine Augen keine Lider ... In ihm muss und will alles zusammenkommen. Er
ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft."

Ob es einer Gesellschaft guttut, wenn sie sich im Informationszeitalter


permanent die Stimmung misst, ist eine müßige Frage, die auch Bude nicht
beantwortet. Wir leben in keiner anderen Gesellschaft.

UPDATE: 12. März 2016

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Dienstag 22. März 2016 10:19 AM GMT+1

Reisebuchungen;
Das sind die beliebtesten Sommerurlaubsländer 2016

AUTOR: Maria Menzel

RUBRIK: REISE; Reise

LÄNGE: 1801 Wörter

HIGHLIGHT: Die Reiselust der Deutschen ist ungebrochen; trotz Terroranschlägen


und politischen Krisen. Und doch merken Reiseveranstalter deutliche Veränderung
- vor allem bei der Wahl der Urlaubsziele.

Eines scheint am Ende der Frühbuchersaison für den Sommer 2016 sicher: Die
Reiselust der Deutschen bleibt auch in Zeiten von Terror und politischen Krisen
ungebrochen. Bei einer aktuellen Umfrage des Buchungsportals Holidaycheck
zeigten sich 76 Prozent zwar verunsichert von den Terroranschlägen in Tunesien,
Paris, Ägypten und Istanbul, nur einer von fünf Befragten aber würde deswegen
grundsätzlich auf eine Flugreise verzichten.

Bleibt also alles beim Alten? Keineswegs. Während die Klassiker sowohl unter den
deutschen Urlaubsregionen als auch unter den Fernzielen in Amerika, Asien und
der Karibik mit konstanten oder sogar steigenden Buchungszahlen aus Deutschland
rechnen dürfen, zeichnet sich bei den Nahzielen eine deutliche Verschiebung von
Nordafrika und dem östlichen ins westliche Mittelmeer ab.

Die großen Verlierer am Ende der Frühbucherphase: Tunesien, Ägypten und auch die
Türkei. Dem Präsident des Deutschen Reiseverbands, Norbert Fiebig, zufolge sind
die Buchungen für diese Destinationen um 40 Prozent oder sogar mehr
eingebrochen. Für die Türkei liegen die Zahlen dem Kultur- und
Tourismusministerium zufolge derzeit 25 Prozent unter dem Vorjahreswert.

Thomas Cook hat rund ein Drittel seiner Flugkapazitäten für die Türkei aus dem
Markt genommen. DER Touristik spricht von einem zweistelligen prozentualen
Buchungsminus - und das trotz Dumpingpreisen, mit denen Hoteliers,
Fluggesellschaften und Reiseveranstalter längst versucht hatten, die Kontingente
an den Mann zu bringen.

Große Nachfrage treibt Preise in die Höhe - nicht überall

Dabei hat Tunesien mit elf Prozent den größten Preisverfall zu verzeichnen.
Holidaycheck zufolge kosten Flug, Hotel und Verpflegung den Urlauber dort
aktuell nur noch durchschnittlich 57 Euro pro Kopf und Tag. Auch in Ägypten und
der Türkei liegen die Preise mit 72 und 73 Euro deutlich unter dem
Vorjahresniveau. Nun setzt man alle Hoffnungen in ein boomendes
Last-Minute-Geschäft.

Doch auch in den Ländern, in die viele Urlauber nun ausweichen, sind die Preise
trotz höherer Nachfrage nicht unbedingt gestiegen - teilweise sogar gesunken,
was den Wettbewerbsdruck noch erhöht. Bulgarien beispielsweise hält sich -
wohlgemerkt im Gegensatz zu Spanien - trotz großem Zulauf für die Sommersaison
auf Rang zwei unter den günstigsten Pauschalreisezielen.

Idealo.de-Sprecherin Susan Saß zufolge liegt das unter anderem an einer erhöhten
Konkurrenz im Hotelmarkt. Auch der Wegfall der sogenannten Bestpreisklauseln,
mit der Online-Buchungs-Portale Anbieter dazu verpflichtet hatten, Bestpreise
und -konditionen exklusiv über sie anzubieten, könnte einen Einfluß haben.

Rückkehr zu alten Gewohnheiten möglich

Der Auftakt einer Trendverlagerung? "Eher nicht", sagt Prof. Dr. Ulrich
Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen. Der wichtigste Aspekt bei der
Wahl eines Urlaubsziel sei die Sicherheit. Zwar würden 2016 weniger Touristen
die Türkei, Tunesien und Ägypten besuchen als zuvor. "Sobald sich die Lage dort
beruhigt, werden die, die vorher regelmäßig dort Urlaub gemacht haben, dies aber
auch wieder tun."

Nur wenn es an einem Ort über einen längeren Zeitraum unsicher war, stelle sich
natürlich die Frage, ob das Land in seiner touristischen Entwicklung trotz Krise
noch mithalten kann mit anderen Destinationen. Dies lasse sich aber nicht
prognostizieren.

Auch DRV-Sprecher Torsten Schäfer hält sich mit einer abschließenden Beurteilung
zurück: "Es gibt noch keine Gewinner oder Verlierer, das können wir erst im
Oktober sagen." In einem Punkt aber sind sich Reiseveranstalter, Verbände und
Analysten schon jetzt einig: Von der aktuellen Krise profitieren im Sommer 2016
vor allem die Länder, die sich bei den deutschen Urlaubern sowieso schon großer
Beliebtheit erfreuen.

1. Spanien

Spanien ist der größte Profiteur der Krise. Das Land ist schlichtweg ein
Dauerbrenner und darf in Zeiten leicht rückläufiger Gesamtbuchungszahlen für
Reisen innerhalb Europas von seinem allzeit guten Ruf zehren. Vor allem die
Balearen und die Kanaren erfahren derzeit auf der Suche nach
Sorglos-Destinationen einen sehr hohen Zulauf. Beim Vergleichsportal Check24 lag
die Zahl der Buchungen für Spanien im Januar 19 Prozent höher als im
Vorjahresmonat.

Fuerteventura verzeichnete einer Analyse des Datenspezialisten Trevotrend


zufolge sogar ein Plus von 59 Prozent bei den Buchungsanfragen und ist mit einem
Marktanteil von 23 Prozent damit die am stärksten nachgefragte Destination auf
der Nahstrecke. Der Reiseveranstalter Tui spricht gar von einem bevorstehenden
Spanien-Jahr. Wer gedenkt, seinen Sommerurlaub auf den Kanaren oder den Balearen
zu verbringen, sollte allerdings nicht mehr allzu lange warten mit dem Buchen -
es wird voll.

Wettergarantie **** Je nach Region liegen die Temperaturen in Spanien am Tag


zwischen 17 und 27 Grad Celsius. 60 Prozent Sonnenstunden und ein mittleres
Niederschlagsvolumen von 59 Millimetern dürften sonnenhungrige Urlauber auf ihre
Kosten bringen.

Preis (EURO)(EURO) Zwei Personen im DZ mit Flug und sieben Übernachtungen im


Drei-Sterne-Hotel kosten idealo.de zufolge 1606 Euro bzw. 2768 Euro im
Fünf-Sterne-Haus

Günstigster Buchungszeitpunkt Einer Analyse von Skyscanner zufolge, für die das
Flugbuchungsportal Daten der letzten drei Jahre ausgewertet hat, liegt der
günstige Buchungszeitpunkt für eine Reise nach Spanien elf Wochen vor Abflug -
und im Vergleich zu anderen Destinationen damit vergleichsweise früh. Wer also
Anfang August möglichst günstig ins Warme fliegen möchte, sollte bereits Mitte
Mai buchen.
2. Italien

Auch Italien profitiert als Klassiker unter den europäischen Reisezielen der
Deutschen zusätzlich von der aktuellen Situation. Die Buchungen liegen klar im
Plus; vor allem für die Lieblinge unter den Urlaubsregionen - die Adria, den
Gardasee, Südtirol, Venetien, die Lombardei und die Toskana. Das verdankt
Italien nicht zuletzt seinem klimatischen Facettenreichtum, der sich vom sehr
heißen Süden bis in den auch im Hochsommer mediterran milden Norden erstreckt,
der sich vor allem bei Autourlaubern großer Beliebtheit erfreut.

Wettergarantie *** Bis zu 28 Grad Celsius, 57 Prozent Sonnenstunden: So sieht


mediterranes Leben aus - zumindest im Durchschnitt. Zwar liegt die landesweite
Niederschlagswahrscheinlichkeit mit 106 Millimetern relativ hoch. Sonnenanbeter
haben aber vor allem in südlicheren Gefilden wie Sizilien und auch Rom in den
Hochsommermonaten Juni bis August wahrlich nichts zu befürchten.

Preis (EURO)(EURO) Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im


Drei-Sterne-Haus 1760 Euro bzw. 3216 Euro im Fünf-Sterne-Haus

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

3. Griechenland

An Griechenland scheiden sich in diesen Zeiten die touristischen Geister. So


sind die Buchungen für die Insel Lesbos, auf der seit Monaten syrische und
afghanische Flüchtlinge stranden, um 90 Prozent eingebrochen. Auch für Chios,
Samos, Kos und Leros werden massive Buchungsrückgänge erwartet.

So extrem wie vor fünf Monaten ist die Situation allerdings längst nicht mehr.
Die Flüchtlingszahlen sind seither zurückgegangen, auch wird man des Zustroms
mittlerweile besser Herr. Das Land, in dem der Tourismus ein Viertel zur
Wirtschaftsleistung beisteuert, verzeichnete Tourismusverbandschef Andreas
Andreadis zufolge insgesamt sogar ein Buchungsplus von zwei bis drei Prozent.

Auch die deutschen Reiseveranstalter sehen Griechenland vor einer starken


Sommersaison. Tui verzeichnet für den deutschen Markt derzeit ein Buchungsplus
von stattlichen zwölf Prozent im Vergleich zum Vorsommer mit besonders hohen
Zuwächsen auf Kreta und Korfu sowie auf dem griechischen Festland. "Was das
Thema Flüchtlingsrouten betrifft, wissen die Urlauber offenbar zwischen den
einzelnen griechischen Zielen zu unterscheiden", hieß es vonseiten des
Unternehmens. Auch Thomas Cook spricht mit Blick auf Griechenland von "guten
Wachstumsraten".

Wettergarantie ***** Gerade im August ist Griechenland heiß und extrem


sonnensicher. Während die Temperatur bis Mai und ab Oktober wesentlich niedriger
liegen, die Regenwahrscheinlichkeit dafür umso höher ist, ist das Wetter in den
Sommermonaten mit 18 bis 29 Grad Celsius Tagestemperatur, fast 90 Prozent
Sonnenstunden und nur 18 Millimeter Niederschlag ein Garant für Badeurlaub.

Preis (EURO)(EURO)(EURO) Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im


Drei-Sterne-Haus 1700 Euro bzw. 4724 Euro im Fünf-Sterne-Haus

Günstigster Buchungszeitpunkt Neun Wochen vor Abflug / Mai, Anfang Juni

4. Bulgarien

Hinsichtlich der Zuwächse gibt es einen eindeutigen Gewinner unter den


Sommerurlaubszielen 2016: Warna, mit 330.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt
des Landes. Gelegen am Schwarzen Meer, verzeichnete sie Trevotrend zufolge mit
67 Prozent europaweit das stärkste Plus gegenüber 2015.

Aber auch insgesamt hat Bulgarien bei den Online-Buchungen zugelegt. Bislang
gebe es ein Plus von fünf Prozent. Im vergangenen Jahr kamen insgesamt 620.000
deutsche Gäste nach Bulgarien - nach Rumänen und Bulgaren die drittgrößte
Besuchergruppe.

Ob die Zurückhaltung von Touristen in der Türkei der Grund für die steigenden
Besucherzahlen aus Deutschland sei, vermochte Tourismusministerin nicht zu
sagen. Was die Kapazitäten anbelangt, sei man für den Ansturm gewappnet: "Unsere
Tourismusindustrie ist bereit, alle Touristen willkommen zu heißen", sagte
Nikolina Angelkova.

Wettergarantie **** Mit 14 bis 25 Grad gibt sich der August zwar etwas kühler,
dürfte damit aber vor allem bei denjenigen Anklang finden, die die allzu
hochsommerliche Hitze meiden und doch nicht auf das Sonnenbaden verzichten
möchten. Denn mit 64 Prozent Sonnenstunden und einer mittleren
Niederschlagsmenge von 53 Millimetern zeigt sich Bulgarien im Schnitt sonst von
einer sommerlich soliden Seite.

Preis (EURO) Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterkunft im Drei-Sterne-Haus


1382 Euro bzw. 1788 Euro im Fünf-Sterne-Haus

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

5. Kroatien

Betrachtet man die Frühbuchersaison 2016, so verzeichnen deutsche


Reiseveranstalter wie Tui und Thomas Cook auch für Kroatien "überproportionale"
Steigerungsraten in puncto Gästezahlen. Immerhin zwei von 100 Deutschen, die die
Stiftung für Zukunftsfragen befragt hatte, gaben an, ihren Haupturlaub 2016 dort
verbringen zu wollen.

Wettergarantie *** Auch wenn die Niederschlagswahrscheinlichkeit mit 109


Millimetern relativ hoch und die Temperaturen im Landesdurchschnitt
verhältnismäßig niedrig sind: Vor allem an der südlichen kroatischen Riviera, an
die es ohnehin die meisten zieht, dürfen Urlauber sich im Juli und August über
relativ beständige Sonnentage mit bis zu 30 Grad Celsius freuen.

Preis (EURO)(EURO) Zwei Personen im DZ mit Flug und Unterbringung im


Drei-Sterne-Haus 1787 Euro bzw. 2830 Euro im Fünf-Sterne-Haus

Günstigster Buchungszeitpunkt Acht Wochen vor Abflug / Anfang, Mitte Juni

UPDATE: 22. März 2016

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Dienstag 22. März 2016 11:36 AM GMT+1

Türkei-Abkommen;
Besuch bei Schwulen statt Erdogan umgarnen

AUTOR: Daniel Friedrich Sturm, Istanbul

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1297 Wörter

HIGHLIGHT: Deutschland hat die Türkei zuletzt umgarnt, um Hilfe bei der
Flüchtlingspolitik zu bekommen. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt,
benennt Defizite bei Menschenrechten und Pressefreiheit.

Eine Botschaft will Michael Roth wenige Tage nach dem "EU-Türkei-Deal" zur
Flüchtlingspolitik unbedingt loswerden. "Es gibt keinen politischen Rabatt" - so
lautet der Satz, den der für Europa zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt
während seines Besuches in der Türkei verwendet. Roth lässt ihn wirken, im
Gespräch mit Vertretern von Menschenrechtsgruppen, mit Journalisten oder während
einer Diskussion mit Studenten. Manchmal fügt er hinzu: "Das ist eine Frage der
Glaubwürdigkeit."

Gemeint sind die Werte der EU, die Kopenhagener Kriterien für einen Beitritt zur
Gemeinschaft der 28 EU-Staaten. Deutschland blicke sehr genau und sehr kritisch
auf die innenpolitischen Veränderungen in der Türkei, sagt Roth. Jawohl, die
Kapitel für die Verhandlungen über einen Beitritt Ankaras zur EU sollen
"möglichst schnell eröffnet werden", sagt Roth, fügt aber sogleich hinzu, die
Werte der Gemeinschaft der 28 würden nicht relativiert. Offen benennt der
SPD-Politiker die demokratiepolitischen Rückschritte der Türkei unter der
Herrschaft Recep Tayyip Erdogans, beispielsweise die Verstöße gegen die Presse-
und Versammlungsfreiheit.

In diesen Wochen, während Berlin und Brüssel der stetig autoritärer agierenden
Türkei entgegenkommen, muss das mal gesagt sein. Die Bundesregierung fährt somit
eine Doppelstrategie: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) thematisierte jüngst -
anders als noch vor zehn Jahren - die Menschenrechtslage kaum mehr, um den
störrischen Partner für Vereinbarungen zur Flüchtlingspolitik zu gewinnen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) käme nie auf die Idee, diese Haltung
zu konterkarieren. Sein Parteifreund Roth aber setzt, mindestens einmal, andere
Akzente.

So ist schon das Besuchsprogramm des Europastaatsministers angelegt: In Istanbul


traf Roth Vertreter von Schwulen- und Lesbenorganisationen, Journalisten, ein
regierungskritisches Think Tank und Vertreter von Hilfsorganisationen, die in
der Flüchtlingspolitik tätig sind. Erst hernach, am Dienstag, flog er nach
Ankara weiter, zu gerade einmal zwei Terminen mit Vertretern der Regierung. Zwei
Nächte am Bosporus, keine Übernachtung in Ankara - selbst die Reiselogistik ist
als politisches Symbol zu verstehen.

Poltern im Reich des Sultans für Selbstverständlichkeiten


Roth konterkariert damit die Neigung der Bundesregierung (und der SPD), alles
auf den intergouvernementalen Austausch zu setzen, und die "Zivilgesellschaft"
wie deren Anliegen allenfalls als schmückendes, meist aber störendes Beiwerk zu
verstehen. Diese klassische Form der Diplomatie des 19. und 20. Jahrhunderts ist
dem Staatsminister - trotz seines gewaltigen Titels - eher fremd.

Von dem (inzwischen zurückgetretenen) Menschenrechtsbeauftragten der


Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), war Ankara noch ein Stück schärfer
kritisiert worden. "In der Türkei werden Andersdenkende bestraft, und es gibt
Attentate gegen Oppositionelle. Solange es so etwas gibt, gehört das Land nicht
in die EU", hatte Strässer gesagt.

Roth poltert im Reich des Sultans Erdogan, auch wenn er Dinge verbalisiert, die
eigentlich selbstverständlich sein sollten in der so viel beschworenen
"Wertgemeinschaft" Europas. Bei Menschen- und Minderheitenrechten, bei
Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit habe die Türkei einen Weg in die falsche
Richtung eingeschlagen, sagt der SPD-Politiker während seines Besuches in
Istanbul. Die Vertreter der LGBTI-Community (Schwule, Lesben, Bisexuelle,
Transgender und Intersexuelle) berichten ihm von Hass und steigender Gewalt.

Wer seine entsprechende sexuelle Identität in einem Krankenhaus erwähne, müsse


mit Problemen rechnen, berichten sie. Ein Termin mit dem Gouverneur von Istanbul
für ein Gespräch über die Pride Parade? Seit vier Monaten verweigert. Fast
beiläufig erwähnen die LGBTI-Lobbyisten ihre vergleichsweise neue Arbeit mit 50
syrischen Flüchtlingen, die meisten von ihnen schwule Männer. Ob nicht ein
kleiner, kleiner Teil der drei Milliarden Euro aus der EU für die Türkei auch in
ein solches Projekt fließen könne?

Vor Studenten redet Roth Klartext

Bei dem Punkt der Milliarden für Ankara betreibt Roth auf fast jedem seiner
Termine, nun ja, politische Bildungsarbeit. Fließt diese opulente Summe direkt
an Präsident Erdogan, wird der deutsche Politiker in Istanbul gefragt. "Nein",
antwortet Roth: "Die drei Milliarden Euro sind kein Geschenk an Herrn Erdogan.
Sie sollen in konkrete Projekte fließen, die das tägliche Leben der Flüchtlinge
verbessern. Maßgeblich für die Verteilung des Geldes sei die EU-Kommission,
nicht die türkische Regierung.

Dieser Hinweis, diese politische Bildungsarbeit, ist nötig in der Türkei.


Hiesige Menschenrechtsgruppen blicken ohnehin kritisch auf das jüngste Abkommen,
das die Staats- und Regierungschefs der EU am Freitag voriger Woche mit dem
türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu vereinbart hatten.

Wie wenig Roth die türkische Regierung schont, offenbart er während eines
Besuches in der Bilgi-Universität in Istanbul. Eben erst hat er zu einer kurzen
Rede in englischer Sprache angesetzt, da wirft er der Regierung vor, sie habe
ihr Land außenpolitisch "isoliert". Das Verhältnis Ankaras zu Moskau sei dahin,
zählt Roth auf, das zu Washington und Jerusalem sei "recht schwierig". So lange
sich die Türkei einer politischen Verhandlungslösung mit den Kurden verweigere,
so kompliziert werde es bleiben, prognostiziert er.

Die jungen Studenten im Publikum hören es gewiss gern, wenn der Gast aus
Deutschland Istanbul als "eine der wichtigsten Städte Europas" nennt. Er hoffe
auf eine enge Bindung der Türkei zu Europa, "aber ohne dass es einen politischen
Rabatt gibt", sagt Roth abermals. Die EU sei in erster Linie eine
Wertegemeinschaft. Das jüngste Abkommen zwischen der EU und der Türkei werde oft
mal missverstanden, sowohl in der Türkei als auch in Europa, in Deutschland. Die
zugesagten sechs Milliarden Euro seien "kein Geschenk für die Türkei", es gehe
vielmehr darum, die fast drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei zu betreuen,
zu beschulen, zu qualifizieren, kurzum: zu integrieren.

Roth stellt der EU eine Bankrotterklärung aus

"Der Deal ist nicht gut, aber er ist besser als der Status quo", bringt Roth
seine zwiespältige Haltung über das Abkommen auf den Punkt. Das Hauptproblem der
EU bestehe in der Dominanz der nationalen Einzelinteressen. Eine Regierung etwa
verkünde, sie wolle keine Muslime aufnehmen, erwähnt Roth, geißelt also Ungarn,
ohne den Namen dieses Landes (oder den seines Ministerpräsidenten Viktor Orbán)
in den Mund zu nehmen. Nein, Ungarn in der Türkei offen zu kritisieren, diesen
Triumph will Roth der Regierung in Budapest ersparen. Indes: "Völlig
inakzeptabel" sei die Position, Muslimen per se die Zuwanderung zu verweigern.

Selbstkritische Worte findet Roth für das Agieren der EU in den vergangenen
Jahren. So habe José Manuel Barroso, von 2004 bis 2014 Präsident der
Europäischen Kommission, gerade einmal die Türkei besucht. Roth stellt Barroso
und seiner Administration eine Bankrotterklärung aus: "Es gab keine Strategie
der EU in Bezug auf die Türkei. Die EU begnügte sich mit einer Mischung aus
Ignoranz und Arroganz." Diese Analyse eines nicht existenten Dialogs fällt umso
krasser ins Auge, betrachtet man die jüngsten vielfältigen Versuche der EU und
Berlins, die Türkei für eine Hilfe in der Flüchtlingspolitik zu gewinnen.

Von den Studenten in Istanbul wird Roth auf rechtsradikale Bewegungen in


Deutschland, konkret Pegida, angesprochen. In der Stadt, in der Pegida agiere -
Roth nennt Dresden nicht namentlich - betrage der Anteil der Migranten weniger
als zwei Prozent, sagt er. Es gebe dort keine Erfahrungen mit Migranten. "In
Frankfurt, wo ich sechs Jahre lang gelebt habe", sagt Roth, "haben 40 Prozent
der Menschen einen Migrationshintergrund." Ein Phänomen wie Pegida sei dort
nicht bekannt.

UPDATE: 22. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Montag 28. März 2016 1:22 PM GMT+1

Missverständnis Koran?;
Das Jesus-Geheimnis im Buch der Muslime

AUTOR: Lucas Wiegelmann

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 2745 Wörter


HIGHLIGHT: Die Terroranschläge in Brüssel verstärken den Eindruck vieler, dass
eine Aussöhnung zwischen Christentum und Islam unmöglich scheint. Doch Forscher
wollen nun das Gegenteil beweisen.

Der Prophet hatte sich kaum in Sicherheit gebracht vor den feindlichen Clans,
die ihn totgeschlagen wollten, da fingen seine unheimlichen Visionen wieder an.
Die letzten Jahre waren für Mohammed die verwirrendste und gefährlichste Zeit
seines Lebens gewesen. Aber Allah, so schien es, war noch immer nicht fertig mit
ihm.

Seine Heimatstadt Mekka hatte Mohammed schon verlassen müssen, aus Angst vor
seinen Verfolgern, denen seine Botschaft ein Dorn im Auge war. Über ein paar
Kontakte hatte er für sich und seine schmale Gefolgschaft eine notdürftige neue
Bleibe in Medina organisiert. Nun verbrachte Mohammed seine Tage damit, das
Gemeindeleben wieder einigermaßen zu ordnen. Dazu gehörte vor allem die Frage,
wie seine Anhänger künftig mit all den Christen umgehen sollten, denen man in
Medina plötzlich an jeder Straßenecke begegnen konnte.

Auch die Christen sprachen von einem einzigen Gott, von der Auferstehung der
Toten und vom Jüngsten Gericht - wie er selbst. Nun wollte seine Gemeinde von
Mohammed wissen, was von ihnen zu halten war. Aber woher sollte er das wissen?
Seitdem er Gottes Stimme das erste Mal gehört hatte, war sein ganzes Leben
durcheinandergewirbelt worden. Er hatte andere Sorgen gehabt, als über Christen
nachzudenken.

So oder ähnlich, glauben moderne Interpreten, könnte die Situation gewesen sein,
als Mohammed zur dritten Sure des Koran inspiriert wurde.

Wie Jesus im Koran auftritt

"Gott: Kein Gott ist außer ihm, dem Lebendigen, Beständigen", heißt es dort, und
dann lässt der Koran Jesus persönlich auftreten, den Begründer des Christentums,
das die Gemeinde Mohammeds so umtrieb. "Ich werde Blinde heilen und Aussätzige
und werde Tote lebendig machen, mit Erlaubnis Gottes", spricht Jesus in der
dritten Sure des Koran. "So fürchtet Gott, und leistet mir Gehorsam!"

Falls diese Verse wirklich, wie Muslime glauben, direkt von Allah stammen,
scheint der zumindest Anfang des 7. Jahrhunderts in Medina keinen gesteigerten
Wert gelegt zu haben auf einen Kampf der Kulturen. Von Attentaten ganz zu
schweigen.

Islamforschung im katholischen Paderborn

Derart sind die Textexegesen, die Professor Klaus von Stosch betreibt. Die
Universität Paderborn, im März. Klaus von Stosch stapft die Treppe zu seinem
Institut im dritten Stock hinauf. Es gibt hier auch einen Fahrstuhl, aber als
Geisteswissenschaftler verbringt er seine Tage im Wesentlichen mit sitzen und
lesen, da ist er für jede Bewegung dankbar. Er fährt auch immer mit dem Fahrrad
zur Arbeit.

Stosch, 44, könnte man für einen Doktoranden halten, so jugendlich wirkt er mit
seinen braunen Sneakern zum sportlichen Jackett, dabei ist er schon seit fast
acht Jahren katholischer Theologieprofessor. Typ Überflieger, Habilitation mit
33. Stosch läuft den grauen Flur seines Instituts entlang, dem man seine
Errichtung in den betonverliebten Siebzigerjahren ansieht, und schließt am Ende
des Gangs sein Büro auf.

Rechts neben der Tür fällt der Blick seiner Besucher auf einen Jesus von
Rembrandt. Links hängt ein drei Mal so großes Poster von der Kaaba in Mekka. Der
Konferenztisch davor ist lang genug, dass an ihm bis zu zehn Forscher die Köpfe
zusammenstecken können. Es ist ein Ort, der eher nach Fußnoten riecht als nach
Revolution. Und doch könnte das, was Stosch und seine Kollegen hier
zusammentragen, irgendwann eines der schwierigsten Probleme zu lösen helfen, die
es derzeit gibt: das immer schlechter werdende Verhältnis von Christen und
Muslimen.

"Als wir angefangen haben", sagt Stosch, "hätte ich nicht geglaubt, dass es so
gut laufen würde."

Dabei sind die Umstände denkbar schwierig. Das Image des Islam dürfte noch nie
so belastet gewesen sein wie heute, auch in Deutschland. Zuletzt waren es die
Mordexzesse des IS, die jeden zu bestätigen schienen, der den Islam für eine
Religion des Hasses und der Gewalt hält. Salafistische Extremisten, die einen
totalitären Gottesstaat anstreben, gewinnen weltweit an Zulauf. Gleichzeitig
nimmt bei vielen Menschen die Sorge zu, selbst ein moderater Islam sei letztlich
unvereinbar mit der westlichen Demokratie.

Laut Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung halten 57 Prozent der Deutschen


den Islam für "bedrohlich". Die Flüchtlingskrise verstärkt Überfremdungsängste.
Und jetzt, am Dienstag, auch noch der Anschlag von Brüssel. Allen Bekenntnissen
zur Toleranz zum Trotz: Mit jeder Bombe, die ein muslimischer Extremist irgendwo
auf der Welt zündet, wächst die Zahl derer, die die Möglichkeit eines
friedlichen Miteinanders von Islam und Christentum für ein Märchen aus 1001er
Nacht halten.

Doch genau diese Möglichkeit versucht ein Team hochkarätiger deutscher


Wissenschaftler gerade zu beweisen. Der Paderborner Theologe Stosch und der
Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide von der Universität Münster haben sich
in einem neuen Forschungsprojekt eines der heikelsten Themen vorgenommen, die
der interreligiöse Dialog zu bieten hat: die Art, wie der Koran mit Jesus von
Nazareth umgeht.

Forschung für den interreligiösen Dialog

Gemeinsam mit katholischen, syrisch-orthodoxen, sunnitischen und schiitischen


Spezialisten und auf der Basis neuer philologischer Methoden wollen sie zum
ersten Mal historisch-kritisch untersuchen, was das heilige Buch des Islam
wirklich über den Messias des Christentums sagt. Die Antwort, so glauben sie,
könnte in Deutschland die Zukunft des gesellschaftlichen Friedens beeinflussen.

Stosch und seine Kollegen wollen nicht nur belegen, dass der Koran keine
Anleitung zum Christenhassen ist. Sie wollen sogar belegen, dass der Koran
Christen etwas über Jesus beibringen kann, was sie noch nicht wussten.
"Koranische Zugänge zu Jesus Christus", so der Titel, ist ein Vorzeigeprojekt.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die wichtigste Fördereinrichtung für
Spitzenforschung, unterstützt es bis 2018. Zwischenergebnisse sollen im
kommenden Juni präsentiert werden.

108 Stellen im Koran betreffen Jesus

Dass Islam und Christentum eng miteinander verwandt sind, ist schon im
Mittelalter aufgefallen. Alle möglichen Figuren aus der christlichen
Überlieferung, aber auch aus der hebräischen Bibel des Judentums tauchen im
Koran auf, Jesus allein in 108 Versen, aber auch Maria, Johannes der Täufer,
Mose, Noah oder Abraham. Viele Stellen wie etwa die zitierte dritte Sure zielen
auf ein entspanntes Verhältnis.

Die katholische Kirche lehrt sogar offiziell, Allah und Gott seien ein- und
dieselbe Figur: Der Katechismus würdigt unter den nicht christlichen Religionen
neben dem Judentum "besonders die Muslime, die sich zum Festhalten am Glauben
Abrahams bekennen und mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der
die Menschen am Jüngsten Tag richten wird." Doch was beide Seiten trennt, ist
die Figur Jesu. Während die Christen ihn als Erlöser verehren, verdammt der
Koran diese Vorstellung als Vielgötterei. So jedenfalls war bisher der Stand.

Klaus von Stosch hat den Koran zum ersten Mal als Student gelesen, auf Deutsch.
Er kam bis Sure 2 von 114. Der Text war schwer verständlich, und spirituell
schien er für ihn, den Katholiken, ohnehin uninteressant zu sein. "Ich hatte
gelernt, dass der Koran die Kreuzigung Jesu leugnet", sagt Stosch, "und damit
dachte ich, ok, dann bin ich eh raus aus der Nummer." Die Kreuzigung ist nicht
nur das Fundament des christlichen Glaubens, sie ist eine historische Tatsache.
"Wenn der Koran das leugnet, kann der Koran ja vieles sein. Aber sicher nicht
Gottes Wort."

Stoschs Spezialgebiet heißt Fundamentaltheologie. Eher eine Disziplin für die


Strengen, die Kompromisslosen. Der bekannteste deutsche Fundamentaltheologe
heißt Benedikt XVI. Stosch ist kein Multikulti-Blumenkind. Er will nicht, dass
sich einfach alle lieb haben. Er arbeitet wie eine Art Gutachter. Stosch
überprüft alle Koranstellen, von denen die Gelehrten jahrhundertelang der
Meinung waren, dass sie gegen Jesus von Nazareth gerichtet sind oder gar zum
Kampf gegen dessen Anhänger aufrufen.

Davon gibt es eine ganze Menge. Wenn dabei am Ende Koranverse übrig bleiben, die
das Christentum eindeutig ausschließen, kann der Koran aus katholischer Sicht
nicht göttlichen Ursprungs sein, Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum
hin oder her. Gott kann sich ja nicht selbst widersprechen. Dogmatiker-Logik.
Die Sache ist nur: Je länger Stosch forscht, desto mehr Widersprüche scheinen
sich in Luft aufzulösen.

Was genau sagt der Koran zur Kreuzigung?

Eine der Stellen, die das christlich-muslimische Verhältnis bisher am meisten


belasten, steht in Sure 4. Über Jesus wird dort gesagt: "Aber sie haben ihn
nicht getötet und haben ihn auch nicht gekreuzigt. Sondern es kam ihnen nur so
vor. ... Sie haben ihn nicht getötet, mit Gewissheit nicht, vielmehr hat Gott
ihn hin zu sich erhoben" (Q 4:157 f.). Üblicherweise wird das so interpretiert,
dass der Koran den Kreuzestod Jesu in Abrede stelle.

Stosch argumentiert dagegen, die Stelle sei wahrscheinlich nur ein Nebenaspekt
in einer längeren Passage, die sich gar nicht mit den Christen auseinandersetze.
An ihr spiegelten sich viel mehr Diskussionen der historischen Mohammed-Gemeinde
des 7. Jahrhunderts mit den damals ebenfalls in Medina lebenden Juden.
Vielleicht, so Stosch, soll hier ausgesagt werden, dass es nicht die Juden
waren, die Jesus ans Kreuz gebracht haben, sondern die Römer oder auch Gott
selbst, als Herr der Geschichte.

Keine Leugnung von Jesu Tod

In dem Forschungsbericht, den er im Juni veröffentlichen will, schreibt Stosch:


"Ich kann an dieser Stelle keine Polemik sehen, sondern meine sogar im Gegenteil
eher eine Bestätigung des christlichen Auferstehungszeugnisses sehen zu dürfen.
... Der Koran leugnet hier ganz offensichtlich nicht den Tod (Jesu), den er ja
auch an anderen Stellen ganz selbstverständlich voraussetzt, sondern
unterstreicht einfach nur, dass er dem Hass seiner Gegner nicht definitiv
unterlegen ist."

Die islamische Tradition lehrt, Mohammed habe zwischen 615 und 632, seinem
Todesjahr, Offenbarungen empfangen, eine Entstehungszeit, die auch moderne
Philologen für realistisch halten. Mohammeds Lehre wurde mündlich weitergegeben,
vielleicht machten sich manche Anhänger auch schon Notizen. Irgendwann nach dem
Tod des Propheten muss die Bewegung die Notwendigkeit erkannt haben, alles, was
mündlich oder schriftlich an Mohammed-Sprüchen kursierte, sammeln zu lassen, um
es dauerhaft zu sichern. Das war die Geburtsstunde des Koran. Der Überlieferung
zufolge fiel sie in die Regierungszeit des Kalifen Uthman (644-656).

Neue Interpretationen

Ähnlich wie die biblischen Bücher, ist auch der Koran damit kein einheitlicher
Text, den ein Autor in einem Zug, vom ersten bis zum letzten Satz
niedergeschrieben und dann einem Kopisten zur Vervielfältigung in die Hand
gedrückt hätte. Unter seiner Oberfläche verbergen sich zahllose Textschichten,
die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Situationen entstanden
sind, unabhängig von der Reihenfolge, in der die Suren in einer normalen
Koran-Ausgabe gedruckt sind.

Seit jüngster Zeit versuchen moderne Forscher, diese Situationen genauer zu


rekonstruieren - und kommen so zu völlig neuen Interpretationen des Textes.
Glaubt man den Experten der Paderborner Forschergruppe, gilt das besonders für
das Bild, das der Koran von Jesus zeichnet.

Töne gegen das Christentum?

In Sure 4 etwa, die wohl nach Mohammeds Flucht 622 von Mekka nach Medina
entstand, heißt es: "Denn siehe: Gott ist ein Gott; fern sei es, dass er einen
Sohn habe." Die noch spätere Sure 5 hält fest: "Ungläubig sind, die sagen:
,Siehe, Gott ist Christus, Marias Sohn.'" Es sind Aussagen, die die christliche
Vorstellung von Jesus als Sohn Gottes auszuschließen scheinen.

Stosch vermutet nun, solche Töne richteten sich nicht gegen das Christentum
insgesamt, sondern nur gegen manche christliche Sekten, mit denen die
Mohammed-Bewegung damals immer stärker in Kontakt kam. Viele Christen wussten
damals selber nicht so genau, was sie eigentlich glauben sollten. Vor allem die
komplizierte Frage, in welchem Verhältnis Jesus und Gottvater wirklich
zueinander stehen, war über Jahrhunderte ein Lieblingsstreitthema der großen
Konzile gewesen und führte immer wieder zu Auseinandersetzungen und
Abspaltungen.

Manche stellten sich Jesus damals als biologischen Sohn vor, den Gott mit einer
Frau gezeugt habe, wie man es von heidnischen Kulten auch kannte. Bezieht sich
Sure 4 ("fern sei es, dass er einen Sohn habe") vielleicht nur auf diese
pseudochristliche Irrlehre?

Eine andere Häresie der damaligen Zeit ging davon aus, Jesus sei der Gott
schlechthin, der nur gewissermaßen zum Schein menschliches Aussehen angenommen
habe; Jesus habe entsprechend gar keinen menschlichen Willen gehabt - eine
These, der damals sogar Papst Honorius in Rom nahestand, die allerdings nach
Honorius' Tod von der Kirche abgelehnt wurde. "Ungläubig sind, die sagen:
,Siehe, Gott ist Christus'" - war das nur als Absage an eine einseitige
Vergöttlichung Jesu gedacht? War der Koran an dieser Stelle päpstlicher als der
Papst?

"Jesus darf nicht direkt mit Gott identifiziert werden, sondern er ist zunächst
einmal ein Mensch: Das ist die große Jesus-Aussage des Koran", sagt Stosch. "Die
könnten wir Christen uns heute ruhig wieder ins Stammbuch schreiben lassen." Er
hat auch all die anderen Stellen kommentiert, an denen Jesus vorkommt; einige
sind so freundlich, dass er es selbst kaum glauben konnte. Stosch erkennt im
Koran die "Vision einer Einheit", sogar den "Wunsch nach Ausbildung eines
monotheistischen Common Sense, der die Hingabe an den einen Gott in den
Mittelpunkt stellt, dabei aber unterschiedliche Wege zu ihm erlaubt".

Jesus wird im Koran nicht nur als Prophet bezeichnet, sondern mit Ehrentiteln
geradezu überschüttet, und zwar mit solchen, die keiner anderen Figur des Koran
zugebilligt werden, nicht einmal Mohammed selbst.

Jede Menge Ehrentitel für Jesus

In Sure 19 nennt Jesus sich selbst "Gottesknecht", eine Formel, die die ältesten
Christen oft als Glaubensbekenntnis verwendeten. Sure 2 berichtet, Gott habe
Jesus "mit dem Heiligen Geist gestärkt" (Q 2:253), was der Koran sonst von
keinem anderen Propheten behauptet. Später erscheint Jesus gar als "Wort Gottes"
und "Geist Gottes". Elf Mal schließlich wird er als "Christus" bezeichnet, also
mit dem Messias-Titel angeredet.

Der Islam sei zwar eigenständig und grenze sich deutlich ab vom Christentum, so
Stosch. "Aber es ist eben auch nicht so, dass der Koran behauptet: Wir Christen
glauben etwas Unwahres."

Zishan Ghaffar arbeitet von Kiel aus an Stoschs Projekt mit. Der sunnitische
Theologe sammelt apokryphe christliche Schriften und vergleicht sie mit den
Koran-Passagen über Jesus. Er sagt: "Für mich als Muslim berühren koranische
Fragen immer auch meinen persönlichen Glauben. Ich gehe mit einer anderen
Sensibilität an den Text als jemand von außen." Natürlich sei Jesus bei aller
Wertschätzung für die Muslime nicht der Erlöser.

"Aber Mohammed war es wichtig zu zeigen, dass seine Bewegung zur orthodoxen,
anerkannten Heilsgeschichte gehört, wie sie in der Bibel beschrieben wird", sagt
Ghaffar. "Das ist bei uns Muslimen später in Vergessenheit geraten. So wie die
Christen jahrhundertelang vergessen hatten, wie eng ihr Verhältnis zum Judentum
eigentlich ist."

Der Vorwurf der Appeasement-Politik

Wenn Stosch, Ghaffar und seine Kollegen ihre Thesen bald vorstellen, dürften sie
bei moderaten Kräften gut ankommen, sowohl im Christentum als auch im Islam.
Aber es wird auch Ärger geben. Manche Christen könnten sich fragen, warum ein
katholischer Theologieprofessor nichts Besseres zu tun hat, als einen
Unterschied zum Islam nach dem anderen wegzuforschen.

Manchmal bekommt Klaus von Stosch Protestpost. Ein besorgter Bürger schrieb,
Stosch betreibe Appeasement-Politik gegenüber dem Islam. Ein anderer nannte ihn
Klaus von Stuss. Umgekehrt halten manche Muslime das Ansinnen, den Koran
historisch-kritisch zu untersuchen, für Blasphemie. Stoschs Kollege, Mouhanad
Khorchide, bekommt für seine Arbeit immer wieder Morddrohungen von Salafisten.
Öffentliche Auftritte absolviert er unter Polizeischutz.

Doch wenn man Forscher Zishan Ghaffar fragt, was ein Philologie-Projekt schon
ausrichten kann gegen den Hass von Fanatikern, antwortet er: "Wir sind es doch,
die die muslimischen Lehrer und Sozialarbeiter von morgen ausbilden, und die
bilden die Jugend von morgen aus. Jetzt, so kurz nach Brüssel, mag man uns
belächeln. Aber auf lange Sicht werden solche Forschungsarbeiten die
Gesellschaft stabiler machen."
Oder wie Allah es in der Sure 3 ausgedrückt hat, die er Mohammed damals in
Medina hinabsandte: "Gott liebt die Geduldigen."

UPDATE: 28. März 2016

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Die Welt

Mittwoch 6. Januar 2016

Respekt für alle;


Beim traditionellen Empfang der Sternsinger warnt die Bundeskanzlerin vor
Vorurteilen gegenüber Fremden

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 4

LÄNGE: 602 Wörter

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise
Respekt und Offenheit auch allen Fremden gegenüber verlangt. Im Grundgesetz
stehe, die Würde des Menschen sei unantastbar, sagte Merkel beim Empfang von gut
100 Sternsingern aus allen 27 deutschen Diözesen in Berlin. Das Leitwort der
Sternsingeraktion heißt in diesem Jahr "Respekt für dich, für mich, für andere -
in Bolivien und weltweit!".

Ihre Ermunterung zu mehr Respekt gelte aber nicht nur für die Deutschen oder
jene, die in Deutschland lebten, sagte Merkel weiter. "Sondern es gilt auch für
die Menschen, die in Europa leben. Aber auch da endet es nicht. Sondern es gilt
für alle Menschen."

Ohne die Debatte über die Flüchtlingskrise direkt anzusprechen, warnte Merkel
vor Vorurteilen. Das Wort "Respekt" stamme aus dem Lateinischen und bedeute
hinsehen und sich etwas anschauen. "Das heißt, ich muss erst einmal offen sein,
mir etwas Neues anzuschauen, einen Menschen, einen Gegenstand. Und wenn ich
einen Menschen anschaue, dann muss ich bereit sein, dass ich mich überraschen
lasse. Dass ich etwas entdecke, was ich bisher noch nicht gekannt habe."

Wie sehr ihre Mahnung auch für das Verhältnis der Flüchtlinge untereinander
gilt, zeigen die nicht enden wollenden Gewaltübergriffe in deutschen
Flüchtlingsheimen. Zum Beispiel in Baden-Württemberg. Nach Massenschlägereien in
der Landeserstaufnahmestelle (Lea) für Flüchtlinge in Ellwangen (Ostalbkreis)
soll das Sicherheitskonzept der Unterkunft angepasst werden. "Was wir
konsequenter machen wollen, ist Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern noch
besser getrennt unterzubringen", sagte Lea-Leiter Berthold Weiß. "Wir wollen
eine klare Trennung und kein explosives Gemisch."

Die Gewalt entzünde sich zwar meist aufgrund von Lappalien, aber dann gingen
immer wieder Gruppen unterschiedlicher Herkunftsländer aufeinander los. Die
Polizeigewerkschaft warnt vor zunehmender Gewalt.

Am Sonntagmorgen hatten sich in der Lea rund 50 hauptsächlich algerische und


pakistanische Flüchtlinge teils mit Feuerlöschern und Eisenstangen geprügelt und
mit Steinen beworfen. Am Abend flammte die Gewalt erneut auf. Schlägereien mit
Eisenstangen gab es auch in einer Unterkunft im Kreis Esslingen, in einer
Heilbronner Asylbewerberunterkunft wurde ein 26-Jähriger mit dem Messer
angegriffen. In einer Unterkunft in Bühl im Kreis Rastatt gingen mehrere
Bewohner unterschiedlicher Glaubensrichtungen mit Messern und Gabeln aufeinander
los. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, um die Kontrahenten zu trennen.

Die Flüchtlinge würden Konflikte aus ihren Heimatländern zwar nicht mit in die
Unterkünfte bringen, sagte Lea-Chef Weiß. "Das sind keine Nationenkonflikte,
sondern ganz normale menschliche Geschichten, manchmal einfach Lappalien - wer
lädt zuerst sein Handy auf, weil es nicht so viele Steckdosen gibt", sagte er.
Aber dann sammelten sich Flüchtlinge bei Schlägereien hinter ihren Landsleuten.
"Es ist nicht so, dass eine Gruppe Syrer auf eine Gruppe Syrer losgegangen ist."

"Das Problem liegt darin, dass in den Flüchtlingsunterkünften unheimlich viele


Menschen eingepfercht sind und es dann manchmal wegen Nichtigkeiten zu
Streitigkeiten kommt", sagte auch Rüdiger Seidenspinner, Chef der Gewerkschaft
der Polizei in Baden-Württemberg. "Es gibt halt leider Gottes auch unter den
Flüchtlingen manche, die sich nicht an unsere Spielregeln halten." In letzter
Zeit richte sich die Gewalt aber immer wieder gegen Beamte. Seidenspinner: "Das
Phänomen haben wir auch im täglichen Leben - die Polizei wird als Ventil
genutzt, um sein persönliches Hühnchen zu rupfen."

UPDATE: 6. Januar 2016

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Die Welt

Dienstag 12. Januar 2016

Angriffe auf Ausländer in der Kölner Innenstadt;


Hooligans und Türsteher verabredeten sich auf Facebook. Bundesregierung reagiert
empört

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 9


LÄNGE: 522 Wörter

Gruppen von gewalttätigen Angreifern haben am Sonntag in Köln Ausländer


attackiert und teils verletzt. Nach Angaben der Polizei vom Montag gab es vier
Vorfälle mit elf Opfern. Die Taten gingen demnach wohl auf das Konto von
Angehörigen der Hooliganszene, die sich über soziale Medien verabredet hatten.
Die Bundesregierung reagierte empört und warnte vor ausländerfeindlicher Hetze.
"Nichts entschuldigt solche Taten", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am
Montag in Berlin.

Die Attacken ereigneten sich demnach am frühen Abend innerhalb von etwa 45
Minuten im Innenstadtbereich und im Hauptbahnhof von Köln. Davon betroffen waren
sechs Pakistaner, zwei Syrer, drei Menschen aus Guinea und ein weiterer
Afrikaner nicht genau bekannter Herkunft. Wie die Beamten mitteilten, wurden die
Opfer von den Angreifern teils verfolgt, geschlagen und getreten. Zwei Männer
kamen zur ambulanten Behandlung in eine Klinik. Für die Überfälle auf die
Pakistaner sowie den Afrikaner waren 25 Personen verantwortlich gewesen. Ein
Syrer wurde demnach von acht Tätern attackiert. Es sei davon auszugehen, dass
diese Taten mit den für den Sonntag angekündigten sogenannten Spaziergängen
zusammenhingen, zu denen sich Angehörige der Kölner Hooliganszene in den Tagen
zuvor über das Internet und soziale Netzwerke verabredet hätten, sagte Norbert
Wagner, Leiter der Direktion Kriminalität der Kölner Polizei am Montag. Die
Polizei hatte Hinweise auf die Absprachen bekommen. Die Polizei war nach eigenen
Angaben mit zahlreichen Beamten in der Kölner Innenstadt im Einsatz, um die
Sicherheit auf den Straßen zu gewährleisten. Im Zuge ihres Einsatzes überprüfte
sie 153 Menschen und nahm vier in Gewahrsam. Darunter befanden sich Wagner
zufolge 13, über die polizeiliche Erkenntnisse vorliegen, die sie mit
rechtsextremen Straftaten in Verbindung bringen. 18 Menschen gehören demnach dem
Rockermilieu oder der Türsteherszene an.

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärte, es gebe "keine Rechtfertigung"


für derartige Übergriffe. Wer jetzt "Hetzjagden gegen Flüchtlinge" veranstalte,
scheine auf die Taten von Köln nur gewartet zu haben, sagte er mit Blick auf die
Silvester-Vorfälle.

Migrantenorganisationen und muslimische Verbände beklagen nach den Übergriffen


vom Silvesterabend eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber Muslimen. Der
Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, sagte dem "Kölner
Stadt-Anzeiger": "Wir erleben eine neue Dimension des Hasses." Seit Jahresbeginn
habe die Zahl der Anfeindungen und Drohungen gegen seinen Verband zugenommen.
Allein am vergangenen Donnerstag, als bekannt geworden war, dass unter den
mutmaßlichen Tätern auch Asylbewerber aus muslimischen Ländern waren, seien in
der Geschäftsstelle des Islamverbands 50 Drohanrufe sowie Hunderte Hassmails und
-briefe eingegangen - so viele wie sonst in zwei Wochen. Inzwischen habe man die
Telefonanlage abstellen müssen. "Der braune Mob tobt in den sozialen Medien,
sieht seine Vorurteile bestätigt und endlich die Chance, seinen Hass auf
Muslime, Ausländer, Andersaussehende und Andersdenkende freien Lauf zu lassen",
sagte Mazyek.

UPDATE: 12. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/
Die Polizei zeigte am Sonntagabend erhöhte Präsenz am Kölner Hauptbahnhof und
Dom. Mehrere Ausländer wurden von Gruppen angegriffen und verletzt
Maja Hitij

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Die Welt

Samstag 30. Januar 2016

Korrekt schunkeln

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: FORUM; Fuhrs Woche; S. 3 Ausg. 25

LÄNGE: 407 Wörter

Diese Woche haben die Narren das Regiment übernommen. Die Politik ist im
Karnevalsmodus. Mummenschanz und verschärfter Humor überall. Ein Frohsinnsruck
geht durch die Gesellschaft. Sogar der russische Außenminister setzt sich eine
Pappnase auf und fragt scheinheilig, ob Deutschland noch auf dem Boden der
abendländischen Zivilisation stehe, weil die deutschen Ermittlungsbehörden im
Fall der angeblichen Vergewaltigung eines deutschrussischen Mädchens durch
"Asylanten" nicht zu dem Ergebnis kommen, das für russische Medien schon
feststeht. Tärä! In die Bütt steigen daraufhin Russlandexperten und reimen
irgendwas auf KaGeBe. Tärä! Woraufhin ein deutscher Humorfanatiker einen toten
Syrer erfindet, der die menschenfeindliche Behandlung von Flüchtlingen durch das
Berliner Lageso - Landesamt für Gesundheit und Soziales, eine offenbar selbst
stark therapiebedürftige Monsterbehörde - mit dem Leben bezahlt habe. So wie es
aussieht, gibt es weder einen toten Syrer noch ein von Asylanten vergewaltigtes
Mädchen. Doch wenn man in dem Geschunkel erst einmal drin ist, helfen
schüchterne Hinweise auf die Tatsachen wenig.

Apropos Schüchternheit. Seit Jahrhunderten gewähren Karneval oder Fastnacht in


der europäischen Kultur die Möglichkeit, gewisse innere und äußere Grenzen
zwischenmenschlicher Kontaktaufnahme zu durchbrechen. Ich erinnere mich gut an
die Zeiten vor dreißig, vierzig Jahren, als wir glaubten, dass wir auch zwischen
Aschermittwoch und Rosenmontag diese Grenzen niedergerissen hätten und zu jeder
Zeit und an jedem Ort weit über das Schunkeln hinausgehende zwischenmenschliche
Interaktion möglich sein müsse. Den Karneval empfanden wir damals als eine
verstaubte, verschwitzte, verklemmte und substanziell unerhebliche
Triebstauabfuhrveranstaltung. Was sich die Spießer an Fastnacht erlaubten,
machten wir jeden Tag nach dem Frühstück. Nichts fanden wir lächerlicher als die
offizielle Libertinage in den närrischen Tagen.

Und nun? Wegen der Flüchtlinge, von denen sich viele nicht zu benehmen wissen,
was die Geschlechterregeln angeht, wird der rheinische Narrenfilz zum
Gender-Mainstreaming-Gewebe. Leitfäden über den politisch korrekten Umgang mit
Funkenmariechen werden verfasst und darüber, dass im Karneval nichts sei, wie es
scheine, ein Nein aber immer ein Nein bleibe. Hände an die Hosennaht, und zwar
an die eigene, heißt es dann auch unter der Narrenkappe! Das sollte schon immer
gegolten haben.

UPDATE: 30. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: M. Lengemann

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Die Welt

Samstag 6. Februar 2016

Handwerk macht Flüchtlinge fit;


Für ein zweijähriges Projekt zahlt der Bund, damit 10.000 Asylbewerber
"ausbildungsfähig" werden

AUTOR: Thomas Sebastian Vitzthum

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 9 Ausg. 31

LÄNGE: 975 Wörter

Ob die Flüchtlinge ein Segen oder eine Belastung für den Arbeitsmarkt sind,
daran scheiden sich die Geister. Als die Zahlen im vergangenen Sommer sprunghaft
stiegen, jubelte die Wirtschaft über die "neuen Fachkräfte". Die Politik nickte
zufrieden. Im Laufe der Monate stellte sich dann Ernüchterung ein. Mittlerweile
könnte man den Eindruck gewinnen, mit den Neuankömmlingen sei überhaupt nichts
anzufangen.

Das ist sicher ebenso falsch wie die anfängliche Euphorie. Ein klares Bild, was
die Flüchtlinge können, gibt es noch immer nicht. Sicher ist, dass unter Syrern,
Irakern und Iranern mehr Menschen mit Schul- und Ausbildung zu finden sind als
unter Afghanen und Pakistanern. Unter den Syrern zwischen 14 und 24 Jahren sind
laut Weltbank rund vier Prozent Analphabeten, bei den Irakern sind es schon 18
Prozent, bei den Afghanen 53 Prozent. Ein großer Teil kommt nach Jahren auf der
Flucht, in denen er nicht arbeiten konnte.

An diese Gruppe, die nicht erst alphabetisiert werden muss und über nachprüfbare
Kenntnisse verfügt, richtet sich ein neues Programm, das
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), der Chef des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge sowie der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen
Weise, und Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer jetzt vorgestellt haben.
Damit sollen 10.000 Flüchtlinge in den kommenden beiden Jahren zu Auszubildenden
in Handwerksberufen werden. Mithilfe des Bundes sollen sie ausbildungsfähig
gemacht werden. Dafür liegen 20 Millionen Euro bereit.

Sind 10.000 viel oder wenig? In Anbetracht von Hunderttausenden Asylbewerbern


ist diese Zahl nicht hoch. Doch allzu ambitionierte Ziele wollen sich die
Beteiligten wohl gar nicht setzen. Aus praktischen und politischen Gründen.
Erstens hat das Handwerk schon die Erfahrung gemacht, dass es schwierig ist,
Flüchtlinge für eine Ausbildung zu begeistern. Viele Asylbewerber kommen mit der
irrigen oder von ihren Verwandten in der Heimat eingeredeten Vorstellung nach
Deutschland, hier schnell Geld verdienen zu müssen. Viele wollen einen Teil des
Geldes nach Hause schicken. Der Mindestlohn macht eine Anstellung in einer
Aushilfstätigkeit da gegenüber einer Ausbildung attraktiver.

Deshalb brechen zweitens viele ihre Ausbildung schon nach kurzer Zeit wieder ab.
Ein anderer Grund dafür ist das fehlende soziale Netz. "Wer nicht auch im Alltag
Aufnahme findet und integriert wird, vereinsamt schnell und verliert dann auch
in der Ausbildung den Mut", sagt Wollseifer. Drittens geht es auch darum, keinen
Konkurrenzdruck auf die einheimischen potenziellen Azubis zu erzeugen. Im
letzten Jahr fehlten dem Handwerk 17.000 Lehrlinge. In den Jahren davor waren es
jeweils 20.000. Würde man planen, alle mit Flüchtlingen zu besetzen, käme es
zwangsläufig zu Konkurrenz- und Verteilungskonflikten mit der übrigen
Bevölkerung. Die große Koalition will unbedingt den Eindruck vermeiden, die
Ausländer zu bevorteilen. Zumal ja in den nächsten Jahren auch jene Flüchtlinge
als Bewerber hinzukommen werden, die derzeit noch zur Schule gehen. Die neue
Initiative richtet sich dagegen explizit an anerkannte Flüchtlinge und
Asylberechtigte sowie Asylbewerber oder Geduldete mit Arbeitsmarktzugang, die
nicht mehr schulpflichtig, aber unter 25 Jahre alt sind. Rund die Hälfte der
Flüchtlinge in Deutschland ist unter 25.

Verteilungskonflikte sollen auch dadurch vermieden werden, dass ein Augenmerk


auf freien Plätzen in Gegenden liegen soll, in denen erheblicher Mangel
herrscht. Wanka drückte dies so aus: "Wir machen flächendeckend Angebote.
Flüchtlinge sollen in Regionen gehen, in denen sie nicht sind und wo sie
vielleicht nicht hinwollten."

Die Grünen weisen gleichwohl auf die große Lücke zwischen Angebot und Nachfrage
und die drohende Konkurrenzsituation hin. "Es ist die Aufgabe einer
Bildungsministerin, gemeinsam mit ihren Länderkollegen breite
Qualifizierungsangebote für alle Geflüchteten zur Verfügung zu stellen", sagte
die jugend- und ausbildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Beate
Walter-Rosenheimer, der "Welt". Der angekündigte Ausbau von Sprachförderung,
Berufsorientierung und berufsvorbereitenden Kursen in überbetrieblichen
Ausbildungsstätten weise in die richtige Richtung. "Wenn der Bund dafür aber nur
20 Millionen Euro in die Hand nehmen will, profitieren von diesem Ansatz viel zu
wenige." Nach Berechnungen der Grünen werden bis zum Jahr 2017 bis zu 70.000
Flüchtlinge auf Ausbildungssuche gehen.

Die Vorbereitung der Flüchtlinge solle "ganz praktisch und im direkten Kontakt
mit Betrieben" geschehen, sagte Wanka. "Sie sollen ihre Neigungen und Stärken
kennenlernen, indem sie praktische Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern
sammeln." Dabei würden sie kontinuierlich und "sehr individuell" betreut.
Während des von April 2016 bis April 2018 laufenden Projekts sollen die jungen
Flüchtlinge von den Berufsberatern der Arbeitsagenturen und Jobcenter in die
jeweils passenden Maßnahmen vermittelt werden.

So sollten Teilnehmer zunächst einen Integrationskurs sowie ein Programm der


Bundesagentur durchlaufen haben, bei dem ihre Kompetenzen festgestellt werden
und eine erste allgemeine Berufsorientierung erfolgt. Danach treten die
Bildungszentren des Handwerks auf den Plan. Hier soll die Berufsorientierung
vertieft werden. Auf dem Programm stehen Betriebsbesichtigungen und Praktika,
bei denen Kontakte für eine Ausbildung geknüpft werden können, wie Wollseifer
sagte. Zentrales Bindeglied zwischen ausbildungsinteressierten Flüchtlingen und
Betrieben sollen die Bildungszentren der Handwerksorganisationen sein.

Die Bereitschaft gerade von kleinen und mittleren Familienunternehmen,


Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive auszubilden und zu beschäftigen, sei
hoch, erklärte Wollseifer. Das Handwerk stellt die Ausbildungsplätze zur
Verfügung und wolle die Flüchtlinge "an die Hand nehmen".

UPDATE: 6. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Wolfgang Kumm


Sie haben sich den Plan ausgedacht: Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer
(l.), Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und Frank-Jürgen Weise von der BA
Wolfgang Kumm

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WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 7. Januar 2016 12:05 PM GMT+1

Flüchtlingsheime;
"Das kriegst du mit Security nie in Griff"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 696 Wörter

HIGHLIGHT: "Die Tendenz lässt nichts Gutes hoffen": Oft sind es Nichtigkeiten,
die zu Schlägereien mit Eisenstangen und Messern in Flüchtlingsheimen führen. In
Baden-Württemberg ist ein neues Konzept angedacht.

Nach Massenschlägereien in der Landeserstaufnahmestelle (LEA) für Flüchtlinge in


Ellwangen (Ostalbkreis) soll das Sicherheitskonzept der Unterkunft angepasst
werden. "Was wir konsequenter machen wollen, ist Flüchtlinge aus
unterschiedlichen Ländern noch besser getrennt unterzubringen", sagte LEA-Leiter
Berthold Weiß am Dienstag.
"Wir wollen eine klare Trennung und kein explosives Gemisch." Die Gewalt
entzünde sich zwar meist aufgrund von Lappalien, aber dann gingen immer wieder
Gruppen unterschiedlicher Herkunftsländer aufeinander los. Die
Polizeigewerkschaft warnt vor zunehmender Gewalt.

Erst am Sonntagmorgen hatten sich in der LEA rund 50 hauptsächlich algerische


und pakistanische Flüchtlinge teils mit Feuerlöschern und Eisenstangen geprügelt
und mit Steinen beworfen. Am Abend gingen erneut rund 50 Flüchtlinge aufeinander
los.

Täter noch auf der Flucht

Bei Schlägereien mit Eisenstangen in einer Unterkunft im Kreis Esslingen wurden


am Montag zwei Männer verletzt. Nach einem Messerangriff auf einen 26-Jährigen
am Sonntag in einer Heilbronner Asylbewerberunterkunft befindet sich der
23-jährige mutmaßliche Täter weiter auf der Flucht. Rund 30 teils stark
betrunkene Flüchtlinge prügelten sich in der Nacht zum Dienstag in ihrer
Unterkunft im Kreis Esslingen.

Die Flüchtlinge würden Konflikte aus ihren Heimatländern zwar nicht mit in die
Unterkünfte bringen, sagte LEA-Chef Weiß. "Das sind keine Nationenkonflikte,
sondern ganz normale menschliche Geschichten, manchmal einfach Lappalien - wer
lädt zuerst sein Handy auf, weil es nicht so viele Steckdosen gibt", sagte er.
Aber dann sammelten sich Flüchtlinge bei Schlägereien hinter ihren Landsleuten.
"Es ist nicht so, dass eine Gruppe Syrer auf eine Gruppe Syrer losgegangen ist",
meinte Weiß.

Die Störenfriede seien häufig schwer ausfindig zu machen. Zwar seien die
Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalitäten auf dem Gelände oder bei der
Essensausgabe beisammen. "Damit die Reibungspunkte aber möglichst gering sind,
wollen wir die Möglichkeiten unseres Geländes ausnutzen und die Flüchtlinge
unterschiedlicher Herkunft in verschiedenen Bereichen der Kaserne unterbringen",
sagte Weiß.

Polizeieinsätze trotz Sicherheitspersonal

30 Sicherheitsleute arbeiteten rund um die Uhr in der LEA Ellwangen. Trotzdem


braucht es immer wieder den Einsatz Dutzender Polizeikräfte bei
Auseinandersetzungen. "Das kriegst du mit Security nie in Griff, weil die
Polizei ganz andere Rechte hat bei so einer großen Auseinandersetzung", sagte
Weiß. Die Beamten könnten etwa Störer herausgreifen und in Gewahrsam nehmen.

Die Zunahme der Gewalt in den vergangenen Tagen habe womöglich auch etwas mit
den Feiertagen zu tun. "Da ist eben überhaupt nichts gelaufen - keine
Registrierung, keine Einkaufsmöglichkeiten in der Stadt, keine Zerstreuung",
sagte Weiß.

"Das Problem liegt darin, dass in den Flüchtlingsunterkünften unheimlich viele


Menschen eingepfercht sind und es dann manchmal wegen Nichtigkeiten zu
Streitigkeiten kommt", sagte Rüdiger Seidenspinner, Chef der Gewerkschaft der
Polizei (GdP) in Baden-Württemberg. "Es gibt halt leider Gottes auch unter den
Flüchtlingen manche, die sich nicht an unsere Spielregeln halten." In letzter
Zeit richte sich die Gewalt auch immer wieder gegen Beamte. "Das Phänomen haben
wir auch im täglichen Leben - die Polizei wird als Ventil genutzt, um sein
persönliches Hühnchen zu rupfen", sagte er.

Warnung vor steigender Gewalt

In Ellwangen waren am Sonntag auch Steine auf Streifenwagen geflogen.


Seidenspinner warnte vor zunehmender Gewalt in den Heimen. "Ich hoffe, dass wir
die Gewalt innerhalb der Lager in Griff bekommen, wenn Leute auf das Land
verteilt worden sind und sich die personelle Situation entspannt. Aber die
Tendenz lässt nichts Gutes hoffen", meinte er.

Die Polizei sei überlastet. "Wir haben Personalnotstand wie noch nie, die
Terrorbedrohung, die Erstanlaufstellen, die Einbruchskriminalität - und die ganz
normale Alltagskriminalität hört deshalb ja nicht auf", sagte Seidenspinner. Dem
Südwesten fehlten derzeit 2500 Polizisten. "Wir haben in Baden-Württemberg die
schlechteste Polizeidichte im Bund-Länder-Vergleich und einen zunehmend
überalterten Personalkörper", sagte er.

UPDATE: 7. Januar 2016

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Mittwoch 20. Januar 2016 11:51 AM GMT+1

Söder kritisiert Merkel;


"Permanenter Verstoß gegen Grundgesetz inakzeptabel"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 599 Wörter

HIGHLIGHT: Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) drängt Angela Merkel mit
scharfen Worten zu einem Kurswechsel. SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann
wirft der CSU vor, Panik und Hysterie zu schüren.

Vor dem Auftritt von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der CSU in Wildbad Kreuth
hat Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) einen schnellen Kurswechsel
verlangt. Die bevorstehenden Landtagswahlen im März dürften kein Hinderungsgrund
sein, sagte Söder am Mittwoch. Er betonte: "Wir können den permanenten Verstoß
gegen das Grundgesetz nicht akzeptieren." Söder kritisierte zugleich das
Zurechtweisen von Merkel-Kritikern durch führende CDU-Politiker: "Klappe zu ist
da das falsche Motto. Es muss heißen: Augen auf."

Die CSU-Landtagsfraktion geht mit klaren Forderungen in ihr Gespräch mit der
Kanzlerin: Die Zahl der Flüchtlinge soll in diesem Jahr auf 200.000 begrenzt
werden. Werden es mehr, sollen diese an der Grenze abgewiesen werden. Ebenfalls
zurückgewiesen werden sollen Flüchtlinge, die aus sicheren Nachbarstaaten
einreisen wollen. Das geht aus einem Zwölf-Punkte-Plan zur Flüchtlingspolitik
hervor, den die Fraktion auf ihrer Winterklausur beschlossen hat. Demnach strebt
die CSU ein koordiniertes Vorgehen mit den Transitstaaten auf dem Balkan an:
Diese sollen selbst Grenzkontrollen durchführen, bis es irgendwann zu einem
wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen kommt.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann forderte ein Ende der Kritik aus
der Union an der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
"Ich halte nichts davon, wie die CSU jetzt systematisch Panik und Hysterie zu
schüren", sagte Oppermann dem ZDF-"Morgenmagazin" vor dem Treffen Merkels mit
der CSU-Landtagsfraktion in Wildbad Kreuth. "Die Chaostage in der Union müssen
aufhören, sonst wird aus der Flüchtlingskrise am Ende eine Regierungskrise."

Wenn man in der Regierung ist, "darf man nicht durch Worte glänzen, sondern muss
durch Taten glänzen", mahnte Oppermann und forderte ein Ende des
"Schlagabtauschs auf offener Bühne". Insbesondere kritisierte er, dass
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) als Kabinettsmitglied "offen
gegen die Kanzlerin" rebelliere. Diese müsse daher in Kreuth am Mittwoch "mal
sagen, wo es langgeht". "Der Eindruck, den die Regierung derzeit hinterlässt,
ist katastrophal", kritisierte Oppermann.

Zugleich forderte der SPD-Fraktionschef selbst einen Kurswechsel. Derzeit kämen


3000 Flüchtlinge pro Tag, allein im Januar seien es schon 60.000 gewesen, sagte
Oppermann. Auf das Jahr hochgerechnet, komme man auf weit über eine Million.

"Renationalisierung der Binnengrenzen"

Der Zuzug nach Europa müsse daher dringend durch die Sicherung der Außengrenzen
verringert werden. Andernfalls werde der "Druck so groß, dass es zu einer
Renationalisierung der Binnengrenzen kommt". Dies könnte "der Anfang vom Ende
Europas sein".

Oppermann befürwortete auch eine Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge


für zwei Jahre, forderte aber Ausnahmen für Syrer. Wenn nur junge Männer kommen,
sei deren Integration sehr schwierig, sagte der SPD-Politiker.

Ohne den Weg des Familiennachzugs würden die Syrer weiter gezwungen, den
gefährlichen Weg über die Ägäis zu nehmen. Die Einschränkung des
Familiennachzugs gehört zu den Maßnahmen aus dem Asylpaket II, die derzeit von
der Koalition diskutiert werden.

Merkel ist am Abend Gast der CSU-Landtagsfraktion. Die Abgeordneten wollen


Merkel zu einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik drängen. Die CSU verlangt
eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen - die Kanzlerin lehnt dies ab.
CSU-Chef Horst Seehofer hat aber vorab bereits deutlich gemacht, dass er nicht
damit rechnet, dass Merkel in Kreuth einen Kurswechsel vollzieht. Die CDU-Chefin
war vor zwei Wochen bereits bei den CSU-Bundestagsabgeordneten zu Gast.

UPDATE: 20. Januar 2016

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Freitag 22. Januar 2016 10:43 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Auf dem Balkan lieben sie Deutschlands offene Grenze

AUTOR: Norbert Mappes-Niediek, Graz

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 736 Wörter

HIGHLIGHT: Ändern Österreich und Deutschland ihre Flüchtlingspolitik, hat das


Auswirkungen auf die Balkanstaaten. Mazedonien reagierte sofort, Slowenien
debattiert noch. Sind am Ende alle Grenzen geschlossen?

Noch war die Obergrenze für Flüchtlinge in Österreich gar nicht beschlossen, da
kam auf dem Balkan schon die erste Reaktion. Mazedonien schloss schon am
Dienstagabend seinen Flüchtlingsübergang zu Griechenland; um die 350 Menschen
mussten bei eiskalten Temperaturen in ungeheizten Bussen ausharren. "Eine Panne
bei der Eisenbahn in Slowenien", begründete das Innenministerium in Skopje - dem
wurde von der slowenischen Bahn aber widersprochen.

"Eigentlich hätten wir erwartet, dass die Grenze sich dann wieder öffnet", sagte
Stella Nanou vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Griechenland.
Aber das geschah nicht. Es schneite, die Temperaturen lagen weit unter null
Grad. "Glücklicherweise hat die griechische Polizei reagiert und das eigentlich
geschlossene Lager im Grenzort Idemoni wieder eröffnet", so Nanou. Dramatische
Szenen blieben aus. Wegen des schlechten Wetters in der Ägäis warteten nur etwa
600 Menschen auf den Einlass nach Mazedonien, die meisten von ihnen Syrer.
Schließlich wurde die Grenze so unerwartet wieder geöffnet, wie sie zuvor
geschlossen worden war.

Wann immer ein skandinavisches Land oder eines der beiden Schlüsselländer
Österreich und Deutschland sein Grenzmanagement ändert oder sich eine Änderung
auch nur andeutet, reagieren die Balkanstaaten sofort. "Wir wollen nicht Hotspot
werden": Der Spruch des slowenischen Regierungschefs Miro Cerar ist zwischen
Ljubljana und Skopje immer wieder zu hören. Ändern Österreich oder Deutschland
ihre Flüchtlingspolitik oder legen Obergrenzen fest, müssen Slowenien, Kroatien,
Serbien und Mazedonien sich dieser Politik annähern. Sonst wären die
Balkanstaaten, alle kleiner als Österreich, binnen Tagen überfordert. Slowenien
und Mazedonien haben je zwei, Kroatien hat viereinhalb und Serbien sieben
Millionen Einwohner.

Das erste Mal trat der "Domino-Effekt" im November ein. Auf das bloße Gerücht
hin, Slowenien wolle künftig nur noch Syrer, Iraker und Afghanen durchlassen,
stießen Kroatien, Serbien und Mazedonien ins gleiche Horn. Und mit nur einem Tag
Verzögerung folgten alle Balkanstaaten Anfang Januar der deutschen Entscheidung,
zumindest offiziell keine nach West- oder Nordeuropa durchreisenden Flüchtlinge
mehr ins Land zu lassen.

Die liberale Regierung in Ljubljana sieht sich mit einer skeptischen Stimmung in
der Bevölkerung konfrontiert, sympathisiert aber mit dem liberalen Grenzregime
in Deutschland und Österreich. Nach der Entscheidung in Wien, eine Obergrenze
einführen zu wollen, attackierten die rechten Parteien die Regierung mit
scharfen Worten: Slowenien sei in seiner Existenz bedroht, tönte
Oppositionsführer Janze Jansa. Sei die österreichische Quote von 37.500 Menschen
in wenigen Monaten erreicht, blieben die Zurückgewiesenen alle in Slowenien.
Innenministerin Vesna Gjerkes Znidar versuchte zu beruhigen: Es gebe ja noch
Deutschland. Und dass Berlin die Grenzen schließe, sei unwahrscheinlich.

Slowenien spielt Schlüsselrolle

Während auf offener Bühne gestritten wird, spielt der slowenische Regierungschef
Cerar hinter den Kulissen eine Schlüsselrolle. Nach seinem Besuch bei seiner
deutschen Kollegin Angela Merkel vorige Woche schrieb er allen seinen
EU-Kollegen einen Brandbrief: Alle Staaten auf der Balkanroute trügen eine
"immense Last". Eilige Interpreten in Belgrad und Zagreb machen daraus einen
"Plan": Angeblich seien Berlin und Wien übereingekommen, ganz Griechenland zum
"Hotspot" für Flüchtlinge zu machen und dem Land dafür in der Schuldenkrise weit
entgegenzukommen.

Die vorübergehende Grenzschließung in Mazedonien passt da ins Bild, denn das


Land steht im Bann einer für April geplanten Neuwahl. Die Entscheidungen trifft
noch immer der starke Mann des Landes, Nikola Gruevski, der vorige Woche formal
als Regierungschef zurücktrat. Seine Beziehungen zu den großen EU-Staaten sind
allerdings so gespannt, dass ein flüchtlingspolitischer Masterplan kaum eine
Chance hätte.

In Kroatien und Serbien immerhin blieb zunächst alles unverändert. "Die


Flüchtlinge sind wie immer mit dem Zug nach Slavonski Brod gebracht, dort
registriert und dann mit dem Zug weiter nach Dobova in Slowenien gefahren
worden", sagte Jan Kapic vom Flüchtlingshilfswerk in Zagreb. Und in Serbien
stehen ebenfalls Neuwahlen an. In beiden Ländern bekommt die Bevölkerung von der
Krise kaum etwas mit: Die Flüchtlinge reisen in Bussen oder Zügen in wenigen
Stunden von Grenze zu Grenze - solange sie eben offen bleiben.

UPDATE: 22. Januar 2016

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Donnerstag 28. Januar 2016 7:41 AM GMT+1


Kriminelle Ausländer;
Ausgewiesen bedeutet längst nicht abgeschoben

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1393 Wörter

HIGHLIGHT: Das Kabinett beschließt, kriminelle Ausländer schneller auszuweisen.


Das muss aber nicht bedeuten, dass die Straftäter auch abgeschoben werden. Auch
Schwerverbrecher aus Kriegsgebieten haben Rechte.

Fast einen Monat nach der erschreckenden Silvesternacht mit Gewalttaten gegen
zahlreiche Frauen hat das Bundeskabinett beschlossen, die Ausweisung
ausländischer Straftäter zu erleichtern. Die von Bundesinnenminister Thomas de
Maizière (CDU) und Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vor zwei Wochen
gemeinsam vorgeschlagene Verschärfung des Ausweisungsrechts wurde "eins zu eins"
angenommen, wie das Justizministerium mitteilte - ein Erfolg der beiden
Kabinettskollegen, deren Ressortinteressen häufig in Konflikt geraten.

Nach den Übergriffen in Köln und anderswo hatten Politiker aus Union und SPD
einen Überbietungswettbewerb um die härteste Asyl- und Migrationspolitik
veranstaltet: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD)? Forderte die Streichung
der Entwicklungshilfe für Länder, die ihre aus Deutschland abgeschobenen
Staatsbürger nicht zurücknehmen. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer?
Straffällige Flüchtlinge gleich ganz ohne Prozess abschieben! "Nicht erst das
Strafmaß nach einer Verurteilung soll Grundlage für eine mögliche Abschiebung
sein, sondern bereits ein Delikt", polterte der Bayer.

Die Bundeskanzlerin kündigte an Tag sieben nach Köln in ihrem ganz eigenen Ton
an zu prüfen, "ob wir, was Ausreisenotwendigkeiten anbelangt, schon alles getan
haben, was notwendig ist, um hier auch klare Zeichen zu setzen an diejenigen,
die nicht gewillt sind, unsere Rechtsordnung einzuhalten".

Ein Zwischenergebnis dieser Prüfung ist der vom Bundeskabinett verabschiedete


Gesetzentwurf: Im Kern soll erstens künftig ein schwerwiegendes
Ausweisungsinteresse bereits dann vorliegen, wenn ein Ausländer zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Das gilt für Straftaten gegen das Leben,
die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte - unabhängig davon, ob die Strafe
zur Bewährung ausgesetzt ist. Bisher muss eine Freiheitsstrafe von mindestens
einem Jahr vorliegen.

Zweitens soll nach dem Beschluss ein besonders schwerwiegendes


Ausweisungsinteresse gegeben sein, wenn ein Ausländer zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens einem Jahr verurteilt wird. Auch dies soll künftig unabhängig
davon gelten, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Bisher bedarf es für
die Kategorisierung "besonders schwerwiegend" einer Strafe von mehr als zwei
Jahren.

Rechtsexperten glauben nicht an Änderungen der Praxis

Drittens wird auch die Grenze, ab der eine Verurteilung die Anerkennung als
Flüchtling verhindert, abgesenkt. Dies soll künftig bei einer Freiheitsstrafe
von einem statt drei Jahren der Fall sein.
Rechtsexperten bezweifeln allerdings, dass durch diese Verschärfung kriminelle
Ausländer schneller außer Landes gebracht werden. "Mit der Ausweisung ist noch
längst nicht gesagt, dass auch tatsächlich eine Abschiebung erfolgt", sagt der
renommierte Ausländerrechtler Kay Hailbronner der "Welt". Er verweist darauf,
dass auch ein besonders schwerwiegendes öffentliches Interesse immer mit dem
Interesse des Ausländers am Verbleib in der Bundesrepublik abgewogen werden
muss.

"Der gesetzlichen Bewertung als schwerwiegend oder besonders schwerwiegend kommt


keine allzu große rechtliche Bedeutung zu, weil der Gesetzgeber keinen Zweifel
daran gelassen hat, dass es sich hierbei nur um Anhaltspunkte handelt, die am
Erfordernis der individuellen Abwägung nichts ändern. Vieles spricht dafür, dass
sich im Grunde an der bisherigen Praxis nichts ändern wird", sagt der Professor.

Der innenpolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Stephan Mayer (CSU),


bezeichnete die Verschärfung des Ausweisungsrechts hingegen als "großen Schritt
nach vorne". Nicht nur die Strafbarkeitsschwellen für die Ausweisung würden
stark abgesenkt, auch das Asylrecht werde künftig leichter verwirkt, wenn ein
Asylbewerber straffällig werde. "Dies hat die Union seit langer Zeit gefordert.
Jetzt müssen die Länder dafür sorgen, dass mit zügigen Verurteilungen und
schellen Ausweisungen und Abschiebungen diejenigen Deutschland schnell
verlassen, die ihr Gastrecht verwirkt haben", sagte Mayer der "Welt".

Ausländerrechtler Hailbronner kann - trotz aller Kritik - der gesetzlichen


Änderung "einen rechtspsychologischen Wert abgewinnen, weil sie verdeutlicht,
dass Straftaten entsprechend gewichtig angesehen werden, um eine
Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen zu können". Es sei allerdings falsch
anzunehmen, dass wegen der herabgesetzten Schwelle die Gerichte das
Ausweisungsinteresse des Staates künftig höher gewichten als das Bleibeinteresse
oder das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Ausländers.

Grundsätzlich gelte: "Ein absolutes Abschiebungshindernis ist die Gefahr


unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Absolut ist dieses
Hindernis, weil hier die Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht greift", sagt
Hailbronner.

"Auch ein Terrorist, der allgemein seine Unterstützung für den Islamischen Staat
erklärt, darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm unmenschliche
Haft- oder Lebensbedingungen drohen." Dabei sei zu beachten, dass unmenschliche
Lebensbedingungen auch angenommen worden seien, wenn keinerlei ökonomische
Existenz möglich sei. Entsprechendes gelte auch für einen Straftäter, der wegen
schwerer sexueller Straftaten abgeschoben werden solle. Bei Syrern oder Afghanen
etwa müssten "sichere Landesteile" vorhanden sein.

Auch wenn es sich nicht um straffällig gewordene anerkannte Flüchtlinge handelt,


sind Abschiebungen schwer durchzusetzen, etwa 200.000 ausreisepflichtige
Ausländer leben in Deutschland. Häufig tauchen die Betroffenen unter oder
quartieren Kinder bei Bekannten ein, sodass am Rückführungstermin die Familie
nicht vollständig ist. Oft scheitern Abschiebungen auch an Krankheiten, einer
anstehenden Elternschaft oder mangelnder Kooperation der Herkunftsstaaten. Das
führt dann zu einer Duldung von Personen, die eigentlich schon ausgewiesen
wurden.

Hoffnung auf Einigung zum Asylpaket II

Während die Koalition sich über die Verschärfung des Ausweisungsrechts schnell
einig war, ist das im November von den Koalitionsspitzen vereinbarte Asylpaket
II immer noch nicht verabschiedet. Beim Hauptstreitpunkt Familiennachzug scheint
nun aber eine Lösung in Sicht.

Vizekanzler Gabriel sagte der "Rheinischen Post", Bundeskanzlerin Angela Merkel


(CDU) und er hätten CSU-Chef Horst Seehofer einen konstruktiven Vorschlag zum
Familiennachzug gemacht. "Am Donnerstag reden wir darüber. Ich bin ganz
zuversichtlich, dass wir uns einigen", sagte der SPD-Chef. Am Donnerstag treffen
sich auch die Ministerpräsidenten der Länder zu einer Sonderkonferenz in Berlin.
Bei den Gesprächen der Landeschefs, der Koalitionsspitzen und schließlich einem
Treffen der Ministerpräsidenten mit Merkel wird ein Durchbruch nach wochenlangem
Streit erwartet.

Die Lösung für das zweite Asylpaket könnte so aussehen, dass der Familiennachzug
für alle subsidiär Schutzberechtigten für ein statt zwei Jahre ausgesetzt wird,
dies dann aber auch für Syrer gilt. Der Streit über den Familiennachzug war
entbrannt, nachdem SPD-Chef Gabriel zunächst zustimmte, den Familiennachzug für
alle subsidiär Schutzberechtigten auszusetzen, anschließend aber darauf drängte,
Syrer von Einschränkungen auszunehmen. Die CSU hingegen beharrt auf der
ursprünglichen Einigung der Koalitionsspitzen.

Derzeit scheint der Familiennachzug über die Migrationsrouten stark anzusteigen.


In einem Lagebericht verweist die Bundespolizei auf eine aktuelle Auswertung des
UNHCR, wonach im Januar erstmals Frauen und Kinder die Mehrheit der Flüchtlinge
stellten. "Vermutlich suchen männliche Migranten ihre Familien nachzuholen,
bevor angekündigte Neuregelungen greifen, die höhere Voraussetzungen vorsehen",
schreibt die Bundespolizei.

Im Klartext: Sie warten keine Verfahren ab, stellen keine Anträge, sie regeln
den Nachzug auf eigene Faust. 55 Prozent der im Januar über Griechenland
eingereisten Migranten waren Frauen und Minderjährige.

Der Trend bestätigt Befürchtungen der CSU. Seit Monaten drängt sie auf eine
Einschränkung des Familiennachzugs. Gestern ermahnte die bayerische
Staatsregierung in einem Beschwerdebrief das Kanzleramt, Recht und Ordnung an
den deutschen Grenzen wiederherzustellen. "Wir haben es hier mit
Rechtsverletzungen zu tun, und die müssen abgestellt werden", schimpfte
Ministerpräsident Seehofer. Es wird nicht die letzte Intervention aus Bayern
gewesen sein.

UPDATE: 28. Januar 2016

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Sonntag 31. Januar 2016 11:52 AM GMT+1


Westtürkei;
An dieser Küste scheitert Merkels Asylpolitik

AUTOR: Deniz Yücel, Izmir

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1816 Wörter

HIGHLIGHT: Die Türkei soll die Grenzen vor Flüchtlingen sichern. Dafür bekommt
sie viel Geld. Ob das die Flucht Tausender übers Mittelmeer verhindert? Für
Merkels Kanzlerschaft die womöglich entscheidende Frage.

Angela Merkels politische Zukunft entscheidet sich womöglich an Orten wie


diesem: der kaum besiedelten Küste des türkischen Landkreises Ayvacik. An der
schmalsten Stelle sind es neun Kilometer nach Lesbos. Fast zwei Drittel der rund
850.000 Flüchtlinge, die 2015 auf den griechischen Inseln ankamen, landeten dort
auf dem Boden der Europäischen Union.

Damit soll es bald vorbei sein. Der Ende November vereinbarte "Aktionsplan": Die
Türkei kontrolliert ihre Küsten besser und verpflichtet sich, illegal
eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Dafür soll sie von der EU drei
Milliarden Euro erhalten. Zudem entfällt für türkische Staatsbürger die
Visumpflicht, wenn sie in die EU reisen wollen.

Bis Mitte Januar hat die Gendarmerie in Ayvacik 2000 Flüchtlinge aufgegriffen
und 27 Schleuser festgenommen. "Seit einer Woche habe ich kein Boot mehr
gesehen", sagt der Betreiber eines Strandcafés, vor dem sich die
Hinterlassenschaften der Flüchtlinge sammeln: Schwimmwesten, Plastiktüten,
Rucksäcke. "Vielleicht war Ayvacik zu berühmt geworden. Wenn der Staat es nicht
will, könnte kein Vogel fliegen."

Einige Kilometer südlich in Ayvalik sitzt Landrat Kemal Nazli in seinem Büro in
einem einst griechischen Herrschaftshaus. In Ayvalik ist Kemal Nazli der Staat.
Könnte gegen dessen Willen wirklich kein Vogel fliegen? Oder ist es unmöglich,
eine so ausgefranste Küste abzuriegeln?

"Man könnte mit mehr Mitteln besser kontrollieren. Aber kein Staat könnte jeden
Vogel aufhalten, der unbedingt fliegen will." Er könne auch nicht alle Männer
Tag und Nacht ans Ufer stellen, sie müssten auch andere Aufgaben erfüllen. Im
Winter leben im Landkreis 70.000 Menschen; in der Hochsaison fast eine halbe
Million. Nazli unterstehen 250 Polizisten und Gendarmen. Die Krise hat daran
nichts verändert.

Was der "Aktionsplan" für sie konkret bedeutet, weiß keiner der lokalen
Verantwortlichen. Bislang jedenfalls reichen die Mittel nicht aus, auch in
humanitärer Hinsicht nicht, trotz der 4,6 Millionen Euro, die die Türkei täglich
für die Versorgung der Flüchtlinge ausgibt. In größeren Orten springen
Bürgerinitiativen ein. "Wir haben Bedarf für die Erste Hilfe: Decken, Kleidung,
Babynahrung", erzählt der 41-jährige Veterinärarzt Özgür Öztürk. "Polizei und
Gendarmerie waren anfangs skeptisch. Aber jetzt rufen sie uns, wenn sie
Flüchtlinge aufgegriffen oder aus Seenot gerettet haben."

Bauern überlassen Schleusern ihre Felder gegen Geld

Am 5. Januar wurden an der Mündung des Flüsschens Madra die Leichen von 31
Menschen an Land gespült - das bis dahin größte Bootsunglück in Ayvalik. Der
Madra markiert die Grenze zur Nachbargemeinde Dikili. Auf der nördlichen Seite
reichen die Feriensiedlungen bis an den Fluss, südlich ist Schilfland.

Früher starteten hier jeden Tag Boote, nach dem Unglück kamen Journalisten.
Flüchtlinge hat seit Tagen keiner gesehen. "Die Gendarmerie von Ayvalik sagt:
Wir sind nicht zuständig. Die von Dikili kommt Stunden später, wenn überhaupt",
berichtet eine Ladenbesitzerin. Später erzählt jemand, dass diese Frau ihr
eigenes Geschäft mit der Not betreibe: Eine Rolle Kekse kostet sonst zwei Lira,
doch für Flüchtlinge zwei Euro - das Dreifache.

Nicht nur die Schleuser verdienen: Hoteliers, Ladenbesitzer, Taxifahrer, Bauern,


die ihre Felder den Schleusern gegen Geld überlassen, Beutejäger. Kostete im
Vorjahr die Überfahrt noch bis zu 3000 Dollar, kann man jetzt schon für 650
Dollar buchen. Dann allerdings mit 60, 70 Menschen in einem Schlauchboot für 30
Personen. Je geringer das Risiko, desto höher der Preis.

"Die EU will der Türkei drei Milliarden Euro für drei Jahre zahlen", sagt der
Medizinprofessor Cem Terzi vom Verein Brücke der Völker in Izmir, der sich der
medizinischen Hilfe widmet. "Der Umsatz der Schlepperindustrie war im letzten
Jahr höher. Glauben Sie, dass dieses Geschäft einfach aufhört? Das ist die
größte Wanderungsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wer sie aus der Nähe
erlebt, bleibt nicht unberührt."

Bald werden wir erleben, dass dieser Befund auch auf Journalisten zutrifft. Im
Landkreis Dikili, unweit des Dorfes Bademli, sehen wir von einer Anhöhe ein
Schlauchboot. Es ist elf Uhr, die Sonne strahlt, die orangen Schwimmwesten
leuchten im blauen Meer. Der zuständige Landrat Mustafa Sezgin will das nicht
kommentieren. "Ich kann Ihnen nur Zahlen nennen. Und die habe ich nicht parat."

Beim Unglück Anfang Januar ist Sezgin, ein fülliger Mittfünfziger mit Doppelkinn
und Toupet, anders als sein Kollege Nazli nicht zur Fundstelle gefahren. "Warum
soll ich meine Psyche beschädigen?" Was er dazu sagt, dass Merkels Zukunft auch
von seiner Arbeit abhängt? "Dazu sage ich nichts, ich bin Beamter."

Am nächsten Morgen fahren wir erneut in das Dorf und geraten in eine
Straßensperre. Die Gendarmerie hat 250 Syrer und Iraker festgesetzt. Womöglich
sind die Gendarmen nun hier, weil wir am Vortag beim Landrat waren. Eine Gruppe
hatte in der Nacht versucht, überzusetzen. Doch wegen der hohen Wellen sei nach
wenigen Metern Panik ausgebrochen, erzählt der 35-jährige Elektrotechniker Zaid
aus Bagdad. Der Steuermann, der 23-jährige Mohammed aus Aleppo, habe das Boot
auf Felsen gesetzt. Die Schlepper hätten ihm zuvor kurz gezeigt, wie das Schiff
zu steuern sei.

Im Morgengrauen habe die Gendarmerie sie am Ufer aufgegriffen. Ein paar Stunden
später ist Zaids Jeans immer noch nass. Die Temperatur liegt am Gefrierpunkt, er
hat weder Hose noch Socken zum Wechseln. "Ich will nach Europa, weil es dort
Frieden gibt", sagt er. "Und weil ich nicht an den Islam glaube." Die Eltern,
die mit ihren Kindern ins Boot stiegen, könne er nicht verstehen.

Neben ihm steht Alaa, ein Friseur aus Damaskus. Sein Sohn ist vier Jahre alt,
seine Tochter 13. "Ich mache das wegen meiner Kinder. Wir waren zwei Jahre in
Istanbul. Meine Tochter hat dort keine Schule gesehen." Die Flüchtlinge haben
auf der Dorfstraße zum Aufwärmen Feuer angezündet. Von den Bewohnern lässt sich
während des stundenlangen Wartens keiner blicken. Die Hälfte des Dorfes verdiene
mit, sagen die Gendarmen. Die Gendarmen hängen mit drin, sagen sie in der
Teestube des Dorfes. In Seferihisar wurde kürzlich ein Oberstabsfeldwebel wegen
Verdacht auf Beteiligung am Menschenhandel verhaftet.
Ein Schlepper-Lastwagen taucht auf. Die Ladefläche ist mit einer Plane bedeckt,
aber darunter erkennt man menschliche Umrisse. Rund 50 Menschen, alle aus
Afghanistan, vorn die Männer, hinten die Frauen und Kinder. Die Gendarmen halten
den Laster an.

Die Bilanz des Tages: Vier verhaftete Schlepper. Die 303 aufgegriffenen
Flüchtlinge werden auf die Wache von Dikili gebracht. "Alle meine Männer sind
damit beschäftigt", sagt der Kommandant der Gendarmerie. "Aber die Syrer dürfen
sich frei bewegen. Wir bringen sie nach Izmir oder Istanbul und in paar Tagen
sind sie wieder hier."

Im "Deutschen Feriendorf" warten manchmal 1000 Flüchtlinge

Einem Tipp aus der Teestube folgend, fahren wir fünf Kilometer hinaus in einen
Olivenhain. Menschen laufen uns entgegen, dann kommen sechs Männer mit einem
Schlauchboot. Im Wasser liegt ein Boot der Küstenwache. Doch die Flüchtlinge
sind noch an Land - und dort ist die Küstenwache nicht zuständig. Es ist kurz
vor Sonnenuntergang, es schneit. Vermutlich werden die Schlepper ohne Rücksicht
aufs Wetter das Auslaufen befehlen.

Entweder melden wir diese Menschen und durchkreuzen ihre Hoffnungen. Oder wir
melden sie nicht und müssen uns womöglich Vorwürfe machen. Wir melden sie. "Mal
sehen", sagt der Kommandant. "Wir haben weder Kapazitäten noch Platz", sagt
einer seiner Adjutanten.

Am nächsten Tag in Cesme. Von der Küste aus sieht man die Häuser der
griechischen Insel Chios. An einer Bucht außerhalb des Ortes verwittert, von der
Straße nicht einsehbar, eine nicht fertiggestellte Siedlung. Der Name:
"Deutsches Feriendorf". "Hier warteten manchmal tausend Flüchtlinge auf ihre
Boote", erzählt ein junger Mann.

"Die Gendarmerie kam alle paar Wochen vorbei. Am nächsten Tag waren die
Flüchtlinge wieder da. Vor zwei Wochen hat der Gouverneur Sondereinheiten
geschickt. Jetzt kommen die Gendarmen fünfmal am Tag."

Das Deutsche Feriendorf mag geräumt sein, doch die Ausweichstelle ist keine zwei
Kilometer entfernt. Im Gebüsch am Ausgang der Bucht stoßen wir auf eine Gruppe
von Iranern und Afghanen. "Die Organisatoren haben gesagt, dass wir
hierherlaufen sollen", erzählt der Mittdreißiger Faysal. Er ist vor ein paar
Tagen aus Kabul nach Istanbul geflogen.

Das Meer hatte er nie zuvor gesehen. Auf der Rückfahrt laufen uns Grüppchen mit
leichtem Gepäck entgegen. Es wird nicht bei den erwarteten 45 Passagieren
bleiben. Polizei ist nicht zu sehen. Dieses Mal sagen wir nichts.

Was ist in dieser Situation das Richtige? Esra Simsir lächelt verlegen. Sie
leitet in Izmir das Büro des Vereins Asam, der in der Türkei das
UN-Flüchtlingshilfswerk vertritt. "Wir versuchen, die Menschen zu überzeugen, in
der Türkei zu bleiben oder auf legalem Weg die Ausreise zu versuchen", sagt sie.
Die Türkei habe viel zu wenig gemacht, um ihnen eine Perspektive zu geben. Die
jüngst beschlossenen Arbeitserlaubnisse seien ein Anfang.

Aber was wird vor Inkrafttreten des "Aktionsplans" passieren? "Wir erwarten eine
Explosion", antwortet Simsir. "Sobald das Wetter milder wird, rechnen wir mit
Zahlen wie im Spätsommer." Die Statistik stützt diese Vermutung: 1694
Flüchtlinge wurden im Januar 2015 auf den griechischen Inseln registriert. Bis
zum 27. Januar dieses Jahres waren es 50.668. Doch die Massenflucht findet nicht
mehr so offen statt, auch nicht von der Drehscheibe Izmir aus.
Am Bahnhof Basmane schlafen keine Menschen mehr, und die wenigen Geschäfte, die
noch Schwimmwesten im Schaufenster haben, führen nur Markenware. Die
lebensgefährlichen Imitate sind nach Razzien verschwunden. Unter der Theke
sollen sie weiterhin verkauft werden. In den Cafés von Basmane sieht man nur die
Vermittler.

Die meisten sind selbst Syrer, Fußvolk der Schlepper. Mit uns reden wollen sie
nicht. Die Alternative: Telefonnummern, die auf Facebook kursieren. Wir rufen
an: "Ich habe zehn Freunde aus Afghanistan. Kannst du helfen?" - "Ja. Bring sie
morgen früh zum Busbahnhof von Istanbul." - "Wohin bringst du sie?" - "Didim,
von da nach Samos." - "Was für ein Boot, wie viele Leute?" - "Barkasse, elf
Meter, Maximum 50 Leute." - "Wie viel?" - "1000 Dollar." - "Dann sage ich denen
1250." - "Kein Problem, sag: 1250, 1500, was du willst."

Am Freitag, einen Tag nachdem wir die Flüchtlinge im Gebüsch bei Cesme entdeckt
haben und drei Tage nach der Operation bei Dikili, birgt die griechische
Küstenwache vor Samos 25 Leichen, darunter zehn Kinder. Faysal hingegen hat es
geschafft. Zaid aus Dikili können wir nicht erreichen. Mohammed ist zurück in
Izmir. Alaa schickt uns Fotos aus dem Raum, in dem sie 30 Stunden
zusammengepfercht wurden. Am Samstag meldet er sich aus Samos. In Ayvacik, wo es
zuletzt so ruhig schien, eilt die türkische Küstenwache zu einer havarierten
Barkasse. 75 Überlebende, 33 Tote.

UPDATE: 31. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 18. März 2016 10:12 AM GMT+1

EU-Türkei-Verhandlungen;
An diesen Punkten könnte das Abkommen scheitern

AUTOR: Andre Tauber, Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 511 Wörter

HIGHLIGHT: Die EU erwartet laut Angela Merkel "harte und auch auf
Interessenausgleich bedachte Verhandlungen" mit der Türkei. Die "Welt" nennt die
Knackpunkte, auf die es in den Gesprächen ankommen wird.
Sind die geplanten Rückführungen aller Flüchtlinge in die Türkei vereinbar mit
den internationalen Regeln?

Das Abkommen mit der Türkei sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die es in Booten
bis nach Griechenland schaffen, zurückgeführt werden. Viele Staaten hegten
Zweifel daran, dass das mit internationalem Recht vereinbar ist. Die Europäische
Kommission beschwichtigt und verspricht individuelle Verfahren. Als weiteres
Zugeständnis wurde in der Nacht zum Freitag die Formulierung in die
Gipfelerklärung aufgenommen, wonach das UN-Flüchtlingswerk UNHCR an diesem
Prozess beteiligt werden soll. Alle Sorgen dürften damit allerdings noch nicht
ausgeräumt sein.

Wie groß sind die Kontingente, die die EU von der Türkei übernehmen muss?

In einem ersten Schritt sollen die Europäer für jeden Syrer, den die Türkei aus
Griechenland zurücknimmt, einen anderen Syrer aus der Türkei übernehmen. Das
Prinzip soll so lange gelten, bis die Flüchtlingsströme versiegen. In der
Erklärung nennen die EU-Staaten ein vorläufiges Limit von 72.000 Umsiedlungen.

Damit dürften die Verpflichtungen allerdings nicht enden. Die EU wird der Türkei
größere, jährliche Kontingente abnehmen müssen. Beziffert sind die bislang noch
nicht. Doch die Rede ist von deutlich mehr als 100.000 Flüchtlingen im Jahr. Wer
wie viel nimmt, muss in den Wochen nach dem Abschluss des Abkommens festgelegt
werden.

Wann können die Rückführungen beginnen?

Das ist ein entscheidender Punkt. Die Europäische Union hat ein großes Interesse
daran, dass nicht zu viel Zeit vergeht zwischen dem Beschluss und dem Stichtag,
ab dem neu ankommende Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden. Man
möchte nämlich vermeiden, dass Migranten die Tage dazwischen als "letzte Chance"
begreifen, nach Europa aufzubrechen. Die Frage ist, ob der Plan umsetzbar ist.
Denn er verlangt von Athen enorme Anstrengungen, die entsprechenden Strukturen
aufzubauen. Athen dämpft die Erwartungen. Man werde "einige Wochen" brauchen,
bis man genügend Richter auf die Insel geschickt habe, heißt es in griechischen
Regierungskreisen.

In welchem Umfang werden die Visa für die Türkei liberalisiert?

Reisefreiheit für die eigenen Bürger im Schengenraum zu erhalten ist das


zentrale Ziel der türkischen Regierung. Doch der Druck ist hoch, der Türkei
keine Abstriche bei den notwendigen Kriterien zu machen - immerhin fürchten
viele Staaten neue Einwanderungswellen und Sicherheitsrisiken. Offiziell hält
die EU also daran fest, dass Ankara weiterhin alle Auflagen erfüllen muss. Alles
andere wäre kaum akzeptabel.

Wird mit der Türkei beschleunigt über einen Beitritt verhandelt?

Die Türkei fordert die Öffnungen neuer Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen.


Und Regierungsbeamte stellten in der Nacht zum Freitag klar, dass man an dieser
Forderung festhalte. Doch dagegen sperrt sich Zypern. Das Land verlangt, dass
die Türkei zunächst die Häfen und Flughäfen des Landes für zypriotische Schiffe
und Flugzeuge öffnet. Die Regierung aus Nikosia sprach zuletzt zwar von
möglichen Kompromissen. Wo die aber genau liegen könnten, ist nach wie vor
unklar.

UPDATE: 18. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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WELT ONLINE (Deutsch)

Samstag 19. März 2016 9:46 AM GMT+1

Gipfel in Brüssel;
Die Flüchtlingskanzlerin hat sich durchgesetzt

AUTOR: Andre Tauber, Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1184 Wörter

HIGHLIGHT: Trotz aller Kritik hält Kanzlerin Angela Merkel am Ziel eines
Abkommens mit der Türkei fest. Auf dem EU-Gipfel erzielt sie einen nicht mehr
für möglich gehaltenen Kompromiss in der Flüchtlingsfrage.

Es könnte ihr großer Tag sein. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) blickt
ernst drein. "Für mich ist das heute ein richtig trauriger Tag", sagt sie kurz
nach dem Ende des EU-Flüchtlingsgipfels in Brüssel. In Gedanken war sie bei
Guido Westerwelle, dem früheren Außenminister, Koalitionspartner und Freund.

Dabei könnte die Kanzlerin einen großen Erfolg für sich verbuchen. Eben hatte
sich die Europäische Union darauf verständigt, gemeinsam mit der Türkei die
Flüchtlingsströme nach Europa zu reduzieren. Es war die "europäische Lösung" für
die Merkel lange kämpfte.

Die Kanzlerin lief zuletzt Gefahr, sich mit dem Festhalten am Türkeiplan zu
isolieren. Von der CSU, aber auch von EU-Partnern wie Österreich war sie immer
deutlicher zu einem Kurswechsel aufgefordert worden. Sie sollte nationale
Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen festlegen und einen stärkeren
Fokus auf den Grenzschutz legen, so die Forderungen. Doch Merkel lehnte ab. Sie
wolle eine "europäische Lösung", wiederholte sie in den vergangenen Wochen. Für
sie ist das eine Lösung, die eben nicht dazu führt, dass Griechenland zur
Auffangstation von Flüchtlingen wird und sich die Balkanstaaten mit immer
stärkeren Befestigungen gegen den Ansturm von Flüchtlingen erwehren.

Gegen das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler

Das Abkommen mit der Türkei soll eben genau das erreichen. Die Einigung sieht
nun vor, dass alle Flüchtlinge, die nach Sonntag, 0.00 Uhr, auf den griechischen
Inseln ankommen, in die Türkei zurückgeschickt werden. Die ersten Rückführungen
stehen für den 4. April an. Im Gegenzug werden die EU-Partner für jeden
zurückgeführten Syrer einen anderen Syrer direkt aus der Türkei übernehmen.

Das Ziel ist es, das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler zu beenden. Denn wer
einmal aus Griechenland zurückgeführt wurde, soll auch schlechtere Chancen auf
eine direkte Umsiedlung nach Europa haben. Die Hoffnung ist, dass schon bald die
Menschen entmutigt werden, sich von Schlepperbanden nach Europa bringen zu
lassen.

Das Angebot für die direkte Aufnahme von Syrern gilt zunächst nur bis zu einer
Obergrenze von 72.000 Flüchtlingen. Die Hoffnung ist, dass dieses Limit nicht
voll ausgeschöpft werden muss. Sollte man das Limit überschreiten müssen, dann
sei das ein Zeichen dafür, dass der Plan nicht funktioniere, sagte Merkel.
"Davon gehen wir aber nicht aus." Das Limit kann allerdings überprüft werden,
sollten mehr Umsiedlungen nötig seien. Am 4. April sollen nach
EU-Diplomatenangaben die ersten Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa gebracht
werden.

Es soll auch die Bedenken zerstreuen, dass durch die Rückführungen von
Flüchtlingen deren Menschenrechte verletzt werden. So sagte die Europäische
Union bereits zu, dass es keine pauschalen Abschiebungen, sondern nur
individuelle Verfahren geben werde. Die Türkei soll auch garantieren, die
zurückgenommenen Flüchtlinge gemäß den internationalen Konventionen zu schützen
und nicht in gefährliche Herkunftsregionen abzuschieben.

Die Europäische Union sichert zudem mehr Tempo dabei zu, die drei Milliarden
Euro für die Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei auszuzahlen. Binnen
einer Woche soll bereits eine Liste mit möglichen Projekten erstellt werden. Bis
2018 soll dann eine zweite Tranche von weiteren drei Milliarden Euro folgen. Die
Türkei wird auch politische Zugeständnisse erhalten. So hält die Europäische
Union an ihrer Zusage fest, eine Visa-Liberalisierung für die türkischen
Staatsbürger bis Juni anzustreben. Bedingung bleibt, dass die Türkei alle
Voraussetzungen dafür erfüllen muss. Es soll auch ein neues, allerdings
unumstrittenes Verhandlungskapitel in den EU-Beitrittsgesprächen eröffnet werden
- ein Kompromiss, der auch für Zypern vertretbar war.

Menschenrechtler melden Bedenken an

Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu sieht in der Besiegelung des


Flüchtlingspakts einen "historischen Tag" in den Beziehungen seines Landes zur
EU. Die Türkei und die EU hätten "ein gemeinsames Schicksal und eine gemeinsame
Zukunft", sagte Davutoglu zum Abschluss des EU-Gipfels am Freitag in Brüssel.
Der Beitrittsprozess seines Landes werde "vertieft" und die Partnerschaft
gewinne an strategischem Gewicht.

Nun wird es darauf ankommen, dass Griechenland in die Lage versetzt wird, das
Abkommen in die Realität umzusetzen. Binnen kürzester Zeit müssen die nötigen
Strukturen aufgebaut werden, um den Flüchtlingen die individuellen Verfahren zu
ermöglichen. Dafür wird eine enorme Zahl an Richtern sowie Grenzschützern nötig
sein.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sieht in der Umsetzung "die größte


logistische Herausforderung, mit der sich die Europäische Union je konfrontiert
sah". Vor allem Griechenland stehe vor einer "Herkulesaufgabe", weil die
Infrastruktur auf den Inseln sofort aufgebaut werden muss, wenn ab dem 4. April
mit Schiffen die ersten Flüchtlinge zurückgebracht werden sollen.

"Wir müssen 4000 Mann in Aufstellung bringen", sagte der Kommissionschef. Die
EU-Länder sollten unverzüglich Personal schicken, denn Griechenland selbst kann
nach Angaben Athens nur 270 Juristen und Richter abstellen. Die Kosten für die
EU für die kommenden Monate bezifferte Juncker auf 280 bis 300 Millionen Euro.

Die Europäische Kommission ernannte mit Marteen Vervey einen Sonderbeauftragten


für die Umsetzung des EU-Türkei-Plans.

Die Zeit drängt. Denn man möchte verhindern, dass nun möglichst viele
Flüchtlinge die Zeit bis zum Inkrafttreten des Abkommens als eine "letzte
Chance" nutzen, nach Europa zu kommen. Es wäre das, was man in Europa als einen
"Pull Faktor" erachtet, also eine starke Motivation.

Nach der Schließung der Balkanroute in Richtung Mitteleuropa harren in


Griechenland mittlerweile gut 46.000 Migranten aus. Dies teilte der Krisenstab
der Regierung in Athen mit. Rund 12.000 von ihnen befänden sich im
improvisierten Lager von Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Der
griechische Innenminister Panagiotis Kouroumplis verglich das Camp mit dem
NS-Konzentrationslager in Dachau.

Menschenrechtsorganisationen äußerten heftige Bedenken. So sei es der Türkei


gelungen, die von der EU verlangte Garantie zum Schutz der zurückgenommenen
Migranten aufzuweichen: Im ursprünglichen Entwurf sei von einer "Verpflichtung"
Ankaras die Rede gewesen, "die internationalen Standards einzuhalten". Im
Schlussdokument sei daraus die Feststellung geworden, dass "alle Flüchtlinge"
gemäß der "relevanten" internationalen Standards geschützt seien und nicht in
gefährliche Herkunftsregionen abgeschoben würden.

Welche Standards "relevant" seien, wird Kritikern zufolge damit zur


Auslegungssache. "Die EU verkauft die Menschenrechte von Flüchtlingen an die
Türkei", kritisiert Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. "Im Grenzstaat
Griechenland drohen nun Pro-forma-Verfahren mit anschließender
Masseninhaftierung und Massenabschiebung."

Merkel will von solchen Szenarien nichts hören. Sie sagt, dass alle Elemente des
Abkommens einer laufenden Kontrolle unterliegen. Es sind monatliche Berichte
über die Umsetzung geplant. Beide Seiten müssten sich an alle Teile der
Abmachung halten. Merkel: "Alles hängt mit allem zusammen."

UPDATE: 19. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Mittwoch 30. März 2016 10:19 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
EU schickt keine Asyl-Richter mehr nach Griechenland

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 234 Wörter

HIGHLIGHT: Der griechische Gesetzgeber braucht länger, um das neue Asylgesetz zu


prüfen. Dadurch können irregulär in die EU gelangte Flüchtlinge wohl bis auf
Weiteres nicht in die Türkei abgeschoben werden.

Die EU hat einem Zeitungsbericht zufolge die Entsendung von Asylrichtern aus
anderen Mitgliedsstaaten nach Griechenland gestoppt. Dies gehe aus einer E-Mail
des Chefs der Europäischen Asylagentur Easo, José Carreira, vom 24. März an die
EU-Regierungen hervor, berichtet die "Bild"-Zeitung. Darin heißt es demnach:
"Das neue Asylgesetz, das unter anderem die neue Berufungsbehörde schaffen
sollte, ist gegenwärtig noch unter Prüfung durch den griechischen Gesetzgeber."

Erst wenn der neue Rechtsrahmen vorhanden sei, könne mit den Einsätzen der
Mitglieder der Gerichte begonnen werden. Griechenland selbst hat nach Angaben
der "Bild"-Zeitung nur acht Asylrichter. Aus anderen EU-Staaten sollten demnach
zunächst 30, später je nach Bedarf mehr Richter entsandt werden.

Erst kürzlich hatte der für Migrationsfragen zuständige EU-Innenkommissar


Dimitris Avramopoulos der "Welt am Sonntag" gesagt, dass die "Mitgliedsländer
dringend mehr Experten und Unterstützung vor Ort anbieten müssen, um die
Verfahren für alle Migranten zu beschleunigen und die Rückkehr jener zu
unterstützen, die nicht um Asyl bitten oder deren Anträge unzulässig sind".

Die EU hatte Mitte März einen Flüchtlingspakt mit der Türkei vereinbart, der
vorsieht, dass irregulär nach Griechenland gelangte Flüchtlinge in die Türkei
abgeschoben werden. Im Gegenzug soll die EU für jeden zurückgenommenen Syrer
einen Syrer aus der Türkei aufnehmen.

UPDATE: 30. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1552 of 1849 DOCUMENTS

WELT ONLINE (Deutsch)

Dienstag 19. April 2016 10:23 PM GMT+1

Visumfreiheit;
Diese Warnung schickt die Türkei jetzt an die EU
RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 407 Wörter

HIGHLIGHT: In der EU wachsen die Zweifel an der im Flüchtlingspakt vorgesehenen


Visumfreiheit für Türken. Ankara lässt sich das nicht gefallen und ist sich
sicher: Die EU braucht die Türkei mehr als andersherum.

Die angestrebte Visumfreiheit für Türken bei Reisen in die EU droht zur
Belastungsprobe zu werden. Ankara sieht sich nicht an den Flüchtlingspakt mit
der EU gebunden, sollte die Visumpflicht nicht aufgehoben werden.

Angesichts wachsender Bedenken bei der geplanten Visumfreiheit für Türken hat
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die EU zur vollen Umsetzung ihrer Zusage
aufgefordert. "Falls nicht, kann natürlich niemand erwarten, dass die Türkei
sich an ihre Verpflichtungen hält", sagte Davutoglu nach Angaben der staatlichen
Nachrichtenagentur Anadolu am Montagabend in Ankara vor einer Reise nach
Straßburg. Bei den im Flüchtlingspakt vereinbarten Punkten wie der Visumfreiheit
könne es keine Kompromisse geben.

Die "Welt" hatte unter Berufung auf Diplomaten berichtet, die für Ende Juni
geplante Visumfreiheit solle nach dem Willen zahlreicher EU-Länder - darunter
Deutschland und Frankreich - nicht unbeschränkt gelten. Stattdessen solle sie
etwa an die Rücknahme von Flüchtlingen und die Einhaltung von Menschenrechten
gekoppelt sein.

Davutoglu: Von 75 Bedingungen hat die Türkei 58 erfüllt

Davutoglu sagte, er gehe weiterhin davon aus, dass die Visumfreiheit für Reisen
in die EU wie angestrebt im Juni in Kraft trete. Von den 75 Bedingungen habe die
Türkei inzwischen 58 erfüllt. Die restlichen 17 Punkte sollten bis Mai
abgearbeitet werden.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Dienstag: "Mehr noch als die
Türkei die Europäische Union benötigt, braucht die Europäische Union die
Türkei." Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte zuvor im Parlament gewarnt: "Wenn
die EU ihr Wort nicht hält, werden wir alle Abkommen inklusive des
Rücknahmeabkommens aufkündigen."

Beim Flüchtlingsgipfel im März hatte die Türkei zugesagt, Flüchtlinge von den
griechischen Inseln wieder zurückzunehmen. Im Gegenzug stellte die EU der
Regierung in Ankara - neben Milliardenhilfen für Flüchtlinge in der Türkei und
einer Wiederbelebung des Beitrittsprozesses - von Ende Juni an Visumfreiheit in
Aussicht. Außerdem nimmt die EU für jeden von Griechenland zurückgeschickten
Syrer einen anderen Syrer aus der Türkei legal auf.

Davutoglu sagte am Dienstag während der Parlamentarischen Versammlung des


Europarates in Straßburg, die Flüchtlingskrise sei ein "Härtetest für Europa und
den Rest der Welt". Die Parlamentarische Versammlung setzt sich aus Delegationen
der 47 Mitgliedstaaten des Europarates zusammen, dem die Türkei - anders als der
EU - angehört.

UPDATE: 20. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 18. Januar 2016 8:35 AM GMT+1

Flüchtlingshelferin;
"Extrem fordernd, unzuverlässig und aufdringlich"

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1619 Wörter

HIGHLIGHT: Sie begann ihre Arbeit in einer Hamburger Erstaufnahmestelle mit viel
Idealismus. Doch die Erfahrungen mit den Flüchtlingen haben ihr alle Illusionen
geraubt. Eine Angestellte über ihren Alltag.

Seit dem Herbst 2015 arbeite ich hauptberuflich und fest angestellt in einer
Hamburger Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge. Auf diesen Job hatte ich mich
explizit beworben, das war genau das, was ich machen wollte. Als ich die Zusage
dafür dann endlich in meinem Briefkasten hatte, habe ich mich wie verrückt
darüber gefreut; endlich konnte ich nicht nur theoretisch helfen, sondern auch
wirklich praktisch etwas für die Flüchtlinge tun.

Dementsprechend bin ich dann auch bestens gelaunt an meinem ersten Arbeitstag in
die Erstaufnahmestelle gegangen; ich war natürlich aufgeregt, klar, ist man ja
immer am ersten Arbeitstag im neuen Job, aber ansonsten hat es mir da gut
gefallen. Die Kollegen waren engagiert und sehr nett, mit den Flüchtlingen hatte
ich da zwar noch keinen direkten Kontakt, aber ich habe voller Begeisterung in
die Gegend gegrüßt und fand die alle ganz toll.

"Das wird sicher richtig super hier", habe ich mir gedacht. In den nächsten
Tagen habe ich mich dann absolut motiviert in die Arbeit gestürzt. Die sollte
mit den bis zu 1500 Flüchtlingen stattfinden, die dort untergebracht waren. Ich
war für deren Sozialberatung zuständig, sollte also Ansprechpartnerin für alle
sozialen Probleme der Flüchtlinge sein, sie bei ihrem Asylverfahren unterstützen
oder Arzttermine festmachen, wenn sie welche brauchten.

Tja, und dann kamen die ersten Flüchtlinge in mein Büro, in dem ich die
Sozialberatung abhalten wollte - und ich habe schon nach den ersten paar
Besuchen von ihnen gemerkt, dass meine sehr positive und idealistische
Vorstellung von ihnen und ihrem Verhalten sich doch deutlich von der Realität
unterschied. Natürlich darf man auf keinen Fall pauschal über alle Flüchtlinge
urteilen, es gibt unter ihnen viele, die sehr freundlich sind, sehr dankbar,
sehr integrationswillig, sehr froh hier zu sein. Aber wenn ich ehrlich bin, dann
ist die Zusammenarbeit mit 90 Prozent von denen, die ich treffe, eher unangenehm
und leider nicht so, wie ich mir das vorher gedacht habe.

Wohnung, schickes Auto und am besten ein richtig guter Job

Erstens sind viele von ihnen extrem fordernd. Kommen zu mir und verlangen, dass
ich ihnen jetzt sofort eine Wohnung und ein schickes Auto und am besten auch
gleich noch einen richtig guten Job beschaffe, weil ich das ja müsste, dafür
sitze ich ja da und sie seien ja nun mal hier angekommen. Wenn ich das dann
ablehne und stattdessen versuche, ihnen zu erklären, dass das nicht geht, dann
werden sie oftmals laut oder auch mal richtig aggressiv. Ein Afghane hat erst
letztens gedroht, er werde sich umbringen. Und ein paar Syrer und eine Gruppe
Afghanen haben erklärt, sie würden in den Hungerstreik treten, bis ich ihnen
helfen würde, an einen anderen Platz zu ziehen. Eine ursprünglich aus dem
arabischen Raum stammende Kollegin von mir haben sie mal wirklich angeschrien
"Wir köpfen dich!". Wegen solcher und anderer Sachen war die Polizei mehrmals in
der Woche bei uns.

Zweitens machen sie häufig sehr unzuverlässige Angaben. Sie kommen zu mir, haben
ihre Papiere dabei und erzählen dann eine Geschichte, die so gar nicht ganz
stimmen kann. Aber sie halten daran fest und ich kann mir dann erst sicher sein,
wenn ich mit meinen Kollegen darüber gesprochen habe und die sagen dann oft,
dass die Person am Tag vorher schon bei ihnen gewesen war und da alles ein
bisschen anders erzählt habe. Es gab beispielsweise einen Bewohner, der kam mit
seinem Abschiebe-Bescheid zu mir und wollte wissen, was nun passieren würde. Ich
habe es ihm erklärt, er ist dann gegangen. Bald darauf kam er zu meiner Kollegin
und zeigte plötzlich völlig neue Ausweispapiere auf einen anderen Namen vor und
sagte, er sei dieser Mensch mit dem anderen Namen. Er wurde dann nicht mehr
ausgewiesen, sondern nur in ein anderes Lager verlegt.

Drittens halten sie sich nur selten an Absprachen. Ich mache ja auch die
Arzttermine für die Flüchtlinge fest. Alle von ihnen müssen eine
Grunduntersuchung über sich ergehen lassen, das heißt durchs Röntgen, eine
Impfung und einen generellen Check-up durch. Aber viele von ihnen wollen noch zu
anderen Ärzten, vor allem zu einem Zahnarzt oder zum Orthopäden. Dann mache ich
Termine für sie, aber wenn der Termin da ist, tauchen sie einfach nicht auf. Das
passiert so häufig, dass die Ärzte uns mittlerweile schon gebeten haben, nicht
mehr so viele Termine festzumachen - aber was soll ich denn da tun? Ich kann ja
nicht einfach die Bitte um einen Termin ablehnen, nur weil ich vermute, dass der
Bittende dann nicht erscheinen könnte.

Und viertens, und das ist für mich das Schlimmste: Einige der Flüchtlinge
verhalten sich indiskutabel uns Frauen gegenüber. Es ist ja bekannt, dass es vor
allem alleinstehende Männer sind, die hierher zu uns kommen, etwa 65 Prozent
oder vielleicht sogar 70 Prozent, würde ich mal ganz persönlich so schätzen. Die
sind alle noch jung, erst so um die 20, höchstens 25 Jahre alt.

Und ein Teil davon achtet uns Frauen überhaupt nicht. Sie nehmen es hin, dass
wir da sind, das müssen sie ja auch, aber sie nehmen uns überhaupt nicht ernst.
Wenn ich als Frau ihnen etwas sage oder ihnen eine Anweisung geben will, dann
hören sie mir kaum zu, tun es sofort als unwichtig ab und wenden sich danach
einfach noch einmal an einen der männlichen Kollegen. Für uns Frauen haben sie
oft nur verächtliche Blicke übrig - oder eben aufdringliche. Sie pfeifen einem
laut hinterher, rufen einem dann noch etwas in einer fremden Sprache nach, was
ich und die meisten meiner Kolleginnen nicht verstehen, lachen. Das ist wirklich
sehr unangenehm. Es ist sogar mal passiert, dass sie einen mit dem Smartphone
fotografiert haben. Einfach so, ungefragt, auch wenn man protestiert hat. Und
letztens bin ich eine etwas steilere Treppe hinaufgegangen. Da sind mir einige
von den Männern hinterher gelaufen, hinter mir die Stufen hochgegangen und sie
haben die ganze Zeit gelacht und - vermute ich - über mich geredet und mir etwas
zugerufen.

In den letzten Wochen ist es schlimmer geworden

Kolleginnen haben mir erzählt, dass ihnen auch schon Ähnliches zugestoßen ist.
Sie haben aber gesagt, dass man nichts dagegen machen kann. Dass es hier halt
zum Job dazu gehört. Das kommt so oft vor, wenn man da jedes Mal jemanden
anzeigen oder gleich verlegen würde, wäre die Einrichtung deutlich leerer. Also
ignorieren sie es und versuchen, es nicht weiter an sich rankommen zu lassen -
und so habe ich es dann eben auch gemacht. Bin mit nach vorne gerichtetem Blick
weitergegangen, wenn die mir hinterhergepfiffen oder mir etwas nachgerufen
haben. Habe nichts gesagt und das Gesicht nicht verzogen, um sie nicht darin zu
bestärken, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass sie mir damit weh tun oder
mich beeinflussen können.

Doch das hat nicht geholfen; es ist sogar schlimmer geworden - ehrlich gesagt:
besonders in den letzten Wochen, als immer mehr Männer aus Nordafrika, aus
Marokko, Tunesien oder Libyen, hierher zu uns in die Einrichtung gekommen sind.
Die waren noch aggressiver. Da konnte ich es dann nicht mehr ignorieren - und
habe reagiert. Um mich nicht weiter dem auszusetzen.

Konkret heißt das: Ich habe begonnen, mich anders anzuziehen. Ich bin eigentlich
jemand, der gern auch mal etwas engere Sachen trägt - aber jetzt nicht mehr. Ich
ziehe ausschließlich weit geschnittene Hosen und hochgeschlossene Oberteile an.
Schminke benutze ich sowieso immer schon sehr wenig, höchstens mal einen
Abdeck-Stift. Und nicht nur äußerlich habe ich mich verändert, um mich etwas vor
dieser Belästigung zu schützen. Ich verhalte mich auch anders. So vermeide ich
es zum Beispiel, auf unserem Gelände an diejenigen Orte zu gehen, an denen sich
die alleinstehenden Männer oft aufhalten. Und wenn ich es doch mal muss, dann
versuche ich, sehr schnell da durchzukommen und lächele dabei niemanden an,
damit man das nicht falsch verstehen kann.

Aber meist bleibe ich in meinem kleinen Büro, wenn möglich, dann sogar den
ganzen Tag über. Und ich fahre nicht mehr mit der Bahn zur Arbeit hin oder
wieder zurück - denn letztens ist eine Kollegin von einigen der jungen Männer
bis zur U-Bahn-Station verfolgt und sogar noch in der Bahn belästigt worden. Das
möchte ich mir ersparen und komme daher mit dem Wagen.

Ich weiß, dass sich das alles heftig anhört: Anders anziehen, bestimme Räume
meiden und nur noch das Auto nehmen. Und ich finde es selber furchtbar, dass ich
das alles mache und ich es für nötig erachte. Aber was soll ich denn tun, was
wäre die Alternative? Mich einfach weiter anstarren und anmachen zu lassen, das
kann es ja nicht sein. Von offizieller Seite habe ich da keine große Hilfe zu
erwarten. Weder bei dieser Sache, noch bei den anderen Problemen, die es bei uns
gibt, weder bei der Innenbehörde noch beim hiesigen Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge. Wenn man bei denen anruft, gehen die oft gar nicht mehr ans
Telefon.

Mir bleibt also eigentlich wirklich nur noch die Kündigung. Doch die habe ich
bisher immer für mich ausgeschlossen; ich mag meine Kollegen sehr gern, die
Flüchtlingskinder auch. Und ich war doch vorher so sehr überzeugt von dem Job
und von der ganzen Sache an sich - da fällt es sehr schwer, sich einzugestehen,
dass das alles doch ein wenig anders ist, als man es sich vorgestellt hat. Und
die Kündigung wäre natürlich genau dieses Eingeständnis. Mittlerweile denke ich
trotzdem konkret darüber nach. Viele Kollegen und Kolleginnen wollen ebenfalls
kündigen. Weil sie es nicht mehr aushalten, weil sie nicht mit ansehen können,
wie schief das hier alles läuft und dass sie nichts dagegen machen können. Und
wenn ich ehrlich bin: Ich halte es auch nicht mehr aus."

Die Angestellte in einer Hamburger Erstaufnahmestelle berichtete unserer


Redakteurin Sophie Lübbert von ihrem Alltag, möchte jedoch anonym bleiben.

UPDATE: 18. Januar 2016

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Die Welt

Mittwoch 10. Februar 2016

Chronik einer Nacht, die alles veränderte;


Eine Liste der polizeilichen Vorgänge aus der Kölner Silvesternacht dokumentiert
das ganze Ausmaß der Übergriffe

AUTOR: Marcus Heithecker; Florian Flade; Marcel Pauly; Kristian Frigelj

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 34

LÄNGE: 588 Wörter

Knapp sechs Wochen nach der Silvesternacht von Köln ist die Zahl der Anzeigen
wegen der sexuellen Übergriffe auf Mädchen und Frauen rund um den Hauptbahnhof
weiter gestiegen. "Uns liegen bislang 1054 Strafanzeigen vor", teilte Ulrich
Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln der "Welt" auf Anfrage mit. In mehr als
der Hälfte der Fälle (454) geht es demnach um sexuelle Übergriffe.

Mittlerweile hat die Polizei 59 Tatverdächtige ermittelt - darunter mehrheitlich


Marokkaner und Algerier. 13 Personen sitzen derzeit in Untersuchungshaft. Der
"Welt" liegt eine Liste der polizeilichen Vorgänge aus der Kölner Silvesternacht
vor, anhand derer sich die Ereignisse nachträglich gut dokumentieren lassen.
Darin enthalten sind auch sämtliche Strafanzeigen, die bis zum 27. Januar bei
der Polizei eingegangen sind. Bis zu jenem Tag waren demnach 986 Vorfälle
aktenkundig geworden - von Sexualdelikten über Diebstähle und Raub bis hin zu
Körperverletzungen und Beleidigungen.

Die überwiegende Zahl der sexuellen Übergriffe und Diebstähle ereignete sich
demnach zwischen 23 Uhr und 1 Uhr nachts. Zwei Drittel aller Vorfälle sollen
sich am Hauptbahnhof und auf dem Bahnhofsvorplatz ereignet haben. Schon gegen
Mitternacht hatte die Polizei damit begonnen, den Bahnhofsvorplatz zu räumen,
die Lage beruhigte sich aber erst viel später. Auffällig viele Strafanzeigen gab
es auch mit Bezug zur nebenan liegenden Hohenzollernbrücke. Neben den sexuellen
Übergriffen und Taschendiebstählen registrierte die Polizei vor allem sexuelle
Beleidigungen, andere einfache Diebstähle, Raube und Körperverletzungen.

Die Daten verdeutlichen erneut die fatale Fehleinschätzung der Kölner Polizei am
nächsten Morgen. In einer Pressemitteilung zu den Ereignissen der Neujahrsnacht
war von einer "ausgelassenen Stimmung" die Rede, und der Verlauf der Nacht wurde
als "weitgehend friedlich" beschrieben. Wie aus den Unterlagen hervorgeht, die
der "Welt" vorliegen, waren bis zum Neujahrsmorgen jedoch bereits weit mehr als
hundert Anzeigen bei der Polizei eingegangen. Nachdem die mediale
Berichterstattung über die Silvesternacht ab dem 4. Januar zunahm, erhöhte sich
die Zahl der Strafanzeigen in der ersten Januarwoche noch einmal massiv.

Viele Opfer sind demnach dem Aufruf der Polizei gefolgt, noch nicht gemeldete
Vorfälle zur Anzeige zu bringen. Derzeit gehe man von 1108 Opfern und
Geschädigten aus, so Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer. Dass die Zahl der Opfer
höher sei als die Zahl der Anzeigen, sei damit zu erklären, dass einige
Betroffene gemeinsam bei der Polizei Anzeige erstattet hatten. Nur in einem Fall
werde eine Strafanzeige bislang als unbegründet gewertet. Gegen die Person,
einen offenbar geistig verwirrten Mann, wird wegen falscher Verdächtigung
ermittelt. Bei der Kölner Polizei befasst sich die Ermittlungsgruppe (EG)
"Neujahr" mit der Aufklärung der Ereignisse der Silvesternacht. 13 Personen
sitzen in Untersuchungshaft, bei fünf von ihnen wird aufgrund von sexuellen
Übergriffen ermittelt. Mehrheitlich lautet der Vorwurf Diebstahl, Raub,
Hehlerei, Körperverletzung und Widerstand gegen Polizeibeamte.

In Bezug auf die Nationalität der Beschuldigten teilte die Staatsanwaltschaft


mit, dass es sich um 25 Algerier, 21 Marokkaner, drei Tunesier, drei Deutsche,
zwei Syrer und jeweils einen Iraker, Libyer, Iraner und Montenegriner handelt.
Unter den Beschuldigten befinden sich auch Minderjährige und Heranwachsende
sowie Asylbewerber und illegal eingereiste Personen. Einige Beschuldigte seien
bereits polizeibekannt.

UPDATE: 10. Februar 2016

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Mittwoch 10. Februar 2016 10:51 AM GMT+1

Silvester;
1054 Strafanzeigen nach Übergriffen von Köln

AUTOR: Florian Flade, Marcel Pauly und Kristian Frigelj

RUBRIK: POLITIK; Politik


LÄNGE: 646 Wörter

HIGHLIGHT: Erstmals zeigt eine Liste der polizeilichen Vorgänge aus der Kölner
Silvesternacht das ganze Ausmaß der Übergriffe. Bereits am Neujahrsmorgen lagen
mehr als 100 Anzeigen vor, inzwischen mehr als 1000.

Knapp sechs Wochen nach der Silvesternacht von Köln ist die Zahl der Anzeigen
wegen der sexuellen Übergriffe auf Mädchen und Frauen rund um den Hauptbahnhof
weiter gestiegen. "Uns liegen bislang 1054 Strafanzeigen vor", teilte Ulrich
Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln der "Welt" auf Anfrage mit.

In knapp der Hälfte der Fälle (454) geht es demnach um sexuelle Übergriffe.
Mittlerweile hat die Polizei 59 Tatverdächtige ermittelt - darunter mehrheitlich
Marokkaner und Algerier. 13 Personen sitzen derzeit in Untersuchungshaft.

Der "Welt" liegt eine Liste der polizeilichen Vorgänge aus der Kölner
Silvesternacht vor, anhand derer sich die Ereignisse nachträglich gut
dokumentieren lassen. Darin enthalten sind auch sämtliche Strafanzeigen, die bis
zum 27. Januar bei der Polizei eingegangen sind. Bis zu jenem Tag waren demnach
986 Vorfälle aktenkundig geworden - von Sexualdelikten über Diebstähle und Raub
bis hin zu Körperverletzungen und Beleidigungen. Aufgelistet werden auch der
mutmaßliche Tatzeitpunkt und der Tatort.

Die überwiegende Mehrzahl der sexuellen Übergriffe und Diebstähle ereignete sich
demnach zwischen 23 Uhr und 1 Uhr nachts. Zwei Drittel aller Vorfälle sollen
sich am Hauptbahnhof und auf dem Bahnhofsvorplatz ereignet haben. Schon gegen
Mitternacht hatte die Polizei damit begonnen, den Bahnhofsvorplatz zu räumen,
die Lage beruhigte sich aber erst viel später. Auffällig viele Strafanzeigen gab
es auch mit Bezug zur nebenan liegenden Hohenzollernbrücke.

Neben den sexuellen Übergriffen und Taschendiebstählen registrierte die Polizei


vor allem sexuelle Beleidigungen, andere einfache Diebstähle, Raube und
Körperverletzungen. Die Daten verdeutlichen rückblickend erneut die fatale
Fehleinschätzung der Kölner Polizei am nächsten Morgen. In einer
Pressemitteilung zu den Ereignissen der Neujahrsnacht war von einer
"ausgelassenen Stimmung" die Rede gewesen, und der Verlauf der Nacht wurde als
"weitgehend friedlich" beschrieben.

Wie aus den Unterlagen hervorgeht, die der "Welt" vorliegen, waren bis zum
Neujahrsmorgen jedoch bereits weit mehr als hundert Anzeigen bei der Polizei
eingegangen. Nachdem die mediale Berichterstattung über die Silvesternacht ab
dem 4. Januar zunahm, erhöhte sich die Zahl der Strafanzeigen in der ersten
Januarwoche noch einmal massiv.

Viele Opfer sind demnach dem Aufruf der Polizei gefolgt, noch nicht gemeldete
Vorfälle zur Anzeige zu bringen. Heute gehe man von 1108 Opfern und Geschädigten
aus, so Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer. Dass die Zahl der Opfer höher sei als
die Zahl der Anzeigen, sei damit zu erklären, dass einige Betroffene gemeinsam
bei der Polizei Anzeige erstattet hatten. Nur in einem Fall werde eine
Strafanzeige bislang als unbegründet bewertet. Gegen die Person, einen offenbar
geistig verwirrten Mann, wird wegen falscher Verdächtigung ermittelt.

Bei der Kölner Polizei befasst sich die Ermittlungsgruppe (EG) "Neujahr" mit der
Aufklärung der Ereignisse der Silvesternacht. Gegen die 13 Personen, die derzeit
in Untersuchungshaft sitzen, wird nur gegen fünf aufgrund von sexuellen
Übergriffen ermittelt. Mehrheitlich lautet der Vorwurf Diebstahl, Raub,
Hehlerei, Körperverletzung und Widerstand gegen Polizeibeamte.

Im Bezug auf die Nationalität der Beschuldigten teilte die Kölner


Staatsanwaltschaft mit, dass es sich um 25 Algerier, 21 Marokkaner, drei
Tunesier, drei Deutsche, zwei Syrer und jeweils einen Iraker, Libyer, Iraner und
Montenegriner handelt. Unter den Beschuldigten befinden sich auch Minderjährige
und Heranwachsende sowie Asylbewerber und illegal eingereiste Personen. Einige
Beschuldigte seien bereits polizeibekannt.

Verurteilt wurde aufgrund der Übergriffe aus der Silvesternacht bislang niemand.
Eine erste Anklage gibt es allerdings bereits. Am 24. Februar müssen sich ein
Marokkaner und ein Tunesier vor dem Amtsgericht Köln verantworten - wegen des
Diebstahls einer Kamera.

UPDATE: 10. Februar 2016

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Die Welt

Donnerstag 21. Januar 2016

Flüchtlinge können helfen, aber es wird teuer;


IWF hat Auswirkungen der Asylbewerber auf die Wirtschaft untersucht. Kurzfristig
sind positive Effekte für Deutschland "wahrscheinlich"

AUTOR: Olaf Gersemann; Martin Greive

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 9 Ausg. 17

LÄNGE: 1331 Wörter

Davos

Bringen die mehr als eine Million nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge der
Wirtschaft einen Schub? Oder werden sie zu einer großen finanziellen Belastung
für eine ohnehin schon alternde Gesellschaft? Über diese Frage ist unter
Politikern und Ökonomen ein heftiger Streit ausgebrochen. Nun mischt sich in die
Debatte der Internationale Währungsfonds (IWF) ein - und bringt gerade für
Deutschland neue Fakten ans Licht.

"Es ist Zeit für eine große internationale Initiative", sagte Christine Lagarde,
die geschäftsführende Direktorin des IWF, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.
Jordanien und Libanon bräuchten finanzielle Hilfe der internationalen
Gemeinschaft. In Europa selbst sei zudem "ein viel breiterer und kollektiver
Ansatz" vonnöten, um die Flüchtlingskrise zu meistern. Erfahrungsgemäß dauere es
20 Jahre, ehe sich die Unterschiede bei der Beschäftigung von Flüchtlingen und
Einheimischen ausgeglichen hätten, sagte Lagarde. "Die Integration in den
Arbeitsmarkt verläuft meist langsam", erklärte die IWF-Chefin. In der Regel
gelinge die Integration "dort besser, wo Arbeits- und Produktmärkte flexibler
sind".

In einer 50 Seiten langen Studie, die Lagarde vorstellte, haben nicht weniger
als zwölf Ökonomen die Folgen des Flüchtlingsstroms auf die europäische
Wirtschaft untersucht. Ergebnis: Kurzfristig werde der Flüchtlingsstrom
"wahrscheinlich" einen positiven Effekt haben und "zu einem moderaten Anstieg
des Wirtschaftswachstums führen", schreiben die IWF-Forscher. Besonders
Hauptankunftsländer wie Deutschland, Österreich und Schweden würden demnach
profitieren. So könnte die Wirtschaftsleistung Deutschlands bis zum Jahr 2017 um
0,3 Prozent steigen. Bis zum Jahr 2020 ist sogar ein Plus von 0,53 Prozent drin
- allerdings nur, wenn es gelingt, viele Flüchtlinge gut zu integrieren, teilte
der IWF mit.

Sonst drohen Deutschland vor allem hohe Kosten. "Mittel- und langfristig hängt
der Effekt von Flüchtlingen auf das Wachstum davon ab, wie die Flüchtlinge in
den Arbeitsmarkt integriert sind", heißt es in der Studie. Die Politik hat es
also selbst in der Hand, aus der Flüchtlingskrise ein zweites deutsches
Wirtschaftswunder zu machen. In den vergangenen 40 Jahren verlief die
Integration von Flüchtlingen in Deutschland eher schleppend, stellt IWF-Forscher
Robert Beyer in der Studie fest. Beyer hat sich die Arbeitsmarktintegration der
Flüchtlinge in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren angeschaut. Ein
Ergebnis: Im Jahr 2013 war die Arbeitslosenrate unter Immigranten mehr als
doppelt so hoch wie bei der heimischen Bevölkerung. Selbst bei gleicher
Qualifikation haben Immigranten schlechtere Karten: Die Wahrscheinlichkeit,
arbeitslos zu werden, ist für Migranten sieben Prozentpunkte höher als für
heimische Arbeitnehmer mit gleichen Fähigkeiten. Zwar verschwindet dieses
Gefälle bei der Chancengleichheit mit der Zeit. Aber langfristig bleibt die
Arbeitslosenquote unter Migranten drei Prozentpunkte höher als unter heimischen
Beschäftigten. Auch bei den Löhnen gibt es große Unterschiede: Wenn Immigranten
ins Land kommen, verdienen sie zunächst 20 Prozent weniger als gleich
qualifizierte Deutsche. Zwar machen sie dann pro Jahr einen Prozentpunkt auf
ihre heimischen Kollegen gut.

Wenig überraschend haben vor allem Immigranten ohne Deutschkenntnisse große


Probleme, einen gut bezahlten Job zu finden. Ohne Sprachkenntnisse liegt der
Lohn für einen Immigranten im Schnitt 30 Prozent tiefer als der eines Deutschen.
Lernt ein Immigrant die Sprache, schließt sich die Lücke um zwölf Prozentpunkte.
Macht er in Deutschland einen Abschluss nochmals um sechs Prozentpunkte. Gerade
die Qualifikation spielt in der deutschen Wirtschaft, in der sich viele kleine
Weltmarktführer tummeln, eine große Rolle. 66 Prozent aller hochqualifizierten
Deutschen haben einen Job, der einen höheren Berufsabschluss erfordert.
Demgegenüber gilt dies nur für 42 Prozent der Immigranten, stellt Beyer fest.
Auch hier ist also noch viel zu tun.

Vor allem bei jenen Flüchtlingen, die jetzt nach Europa und Deutschland strömen,
gestaltet sich die Arbeitsmarktintegration schwierig. "Immigranten aus
Afghanistan, Iran, Irak, Syrien, Somalia, Eritrea und dem früheren Jugoslawien
sind im Schnitt weniger gut qualifiziert als die heimische Bevölkerung oder
andere Immigranten", schreiben die Studienautoren.

Es gibt aber auch Mutmacher: 21 Prozent der zwischen 2013 und 2014 nach
Deutschland gekommenen Syrer haben eine Hochschulausbildung und damit fast
genauso viele wie Deutsche. Trotz aller Schwierigkeiten sind die Effekte von
Flüchtlingen auf den aktiven Arbeitsmarkt zunächst einmal aber gering, heißt es
in der Studie. Immigranten drücken die Löhne von heimischen Arbeitskräften wenn
überhaupt nur in geringem Umfang, schreibt der IWF. Fast keinen Einfluss hat der
Flüchtlingsstrom auf die Arbeitslosenquote. Sie könnte bis 2020 in Deutschland
wegen der Flüchtlingskrise um gerade mal 0,16 Prozent steigen. Der
Flüchtlingsstrom hat häufig sogar positive Effekte: Heimische Arbeitskräfte
rutschten in der Vergangenheit bei hoher Zuwanderung häufig in besser bezahlte
Jobs, weil die Neuankömmlinge aus dem Ausland zunächst einfachere Tätigkeiten
verrichten. Allerdings warnt der IWF vor zu viel Euphorie. Wer glaubt, die
Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt laufe wegen des
Fachkräftemangels in Deutschland fast wie von allein, sei "naiv", sagt
IWF-Forscherin Enrica Detragiache."Es wird einige Zeit dauern, um die
Immigranten fit für den deutschen Arbeitsmarkt zu machen."

Ob der Staat finanziell von Flüchtlingen profitiert oder wie von vielen Ökonomen
befürchtet zweistellige Milliardenkosten zu tragen hat, lässt sich laut IWF
daher kaum sagen. So gibt es etwa in Australien einen großen Unterschied
zwischen "Wirtschaftsflüchtlingen" und humanitären Flüchtlingen. Flüchtlinge,
die wegen politischer Repression oder Verfolgung fliehen, "haben während der
ersten zehn bis 15 Jahre netto einen negativen finanziellen Einfluss auf ein
Land, während Wirtschaftsflüchtlinge einen positiven Beitrag leisten", heißt es
in der Studie.

Für Deutschland waren die finanziellen Folgen in der Vergangenheit ernüchternd.


So war für den Zeitraum zwischen 2007 und 2009 der Finanzeffekt von Flüchtlingen
mit einem Minus von über einem Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt in
keinem Land der Industrieländerorganisation OECD so groß wie in Deutschland. Für
die nächsten Jahre erwartet der IWF eine ähnliche Entwicklung: So werde die
Verschuldung Deutschlands im Jahr 2020 wegen der Flüchtlingskrise rund 0,77
Prozentpunkte höher ausfallen. Allerdings ist das eine Größenordnung, die sich
das finanziell solide dastehende Deutschland locker leisten kann. 2015 machte
Deutschland zwölf Milliarden Euro Überschuss. Dieses Geld steht für
Flüchtlingsausgaben bereit.

Viele Nachbarländer profitieren dagegen finanziell von Flüchtlingen, wie die


Erfahrungen von 2007 bis 2009 zeigen: Luxemburg etwa um über zwei Prozent
gemessen an der Jahreswirtschaftsleistung. Über alle OECD-Länder hinweg betrug
der positive Effekt rund 0,4 Prozent. "Der Netto-Finanzeffekt von Immigranten
für den Staat hängt im Wesentlichen von ihrem Erfolg im Arbeitsmarkt ab",
schreiben die Forscher. Sie schlagen deshalb einige Maßnahmen vor, um
Flüchtlingen schneller einen Job zu beschaffen.

So sollten die Hürden, eine Arbeit schon während des Asylverfahrens aufnehmen zu
können, möglichst niedrig sein. Lohnsubventionen für Arbeitgeber könnten
ebenfalls helfen. In Dänemark fanden Flüchtlinge in solch einem Programm
zwischen 14 und 24 Wochen schneller einen Job.

Wichtig sei vor allem, dass Flüchtlinge mobil sind und dorthin gehen können, wo
die Arbeitsplätze sind, heißt es in der Studie. Dies ist vor allem eine Absage
an eine feste Verteilung von Flüchtlingen, wie in Deutschland diskutiert wird.
Der IWF räumt ein, dass der Flüchtlingsstrom die Preise für "bezahlbaren
Wohnraum erhöhen wird". Um dieses Problem zu lösen, schlägt der IWF staatliche
Wohnungsbauprogramme vor.

UPDATE: 21. Januar 2016

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Die Welt

Samstag 23. Januar 2016

Lernen, mit dem Sturm zu leben Lernen, mit dem Sturm zu leben;
Europa genoss die Windstille im Schatten der Supermächte. Heute steht der
Kontinent in einem Orkan. Die Rückkehr zur Ruhe ist Illusion

AUTOR: Stefan Aust

RUBRIK: SONDERTHEMEN; SONDERTHEMEN Ausg. 19

LÄNGE: 1730 Wörter

Was sind das für Zeiten! Wir verstehen sie nicht mehr, sie beunruhigen uns, wir
können nicht Schritt halten mit dem Vormarsch immer neuer Risiken und Gefahren.
Gleichzeitig haben nicht wenige von uns das Gefühl, in einer Epoche der
moralischen Verwilderung zu leben, in der Terroristen immer brutaler zuschlagen
- und das nicht mehr nur im Fernen oder Nahen Osten, sondern auch in unserer
Mitte.

Das, was eben noch sicher und überschaubar war, wankt und wandelt sich. Es
scheint keine Gewissheiten mehr zu geben. Das Besorgniserregende daran ist: Die
allgemeine Unsicherheit hat viele Felder der Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft ergriffen. Oftmals wird man zudem den Eindruck nicht los, dass die
Politiker nicht in der Lage sind, die Herausforderungen angemessen anzugehen,
etwa wenn sie während der Griechenland- und Flüchtlingskrise mit
schulterzuckender Gleichgültigkeit mal eben die herrschenden Verträge und
Gesetze vom Tisch fegen.

Sinn für Rechtsstaatlichkeit spricht aus alldem nicht. Wenn er aber fehlt oder
nur noch nach Bedarf herrscht, weil die politische Elite selbst kaum noch Wert
darauf legt, verstärken sich die Sorgen und Ängste der Bevölkerung erst recht.

Mit sechs Krisen haben wir es gegenwärtig zu tun - und das auch noch
gleichzeitig:

1. der russischen Machthunger auf die verlorenen Gebiete und Einflusszonen des
alten Sowjetimperiums in Europa;

2. der Kampf gegen den Terror zu Hause, aber auch weltweit;


3. die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die mit der Pleite der
Lehman Brothers 2008 sichtbar wurde und sich in eine schleichende Sepsis
verwandelt hat;

4. die Euro-Krise, die eigentlich eine Staatsschuldenkrise ist und uns bald
wieder um Griechenland, vielleicht auch um Italien und Frankreich zittern lassen
wird;

5. die Identitätskrise Europas. Sie ist auf vielen Feldern zu bemerken. Eines
davon lässt sich als die "Trumpisierung" der europäischen Politik bezeichnen:
das Erstarken rechts- und linkspopulistischer Kräfte von Marine Le Pen bis zu
Alexis Tsipras. Schließlich

6. die Flüchtlingskrise.

Der Reihe nach: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Wladimir Putin denkt in
den knallharten Kategorien der Machtpolitik. Der russische Präsident ist kein
Abenteurer und Glücksritter. Er ist einer, der dem Sowjetreich nachtrauert und
so klug wie berechnend zugreift, wenn er sich eines der abgefallenen Gebiete
einverleiben kann, die ihm darüber hinaus zu Hause auch noch Ruhm und Ehre
einbringen. Wird Putin kein Widerstand entgegengesetzt, wird sein Appetit
zunehmen. Schon jetzt nutzt er sämtliche Formen der psychologischen
Kriegsführung, um das Baltikum mürbe zu machen. Aufhalten und zähmen kann ihn
nur die Abschreckung, ohne es an der Bereitschaft zur Entspannung fehlen zu
lassen, sollte sich Moskau bewegen. Kurz, kein runder Tisch ist vonnöten, wie
ihn die Deutschen lieben, sondern eine Realpolitik, so wie sie von Harry S.
Truman bis Helmut Schmidt betrieben wurde.

Seit der Wahnsinnsverbrechen der Nazis mit ihren viehischen Missetaten und den
Jahrzehnten danach, als die Amerikaner die Deutschen vor den Stürmen der
Weltpolitik schützten, hat sich die deutsche Gesellschaft in eine postheroische
verwandelt, in der Realpolitik kaum noch etwas gilt. Der Krieg gehört für die
meisten von ihnen auf den Abfallhaufen der Geschichte. Sie möchten nichts mit
ihm zu tun haben, verstehen seine Mechanismen nicht und können folglich nur
unzureichend auf ihn antworten. Wenn eine Krise ausbricht - in Europa zumal - ,
ist die deutsche Gesellschaft in Furcht und würde sie am liebsten mit einem
Kleinkindertrick aussitzen: Ich halte mir die Augen zu, dann sehen mich die
anderen nicht. Gleichzeitig nimmt sie wahr, dass sie sich diese Haltung nach dem
Ende des Kalten Krieges nicht mehr leisten kann und sich wandeln muss. Teilweise
ist dies bereits geschehen. Noch vieles steht aus. Mulmig aber ist den Deutschen
noch immer.

Die Vielgestalt des Krieges trägt nicht zu ihrer Selbstsicherheit bei. Längst
hat der Krieg die herkömmliche Definition von Waffengang und Schlacht gesprengt.
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler wies kürzlich zu Recht
darauf hin. Früher lebten die Menschen entweder im Krieg oder im Frieden, so
Münkler weiter. Heute herrschen Krieg und Frieden zu gleicher Zeit. Darüber
hinaus hat der Krieg seinen Duellcharakter verloren. Wer daran zweifelt, mag an
den weltweit zuschlagenden Terrorismus islamistischer Dschihadisten denken. Er
sollte sich auch den Ausnahmezustand vor Augen führen, der in Paris und Brüssel
herrschte, als der IS im November in Frankreich zuschlug und Belgien ins Visier
nahm. Ein Gegner, der auftaucht, mordet, untertaucht und monatelang in der
Deckung lebt, abgesehen von seinen offenen Kämpfen in Syrien und dem Irak, der
hat den Charakter des Krieges von Grund auf verändert und ihn gleichsam zum
Luftgeist im Nirgendwo gemacht, der überall und jederzeit angreifen kann.

Staaten haben es in dieser Lage besonders schwer. Im Kampf gegen den Terror gilt
das, was Henry Kissinger einmal mit Blick auf den Vietcong formulierte: Eine
Regierung verliert, solange sie nicht gewinnt. Die Terroristen gewinnen, solange
sie nicht verlieren. Zur allgemeinen Beruhigung kann diese Erkenntnis nicht
beitragen. Vielleicht wäre eine jüngere Gesellschaft als die deutsche in dieser
Lage frohgemuter. Alternde Gesellschaften haben wenig Zutrauen in das, was
kommt. Womöglich wäre ihre Zuversicht größer, hätten sie wenigstens Vertrauen,
dass die Wirtschaft des Westens unvermindert stark bleibt. Zwar sind die
Wirtschaftsdaten in Deutschland zufriedenstellend, doch jeder in der
Tagespolitik halbwegs Bewanderte weiß: Die große Malaise, in der wir uns seit
2008 befinden, ist keineswegs beendet. Die Wirtschaftsmacht des Westens wird
kleiner. Gleichzeitig schwanken die Märkte in Asien und Südamerika. Man hat den
Eindruck, dass die führenden Wirtschaftsnationen noch immer nicht ihre
Hausarbeiten gemacht haben.

Zwar mag das Wachstum wieder halbwegs ansehnlich sein, doch werden viele
Zeitgenossen den Eindruck nicht los, dies werde nicht von Dauer sein. Nicht nur
der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph
Stiglitz warnt, dass die Zeit des Wohlstandes bedroht und bemessen ist.

In Europa spürt man es besonders deutlich. Trotz der ewigen Krisengipfel zur
Rettung Griechenlands und verschiedener Versprechungen der hoch verschuldeten
Mitglieder der Europäischen Union, ihre Haushalte in den Griff zu kriegen, wird
kaum ein ernst zu nehmender Beobachter die These aufstellen, Griechenland oder
Europa sei über den Berg. Im Gegenteil. Die Krisenländer haben Zeit und Geld
geliehen bekommen. Eine entscheidende Besserung, ein Ende der Krise ist in
keinem der Problemstaaten in Sicht. Heute wissen wir es: Die europäische
Währungsunion war eine Fehlkonstruktion. Sie mag erst dann funktionieren, wenn
sie um eine Finanz- und Wirtschaftsunion erweitert wird. Doch kaum einer will
sie, es sei denn, er könnte seine Souveränität behalten.

Überhaupt hat die Einführung des Euro zum Gegenteil des Gewünschten geführt. Er
sollte den Kontinent einen und droht ihn seit geraumer Zeit zu sprengen.
Nationale Interessen stehen im Krisenfall über den Regeln des europäischen
Klubs. Sie werden brutaler als früher durchgefochten. Die Politiker bemühen
sich, die Konflikte meist mithilfe von Kompromissen auszusitzen. Dabei machen
sie einen folgenschweren Fehler: Sie hebeln den Rechtsstaat aus. So ist der
Haftungsausschluss, das sogenannte Bail-out-Verbot, das in Artikel 125 Absatz 1
des Vertrags über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben war, schlichtweg
übergangen worden. Dadurch wurden die vertraglich fixierten Aufgaben der
Europäischen Zentralbank bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Nun betätigt sie sich
als Gelddruckmaschine, die den tief verschuldeten Südländern zu Hilfe eilt. Bis
heute werden europäische Verträge gebogen und gebrochen, ohne dass der
Europäische Gerichtshof, die Kommission oder das Parlament protestiert hätten,
von den nationalen Politikern ganz zu schweigen.

Ähnlich verheerend sieht es in der Flüchtlingspolitik aus. Hier missachten nicht


nur sämtliche europäische Regierungen die verschiedenen Asylbestimmungen, die in
den Dubliner Verträgen geschlossen wurden, sondern die Bundesregierung selbst
übergeht auch ihre eigenen Gesetze. Die Folgen sind allenthalben zu spüren:
offene Grenzen für Millionen von Menschen - vom in Not geratenen Syrer bis zum
Terroristen des Islamischen Staates (IS), ohne dass ein Ende der Misere
abzusehen wäre.

Hinzu kommen zunehmende Spannungen zwischen den europäischen Staaten, die Angela
Merkels Politik für verhängnisvoll halten, und jenem schrumpfenden Lager von
Ländern, die sich an Berlin orientieren, von der Tatsache abgesehen, dass
Europas Schengensystem zusammengebrochen ist und die Türkei dank der moralischen
Exaltiertheit der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage über ein
Erpressungspotenzial gegenüber den Europäern verfügt, das Brüssel und Berlin
noch viel Geld kosten wird.
Wird Europa die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen? Seit den Ereignissen der
Silvesternacht zu Köln wuchs der Druck auf die Regierung, eine Wende
einzuleiten. Die Krisenstimmung in der Bevölkerung bleibt. Mit weher
Beklommenheit schaut sie auf die Konflikte der Gegenwart und sehnt sich nach der
Ruhe des Kalten Krieges, der gar nicht so ruhig war. Leben wir in
außergewöhnlich brenzligen Zeiten? Ein Mensch, der 1989 in Europa geboren wurde,
mag es so sehen. Doch was ist mit den Generationen davor? "Nie hat es mehr
falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und
nie mehr Tränen als in unserem Jahrhundert, dem des Fortschritts, der Technik,
der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordes", fasste der
Schriftsteller Erich Maria Remarque sein 20. Jahrhundert zusammen.

Geht man noch weiter in die Geschichte zurück, wird man vielleicht weniger Tod
als im 20. Jahrhundert, dafür aber eine ähnliche Unübersichtlichkeit wie heute
finden. Ein Diplomat bezeichnete diese Unübersichtlichkeit schon kurz nach dem
Fall der Mauer als die "ganz normale Anarchie". In der Starre der
Blockkonfrontation während des Kalten Krieges haben wir vergessen, dass nicht
die Windstille im Rücken der Supermächte der Normalzustand ist, sondern eben
diese Anarchie. Auf lange Zeit werden wir mit ihr leben müssen.

Es heißt also: Nerven behalten!

UPDATE: 23. Januar 2016

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Die Welt

Dienstag 22. März 2016

Idomeni;
Was Flüchtlinge wollen

AUTOR: Paul Nehf

RUBRIK: FORUM; Forum; S. 2 Ausg. 69

LÄNGE: 644 Wörter

In Thailand traf ich vor ein paar Jahren einen jungen Syrer. Er hieß Mahmoud und
arbeitete in einem Café in Krabi, einem Ort an der Andamanensee, von dem aus
jeden Tag zahlreiche Touristen zu malerischen Inseln und Traumstränden starten.
Mahmoud war aus Aleppo geflohen, der Bürgerkrieg war in seiner Heimat schon im
vollen Gange: Assad bombardierte, der Islamische Staat trieb sein Unwesen noch
unter dem Akronym Isis und Frieden war nicht in Sicht. Mahmoud floh nach
Thailand, weil ein Freund dort schon vor langer Zeit ein orientalisches Café
eröffnet hatte. Bei ihm kam er unter. Und in dessen Café arbeitete er nun.

Die meisten Menschen, die nach Europa fliehen, wollen nach Deutschland. Das
sagte fast jeder, den ich in Griechenland fragte. Nun kann man sich über die
Strahlkraft der Merkel-Selfies streiten, die übrigens kein Einziger erwähnte.
Fragt man jedenfalls die Flüchtlinge, was sie in Deutschland erwarten und
vorhaben, hört man meist zwei Sätze. Erstens: Deutschland ist ein gutes Land.
Zweitens: Ich will in Deutschland arbeiten und (gegebenenfalls) meine Kinder zur
Schule schicken.

In der Flüchtlingskrise gibt es jede Menge Missverständnisse. Sie werden


ausgenutzt von Schleppern, die Einladungsbriefe der Bundesregierung fälschen.
Sie dienen aber auch hierzulande denjenigen, die Ängste und Vorurteile schüren.
Ein solches Vorurteil lautet: Die Flüchtlinge kommen hierher, weil sie den
deutschen Sozialstaat ausnutzen wollen. Der zahlt ihnen Taschengeld und besorgt
ihnen Wohnungen - und wir müssen das am Ende bezahlen!

Wer die orientalische Kultur kennt, weiß, dass das ein Missverständnis ist. Es
gibt wohl keine Region auf dieser Welt, wo es so schwer ist, Menschen zum Essen
einzuladen. Wo sich Leute so sehr dagegen wehren, Geschenke anzunehmen. Und wo
man auf der anderen Seite - mir nichts, dir nichts - Fremde nach Hause einlädt.
In der iranischen Kultur gibt es sogar einen Begriff für die besondere Art der
Höflichkeit gegenüber den Mitmenschen: Tarof. Das kann mitunter zu langen
Diskussionen an Türen führen, wer denn zuerst eintreten dürfe. Es beschreibt
aber genau diesen Vorrang des Gebens gegenüber dem Nehmen.

Das Missverständnis aufseiten der Flüchtlinge ist, dass sie mit der naiven
Vorstellung ankommen, im wirtschaftlich so starken Deutschland sofort Arbeit zu
finden - ja, überhaupt arbeiten zu dürfen. Die bürokratischen Hürden sind ihnen
nicht bewusst. In weiten Teilen der Welt kann man problemlos schwarz im Café
kellnern, kann man eine kleine Teestube eröffnen, kann man sich eine Taxilizenz
kaufen. In Deutschland gibt es Arbeitsrichtlinien, Gesundheitsbehörden und einen
Führerschein zur Fahrgastbeförderung, der für Flüchtlinge erst einmal
unerreichbar ist.

Arbeit erleichtert Integration, selbst verdientes Geld führt zu mehr


Eigenverantwortung. Vor allem aber, und das ist den meisten Flüchtlingen am
wichtigsten, gibt es ihnen ein Stück Würde zurück, von der nach der Flucht meist
nicht mehr viel übrig ist. Es ist daher gut, dass immer mehr Politiker fordern,
Asylbewerber schneller anzuerkennen. Denn erst dann können sie legal arbeiten.
Und es ist genauso wichtig, dass die Wirtschaft signalisiert, dass sie
Flüchtlingen eine Chance auf Arbeit geben will. Denn von einem bin ich
überzeugt: Wenn sie die finanziellen Möglichkeiten dazu haben, werden
Flüchtlinge die Miete für ihre Wohnungen selbst bezahlen wollen. Und schwarze
Schafe, im Sinne von Sozialschmarotzern, gibt es auch unter Deutschen.

Trotzdem habe ich in Griechenland manchmal an Mahmoud gedacht. Wer von den
Flüchtlingen, die in Zelten in Idomeni hausten, hätte sich anstatt einer
Schlauchbootfahrt nach Griechenland nicht vielleicht besser ein Flugticket nach
Bangkok gekauft?

Der Autor ist Volontär an der Axel Springer Akademie, hat Politik des Nahen und
Mittleren Osten studiert und war gerade in Griechenland unterwegs
UPDATE: 22. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Michael Dilger

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Mittwoch 13. Januar 2016 7:25 AM GMT+1

Geierabend-Tradition;
Wo der Schwachsinn sein Zuhause hat

AUTOR: Stefan Keim

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1450 Wörter

HIGHLIGHT: Das Ruhrgebiet war karnevalsfremd, bis sich Kabarettisten und


Comedians nach dem Vorbild der Kölner Stunksitzung zum "Geierabend"
zusammenschlossen. Die Comedy-Show irritiert so manchen Protestanten.

Konfetti fliegt durch die Luft. Die Zuschauer sitzen eng gedrängt an
Biertischen. Beim Lachen stupst man den Nachbarn an. Während der Show servieren
Kellner Getränke. Ein gewisser Alkoholpegel scheint manchem ratsam, um bestimmte
Nummern zu überstehen. Denn kompletter Schwachsinn gehört zum "Geierabend", dem
kabarettistischen Karneval im Ruhrgebiet, ebenso wie politischer Biss.

Ruhrgebiet und Karneval - kann das funktionieren? Denn was der Herr getrennt
hat, soll der Mensch nicht zusammenfügen. So denken allerdings nur Rheinländer.
Denn es gibt durchaus leidenschaftliche Karnevalsaktivitäten in einigen Orten
Westfalens - und seit 25 Jahren eine Kultveranstaltung in Dortmund, die es mit
der Kölner Stunksitzung aufnehmen kann. In der malerischen Zeche Zollern in
Bövinghausen, wo das alte Ruhrgebiet noch lebendig ist, läuft eine derbe,
knallige und manchmal überraschend kritische und feinsinnige Bühnenshow.

Viele Stars haben Ruhrpotthits geschrieben, ohne es zu wissen. "Come as you are"
von Nirvana überzeugt mit dem Text "Komm wiesse bis" deutlich mehr als das
Original. Zumindest als Eröffnungsnummer und Titelgeber des "Geierabends 2016".
Die grandiose Band gehört zum Kapital des Abends. Besonders auffällig ist die
aus dem Iran stammende Saxofonistin Gilda Razani mit jazzigem Drive und
angepunktem Outfit. Wenn ein Sketch mal keine überzeugende Pointe hat - soll
vorkommen - gibt es einfach einen Song, und die Hütte tobt.

Manche Nummer allerdings erreicht höchstes Satireniveau. Da tritt zum Beispiel


Hans-Peter Krüger als Indianerhäuptling auf, als "Winnetous Erbe" und zieht mit
Karacho über die USA her, die den Abgasskandal bei VW entdeckt haben.
"Abgasnormen?" donnert er ins Publikum. "Ja, leck mich doch am Auspuffrohr! Als
wenn ihr nichts in der Welt draußen vergast hättet. Ich sag nur Vietnam, ich sag
Napalm, ich sag Atombombe. Dagegen ist unser Stickoxid aus dem Golf Diesel doch
die reinste Aromatherapie!"

Man lacht mit dem Indianer, der sich hingebungsvoll ereifert wie Gernot
Hassknecht in der Heute-Show. Aber dieser Mann ist nicht nur ein
Sympathieträger. Ihm rutschen rassistische Formulierungen heraus, und plötzlich
ist mancher Zuschauer irritiert. Steht da ein Kabarettist oder ein außer
Kontrolle geratener Wutbürger? Diese Gratwanderungen sind die spannendste Seite
des Geierabends. "Wir sind zwar ne Art Karnevalsveranstaltung", sagt Regisseur
Günter Rückert. " Wir begreifen uns aber schon als kabarettistische Speerspitze
des Ruhrgebietes."

Der anarchische Geist soll bewahrt bleiben

Rückert ist seit fast 20 Jahren beim "Geierabend". Er kam dazu, nachdem die Show
sich aus dem Theater Fletch Bizzel, ihrer Keimzelle, verabschiedete und auf eine
größere Bühne wechselte. Günter Rückert war dafür zuständig, den anarchischen
Geist der Anfangsjahre zu bewahren und dennoch die Professionalität eines Events
zu garantieren. Im vergangenen Jahr kamen 17.500 Zuschauer, die Auslastung lag
bei 102 Prozent. Wie auch immer das ging, die Feuerwehr sollte die Zahl wohl am
besten gleich wieder vergessen. Wenn Günter Rückert sich nicht mit dem
Geierabend beschäftigt, ist er Maler. Ein feinsinniger Mensch, der Gespür für
Doppelbödigkeiten hat.

In mehreren Szenen geht es um Flüchtlinge. Gewissenlose Berater der Agentur


McKinsky beuten die Not der Asylbewerber aus, in einer Quizshow spielt ein
Flüchtling aus Syrien um seine Zukunft. Der Araber spricht bayerisch,
schließlich lebt er schon 17 Jahre in Passau. Asylverfahren dauern eben manchmal
lange. Jede Integrationsdebatte wäre absurd, in keiner Kneipe würde dieser Syrer
auffallen. Nur wenn er eine Antwort richtig weiß, bricht er in laute
Lobpreisungen Allahs aus. Die letzte Frage in der Show ist gemein, er weiß die
Antwort nicht und wird abgeschoben. Das ist kein Gute-Laune-Humor. "Es ist uns
wichtig," sagt Günter Rückert, "dass wir auch böse und satirisch sind und dass
manchmal das Lachen im Halse stecken bleibt. Vor zwei Jahren hatten wir mal eine
Szene, da ging's um Bootflüchtlinge, da sind Leute gegangen. Die fanden das zu
böse."

Auch in der neuen Show machen Zuschauer immer wieder Geräusche, als habe man
ihnen gerade in den Magen getreten. Der Geierabend ist bei allem Spaß am Klamauk
keine Schmusenummer. Ein Highlight des schwarzen Humors ist der Auftritt von
Sandra Schmitz als Youtuberin Fiffi mit ihrem neuesten Tutorial: "Ey, wer kennt
das nicht, ne? So Sätze wie räum dein Zimmer auf, werd nicht schwanger vom
Kevin, bring den Müll runter, du brauchst noch keinen BH, da ist noch nix." Die
Schauspielerin trifft perfekt den kumpelhaften Ton von
Youtube-Selbstdarstellerinnen. "Ey, das kann wirklich irre nerven. Und ich weiß,
viele von euch, haben bestimmt schon drüber nachgedacht, und ich hab das einfach
voll gemacht. Ich hab meine Mutter getötet." Und zwar mit einem ganz tollen
Messer, das sie in einem ganz tollen Baumarkt gekauft hat. Eine Youtuberin lebt
ja von den Ads, für Digital-not-Natives: den Anzeigen.

Auf der anderen Seite gibt es auch puren Klamauk. George Lucas etwa bekam die
Anregung für sein "Star Wars"-Projekt aus dem Ruhrgebiet. Genauer gesagt von
Darth Vadder, der mit Darth Mudder und seinen Kindern in einer Bergmannskolonie
lebt. Darth Vadder hat nach langen Jahren unter Tage eine Staublunge und keucht
erschröcklich. Humor von der dunklen Seite im Schacht.

Fünf Autoren schreiben das Programm

Die Texte schreibt das Ensemble selbst. "Jedes Jahr im August fahren wir alle
zusammen ins Münsterland, inne Knüste", erzählt Günter Rückert. "Da spinnen wir
rum und haben Ideen. Fünf Autoren schreiben, zu zweit, zu dritt oder alleine.
Und dann schmeißen wir zusammen." Autoren sind zum Beispiel Hans-Peter Krüger
und Martin F. Risse, der eine der stärksten Figuren des Geierabends entwickelt
hat.

Mit seinem kleinen Akkordeon tritt er als typischer Sauerländer aus der fiktiven
Gemeinde Schnöttentrop an der Schnötte auf. Und erzählt, was sich gerade in der
Dorfkneipe, dem "Güllestübchen" zugetragen hat. Diesmal hat eine Landfrau
plötzlich nach einer guten Tat einen Heiligenschein am Kopf. Was ziemlich nervt,
denn immer wenn sie das "Güllestübchen" betritt, wird das Bier zu Wein. Die
Schnöttentroper sehen nur einen Ausweg: Sie machen sich auf den Weg zum Papst.
Im Vatikan allerdings hört das absurde Pointenfeuerwerk nicht auf, im Gegenteil.

Zusammengehalten werden die Sketche vom Moderator Martin Kaysh, dem "Steiger".
Entspannt und bissig kommentiert er die Lage der Welt und Dortmunds. Und er
präsentiert die Kandidaten für den "Pannekopp des Jahres", eine Auszeichnung für
besondere politische Fehlleistungen. Kandidat Nummer eins ist diesmal Ennepetal.
"Die Stadt Ennepetal ist wie so viele quasi pleite", erläutert der "Steiger". "
Und da müsste der Kämmerer jetzt die Gewerbesteuer erhöhen. Hat er aber nicht
gemacht. Denn jetzt kommt auf einmal die Wirtschaft um die Ecke und sagt: Hey,
Kämmerer, können wir nicht stattdessen eine kleine Spende rüberschieben?" Die
Idee fand der Kämmerer toll. So zahlen die Unternehmen in Ennepetal Spenden
statt Steuern, die sie natürlich wieder von der Steuer absetzen können.

Gegenkandidat für den Pannekopp ist Essen. Dort hat der Neubau des
Fußballstadions mehr gekostet als gedacht. Also wurde Geld abgezapft, das
eigentlich für die Instandhaltung des Folkwang-Museums gedacht war. Martin Kaysh
hat große Freude daran, diese Peinlichkeiten auszubreiten: "Eigentlich bin ich
ja nur da, damit sich die Kollegen in Ruhe umziehen können. Das ist mein
Freiraum, den nutze ich schonungslos. Ich liebe es, wenn Leute, über die ich
rede, auch im Publikum sitzen. Wenn da demnächst das halbe Landeskabinett sitzt,
freue ich mich auf den Tag, dass ich da in den direkten Bürgerdialog treten
kann."

Die Premiere des Geierabends 2016 lief gut. Aber ganz tolle Stimmung kam noch
nicht auf. Sobald eine Nummer schwächer war, reagierten die Zuschauer
reserviert. "Es gibt zwei Gründe", sagt Kaysh. " Einmal sind wir in Westfalen.
Außerdem ist Dortmund eine protestantische Stadt. Die müssen Karneval erst
lernen und begreifen. Und der Westfale begreift schon das Sitzenbleiben als
Ausdruck der Fröhlichkeit."

Das wird sich ändern, wie jedes Jahr. Die Show wird dichter und witziger werden,
aber nicht angepasst an den Mainstream. Die Ecken und Kanten gehören zum
Geierabend, sie machen den Kabarett-Karneval glaubwürdig. "Der Geierabend ist
deshalb so erfolgreich", sagt der "Steiger", "weil wir mit den Menschen sind.
Wir spielen nicht wirklich gegen sie. Wir fordern sie manchmal und stellen
Sachen infrage. Aber diese Grundübereinstimmung ist da. Und das ist auch
irgendwie Ruhrpott."

Weitere Vorstellungen bis 9. Februar täglich außer montags im


LWL-Industriemuseum Zeche Zollern Dortmund. Informationen gibt es auf der
Website.

UPDATE: 13. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

PUBLICATION-TYPE: Web-Publikation

ZEITUNGS-CODE: WEON

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WELT ONLINE (Deutsch)

Sonntag 24. Januar 2016 10:36 PM GMT+1

Zeiten der Krise;


Die fatale Gleichgültigkeit der Herrschenden

AUTOR: Stefan Aust

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1737 Wörter

HIGHLIGHT: Egal, ob Euro-Krise oder Flüchtlingsfrage: Die Politik wischt


geltende Verträge und Gesetze einfach vom Tisch. Ein Rechtsstaat, der nur bei
Bedarf gilt, macht die aktuellen Krisen noch gefährlicher.

Was sind das für Zeiten! Wir verstehen sie nicht mehr, sie beunruhigen uns, wir
können nicht Schritt halten mit dem Vormarsch immer neuer Risiken und Gefahren.
Gleichzeitig haben nicht wenige von uns das Gefühl, in einer Epoche der
moralischen Verwilderung zu leben, in der Terroristen immer brutaler zuschlagen
- und das nicht mehr nur im Fernen oder Nahen Osten, sondern auch in unserer
Mitte.

Das, was eben noch sicher und überschaubar war, wankt und wandelt sich. Es
scheint keine Gewissheiten mehr zu geben. Das Besorgniserregende daran ist: Die
allgemeine Unsicherheit hat viele Felder der Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft ergriffen.

Oftmals wird man zudem den Eindruck nicht los, dass die Politiker nicht in der
Lage sind, die Herausforderungen angemessen anzugehen, etwa wenn sie während der
Griechenland- und Flüchtlingskrise mit schulterzuckender Gleichgültigkeit mal
eben die herrschenden Verträge und Gesetze vom Tisch fegen.

Ein Sinn für Rechtsstaatlichkeit sieht anders aus. Wenn er aber fehlt oder nur
noch nach Bedarf herrscht, weil die politische Elite selbst kaum noch Wert
darauf legt, verstärken sich die Sorgen und Ängste der Bevölkerung erst recht.
Sechs Krisen gibt es gegenwärtig - und das auch noch gleichzeitig:

1. der russische Machthunger auf die verlorenen Gebiete und Einflusszonen des
alten Sowjetimperiums in Europa;

2. der Kampf gegen den Terror zu Hause, aber auch weltweit;

3. die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die mit der Pleite von
Lehman Brothers 2008 sichtbar wurde und sich in eine schleichende Sepsis
verwandelt hat;

4. die Euro-Krise, die eigentlich eine Staatsschuldenkrise ist und uns bald
wieder um Griechenland, vielleicht auch um Italien und Frankreich zittern lassen
wird;

5. die Identitätskrise Europas. Sie ist auf vielen Feldern zu bemerken. Eines
davon lässt sich als die "Trumpisierung" der europäischen Politik bezeichnen:
das Erstarken rechts- und linkspopulistischer Kräfte von Marine Le Pen bis zu
Alexis Tsipras. Schließlich

6. die Flüchtlingskrise.

Der Reihe nach: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Wladimir Putin denkt in
den knallharten Kategorien der Machtpolitik. Der russische Präsident ist kein
Abenteurer und Glücksritter. Er ist einer, der dem Sowjetreich nachtrauert und
so klug wie berechnend zugreift, wenn er sich eines der abgefallenen Gebiete
einverleiben kann, die ihm darüber hinaus zu Hause auch noch Ruhm und Ehre
einbringen.

Runde Tische helfen nicht

Wird Putin kein Widerstand entgegengesetzt, wird sein Appetit zunehmen. Schon
jetzt nutzt er sämtliche Formen der psychologischen Kriegsführung, um das
Baltikum mürbe zu machen. Aufhalten und zähmen kann ihn nur die Abschreckung,
ohne es an der Bereitschaft zur Entspannung fehlen zu lassen, sollte sich Moskau
bewegen. Kurz, kein runder Tisch ist vonnöten, wie ihn die Deutschen lieben,
sondern eine Realpolitik, so wie sie von Harry S. Truman bis Helmut Schmidt
betrieben wurde.

Seit der Wahnsinnslumperei der Nazis mit ihren viehischen Missetaten und den
Jahrzehnten danach, als die Amerikaner die Deutschen vor den Stürmen der
Weltpolitik schützten, hat sich die deutsche Gesellschaft in eine postheroische
verwandelt, in der Realpolitik kaum noch etwas gilt. Der Krieg gehört für die
meisten von ihnen auf den Abfallhaufen der Geschichte. Sie möchten nichts mit
ihm zu tun haben, verstehen seine Mechanismen nicht und können folglich nur
unzureichend auf ihn antworten.

Wenn eine Krise ausbricht - in Europa zumal -, ist die deutsche Gesellschaft in
Furcht und würde sie am liebsten mit einem Kleinkindertrick aussitzen: Ich halte
mir die Augen zu, dann sehen mich die anderen nicht. Gleichzeitig nimmt sie
wahr, dass sie sich diese Haltung nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr
leisten kann und sich wandeln muss. Teilweise ist dies bereits geschehen. Noch
vieles steht aus. Mulmig aber ist den Deutschen noch immer.

Die Vielgestalt des Krieges trägt nicht zu ihrer Selbstsicherheit bei. Längst
hat der Krieg die herkömmliche Definition von Waffengang und Schlacht gesprengt.
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler wies kürzlich zu Recht
darauf hin. Früher lebten die Menschen entweder im Krieg oder im Frieden. Heute
herrschen Krieg und Frieden zu gleicher Zeit.
Krieg und Frieden zur selben Zeit

Darüber hinaus hat der Krieg seinen Duellcharakter verloren. Wer daran zweifelt,
mag an den weltweit zuschlagenden Terrorismus islamistischer Dschihadisten
denken. Er sollte sich auch den Ausnahmezustand vor Augen führen, der in Paris
und Brüssel herrschte, als der IS im November in Frankreich zuschlug und Belgien
ins Visier nahm.

Ein Gegner, der auftaucht, mordet, untertaucht und monatelang in der Deckung
lebt, abgesehen von seinen offenen Kämpfen in Syrien und dem Irak, hat den
Charakter des Krieges von Grund auf verändert und ihn gleichsam zum Luftgeist im
Nirgendwo gemacht, der überall und jederzeit angreifen kann.

Staaten haben es in dieser Lage besonders schwer. Im Kampf gegen den Terror gilt
das, was Henry Kissinger einmal mit Blick auf den Vietcong formulierte: Eine
Regierung verliert, solange sie nicht gewinnt. Die Terroristen gewinnen, solange
sie nicht verlieren. Zur allgemeinen Beruhigung kann diese Erkenntnis nicht
beitragen.

Vielleicht wäre eine jüngere Gesellschaft als die deutsche in dieser Lage
frohgemuter. Alternde Gesellschaften haben wenig Zutrauen in das, was kommt.
Womöglich wäre ihre Zuversicht größer, hätten sie wenigstens Vertrauen, dass die
Wirtschaft des Westens unvermindert stark bleibt. Zwar sind die Wirtschaftsdaten
in Deutschland zufriedenstellend, doch jeder in der Tagespolitik halbwegs
Bewanderte weiß: Die große Malaise, in der wir uns seit 2008 befinden, ist
keineswegs beendet.

Die Wirtschaftsmacht des Westens sinkt. Gleichzeitig schwanken die Märkte in


Asien und Südamerika. Man hat den Eindruck, dass die führenden
Wirtschaftsnationen noch immer nicht ihre Hausarbeiten gemacht haben. Zwar mag
das Wachstum wieder halbwegs ansehnlich sein, doch werden viele Zeitgenossen den
Eindruck nicht los, wir lebten auf Galgenfrist. Nicht nur der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz warnt, dass die
Zeit des Wohlstandes bedroht und bemessen ist.

Währungsunion war Fehlkonstruktion

In Europa spürt man es besonders deutlich. Trotz der ewigen Krisengipfel zur
Rettung Griechenlands und verschiedener Versprechungen der hoch verschuldeten
Mitglieder der Europäischen Union, ihre Haushalte in den Griff zu kriegen, wird
kaum ein ernst zu nehmender Beobachter die These aufstellen, Griechenland oder
Europa seien über den Berg. Im Gegenteil. Die Krisenländer haben Zeit und Geld
geliehen bekommen. Eine entscheidende Besserung, ein Ende der Krise ist in
keinem der Problemstaaten in Sicht.

Heute wissen wir es: Die europäische Währungsunion war eine Fehlkonstruktion.
Sie mag erst dann funktionieren, wenn sie um eine Finanz- und Wirtschaftsunion
erweitert wird. Doch kaum einer will sie, es sei denn, er könnte seine
Souveränität behalten. Überhaupt hat die Einführung des Euro zum Gegenteil des
Gewünschten geführt. Er sollte den Kontinent einen und droht ihn seit geraumer
Zeit zu sprengen.

Nationale Interessen stehen im Krisenfall über den Regeln des europäischen


Klubs. Sie werden brutaler als früher durchgefochten. Die Politiker bemühen
sich, die Konflikte meist mithilfe von Kompromissen auszusitzen. Dabei machen
sie einen folgenschweren Fehler: Sie hebeln den Rechtsstaat aus. So ist der
Haftungsausschluss, das sogenannte Bail-out-Verbot, das in Artikel 125 Absatz 1
des Vertrags über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben war, schlichtweg
übergangen worden.

Dadurch wurden die vertraglich fixierten Aufgaben der Europäischen Zentralbank


bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Nun betätigt sie sich als Gelddruckmaschine,
die den tief verschuldeten Südländern zu Hilfe eilt. Bis heute werden
europäische Verträge gebogen und gebrochen, ohne dass der Europäische
Gerichtshof, die Kommission oder das Parlament protestiert hätten, von den
nationalen Politikern ganz zu schweigen.

Türkisches Erpressungspotenzial

Ähnlich verheerend sieht es in der Flüchtlingspolitik aus. Hier missachten nicht


nur sämtliche europäische Regierungen die verschiedenen Asylbestimmungen, die in
den Dubliner Verträgen geschlossen wurden, sondern die Bundesregierung selbst
übergeht auch ihre eigenen Gesetze. Die Folgen sind allenthalben zu spüren:
offene Grenzen für Millionen von Menschen - vom in Not geratenen Syrer bis zum
Terroristen des Islamischen Staates (IS), ohne dass ein Ende der Misere
abzusehen wäre.

Hinzu kommen zunehmende Spannungen zwischen den europäischen Staaten, die Angela
Merkels Politik für verhängnisvoll halten, und jenem schrumpfenden Lager von
Ländern, die sich an Berlin orientieren, von der Tatsache abgesehen, dass
Europas Schengensystem zusammengebrochen ist und die Türkei dank der moralischen
Exaltiertheit der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage über ein
Erpressungspotenzial gegenüber den Europäern verfügt, das Brüssel und Berlin
noch viel Geld kosten wird.

Wird Europa die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen? Seit den Ereignissen der
Silvesternacht zu Köln wird der Druck auf die Regierung, eine Wende einzuleiten,
jedenfalls größer werden. Die Krisenstimmung in der Bevölkerung aber bleibt. Mit
weher Beklommenheit schaut sie auf die Konflikte der Gegenwart und sehnt sich
nach der Ruhe des Kalten Krieges, der gar nicht so ruhig war.

Leben wir in außergewöhnlich brenzligen Zeiten? Ein Mensch, der 1989 in Europa
geboren wurde, mag es so sehen. Doch was ist mit den Generationen davor? "Nie
hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr
Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserem Jahrhundert, dem des Fortschritts,
der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordes", fasste
der Schriftsteller Erich Maria Remarque sein 20. Jahrhundert zusammen.

Geht man noch weiter in die Geschichte zurück, wird man vielleicht weniger Tod
als im 20. Jahrhundert, dafür aber eine ähnliche Unübersichtlichkeit wie heute
finden. Ein Diplomat bezeichnete diese Unübersichtlichkeit schon kurz nach dem
Fall der Mauer als die "ganz normale Anarchie". In der Starre der
Blockkonfrontation während des Kalten Krieges haben wir vergessen, dass nicht
die Windstille im Rücken der Supermächte der Normalzustand ist, sondern eben
diese Anarchie. Auf lange Zeit werden wir mit ihr leben müssen. Es heißt also:
Nerven behalten!

UPDATE: 25. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Montag 1. Februar 2016 11:17 AM GMT+1

De Maizière-Idee;
Startguthaben für afghanische Asylbewerber bei Rückkehr

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 944 Wörter

HIGHLIGHT: In Kabul kritisiert Innenminister de Maizière Gerüchte, die "über


paradiesische Zustände in Deutschland gestreut" würden. 2500 Flüchtlinge klagen
wegen unbearbeiteter Anträge. Mehr im Ticker.

APP-USER: BITTE HIER ANTIPPEN, UM ZUM TICKER ZU GELANGEN

Angesichts rasant wachsender Flüchtlingszahlen aus Afghanistan will


Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mehr Asylbewerber von dort in ihre
Heimat zurückschicken - und hält als Anreiz für Rückkehrer auch finanzielle
Hilfen für möglich. Es könne nicht sein, dass die afghanische Bevölkerung und
gerade die jungen Leute ihr Land verließen, um in Deutschland und eine
wirtschaftlich bessere Zukunft zu suchen, sagte de Maizière am Montag der
Deutschen Presse-Agentur bei einem Besuch in der afghanischen Hauptstadt Kabul.
"In Afghanistan werden von Schleusern Gerüchte über paradiesische Zustände in
Deutschland gestreut, um Geschäfte zu machen. Das alles wollen wir nicht."

Afghanen ohne Schutzperspektive in Deutschland sollen nach dem Willen des


Ministers möglichst freiwillig in ihre Heimat zurückkehren - und zwar in jene
Landesteile, die sicher seien. Eventuell könnten diese Menschen vor Ort auch ein
Startguthaben bekommen, um sich wieder ein Leben in Afghanistan aufzubauen. Geld
für die Heimreise können Flüchtlinge bereits heute beantragen.

"Natürlich ist die Sicherheitslage in Afghanistan kompliziert", räumte de


Maizière ein. "Aber Afghanistan ist ein großes Land. Dort gibt es unsichere und
sichere Gebiete." Die meisten Menschen kämen auch nicht nach Deutschland, weil
sie sich um ihre Sicherheit fürchteten, sondern weil sie sich eine bessere
Zukunft wünschten.

Die Zahl der Afghanen, die nach Deutschland fliehen, ist enorm gestiegen. Im
vergangenen Jahr hatten die Behörden in Deutschland mehr als 150.000 Afghanen
als Asylbewerber registriert. Sie waren damit die zweitgrößte Gruppe nach den
Syrern. Zum Vergleich: 2014 hatten noch etwa 9700 Menschen aus Afghanistan in
Deutschland einen Asylantrag gestellt.

Die Entwicklung setzte sich auch zu Jahresbeginn fort. Allein vom 1. bis 18.
Januar wurden nach Angaben aus Regierungskreisen mehr als 12.000 Asylsuchende
aus Afghanistan in Deutschland registriert.
"Wir wissen um unsere humanitäre Verantwortung gegenüber gefährdeten
Ortskräften, die für uns gearbeitet haben und allein deswegen gefährdet sind",
sagte de Maizière. Ansonsten sei aber das Ziel, "dass die Menschen in
Afghanistan bleiben und das Land aufbauen".

Die Schutzquote - also der Anteil derer, die mit ihrem Asylantrag in Deutschland
Erfolg haben - lag bei Afghanen zuletzt bei 47,6 Prozent. Das heißt, mehr als
die Hälfte von ihnen müssen das Land wieder eigentlich wieder verlassen. Im
Schnitt dauern die Asylverfahren bei ihnen derzeit aber mehr als ein Jahr (14
Monate). Und auch nach einem negativen Bescheid bleiben viele Afghanen in
Deutschland: Zum Teil bekommen sie eine Duldung - etwa weil sie aus einer
bestimmten Gegend des Landes stammen, die unsicherer ist als andere. Zum Teil
weigert sich die afghanische Regierung aber auch, abgelehnte Asylbewerber wieder
aufzunehmen - etwa weil Dokumente fehlen und sie die Betroffenen nicht als ihre
Staatsbürger anerkennen.

Über diese Schwierigkeiten wollte de Maizière am Montag in Kabul mit


verschiedenen Vertretern der afghanischen Regierung sprechen. Geplant war unter
anderem ein Treffen mit seinem afghanischen Amtskollegen, Noorulhak Olumi.

2500 Klagen wegen unbearbeiteter Asylanträge

Fast 2500 Flüchtlinge haben einem Zeitungsbericht zufolge den Bund bisher wegen
der schleppenden Bearbeitung ihrer Anträge verklagt. Bis zum 24. Januar hätten
bundesweit 2469 Flüchtlinge und Asylbewerber geklagt, um eine schnellere
Bearbeitung ihrer Anträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) zu
erzwingen, berichtete die in Düsseldorf erscheinende "Rheinische Post"
(Montagsausgabe). Hintergrund sind die manchmal länger als ein Jahr dauernden
Asylverfahren.

851 dieser "Untätigkeitsklagen" kommen dem Bericht zufolge aus Bayern, 407 aus
Nordrhein-Westfalen und 266 aus Rheinland-Pfalz. Die meisten Kläger kommen
demnach aus Afghanistan, Irak und Syrien, berichtete die Zeitung unter Berufung
auf Auskünft des BamF.

Gegenüber der "Rheinischen Post" gab das Amt eine durchschnittliche


Verfahrensdauer von 5,2 Monaten an. Laut einer Auskunft der Bundesregierung im
Bundestag gab es demnach Ende 2015 bereits 2299 Untätigkeitsklagen gegen das
BamF.

2015 registrierten die deutschen Behörden 1,1 Millionen Flüchtlinge. Es wurden


knapp 477.000 Asylanträge gestellt. Das war die höchste Zahl in der Geschichte
der Bundesrepublik.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles droht Flüchtlingen mit Leistungskürzungen,


wenn sie sich nicht in Deutschland integrieren lassen wollen. "Wer hierherkommt,
bei uns Schutz sucht und ein neues Leben beginnen will, muss sich an unsere
Regeln und Werte halten", schreibt die SPD-Politikerin in einem Gastbeitrag für
die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". "Wer signalisiert, dass er sich nicht
integrieren will, dem werden wir die Leistungen kürzen. Aus meiner Sicht sollte
man das auch an die Wahrnehmung von Sprachkursen knüpfen und daran, sich an die
Grundregeln unseres Zusammenlebens zu halten."

Unabhängig von der ethnischen Herkunft müsse jeder in Deutschland, der Hilfe in
Anspruch nehme, "sein ganzes Können, seine Arbeitskraft und (...) sein eigenes
Vermögen einbringen", erklärte die auch für Soziales zuständige Ministerin. Das
gelte auch für Flüchtlinge.

Wer als Zuwanderer aus dem EU-Ausland einen Neustart in Deutschland wagen
möchte, der sollte nach Meinung von Nahles "auf eigenen Füßen stehen" und "nicht
von Anfang an auf Sozialhilfe angewiesen sein". Zur Begründung erläutert sie:
"Die Kommunen können nicht unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen. Das
war auch nie die Idee der EU-Freizügigkeit, die zu den größten Errungenschaften
der europäischen Integration gehört."

UPDATE: 1. Februar 2016

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Donnerstag 4. Februar 2016 2:03 AM GMT+1

BKA-Daten;
Tausende junge Ausländer als vermisst gemeldet

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 842 Wörter

HIGHLIGHT: Die Zahl der vermissten unbegleiteten minderjährigen Ausländer in


Deutschland hat sich laut BKA-Daten binnen sechs Monaten verdreifacht. Die
Bundesregierung warnt gleichwohl vor Alarmismus.

Die Mängel bei der Registrierung von Flüchtlingen sind bekannt. Und auch, dass
Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis gelegentlich untertauchen, um einer
Abschiebung zu entgehen. Doch als Europol am Sonntag mitteilte, dass mindestens
10.000 allein reisende Flüchtlingskinder in den vergangenen beiden Jahren nach
ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden seien, herrschte einige
Überraschung über das Ausmaß und die Folgen der europäischen Desorganisation.

In Deutschland waren in einer Vermisstendatei des Bundeskriminalamts (BKA) 4718


unbegleitete minderjährige Ausländer zum 1. Januar 2016 verzeichnet, wie die
"Mitteldeutsche Zeitung" berichtete. 431 davon waren unter 14 Jahre alt.
Zusätzlich wurden 31 bereits Volljährige in der Datei geführt.

Beachtlich ist dabei der starke Anstieg in Deutschland: "Wir hatten zum 1. Juli
2015 erst 1624 Minderjährige in der Vermisstendatei, zum 1. Oktober waren es
schon 3177 und drei Monate später schon 4718", sagte eine BKA-Sprecherin der
"Welt". Die Verdreifachung erklärt sich die Behörde zum einen durch die
insgesamt gestiegenen Flüchtlingszahlen und zum anderen durch eine Änderung der
Erfassung: Erst seit vergangenem Sommer müsse jeder Vermisste verpflichtend dem
BKA mitgeteilt werden.

Die europäische Polizeibehörde Europol hatte nach der Mitteilung, dass 10.000
allein reisende Flüchtlingskinder verschwunden seien, einschränkend bemerkt:
"Dies bedeutet nicht, dass allen etwas passiert ist. Ein Teil der Kinder könnte
sich tatsächlich mittlerweile bei Verwandten aufhalten. Aber es bedeutet, dass
diese Kinder zumindest potenziell gefährdet sind."

Ein Sprecher schickte die Warnung hinterher: "Diese Kinder können Opfer von
Missbrauch werden. Und wir bitten unsere Kollegen in Europa, sich darüber im
Klaren zu sein, dass dies passieren könnte." Allein in Italien seien nach
Angaben der dortigen Behörden 5000 Flüchtlingskinder verschwunden, in Schweden
1000.

Bezogen auf die Situation in Deutschland, teilte das BKA der "Welt" mit, dass
die in der Behörde geführte Datei nicht nur lange vermisste Jugendliche
enthalte, sondern auch solche, "die nach zwei, drei Tagen wieder in der
Unterkunft auftauchen", sagte die Sprecherin. "Uns liegen keine Erkenntnisse
vor, dass diese Flüchtlingskinder versklavt oder sexuell ausgebeutet werden",
teilte das BKA mit Blick auf Vermutungen in mehreren Medienberichten mit. Es sei
jedoch nicht auszuschließen, dass ein Teil der verschwundenen Minderjährigen
Kriminellen in die Hände gefallen sein könnten.

Innenministerium: Kein Anhaltspunkt für kriminellen Kontext

Auch die Bundesregierung hat keine Hinweise, dass in Deutschland Tausende allein
reisende Flüchtlingskinder tatsächlich längerfristig verschwunden sein könnten.
Die Zahlen des BKA ließen "jedenfalls keine Rückschlüsse darauf zu, dass die
Kinder und Jugendlichen in die Hände von Schleusern oder anderen Kriminellen
geraten sind", sagte ein Sprecher des Familienministeriums.

Viele unbegleitete Flüchtlingskinder reisten ohne Ausweispapiere; ihre Identität


sei ungeklärt. Es könnte zu "Vielfachzählungen" kommen, sagte der Sprecher.
Viele Jugendliche gingen in ein anderes Land oder meldeten sich unter anderem
Namen in einer anderen Stadt. An einer besseren Registrierung "arbeiten wir
noch".

Auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte, die BKA-Zahl sei "insofern
missverständlich, als sie immer nur eine tagesaktuelle Aufaddierung enthält von
beim BKA zur Kenntnis gebrachten Vermisstenanzeigen". Bereits erledigte Anzeigen
seien darin nicht berücksichtigt; die absolute Zahl gebe keinen Anhaltspunkt für
einen kriminellen Kontext.

Unbegleitete gelten als Problemgruppe

Derzeit leben mehr als 67.000 unbegleitete minderjährige Ausländer in


Deutschland. Weil sie ohne Erziehungsberechtigte reisen, gelten sie als
besonders gefährdet, in Drogenprobleme oder Kriminalität abzurutschen.

Mit der Problemgruppe hatte sich auch eine Kommission in Schweden befasst.
Demnach stammen viele der vermissten Minderjährigen aus Nordafrika. Sie wüssten,
dass sie anders als Iraker oder Syrer nicht schutzberechtigt sind. Viele der
Straßenkinder würden dann aus Verzweiflung kriminell.

In Italien - dort sind laut Europol 5000 ausländische Jugendliche als vermisst
gemeldet - stammen laut der Hilfsorganisation Save the Children die meisten
jungen Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und Syrien. "Sie sagen uns schon bei
ihrer Ankunft in Süditalien, dass sie da nicht bleiben wollen, sondern andere
Länder als Ziel haben", sagte die Sprecherin der Organisation, Viviana Valastro.
Die meisten Jugendlichen, denen es gelinge, nach der Ankunft in Italien spurlos
zu verschwinden, seien zwischen 15 und 17 Jahre alt. Oft seien es die ältesten
Söhne, die von den Eltern als eine Art "Investition" in ein besseres Leben nach
Europa geschickt würden. Ziel seien fast immer Orte in Nordeuropa, wo
Familienmitglieder lebten - Großbritannien und Deutschland etwa.

Die Sprecherin des BKA teilte der "Welt" mit: "Wenn der starke
Flüchtlingszustrom weiter anhält, müssen wir auch künftig mit steigenden
Vermisstenzahlen rechnen."

UPDATE: 4. Februar 2016

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Die Welt

Freitag 15. Januar 2016

Endstation Kanzleramt;
Ein bayerischer Landrat kündigte im Oktober Angela Merkel an, ihr einen Bus mit
Flüchtlingen zu schicken, falls sich die Asylpolitik nicht ändert. Jetzt sind
sie da

AUTOR: Christian Eckl

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 12

LÄNGE: 868 Wörter

Wir schaffen das nicht!" Diese Worte warf der Landshuter Landrat Peter Dreier in
einem Telefonat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an den Kopf. Das war am 28.
Oktober 2015 - lange vor den Übergriffen in Köln, die eine Wende in der
Willkommenskultur und letztlich auch in der Flüchtlingspolitik brachten. Und
Dreier schickte eine Drohung hinterher: "Wenn Deutschland eine Million
Flüchtlinge aufnimmt, entfallen rechnerisch auf meinen Landkreis 1800. Die nehme
ich auf, alle weiteren schicke ich per Bus weiter nach Berlin zum Kanzleramt."

Jetzt machte der Freie-Wähler-Politiker Ernst: Kurz nach zehn Uhr startete am
Donnerstag in Niederbayern ein Bus - statt mit geplanten 51 mit 31 Flüchtlingen.
Die Syrier sollen direkt zum Bundeskanzleramt gebracht werden und in Berlin
bleiben. Dreier hat die Flüchtlinge darüber informiert, was mit ihnen geschieht
- keiner sei gegen die Fahrt gewesen, alle seien freiwillig in dem Bus, hieß es.
Auf der Fahrt dann wurde den Flüchtlingen klar, welchen Medienrummel ihre Tour
nach Berlin ausgelöst hat. Unterwegs stieg ein ZDF-Team zu. Die "Landshuter
Zeitung" berichtete online sogar mit einem Liveticker von den Etappen der Fahrt.
So erfuhren die Leser, dass 13.53 Uhr nach einer Pause am Rasthof Hirschberg ein
Flüchtling vermisst wurde. "Der Bus musste, um auf den Parkplatz zurückzukommen,
einmal im Kreis fahren, da der Rastplatz von der Gegenfahrbahn nicht zu
erreichen war." Als der "verlorene Flüchtling" wieder in den Bus einsteigen
konnte, hätten alle geklatscht.

Auch Landrat Dreier fuhr mit, um Merkel seine Botschaft persönlich zu


überbringen. Allerdings separat mit seinem Auto. Angela Merkel hatte ihn damals
im Oktober darum gebeten, vor der Abfahrt ihrem Büroleiter Bernhard Kotsch
Bescheid zu geben. "Das habe ich am Mittwoch getan", so Dreier. Kotsch sei
"nicht erfreut gewesen. Er hat eine Stunde mit mir telefoniert".

Die Bayerische Staatskanzlei teilte der "Welt" mit, es habe in der Angelegenheit
"keinen persönlichen Kontakt" zwischen Dreier und Bayerns Ministerpräsident
Horst Seehofer (CSU) gegeben. Dieser habe "allerdings Verständnis, wenn Kommunen
durch Aktionen im Rahmen des Rechts zum Ausdruck bringen, dass die Bundespolitik
in der Flüchtlingspolitik so nicht weitergehen kann, da die Kommunen das einfach
nicht mehr schaffen".

Im Hintergrund hat es offenbar eine Intervention der bayerischen


Sozialministerin Emilia Müller (CSU) gegeben. Sie habe Landrat Dreier mit
rechtlichen Schritten gedroht. Der habe sich aber abgesichert, sieht offenbar
keinen Rechtsbruch. Auch weil die Fahrt privat finanziert sei.

Landrat Dreier ist der Typ Politiker, vor dem sich die CSU fürchten muss: Der
49-jährige gebürtige Landshuter ist ein echter Mann des Volkes. Er hat weit über
alle Parteigrenzen hinweg höchstes Ansehen, weil er moderiert, statt zu
polarisieren. Bei der Kommunalwahl im Frühjahr 2013 zahlte sich seine bürgernahe
Art aus: Er fegte den Gegenkandidaten der CSU im ersten Wahlgang mit mehr als 52
Prozent Zustimmung von der Bühne. Seither macht Dreier Politik auch über die
Grenze des Landkreises hinaus: Obwohl die freie Kreisstadt Landshut von einem
CSU-Oberbürgermeister regiert wird, setzt er sich für gemeinsame Projekte ein,
zieht an einem Strang mit dem Stadtoberhaupt. Und wie es sich in Bayern gehört,
tritt er gern im Trachtenjanker auf, stets mit seiner Frau und den beiden
Kindern. Sein Sohn ist Jugendtrainer der U17-Mannschaft des FC Bayern München -
auch das spielt in der Kommunalpolitik keine unwesentliche Rolle.

Wer Dreier kennt, weiß, dass die Aktion keineswegs populistisch ist: Er wusste
sich nach Monaten der Telefonate und Mails an das Kanzleramt und auch an
Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) schlichtweg nicht mehr anders zu
helfen. Der Landshuter Politiker ist offenbar sauer darüber, dass man in Berlin
das System der Flüchtlings- und Asylbewerberunterbringung überhaupt nicht
verstehe. "Die sagen, jetzt kommen ja nicht mehr so viele, jetzt ist das Problem
gelöst", heißt es in seinem Umfeld. Und: "Aber die haben nicht verstanden, dass
es einen Stau gibt, weil die Flüchtlinge, die zu uns in den letzten Monaten
kamen, ja immer noch da sind."

Bei den Migranten im Bus handelt es sich um Flüchtlinge, deren Asylantrag


bereits anerkannt wurde. Sie gelten als sogenannte Fehlbeleger, die in
Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind, sich aber eigentlich eine eigene
Wohnung suchen könnten. Das Problem: Dreier hat keine, die er ihnen anbieten
kann. Der Landrat habe daher jetzt die Nase voll - es passiere nichts, wenn
Merkel die Krise nicht selbst zu spüren bekommen würde, sagt ein Vertrauter.

Merkel soll Dreier im Oktober zu Bedenken gegeben haben: "Wenn Sie Busse zu mir
schicken, müsste ich die eigentlich nach Griechenland zurückschicken. Aber von
dort laufen die Flüchtlinge dann wieder zu Ihnen." Dass die Bundeskanzlerin
Peter Dreier und seine Asylbewerber aus Niederbayern in Berlin nicht treffen
würde, war vor der Abfahrt klar. "Das wurde ausgeschlossen, sie ist gar nicht
da", wurde Dreier mitgeteilt.

Und was passiert mit den 31 Flüchtlingen? Sollten sie nicht in der
Bundeshauptstadt aufgenommen werden, wird der Landkreis sie wieder mit nach
Niederbayern nehmen.

UPDATE: 15. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpaKay Nietfeld


Auf zu Merkel: Flüchtlinge aus Landshut kommen in der Bundeshauptstadt an. Die
Idee stammt von Landrat Peter Dreier
Kay Nietfeld

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Die Welt

Freitag 22. Januar 2016

Niemand möchte Hotspot werden;


Ändern Österreich und Deutschland ihre Flüchtlingspolitik, hat das Auswirkungen
auf die Balkanstaaten. Schließen die kleinen Länder jetzt ihre Grenzen?

AUTOR: Norbert Mappes-niediek

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 18

LÄNGE: 801 Wörter

Graz

Noch war die Obergrenze für Flüchtlinge in Österreich gar nicht beschlossen, da
gab es auf dem Balkan schon die erste Reaktion. Mazedonien schloss schon am
Dienstagabend seinen Flüchtlingsübergang zu Griechenland; um die 350 Menschen
mussten bei eiskalten Temperaturen in ungeheizten Bussen ausharren. "Eine Panne
bei der Eisenbahn in Slowenien", begründete das Innenministerium in Skopje - was
von der slowenischen Bahn aber dementiert wurde.

"Eigentlich hätten wir erwartet, dass die Grenze sich dann wieder öffnet", sagt
Stella Nanou vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Griechenland.
Aber das geschah nicht. Es schneit, die Temperaturen liegen weit unter null.
"Glücklicherweise hat die griechische Polizei reagiert und das eigentlich
geschlossene Lager im Grenzort Idemoni wieder eröffnet", sagt Nanou. Dramatische
Szenen blieben aus. Wegen des schlechten Wetters auf der Ägäis warten nur etwa
600 Menschen auf den Einlass nach Mazedonien, die meisten von ihnen Syrer.
Gestern wurde die Grenze so unerwartet wieder geöffnet, wie sie zuvor
geschlossen worden war.

Wann immer ein nordwestliches Land sein Grenzmanagement ändert oder sich eine
Änderung nur andeutet, reagieren alle weiter südöstlich gelegenen Staaten
sofort. "Wir wollen nicht Hotspot werden" - der Spruch des slowenischen
Regierungschefs Miro Cerar ist zwischen Ljubljana und Skopje immer wieder zu
hören. Schließen Österreich oder Deutschland die Grenzen, müssen Slowenien,
Kroatien, Serbien und Mazedonien es ebenfalls tun. Sonst wären die
Balkanstaaten, alle kleiner als Österreich, binnen Tagen überfordert. Slowenien
und Mazedonien haben je zwei, Kroatien hat viereinhalb und Serbien sieben
Millionen Einwohner.

Das erste Mal trat der "Dominoeffekt" im November ein. Auf das bloße Gerücht
hin, Slowenien wolle künftig nur noch Syrer, Iraker und Afghanen durchlassen,
taten Kroatien, Serbien und Mazedonien es ihm gleich. Mit nur einem Tag
Verzögerung folgten alle Balkanstaaten Anfang Januar der deutschen Entscheidung,
keine nach West- oder Nordeuropa durchreisenden Flüchtlinge mehr ins Land zu
lassen.

Die liberale Regierung in Ljubljana laviert seit Beginn der Krise zwischen einer
skeptischen Stimmung in der Bevölkerung und dem liberalen Grenzregime in
Deutschland und Österreich. Gestern, nach der Entscheidung in Wien, attackierten
die rechten Parteien die Regierung mit scharfen Worten: Die Existenz Sloweniens
sei bedroht, so Oppositionsführer Janez Jansa. Sei die österreichische Quote von
37.500 Menschen in wenigen Wochen erreicht, blieben die Zurückgewiesenen alle in
Slowenien. Innenministerin Vesna Gjerkes Znidar versuchte zu beruhigen: Dass
Berlin die Grenzen schließe, sei nicht wahrscheinlich.

Während auf offener Bühne gestritten wird, spielt Cerar hinter den Kulissen eine
Schlüsselrolle. Nach seinem Besuch bei seiner deutschen Kollegin Angela Merkel
vorige Woche schrieb der slowenische Regierungschef allen seinen EU-Kollegen
einen Brandbrief: Alle Staaten auf der Balkanroute trügen eine "immense Last".
Mazedonien brauche dringend Hilfe, um seine Grenze zu schützen. Eilige
Interpreten in Belgrad und Zagreb machten daraus einen "Plan": Angeblich seien
Berlin und Wien übereingekommen, ganz Griechenland zum "Hotspot" für Flüchtlinge
zu machen und dem Land dafür in der Schuldenkrise weit entgegenzukommen.

Wenigstens die vorübergehende Grenzschließung in Mazedonien passt da ins Bild.


Die Regierung in Skopje aber schweigt wie üblich. Als die angebliche
Eisenbahnpanne in Slowenien sich als erfunden herausstellte, servierten die
Behörden dem Flüchtlingshilfswerk eine Panne in Kroatien - die es ebenso wenig
gab. Der zuständige Innenminister Oliver Spasovski kommt aus den Reihen der
Opposition, wurde nur auf europäischen Druck in die Regierung aufgenommen und
hat auf Entscheidungen kaum einen Einfluss. Das ganze Land steht im Bann einer
für April geplanten Neuwahl; die Entscheidungen trifft noch immer der starke
Mann des Landes, Nikola Gruevski, der vorige Woche formal als Regierungschef
zurücktrat. Seine Beziehungen zu den großen EU-Staaten sind allerdings so
gespannt, dass ein flüchtlingspolitischer Masterplan kaum eine Chance hätte.

In Kroatien und Serbien blieb gestern alles normal und unverändert. "Die
Flüchtlinge sind wie immer mit dem Zug nach Slavonski Brod gebracht, dort
registriert worden und wie üblich nach zwei oder drei Stunden mit dem Zug weiter
nach Dobova in Slowenien gefahren", sagt Jan Kapic vom Flüchtlingshilfswerk in
Zagreb. Gerade gestern wurde in Kroatien eine neue Regierung gebildet, der
scheidende Innenminister hielt sich bedeckt. Auch in Serbien stehen Neuwahlen
bevor. In beiden Ländern bekommt die Bevölkerung von der Krise kaum etwas mit:
Die Flüchtlinge reisen in Bussen oder Zügen in wenigen Stunden von Grenze zu
Grenze.

UPDATE: 22. Januar 2016

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Die Welt

Samstag 27. Februar 2016

Sommerhaus, früher;
Was eine Datsche bei Berlin über deutsche Geschichte erzählt: Hier wohnte ein
jüdischer Arzt, später kamen Nazis, dann Stasi-Mitarbeiter - und heute
renovieren Syrer. Ein Ortstermin

AUTOR: Alan Posener

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 27 Ausg. 49

LÄNGE: 1139 Wörter

Ab hier ist Schlamm. Man fährt durch das ehemalige Gutshaustor, steigt aus dem
Auto und stapft durch ein Buchenwäldchen. Am Gartenzaun wartet Thomas Harding.
Der britische Journalist macht das Gartentor auf und geht voran. Das verwilderte
Grundstück fällt leicht zum Groß Glienicker See herab. Links sind Reihenhäuser,
nach der Wende wild gebaut hier im wilden Osten, wenige Meter hinter der Grenze
zu West-Berlin.

Aus einem der Häuser holt Harding ein Stromkabel und schließt ein
Baustellenlicht an. Dann zeigt er mit großer Geste, als ginge es um ein
verwunschenes Schloss: "Hier ist es. Das Alexander-Haus!" Eine Datsche.
Baufällig, heruntergekommen. Innen riecht es nach Feuchtigkeit. Schichten von
Tapete und alten Zeitungen lösen sich von den Wänden. Anderswo haben Kiffer und
Liebespaare ihre Spuren als Graffiti hinterlassen. Der Fußboden ist trügerisch.
Aber Hardings Begeisterung ist ansteckend. Er zeigt auf die Delfter Kacheln und
nach draußen: "Dort neben dem See war früher der Tennisplatz. Und dahinter
verlief später die Mauer." Harding hat die Schicksale des Hauses und seiner
Bewohner aufgeschrieben, von Weimar bis zur Wiedervereinigung. Deutsche
Geschichte im Mikrokosmos. "Sommerhaus am See" liest sich so spannend wie ein
guter historischer Roman.

Hardings Großvater Alfred Alexander ließ das Haus 1927 auf einem Grundstück
bauen, das zum Weinberg der Gutsbesitzerfamilie gehört hatte. Otto von Wollank
parzellierte das Weingut, nannte es "Wochenende West" und verpachtete die
Parzellen an Berliner Familien, die im kurzlebigen Sommer zwischen Inflation und
Börsenkrach zu Geld gekommen waren. Groß Glienicke, bis dahin ein verschlafenes
Brandenburger Dorf, kam durch die Sommerfrischler zum ersten Mal mit
Großstädtern in Berührung.

Alfred Alexander war ein erfolgreicher Arzt mit eigener Belegklinik und einer
großen Wohnung an der Kaiserallee - heute Bundesallee - im Neuen Westen.
Außerdem war er Jude. Das spielte weder in Berlin noch im Dorf eine Rolle. In
Berlin waren Alfred - Präsident der Berliner Ärztekammer - und seine Frau Henny
angesehene Mitglieder der guten Gesellschaft; in Groß Glienicke waren sie und
die Töchter Elsie und Bella sowie die Zwillinge Paul und Hanns "Ortsfremde" wie
die anderen Sommergäste.

Mit dem Aufstieg der Nazis änderte sich das. 1936 fand sich die Familie als
Asylanten in London wieder. Andere Verwandte hatten weniger Glück: Zwei Tanten,
zwei Onkel und ein Vetter Alfred Alexanders blieben zurück und wurden im
Holocaust ermordet. Zwei von ihnen wurden in Auschwitz vergast. In seinem Buch
"Hanns und Rudolf" hat Harding geschildert, wie sein Onkel Hanns als Soldat der
britischen Armee den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, aufspürte.

1937 nahmen der Komponist und Musikverleger Will Meisel und seine junge Frau,
die Schauspielerin Eliza Illiard, vom voll möblierten Haus Besitz. Meisel war
kein Nazi, er war nur Opportunist. In den "goldenen Zwanzigerjahren" hatte er
die wichtigsten Schlagerkomponisten unter Vertrag, darunter Willi Rosen und
Harry Waldau, Richard Rillo, der die Musik für den Film "Der blaue Engel"
schrieb, Kurt Schwabach, der "Das lila Lied" - den ersten schwulen Schlager -
komponierte, Marcel Lion, Harry Hilm, Hans Lengsfelder, Friedrich Schwarz und
Hans May. Sie alle waren Juden. Mit der Machtübergabe an Hitler stand Meisel vor
dem Nichts. Aber nicht lange. Am 1. Mai 1933 beantragte er die Mitgliedschaft in
der NSDAP, verbunden mit einer großzügigen Spende. Bald war er einer der
gefragtesten Filmkomponisten des Dritten Reichs.

Auch Eliza wusste, was sich gehörte. Wegen ihrer Ehe mit einem Juden drohten ihr
berufliche Schwierigkeiten. Sie ließ sich scheiden und heiratete Meisel, von dem
sie bereits schwanger war. 1943 flohen die beiden vor den alliierten
Bombenangriffen auf Berlin und wohnten permanent im Groß Glienicker Sommerhaus.
1944 zogen sie nach Österreich und überließen das Haus Meisels Geschäftsführer
Hans Hartmann. Hartmann hatte sich nie den Nazis gebeugt und hielt an der Ehe
mit seiner jüdischen Frau Ottilie fest. Von Tag zu Tag wurde das gefährlicher.
Deshalb war Hartmann froh, mit Ottilie im Haus am See unterzutauchen. Freilich
wusste man im Dorf Bescheid.

Während der Luftangriffe auf den nahe gelegenen Militärflugplatz Gatow durften
Hans und Ottilie nicht mit den Ariern in den Luftschutzkeller. Kein Wunder, dass
Hans, als die Russen Groß Glienicke erreichten, ihnen mit den Worten
entgegenrannte: "Ich Bolschewik!" Was Ottilie nicht vor der Vergewaltigung
rettete. In der DDR versank das Dorf in ein provinzielles Nischendasein. Das
Sommerhaus wurde permanent bewohnt, zeitweise sogar von zwei Familien. Vierzig
Jahre lang lebte Wolfgang Kühne in der Datsche, auch er ein Opportunist, der für
die Stasi eine Verpflichtungserklärung unterschrieb, aber nie brauchbare
Informationen lieferte. Während der Luftbrücke flogen alliierte Flugzeuge im
Minutentakt knapp fünfzig Meter über dem Dach, um auf der anderen Seite des Sees
in Gatow zu landen.

1961 schnitt die Mauer das Dorf vom See ab. Im Frühjahr 1989 nahm Kühnes Sohn
Bernd im Suff eine Leiter, lehnte sie gegen die innere Mauer und kletterte mit
seinem Cousin hinüber. Minenfeld und äußere Mauer überwanden sie auch und
schwammen in den Westen, wo ein Gastwirt ihnen Würstchen und Bier anbot. Nach
einer Stunde meinte Bernd, er müsse zurück, "weil mich meine Frau sonst
umbringt".

Der Wirt zeigte ihnen ein Loch im Grenzzaun, und die beiden jungen Männer
kehrten unbehelligt zurück in die kommode Diktatur, die wenig später der
unbequemen Demokratie Platz machte. Inzwischen bilden wieder Ortsfremde -
"Wessis" - fast die Hälfte der Bevölkerung Groß Glienickes. Mit ihnen ist
Neugier auf die Geschichte ins Dorf eingezogen; es war eine örtliche Initiative,
die Harding kontaktierte, um Details über das Schicksal seiner Familie zu
erfahren. Nun will Harding, dass aus der baufälligen Datsche wieder das
Alexander-Haus wird. Ein Ort "der Völkerverständigung und Erinnerung" - nicht
nur an die jüdischen, sondern an alle Bewohner. Besonders wichtig ist Harding,
dass die 189 Flüchtlinge, die in einer alten NVA-Baracke untergebracht sind, in
das Projekt einbezogen werden.

Im letzten April begannen die Arbeiten zur Wiederinstandsetzung des Hauses mit
einem "Frühjahrsputz", an dem sich viele Freiwillige aus dem Dorf beteiligten,
aber auch Harding selbst und zwei seiner Neffen, Jihan und Amin. Vor 25 Jahren
heiratete Hardings Schwester einen Syrer; deren Kinder leben heute in
Deutschland. Warum Jihan das mache, fragte Harding, schließlich seien die
jüdischen Urgroßeltern sehr weit weg. "Familie ist Familie", antwortete sein
neudeutscher Neffe. "Und wenn ich nach Damaskus zurückgehe, hoffe ich, dass alle
gemeinsam unser Haus dort wieder bewohnbar machen."

Thomas Harding: Sommerhaus am See. dtv, München. 432 Seiten, 24,90

UPDATE: 27. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Lotte Jacobi/Archiv der Familie Alexander/dtv(3)


"Wochenende West" heißt das Gartenhaus, das seit 1927 in Groß Glienicke steht
(o.), erbaut von Alfred Alexander, einem Berliner Arzt (u.). Als Jude emigrierte
er 1937 nach London. Die folgenden, wechselnden Bewohner der Datsche spiegeln
das ganze 20. Jahrhundert im Kleinen wieder. Nach der Wende feierte die Jugend
(r.) wilde Partys. Heute renovieren Alexanders Nachfahren die Datsche
Lotte Jacobi/Archiv der Familie Alexander/dtv(3)
"Wochenende West" heißt das Gartenhaus, das seit 1927 in Groß Glienicke steht
(o.), erbaut von Alfred Alexander, einem Berliner Arzt (u.). Als Jude emigrierte
er 1937 nach London. Die folgenden, wechselnden Bewohner der Datsche spiegeln
das ganze 20. Jahrhundert im Kleinen wieder. Nach der Wende feierte die Jugend
(r.) wilde Partys. Heute renovieren Alexanders Nachfahren die Datsche
Lotte Jacobi/Archiv der Familie Alexander/dtv
Marcel Adam/dtv
Archiv der Familie Alexander/dtv

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Die Welt

Montag 18. April 2016

Was von der Angst in Sumte übrig bleibt;


1000 Flüchtlinge auf 100 Einwohner - dieses Schreckensszenario machte ein Dorf
in Niedersachsen vor einem halben Jahr weltberühmt. Inzwischen sind kaum noch
Fremde dort. Der dritte Ortsbesuch

AUTOR: Philip Kuhn; Thilo Maluch

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 90

LÄNGE: 1330 Wörter

Dirk Hammer lehnt an der Backsteinmauer seines Hauses in Sumte und blinzelt zum
Horizont. Die Sonne senkt sich langsam über das Urstromtal der Elbe. Es ist warm
genug für das Polohemd, das am Bauch spannt. Die Geschäfte des selbstständigen
Fahrradhändlers laufen gut. Dieser 14. April 2016 ist ein schöner Frühlingstag.
Ein wenig Sommer liegt in der Luft.

"Vor sechs Monaten dachte ich, die Welt geht unter", sagt Hammer. Dabei
schüttelt er lachend den Kopf. Sechs Monate, die ihm wie sechs Jahre vorkommen.
Von der Angst und Hysterie im Herbst 2015, als das niedersächsische
Innenministerium beschloss, 1000 Flüchtlinge im 100-Einwohner-Ort Sumte
unterzubringen, ist kaum etwas geblieben. Das Verhältnis von zehn Flüchtlingen
auf einen Einwohner hatte Medien weltweit elektrisiert und löste Angst bei der
Bevölkerung aus. Sogar Reporter der "New York Times" reisten im Oktober 2015 in
den dünn besiedelten Landstrich östlich von Lüneburg. Sumte wurde zum Synonym
eines überforderten Landes, einer vermeintlich unfähigen Regierung. "Die Nerven
lagen blank", erinnert sich Hammer. "Wir hatten große Sorgen."

Bis heute ist den Sumtern der 14. Oktober 2015 im Gedächtnis geblieben. Damals
hatte Bürgermeisterin Grit Richter in Amt Neuhaus - jener Gemeinde, zu der auch
Sumte zählt - zur Versammlung geladen, um die Bürger über die Neuankömmlinge
aufzuklären. Der Befund: Am Ortsrand stehen die Baracken einer ehemaligen
Inkassofirma leer; es gibt genug Platz für 1000 Flüchtlinge. Doch die Sumter
spielten nicht mit. Hunderte drängten sich an jenem Oktoberabend in die
überfüllte Stadthalle. Die Menschen hatten Angst um ihre Kinder, Frauen und
Höfe. Ein angereister Vertreter des Innenministeriums sollte die Gemüter
beruhigen. Vergebens, die Bürger buhten ihn aus. Höhepunkt war der Auftritt
eines NPD-Funktionärs, der durch das offene Fenster gegen Flüchtlinge pöbelte.
Auf der Veranstaltung sprach auch Dirk Hammer. Er hatte sich mit anderen Sumtern
abgestimmt, gilt als Respektsperson im Dorf: "Wir möchte uns frei in unserem Ort
bewegen können, ohne Angst zu haben", sagte er.

Dass sich die Sorgen in Luft auflösen würden, konnte damals niemand ahnen. Die
1000 Fremden, vor denen sich die Sumter gefürchtet hatten, kamen nie an. Selbst
zu Spitzenzeiten, Ende November, waren maximal 750 Flüchtlinge im Heim. Derzeit
sind es noch 160. Tendenz fallend. Ein Entwicklung wie in ganz Deutschland:
Überall leeren sich Flüchtlingsheime, mancherorts stehen sie leer.

"Für viele Flüchtlinge haben wir Wohnungen gefunden", erklärt Heimchef Jens
Meier den Schwund. Sie sind nach Barsinghausen bei Hannover gezogen, nach
Lübtheen in Mecklenburg oder Lüneburg auf der westlichen Elbseite. Etwa 20
wohnen in Neuhaus, nur vier Kilometer entfernt. Der Wohnungsleerstand in der
Region kommt den Fremden entgegen. "Gebürtige Sumter verlassen die Region, weil
es hier wenig Arbeitsplätze gibt", sagt Hammer. "Ich kann nichts Schlechtes
darin sehen, wenn sich Flüchtlinge hier ansiedeln."

Doch auch die kommen inzwischen nicht mehr. "Wir merken, dass die Grenzen dicht
sind", sagt Meier. Der massige Zwei-Meter-Mann hat die operative Leitung der
Unterkunft vor einigen Wochen abgegeben, bleibt aber weisungsbefugt. Ab und zu
schaut er vorbei. "Das ist besser für meine Ehe", sagt er. Einige Monate lang
hatte er seine Frau kaum gesehen. Die neue Leiterin heißt Mandy Thoms.
Sozialarbeiterin, Mecklenburgerin, athletischer Typ. Sie ist eine
Respektsperson, genau wie Meier. Thoms tauscht Facebook-Nachrichten mit
Flüchtlingen aus, die das Heim verlassen haben. "Die vermissen uns", sagt sie
bedauernd. In der Unterkunft herrscht eine eigenartige Stimmung unter Personal
und Bewohnern. "Nostalgisch", findet Thoms. Die übrigen Flüchtlinge wirken, als
wären sie im Heim vergessen worden. Außerhalb des Heims sind die Flüchtlinge auf
sich selbst gestellt. Da gibt es keine Grill- und Filmabende mehr, keine
geregelten Essenszeiten, Freundschaften zerbrechen. Deshalb kommen manche
Flüchtlinge tagsüber zurück ins Heim. So wie Amir Sharfeddin. Der Syrer
verbringt jeden Nachmittag in Sumte, obwohl er längst eine Wohnung in
Mecklenburg hat, gut 20 Kilometer entfernt. Der 26-Jährige hat hier Freunde
gefunden, Meier ist zum Ersatzvater geworden. "Jens Meier ist großartig. Bitte
schreib das in deinem Artikel", sagt er.

Für die neu eingestellten Mitarbeiter der Unterkunft ist der Flüchtlingsschwund
eine bedrückende Nachricht. Sie haben einjährige Verträge bis Oktober 2016
erhalten. Mehr als 60 Arbeitsplätze entstanden im Heim, 33 Menschen aus Neuhaus
und Sumte fanden einen Job. Sie arbeiten in der Kantine, als Putzkräfte oder
betreuen die Kinder der Flüchtlinge in der heimeigenen Kita. Schon jetzt sind
sie unterfordert. Der Betreuungsschlüssel ist großzügig: Auf drei Flüchtlinge
kommt derzeit etwa eine Arbeitskraft.

Auch Christiane Trilck hat an den Flüchtlingen verdient. Die Friseurin gilt als
Institution in Neuhaus, schneidet seit vergangenem Herbst auch Syrern und
Afghanen die Haare. "Am Anfang wollten die keine Frau an ihre Haare lassen",
erinnert sich sich. Doch die Flüchtlinge waren schnell einsichtig. Der Weg auf
die andere Elbseite zum nächsten Friseur war zu weit. "Da war der Glauben nicht
mehr so wichtig", sagt Trilck spöttisch.

Dabei war die Friseurin eine der Schlüsselfiguren der Sumter Wut vom Oktober.
Auf der Bürgerversammlung sprach sie mit erhobenem Zeigefinger und schriller
Stimme von "Männern, für die wir Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Religion
nichts sind". Dafür erhielt sie stürmischen Applaus und zustimmende Rufe. Sie
war das Ventil für die Ängste. Für Trilck ist die Gefahr noch nicht vorbei. Sie
fürchtet sexuelle Übergriffe im Sommer. "Wir haben hier einen Baggersee. Sie
können sich vorstellen, was passiert, wenn unsere Mädchen da im Bikini liegen."

Dass nur noch wenige Flüchtlinge in der Unterkunft sind, spielt für sie keine
Rolle. Sie fürchtet, dass neue kommen: "Wir wissen ja, was in Köln passiert
ist." Wie viele andere im Ort vereint Trilck die Widersprüchlichkeit im Umgang
mit den Flüchtlingen: Einerseits verdient sie an ihnen, andererseits haben sie
Angst. "Ich stehe zu dem, was ich im Oktober 2015 gesagt habe", stellt sie klar.
Dafür ist sie heftig angefeindet worden. "Man hat mich als Nazi bezeichnet",
sagt Trilck. Es nagt bis heute an ihr. Ihre Söhne, beide Friseure in der Region,
rieten ihr, "auf die Bremse zu treten", erzählt sie. "Aber meine Meinung lasse
ich mir nicht verbieten."

Fahrradhändler Hammer hat im Herbst 2015 eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, in


der sich 20 Sumter über Flüchtlinge austauschen. Weil sie den Behörden
misstrauten und Angst hatten. Eine Art virtuelle Bürgerwehr. Das Ziel: zeitnah
Bürgermeisterin oder Polizei zu alarmieren, wenn etwas schiefläuft. "Wir haben
das anfangs genutzt", sagt Hammer. Zum Beispiel, wenn sie Verpackungen und leere
Flaschen auf den Feldern fanden.

Inzwischen ist die Gruppe eingeschlafen. Die letzte Nachricht datiert vom 15.
März. Ein Sumter hat Erbrochenes an einer Bushaltestelle fotografiert und das
Bild an die Gruppe geschickt. Es sollen Flüchtlinge gewesen sein. "Wir kannten
das nicht, dass mal jemand an die Bushaltestelle kotzt", sagt Hammer. "Es gibt
einfach zu wenig junge Menschen in der Region." Das klingt entschuldigend.

Um Saufgelage und Diebstähle zu verhindern, hat der Penny-Markt in Neuhaus


Anfang des Jahres hochprozentigen Alkohol elektronisch gesichert. Am Ausgang
gibt es eine Sicherheitsschleuse, wie man sie von Elektronikmärkten kennt.
Drinnen wacht ein schwarz gekleideter Mitarbeiter über die Auslagen. Er mustert
jeden Kunden. Es soll zu Diebstählen gekommen sein.

Die Polizei in Lüneburg weiß darüber nichts: "Es gibt keine signifikant höhere
Kriminalität im Zusammenhang mit Flüchtlingen in Neuhaus", sagt Sprecher Kai
Richter. Alles ist ruhig in Sumte.

Vor sechs Monaten dachte ich, die Welt geht unter Dirk Hammer, Fahrradhändler
aus Sumte

Ich stehe zu dem, was ich im Oktober gesagt habe Christiane Trilck, Friseurin
aus Neuhaus

UPDATE: 18. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Philip Kuhn


Bei Ramona Graf vom "Amtsgrill" gibt es die Speisekarte für Flüchtlinge auf
Englisch
Philip Kuhn
Friseurin Christiane Trilck traut dem Frieden nicht. Sie fürchtet sexuelle
Übergriffe im Sommer
Philip Kuhn (3)
Dirk Hammer, der online Fahrräder vertreibt, hat seine Ängste vor den
Flüchtlingen verloren
Philip Kuhn
Philip Kuhn
Philip Kuhn

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WELT ONLINE (Deutsch)


Freitag 8. Januar 2016 10:10 AM GMT+1

Kölner Polizisten;
"Die meisten waren frisch eingereiste Asylbewerber"

AUTOR: Wolfgang Büscher, Martin Lutz und Till-Reimer Stoldt

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 816 Wörter

HIGHLIGHT: Polizisten dementieren Angaben ihrer Führung, wonach die Täter von
Köln unbekannt seien. Die meisten Kontrollierten seien Syrer gewesen. Den Tätern
sei es vor allem um "sexuelles Amüsement" gegangen.

Wesentliche Aussagen der Kölner Polizeispitze zu den sexuellen Übergriffen in


der Silvesternacht sind offenbar unwahr, wie am Einsatz beteiligte Kölner
Polizisten der "Welt am Sonntag" berichteten. Die Beamten wehren sich auch gegen
Vorwürfe von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) an die Adresse der
Kölner Polizei. Der Polizeipräsident der Domstadt, Wolfgang Albers, hatte am
Dienstag gesagt: Man wisse nicht, um wen es sich bei den Tätern handele, die
Passanten beraubt und Frauen sexuell belästigt hatten.

Die Kölner Polizisten sagten der "Welt am Sonntag", sie hätten durchaus
zahlreiche Personen kontrolliert und teils festgenommen. Daher sei der Polizei
auch bekannt, um welche Personengruppen es sich handele. "Es wurden, anders als
öffentlich dargestellt, sehr wohl von zahlreichen Personen die Personalien
aufgenommen", die zum Mob vor dem Bahnhof gehört hatten.

Rund 100 dieser Personen seien kontrolliert worden; etliche von ihnen seien der
Wache zugeführt und in Gewahrsam genommen worden. Bislang hat die Kölner
Polizeispitze nicht berichtet, dass die Polizei Täter festnahm oder in Gewahrsam
nahm. Die Personenkontrollen ergaben, berichten Kölner Polizisten weiter: "Nur
bei einer kleinen Minderheit handelte es sich um Nordafrikaner, beim Großteil
der Kontrollierten um Syrer."

Das habe sich aus vorgelegten Dokumenten ergeben. Bislang zielen Vermutungen
darauf, dass es sich bei den Tätern um nordafrikanische junge Männer handelt,
weil diese in Köln schon seit über einem Jahr als kleinkriminelle Problemgruppe
bekannt sind. Viele der Kontrollierten hielten sich aber erst seit wenigen
Monaten in Deutschland auf. "Die meisten waren frisch eingereiste Asylbewerber.
Sie haben Dokumente vorgelegt, die beim Stellen eines Asylantrags ausgehändigt
werden." Die Aufnahmestelle übergibt dem Asylbewerber dann eine Kopie des
Asylantrags mit Kopie des Fotos.

In einem weiteren Punkt widersprechen in der Silvesternacht eingesetzte Beamte


der offiziellen Darstellung. Es heißt, den Tätern sei es primär darum gegangen,
Passanten zu bestehlen. Die sexuellen Belästigungen seien nur nebenbei passiert.
"In Wirklichkeit verhielt es sich genau umgekehrt", so Kölner Polizisten zur
"Welt am Sonntag". "Vorrangig ging es den meist arabischen Tätern um die
Sexualstraftaten oder, um es aus ihrem Blickwinkel zu sagen, um ihr sexuelles
Amüsement. Ein Gruppe von Männern umkreist ein weibliches Opfer, schließt es ein
und vergreift sich an der Frau."

Internes Papier vom 2. Januar widerspricht Albers ebenfalls


Nicht nur die Aussagen der Polizisten widersprechen Polizeipräsident Albers -
sondern auch die Darstellung in einem sechsseitigen Papier
("Einsatznachbereitung") der Führungsstelle der Kölner Polizei vom 2. Januar. Es
liegt der "Welt am Sonntag" vor. Die Darstellung steht eindeutig im Widerspruch
zu Albers' Aussagen.

Aus dem Papier ergibt sich nämlich ebenfalls, dass es sich bei den Tätern zu
einem Großteil um Asylbewerber handelt: "Bei den durchgeführten
Personalienfeststellungen konnte sich der überwiegende Teil der Personen
lediglich mit dem Registrierungsbeleg als Asylsuchender des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge ausweisen. Ausweispapiere lagen in der Regel nicht
vor."

Laut Einsatzbericht wurden zwischen der Silvesternacht um 22 Uhr und Neujahr um


5 Uhr morgens von der Kölner Polizei 71 Personalien festgestellt, elf Menschen
in Gewahrsam genommen und 32 Strafanzeigen gestellt. Außerdem gab es vier
Festnahmen. Die Daten wurden im Cebius-System der Einsatzleitstelle der Polizei
dokumentiert.

GdP: "Ganz sicher Flüchtlinge unter den Tätern"

Arnold Plickert, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in


Nordrhein-Westfalen, verteidigte in der "Welt am Sonntag" die Kölner Polizisten:
"Durch die Vorwürfe von Innenminister de Maizière fühlen sich viele Kölner
Kollegen völlig zu Unrecht angegriffen und an den Pranger gestellt. Es ist
schlicht falsch, dass die Polizei in der Nacht niemanden festgenommen oder in
Gewahrsam genommen hätte." Und es stimme auch nicht, dass keine Personalien
aufgenommen worden wären, sagte Plickert. "Nach meiner Kenntnis wurden
mindestens in 80 Fällen Personalien kontrolliert, Menschen festgenommen oder in
Gewahrsam genommen."

Plickert verteidigte auch, dass Kölner Polizisten Journalisten gegenüber die


Wahrheit über die Silvesternacht äußerten: "Dass die Kollegen nun anonym
Informationen an die Öffentlichkeit durchstechen, kann ich gut verstehen. Sie
wollen mit den verbreiteten Falschmeldungen aufräumen und sich wehren. Manche
Beamte haben mir schon mitgeteilt, sie fühlten sich, als seien sie die Täter."

Der GdP-Landeschef sagte weiter: "Auch dass angeblich nichts auf Flüchtlinge als
Täter hindeutet, halte ich für eine Falschmeldung. Den Kollegen zufolge wurden
von mehreren der kontrollierten Männer Meldebescheinigungen des Bundesamts für
Migration vorgelegt. Da waren ganz sicher Flüchtlinge unter den Tätern."

UPDATE: 8. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 8. Januar 2016 10:27 AM GMT+1

Übergriffe zu Silvester;
Die Fakten am Tag 8 nach den Exzessen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1472 Wörter

HIGHLIGHT: Was passierte bei den Übergriffen in Köln und Hamburg zu Silvester?
Einsatzprotokolle widerlegen einige Darstellungen der Polizeiführung. Eine
Übersicht über die neuesten Entwicklungen.

Schockierte Frauen, überforderte Polizisten: Interne Berichte offenbaren das


Ausmaß der Gewalt in der Silvesternacht. Die Koalition diskutiert über schärfere
Regeln für die Ausweisung von Asylbewerbern. Die Entwicklungen vom Donnerstag.

Offizielle Angaben der Polizei

Strafanzeigen

In Köln wurden bis Donnerstag 121 Strafanzeigen gestellt. Bei etwa drei Viertel
der angezeigten Taten hätten die Opfer angegeben, in der Silvesternacht sexuell
bedrängt worden zu sein. In 50 dieser Fälle seien die Frauen zudem bestohlen
worden. Bislang wurden zwei Vergewaltigungen angezeigt.

In Hamburg stieg die Zahl der Anzeigen auf insgesamt 70 . Tatort war in den
meisten Fällen die Große Freiheit an der Reeperbahn, es seien aber auch drei
Taten am Jungfernstieg begangen worden. Die jungen Frauen seien in allen Fällen
sexuell belästigt worden, 23 von ihnen wurden auch bestohlen oder beraubt, zudem
wurden zwei Fälle von Körperverletzung angezeigt.

Tatverdächtige

Köln : Die Polizei hat nach offiziellen Angaben inzwischen 16 Verdächtige


ausfindig gemacht. "Wir prüfen nun, ob sie tatsächlich in Zusammenhang mit den
Taten stehen", sagte ein Sprecher am Donnerstag.

Die meisten bisher ausfindig gemachten Verdächtigen seien noch nicht namentlich
bekannt, aber auf Bild- oder Videoaufnahmen klar erkennbar, sagte der
Polizeisprecher. Einige Verdächtige - alle nordafrikanischer Herkunft - seien
vorübergehend festgenommen worden, jedoch vor allem wegen Diebstählen, teils
außerhalb von Köln.

Hamburg : Zum Verlauf der Ermittlungen sagte ein Polizei-Sprecher: "Wir haben
noch keine zweifelsfrei ermittelten Tatverdächtigen ."

Die Polizei sei noch dabei, das Bildmaterial auszuwerten und Zeugen und Opfer zu
befragen. Die Opfer hätten die Täter als "südländisch oder arabisch aussehend"
beschrieben.

Abweichende Angaben aus Einsatzprotokollen

Köln : Die Polizeiführung gerät nach neuen Zeugenaussagen auch aus den eigenen
Reihen zunehmend unter Druck. Unter anderem geht aus einem nun bekanntgewordenen
Einsatzprotokoll eines leitenden Bundespolizisten hervor, dass die
Verantwortlichen Ausmaß und Dramatik der Lage in der Kölner Silvesternacht
frühzeitig gekannt haben müssen.

Während die Polizeiführung beteuert hatte, erst nach Mitternacht von den
sexuellen Übergriffen auf Frauen erfahren zu haben, heißt es in dem Bericht: Die
Bundespolizisten seien bereits am Silvesterabend vor 22.45 Uhr von "vielen
aufgewühlten Passanten" über "Schlägereien, Diebstähle, sexuelle Übergriffe"
informiert worden.

Während der Ausschreitungen hätten Frauen einen Spießrutenlauf erlebt "durch die
stark alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann".

"Die Einsatzkräfte konnten nicht allen Ereignissen, Übergriffen, Straftaten usw.


Herr werden, dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit."

"Großteil der Kontrollierten waren Syrer"

Weitere wesentliche Aussagen der Kölner Polizeispitze zu den sexuellen


Übergriffen in der Silvesternacht sind offenbar unwahr, wie am Einsatz
beteiligte Kölner Polizisten der "Welt am Sonntag" berichteten. Der
Polizeipräsident der Domstadt, Wolfgang Albers, hatte am Dienstag gesagt: Man
wisse nicht, um wen es sich bei den Tätern handele, die Passanten beraubt und
Frauen sexuell belästigt hatten.

Die Kölner Polizisten sagten der "Welt am Sonntag", sie hätten durchaus
zahlreiche Personen kontrolliert und teils festgenommen.

Rund 100 dieser Personen seien kontrolliert worden; etliche von ihnen seien der
Wache zugeführt und in Gewahrsam genommen worden. Die Personenkontrollen
ergaben, berichten Kölner Polizisten weiter: "Nur bei einer kleinen Minderheit
handelte es sich um Nordafrikaner, beim Großteil der Kontrollierten um Syrer."

"Die meisten waren frisch eingereiste Asylbewerber . Sie haben Dokumente


vorgelegt, die beim Stellen eines Asylantrags ausgehändigt werden", sagten die
Beamten.

"Nach meiner Kenntnis wurden mindestens in 80 Fällen Personalien kontrolliert,


Menschen festgenommen oder in Gewahrsam genommen", sagte der
nordrhein-westfälische Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Arnold
Plickert, der "Welt am Sonntag". "Den Kollegen zufolge wurden von mehreren der
kontrollierten Männer Meldebescheinigungen des Bundesamts für Migration
vorgelegt. Da waren ganz sicher Flüchtlinge unter den Tätern."

"Tätern ging es vorrangig um Sexualstraftaten"

Köln : In der Silvesternacht eingesetzte Beamte widersprechen auch hier der


offiziellen Darstellung. In dieser heißt es, den Tätern sei es primär darum
gegangen, Passanten zu bestehlen. Die sexuellen Belästigungen seien nur nebenbei
passiert.

"In Wirklichkeit verhielt es sich genau umgekehrt", so Kölner Polizisten zur


"Welt am Sonntag". "Vorrangig ging es den meist arabischen Tätern um die
Sexualstraftaten oder, um es aus ihrem Blickwinkel zu sagen, um ihr sexuelles
Amüsement. Ein Gruppe von Männern umkreist ein weibliches Opfer, schließt es ein
und vergreift sich an der Frau."

Hamburg : Der Polizeisprecher unterstrich, dass es sich bei den Taten, bei denen
junge Frauen von einer Gruppe Männer umzingelt und sexuell belästigt und auch
bestohlen werden, um ein neues Phänomen handele. Auch auf anderen
Veranstaltungen wie dem Hafengeburtstag habe es immer wieder Belästigungen und
Diebstähle gegeben, aber nicht in der vorliegenden Form. Neumann sagte: "Das
sprengt meine Vorstellungskraft, ein Phänomen, das wir so in Hamburg noch nicht
kannten."

Wie geht es weiter?

Neue Sicherheitsplanung

Köln : Die rheinland-pfälzische Landesregierung will in der kommenden Woche


zusammen mit der Polizei die Sicherheitsplanung für karnevalistische
Großveranstaltungen auf den Prüfstand stellen. Ministerpräsidentin Malu Dreyer
und Innenminister Roger Lewentz (beide SPD) wollen mit den Polizeipräsidenten
über mögliche Konsequenzen aus den Übergriffen auf Frauen beraten. "Wir werden
für angemessene Polizeipräsenz sorgen", erklärte Lewentz.

Die CDU nahm die Straftaten in Köln zum Anlass, die schnelle Einführung von
Minikameras, sogenannter Bodycams , für Polizisten zu fordern. "Die Geschehnisse
in Köln zeigen: Wir brauchen bei der technischen Ausstattung unserer Polizei
keine endlosen Testphasen, sondern die konkrete Umsetzung", sagte der
innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Matthias Lammert.

Hamburg : Die Polizei kündigte eine Erhöhung ihrer Präsenz im Vergnügungsviertel


auf St. Pauli an. Am Wochenende werde eine mobile Videoüberwachung genutzt
werden. Die Hamburger Polizei wird nach den Worten des Innensenators "eine klare
Kante fahren".

"Wir werden auch unsere Konsequenzen ziehen, so dass also - um es mal so


deutlich zu sagen - die Reeperbahn in Zukunft so sicher sein wird wie nie
vorher", sagte Neumann. Sollte sich herausstellen, dass es sich um ausländische
Täter handelt, so schloss er eine schnellere Abschiebung nicht aus. "Da darf es
auch kein Federlesen und keine falsche Humanität geben."

Reaktionen und Forderungen der Politik

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fordert eine verstärkte Debatte über die
Grundlagen des kulturellen Zusammenlebens in Deutschland - zugleich sei zu
prüfen, ob bisher bei der Ausweisung straffälliger Ausländer genug getan worden
sei.

Merkel sagte: "Was in der Silvesternacht passiert ist, das ist völlig
inakzeptabel. Es sind widerwärtige, kriminelle Taten, (...) die Deutschland
nicht hinnehmen wird." Wenn sich Frauen ausgeliefert fühlten, sei das auch für
sie persönlich unerträglich.

Der CDU-Vorstand fordert als Konsequenz aus den Übergriffen in der


Silvesternacht deutliche Gesetzesverschärfungen . So sollen
"verdachtsunabhängige Personenkontrollen" - also die sogenannte Schleierfahndung
- bei "erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung"
eingeführt werden. Dies geht aus einem Beschluss des CDU-Vorstandes hervor, der
am Samstag auf einer Klausurtagung in Mainz verabschiedet werden soll und der
"Welt" als Entwurf vorliegt.

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) verweist darauf, dass Asylbewerber bereits


jetzt nach einer Bestrafung zu einem Jahr Haft ausgewiesen werden könnten.
"Ausweisungen wären insofern durchaus denkbar", sagte er den Zeitungen der
Funke-Mediengruppe.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht wachsende Aggressionen in der
Gesellschaft mit großer Sorge: "Die Respektlosigkeit gegenüber Polizisten ist
ein relativ neues Phänomen. Aber das gibt es nicht erst seit den Ereignissen von
Köln", sagte er. "Die Respektlosigkeit gegenüber Polizisten und Mitarbeitern des
öffentlichen Dienstes insgesamt hat zugenommen in einem Bereich, der mir die
allergrößten Sorgen macht."

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), zeigte sich


erschrocken über die Reaktionen von rechts. "Es alarmiert mich, wie
Rechtsextreme die Übergriffe bereits zur Hetze und Stimmungsmache gegen
Flüchtlinge nutzen", sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Sie warne
davor, geflohene Menschen nun unter Generalverdacht zu stellen.

UPDATE: 8. Januar 2016

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Sonntag 10. Januar 2016 2:14 AM GMT+1

Bahnhof Düsseldorf;
15-Jährige von Syrer und Iraker sexuell belästigt

AUTOR: Martin Lutz

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 374 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Übergriffen an Silvester hat es in Düsseldorf wieder einen


Fall von sexueller Belästigung gegeben. Zwei Männer bedrängten ein junges
Mädchen. Die Polizei veröffentlichte den Fall nicht.

In Nordrhein-Westfalen hat es nach den sexuellen Übergriffen in der


Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof am 6. Januar am Hauptbahnhof Düsseldorf
erneut einen krassen Vorfall gegeben. Nach Informationen der "Welt am Sonntag"
wurde in der Landeshauptstadt ein 15-jähriges Mädchen auf einer Sitzbank am Ende
des Bahnsteigs von Gleis 16 von zwei Männern nachts sexuell belästigt.

"Hier setzte der Tatverdächtige sie trotz Gegenwehr auf seinen Schoß und begann
sie unsittlich an Brust und Genitalien zu begrabschen. Außerdem küsste er sie
gegen ihren Willen auf den Mund", heißt es in der internen Lagemeldung der
Polizei vom 6. Januar zu dem Vorfall. Bei dem Hauptverdächtigen handelt es
demnach um einen 18-jährigen Syrer. Ein 20-jähriger Iraker habe die Jugendliche
ebenfalls unsittlich angefasst und geküsst.

Hauptverdächtiger sitzt in Untersuchungshaft

Ein dritter Mann, ebenfalls ein Iraker, 21, verhöhnte das Opfer. "Person 3 stand
dabei und lachte", heißt es in dem Polizeibericht. Videoaufnahmen vom Bahnsteig
gibt es nicht. Aber ein 34-jähriger Marokkaner beobachtete die Tat und
informierte die Bundespolizei, die das Mädchen anschließend aus den Fängen ihrer
Peiniger befreite. Die drei Tatverdächtigen wurden durch eine Polizeistreife
gestellt und in die Wache gebracht. Den Fall bearbeitet inzwischen das
Polizeipräsidium Düsseldorf. "Es ist zu einem Sexualdelikt gekommen. Im Rahmen
der Fahndung sind Personen festgenommen worden", bestätigte die Landespolizei
der "Welt am Sonntag". Man habe den Fall aus "Gründen des Opferschutzes" jedoch
nicht veröffentlicht. Der Hauptverdächtige sitzt wegen des Verdachts der
sexuellen Nötigung seit dem 7. Januar in Untersuchungshaft.

In Düsseldorf sollen auch in der Silvesternacht in größerem Umfang als bislang


bekannt Frauen sexuell belästigt worden sein. Die Zahl der Strafanzeigen sei
inzwischen auf 41 angestiegen, sagte ein Polizeisprecher am Freitag auf Anfrage.
Zunächst war in der Landeshauptstadt von elf Anzeigen berichtet worden. Die
Tatorte lägen über das Stadtgebiet verteilt. Teilweise seien die sexuellen
Übergriffe mit Diebstahl und Raub verbunden gewesen, wie es in den Anzeigen
angegeben wird. Der Beschreibung zufolge habe es sich überwiegend um nicht
deutsche Täter gehandelt.

UPDATE: 10. Januar 2016

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Donnerstag 28. Januar 2016 11:45 AM GMT+1

Erfundener Lageso-Toter;
"Moabit hilft!" fühlt sich verraten

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 465 Wörter

HIGHLIGHT: "Wenn es sein Gewissen beruhigt; unseres beruhigt es nicht": Das


Bündnis "Moabit hilft!" zeigt sich bestürzt über den Mann, der den Tod eines
Syrers am Lageso erfunden hat. Der Kontakt sei abgebrochen.

Das Berliner Bündnis "Moabit hilft!" zeigt sich nach dem erfundenen Tod eines
Flüchtlings bestürzt. "Wir fühlen uns verraten", sagte die Gründerin Diana
Henniges am Donnerstag in einer Stellungnahme. Die Tat habe Auswirkungen auf das
Vertrauen aller Flüchtlingsinitiativen in Deutschland.

Der Helfer, der die Falschmeldung über Facebook in Umlauf brachte, habe sich
vollkommen verbarrikadiert, erklärte Henniges weiter. Ihren Angaben zufolge habe
der Helfer in der Nacht sein gesperrtes Facebook-Profil wieder reaktiviert, um
sich zu entschuldigen.

Ferner könne er sich nicht mehr genau daran erinnern, da er zu dem Zeitpunkt
leicht alkoholisiert gewesen sei. "Wenn es sein Gewissen beruhigt; unseres
beruhigt es nicht", kommentierte die Gründerin das angebliche Statement.
Mittlerweile habe er sein Profil erneut gesperrt, Kontakt bestehe derzeit nicht.

"Wir haben echt Mist gebaut", gestand Henniges weiter offen ein. Es (die
Rückendeckung nach Bekanntwerden der Geschichte, d. Red.) sei aus einem
Vertrauensverhältnis heraus geschehen. Gleichzeitig kritisierte sie die Medien,
die auf den Zug der Falschmeldung aufgesprungen seien. "Jeder hat die Geschichte
geglaubt." So unwahrscheinlich sei ein solches Szenario also nicht. Damit
spielte sie auf die seit Monaten unzumutbaren Zustände am Lageso an.

In einer ersten Reaktion auf Facebook hatte sich das Bündnis zuvor "fassungslos"
gezeigt. Den Helfer, der den Fall erfunden hat, hätte es in den vergangenen
Monaten "als verlässlichen und integeren Unterstützer an unserer Seite
kennengelernt, der sich auf unterschiedlichste Weise für viele geflüchtete
Menschen engagiert hat", hieß es in der auf Facebook verbreiteten Mitteilung.

"Wir kennen seine Motivation ... nicht, und wollen dies auch nicht
kommentieren." Er habe sein Facebook-Profil gelöscht und "war bislang für uns
nicht zu sprechen".

Der ehrenamtliche Flüchtlingshelfer hatte behauptet, dass ein 24-jähriger Syrer


gestorben sei. Der Mann habe zuvor tagelang vor dem Landesamt für Gesundheit und
Soziales (Lageso) in der Hauptstadt angestanden.

Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) forderte dagegen rechtliche Konsequenzen


gegen den Flüchtlingshelfer. "Das ist eine der miesesten und perfidesten
Aktionen, die ich jemals erlebt habe", teilte Henkel mit. "Berlins Behörden
mussten über Stunden mit hohem Aufwand nach einem erfundenen "LaGeSo-Toten"
suchen."

Auch kritisierte er "Moabit hilft!". "Verantwortung tragen auch diejenigen, die


den erfundenen Fall gestern ohne jegliche Grundlage bestätigt haben, darunter
die Sprecherin des Bündnisses ,Moabit hilft!'", sagte er weiter. "Wer solche
Gerüchte streut und ungeprüft weiterverbreitet, legt es bewusst darauf an, die
Stimmung in unserer Stadt zu vergiften." Henkel verteidigte aber auch die
Mehrheit der ehrenamtlichen Helfer.

UPDATE: 28. Januar 2016

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Donnerstag 25. Februar 2016 11:28 AM GMT+1

Landgericht Frankfurt;
Zu ausgelastet - Terrorverdächtiger muss nicht vor Gericht

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 206 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Syrer wird verdächtigt, eine "schwere staatsgefährdende


Gewalttat" vorbereitet zu haben. Doch das Landgericht Frankfurt setzt den
Haftbefehl aus. Man sei mit anderen Dingen befasst.

Das Landgericht Frankfurt hat den Haftbefehl gegen einen Terrorverdächtigen


aufgehoben. Der 32-Jährige ist seit April 2015 angeklagt wegen "Vorbereitung
einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat", wie Friederike Busch, Sprecherin
der Staatsanwaltschaft Frankfurt, am Donnerstag sagte. Der Grund für die
Aufhebung ist laut einem Sprecher des Landgerichts die hohe Auslastung: "Im
Moment ist die Kammer mit anderen Dingen befasst." Derzeit müssten zu viele
Fälle bearbeitet werden, um eine Hauptverhandlung zu veranlassen.

Die Staatsanwaltschaft hat dagegen Beschwerde beim Oberlandesgericht


eingereicht. "Wir halten die Gründe für die Aussetzung nicht für ausreichend",
sagte Busch.

Zuerst hatte "hr-info" berichtet, das Landgericht sei "überlastet". Das wollte
der Gerichtssprecher so nicht bestätigen. "Zum Inhalt des Verfahrens sage ich
nichts. Das Gericht ist aber ausgelastet, nicht überlastet. Das ist ein
Unterschied." Der Betroffene habe keinen Tag in U-Haft verbracht.

Der 32-jährige Syrer war vor zwei Jahren auf dem Frankfurter Flughafen
festgenommen worden, als er ausreisen wollte. Dreimal wöchentlich haben er sich
melden müssen, um der U-Haft zu entgehen, sagte Busche. Dagegen hat er der
Sprecherin zufolge nicht verstoßen.

UPDATE: 25. Februar 2016

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Dienstag 22. März 2016 1:41 PM GMT+1

Pleinting bei Passau;


Bergwacht holt Flüchtlinge von Kraftwerks-Kamin

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 432 Wörter

HIGHLIGHT: In 130 Meter Höhe protestieren vier Syrer für eine bessere
Unterkunft. Erst nach Stunden geben sie auf und müssen von der Bergwacht
gerettet werden. Die Asylsuchenden fordern eine andere Verpflegung.

Mit einer Protestaktion haben vier Flüchtlinge einen Großeinsatz der Polizei
ausgelöst, an der sich am Ende auch die Höhenrettung der Bergwacht beteiligen
musste. Am Montag kletterten die Syrer auf einen Kaminturm des Kraftwerks in
Pleinting bei Passau, genauer gesagt auf eine Plattform des Turms in 130 Meter
Höhe. Die Asylbewerber seien mit ihrer Notunterkunft auf dem Gelände des
stillgelegten Kraftwerks unzufrieden, sagte ein Polizeisprecher.

Mehr als vier Stunden harrten die Flüchtlinge auf der Plattform aus,
Einsatzkräfte versuchten per Telefon, die Flüchtlinge zum Aufgeben zu bewegen.
Nach mehr als drei Stunden hatten sie Erfolg, die Männer gaben auf.

Die Bergwacht muss die Männer per Hubschrauber bergen

Allerdings trauten sie sich den Rückweg nicht mehr zu, deshalb musste die
Höhenrettung der Bergwacht anrücken. Per Hubschrauber wurde jeder einzelne
Flüchtling geborgen. Laut der Polizei wurde den Männern dabei ein Gurt
umgeschnallt, mit dem sie dann zum Hubschrauber hochgezogen wurden. Erst gegen
Abend war die Rettungsaktion beendet, die Flüchtlinge waren teils unterkühlt,
ansonsten aber wohlauf. Gegen die Männer wird jetzt wegen versuchter Nötigung
ermittelt.

Ein Polizeisprecher erklärte, dass die Flüchtlinge mit ihrer Aktion auf ihre
Situation vor Ort in ihrer Unterkunft aufmerksam machen wollten. Sie seien mit
ihrer Unterkunft unzufrieden, heißt es. Die Flüchtlinge sind vor Ort in einem
Verwaltungsgebäude des stillgelegten Ölkraftwerks in Pleinting untergebracht.
Die Notunterkunft ist für 200 Flüchtlinge ausgelegt, aktuell leben dort rund 100
Flüchtlinge.

Die Männer fordern anderes Essen und den Abriss von Zäunen

Eine der Forderungen der vier Männer lautete andere Verpflegung, sagte ein
Sprecher des Landratsamts Passau am Tag nach der Rettungsaktion. "Da ist unklar,
ob es um Art oder Menge geht." Zudem sei der Speiseplan in der Vorwoche mit den
rund 100 Flüchtlingen in der Notunterkunft abgesprochen worden.

Die zweite Forderung, Zäune auf dem Gelände zu entfernen, sei aus
Sicherheitsgründen nicht zu erfüllen. Das ehemalige Kraftwerk dürfe nicht
betreten werden. Die Notunterkunft als Überlauf für die Erstaufnahmestelle
Deggendorf befindet sich den Angaben zufolge im alten Büro- und
Verwaltungsgebäude wie eine Art Insel auf dem Areal.

Als dritten Punkt wollten die Protestierenden, dass der Sicherheitsdienst auf
seinen Streifgängen keine Hunde mitnimmt. Eine Nachfrage bei den übrigen
Flüchtlingen habe keine Hinweise auf Probleme ergeben, sagte der
Behördensprecher. Das Gespräch habe gezeigt, dass diese von der Aktion des
Quartetts überrascht wurden.

UPDATE: 22. März 2016

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Die Welt

Montag 11. Januar 2016

Zwischen "Merkel muss weg" und Respekt vor ihrer Politik;


Übergriffe in der Silvesternacht beschäftigen die US-Medien. Ein "New York
Times"-Gastkolumnist fordert gar den Abgang der Kanzlerin

AUTOR: Ansgar Graw

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 8

LÄNGE: 824 Wörter

Washington

Die sexuellen Übergriffe ausländischer Männer auf Frauen in der Silvesternacht


sind auch Thema in amerikanischen Medien. Mit der dramatischen Zeile
"Deutschland auf der Kippe" war am Sonntag ein Meinungsstück in der "New York
Times" überschrieben. Die Kölner Behörden hätten die Angriffe von Tätern vor
allem aus Nordafrika und dem Nahen Osten zunächst heruntergespielt, weil sie
sich als "unbequem erweisen für Angela Merkels Politik eines Massenasyls für
Flüchtlinge", argumentiert der Autor.

Und trotz der zwischenzeitlichen Amtsenthebung des Kölner Polizeichefs Wolfgang


Albers "scheint die deutsche Regierung weiterhin stärker besorgt um die
Überwachung der besorgten Einheimischen - zuletzt per Vereinbarung mit Facebook
und Google zur Einschränkung von einwanderungskritischen Kommentaren - als mit
der Überwachung der Zuwanderung".

Geschrieben ist das Stück von dem konservativen Autor Ross Douthat. Er gehört
nicht der Redaktion der eher linken "New York Times" an, sondern ist einer ihrer
Gastkolumnisten. Seine Stücke erscheinen darum auf der "Op-Ed"- Seite, was für
"Opposite the Editorial Page" steht, also die Seite gegenüber den Kommentaren
der Redaktion, den sogenannten Editorials.

Douthat verweist auf Warnungen, die Konservative auf beiden Seiten des Atlantik
schon länger erheben: Muslimische Einwanderung bringt große Herausforderungen
mit sich, weil diese Gruppe schwer zu integrieren sei und die Gefahr einer
Radikalisierung berge.

Gleichwohl hätten "eher apokalyptische Voraussagen" unter dem Stichwort


"Eurabia" und "Massen-Islamisierung" übertrieben gewirkt. Mit dem aktuellen
Zustrom "nicht von Zehntausenden, sondern eher von Hunderttausenden" Migranten,
unter ihnen vor allem junge Männer unter 30 Jahren, bewege sich die Entwicklung
jedoch in einer neuen Dimension. Unter Verweis auf eine aktuelle Studie der
Wissenschaftlerin Valerie Hudson auf Politico.com warnt Douthat, dass
Gesellschaften mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis und einem
starken Überschuss an Männern "instabil" zu drohen werden.

Wer glaube, "dass eine alternde, säkularisierte, bislang weitgehend homogene


Gesellschaft die Zuwanderung in einer solchen Größe und bei derartigen
kulturellen Unterschieden mutmaßlich friedlich absorbieren wird, hat eine
leuchtende Zukunft als Pressesprecher für die aktuelle deutsche Regierung. Aber
er ist auch ein Narr. Derartige Transformationen lassen eine zunehmende
Polarisierung zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen erwarten." Douthats
Schlussfolgerung: "Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss - damit ihr Land
und der Kontinent, der es trägt, vermeiden kann, einen zu hohen Preis zu zahlen
für ihre wohlmeinende Torheit."

Die Redaktion der "New York Times" selbst beobachtet die Entwicklung hingegen
optimistischer. Nur einen Tag zuvor erschien in dem Blatt ein (wie üblich nicht
namentlich gezeichnetes) Editorial, in dem zwar die Flüchtlingspolitik Europas
kritisiert, aber die Linie der Bundeskanzlerin gelobt wird. Weil sich in diesem
Jahr die Zahl der Einwanderer von einer Million auf drei Millionen nochmals
massiv erhöhen werde, müsse die Europäische Union "legale Wege für Einwanderung"
schaffen, um den Zustrom "besser zu kontrollieren und Menschenschmugglern das
Geschäft zu verderben".

Daneben sei "die Verwundbarkeit weiblicher Flüchtlinge durch sexuellen


Missbrauch" ein Problem. Zu den Kölner Übergriffen auf Frauen heißt es, der
deutsche Innenminister habe gesagt, unter den mehr als 30 identifizierten Tätern
seien 18 Asylsuchende - was richtig sein mag und die Dimension der Ereignisse
dennoch verzerrt.

Das Schlusswort räumt die "New York Times" Merkel persönlich ein. Ihre
Neujahrsbotschaft, laut der "der Zustrom und die Integration so vieler Menschen
eine Chance für das Morgen" sei, solle "ganz Europa beherzigen". Skeptischer ist
das konservative "Wall Street Journal". Wähler, die bislang Europas freien
Grenzverkehr innerhalb der Schengenzone begrüßten, "werden Kontrollen verlangen,
wenn ihre Regierungen die Masseneinwanderung nicht bewältigen und Recht und
Ordnung nicht garantieren können", so ein Kommentator.

Die Schlussfolgerung: Europa müsse mehr tun, um Ordnung zu bringen in das


politische Chaos von Libyen bis Afghanistan, das diese Flüchtlinge nach Europa
treibt. Ein Europa ohne Grenzen sei weiterhin ein lohnenswerter Traum - "solange
Europas Führer bereit sind, harte Anstrengungen zu unternehmen, um sein Absinken
in einen Albtraum zu verhindern". Die "Washington Post" analysierte, dass es
auch in der eigenen Partei große Zweifel an Angela Merkels "Wir schaffen
das"-Losung gebe. Die Schlussfolgerung bereits im Dezember: Die Kanzlerin müsse
"ihren Mut mit ihren politischen Fähigkeiten vermählen".

Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss - damit ihr Land und der Kontinent,
der es trägt, vermeiden kann, einen zu hohen Preis zu zahlen für ihre
wohlmeinende Torheit Ross Douthat, Gastkolumnist New York Times

UPDATE: 11. Januar 2016

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Die Welt

Montag 11. Januar 2016

Wenn Landkauf zum Goldrausch wird;


Finanzinvestoren kaufen weltweit in großem Stil knappe Ackerflächen auf - in
Afrika und Asien, aber auch zunehmend in Europa. Das "Landgrabbing" bietet die
Möglichkeit riesiger Gewinne, weil Nahrung weltweit knapp wird. Einheimische
Bauern haben das Nachsehen

AUTOR: Inga Michler; Ernst August Ginten

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 12 Ausg. 8

LÄNGE: 2402 Wörter

Die Investoren aus dem Libanon denken groß. Sogar einen eigenen Hafen und
Schlachthof haben sie sich in der Europäischen Union gesichert. 65.000 Hektar
Land, eine Fläche beinahe so groß wie Hamburg, bewirtschaftet die Maria Group in
Rumänien. Die Libanesen sind damit die größten Farmer des osteuropäischen
Landes. Von dort versorgen sie den Nahen Osten und Ostafrika tonnenweise mit
Fleisch und Getreide.

Der große Run auf Land, das sogenannte "Landgrabbing", spielt sich längst nicht
mehr nur in Afrika, Asien und Lateinamerika ab. Auch in Europa bringen sich
Investoren aus aller Welt in Stellung. Ob in Rumänien, Bulgarien, Estland,
Litauen oder Ungarn, ausländische Konzerne bringen immer größere Flächen unter
ihre Kontrolle. Auch in Ostdeutschland sind internationale Investoren aktiv. Das
wird nicht zuletzt in der Studie "Ausmaß des Landgrabbings in der EU" deutlich,
die das Amsterdamer Transnational Institut im vergangenen Jahr im Auftrag des
EU-Agrarausschusses erstellt hat.

Angesichts der weltweit wachsenden Bevölkerung scheinen steigende Preise für


Nahrungsmittel und Agrarrohstoffe und damit satte Renditen garantiert. Bei
niedrigen Zinsen ist Ackerland auch in Europa zu einem beliebten Spekulations-
und Anlageobjekt geworden - mit weitreichenden Folgen. Die Struktur der
Landwirtschaft ändert sich. Durch effizientere Bewirtschaftung der Großen
geraten die Kleinbauern unter Druck. Allein in Deutschland gehören rund 70
Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr den Bauern, die sie
bewirtschaften. Die Europaabgeordnete und Milchbäuerin Maria Heubuch schreibt im
Vorwort einer neuen Studie der Grünen im Europaparlament, "Landjäger - Europas
Äcker im Ausverkauf", von einem "schleichenden Prozess der Landkonzentration".
Bäuerinnen und Bauern verlören zunehmend "den Boden, auf dem sie wirtschaften,
unter ihren Füßen".

In Afrika und Asien ist dies längst in großem Stil geschehen. Entwicklungshelfer
beklagen seit Jahren das einseitige Geschäft, bei dem diejenigen gewinnen, die
sich möglichst viel Land "krallen": die internationalen Investoren. Bereits 2013
stellte das Kieler Institut für Weltwirtschaft nach dem Abschluss einer Studie
fest: "Für die lokale Bevölkerung im südlichen Afrika entstehen durch große
Landinvestitionsprojekte viele Risiken und nur wenig Vorteile."

Wie viel Land wirklich verkauft wird, können Experten nur schätzen. Viele
Verträge werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht. Die Website
Landmatrix.org - unterstützt unter anderem von der staatlichen Deutschen
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) - stellt seit 2012 Daten
über Landverkäufe in der ganzen Welt zur Verfügung. Danach sind seit der
Jahrtausendwende mindestens 56 Millionen Hektar (Stand September 2015) Land
verkauft worden. Das ist rund eineinhalb Mal die Fläche der gesamten
Bundesrepublik. 70 Prozent der Geschäfte wurden in Afrika gemacht. Und auf rund
39 Millionen Hektar haben die Investoren bereits angefangen, im großen Stil
Agrarprodukte zu produzieren, die nur noch zum Teil als Lebensmittel genutzt
werden.

Die britische Entwicklungshilfe-Organisation Oxfam geht unterdessen von einer


sehr hohen Dunkelziffer aus. Sie spricht gar von über 200 Millionen Hektar Land,
die in den vergangenen Jahren in Entwicklungsländern verkauft oder langfristig
verpachtet worden sind. Die meisten Stücke waren dabei zwischen 10.000 und
200.000 Hektar groß. Zum Vergleich: Die landwirtschaftliche Nutzfläche in der
gesamten EU 27 beträgt rund 185 Millionen Hektar.

Die Gründe für den Run auf Land sind vielschichtig. Weltweit wächst sowohl die
Zahl der Nahrungsmittel-Konsumenten als auch der Fleischverbrauch. Beides führt
dazu, dass mehr Ackerflächen benötigt werden. Länder wie die arabischen Staaten
oder China kaufen inzwischen Flächen im Ausland zu, um die eigene Bevölkerung zu
versorgen. Industriestaaten wie die USA und Deutschland fördern den Verbrauch
von Biotreibstoffen, was zusätzliche Flächen beansprucht. Gleichzeitig
verkarsten immer mehr ehedem fruchtbare Flächen aufgrund des Klimawandels. Hinzu
kommt das Geld von Investoren aus aller Welt, die nach der weltweiten
Finanzkrise im Jahr 2008 nach inflationssicheren Anlagealternativen suchen. All
das lässt die Hektarpreise steigen.

Ein Kernproblem liegt darin, dass die Bevölkerung vor allem in


Entwicklungsländern immer noch systematisch übergangen wird. Die Bundesregierung
will die Regierungen dort deshalb stärker in die Pflicht nehmen. "Diese müssen
sich der Herausforderung stellen, das verantwortungslose "Grapschen" von Land zu
verhindern und stattdessen das Investitionsinteresse in eine Richtung zu lenken,
bei der es nur Gewinner, aber keine Verlierer gibt", schrieb im Jahr 2013 der
damalige Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ), Hans-Jürgen Beerfeltz, in einem Strategiepapier des
Ministeriums.

Auch der Chef der staatlichen Deutschen Investitions- und


Entwicklungsgesellschaft DEG, Bruno Wenn, ist sich der Risiken und Chancen der
Finanzierung von großen Flächen in Entwicklungsländern bewusst. Da sei in den
vergangenen Jahren viel passiert, was kritikwürdig gewesen sei. Aber: "Nicht
jede Investition in Afrika ist Landgrabbing", sagt Wenn. Natürlich müsse beim
Landkauf aber die ansässige Bevölkerung einbezogen werden und deren Recht
gewahrt werden. "Wir finanzieren nur, wenn nachgewiesen wird, ob ökologische und
soziale Standards eingehalten werden."

Carl Heinrich Bruhn sagt, er habe genau das im Blick. Der einstige Chef von
Müllermilch hat sein Büro im ehemaligen Internationalen Handelszentrum der DDR
und schaut aus riesigen Fenstern auf den Berliner Dom und den Fernsehturm. Bruhn
ist Vorstandsvorsitzender der Amatheon Agri Holding N.V., an der der ehemalige
Vorzeigeunternehmer Lars Windhorst über seine Investmentgesellschaft Sapinda
beteiligt ist. Amatheon hat in den vergangenen Jahren viel Geld vor allem in
Sambia investiert. Der studierte Landwirt Bruhn erklärt, Amatheon verhandele
direkt mit den einzelnen Grundbesitzern in Sambia und kaufe das Land "zu fairen
Preisen". Man habe Vertreter der Bewohner und der Regierung in die Gespräche
eingebunden. Mittlerweile verfügt Amatheon nach eigenen Angaben über 40.000
Hektar in Sambia - Tendenz weiter steigend. Für die lokale Bevölkerung bringt
das aber nicht allzu viel. Nach einer Studie der Ernährungsexperten von Fian
leiden in Sambia heute mehr Menschen an Hunger als zur Jahrtausendwende. Die
Weltbank bestätigt: "Sambias Wirtschaftswachstum hat zu keiner signifikanten
Verringerung der Armut beigetragen."

Bruhn, eckige Brille, breite Schultern, entrollt auf seinem Besprechungstisch


großformatige Flurpläne des Gebiets der "Big Concession" in Sambia - ein
Landstrich, den die britischen Kolonialherren einst als Farmland auswiesen.
Bewirtschaftet wurde er allerdings nie. Als deutscher Unternehmer in Afrika will
Bruhn Vorbild sein, sich abgrenzen zum Beispiel von den Chinesen, die massenhaft
Land kaufen und Rohstoffe und Lebensmittel aus dem schwarzen Kontinent heraus
holen. Er will mit seinen Waren auch die Mittelschicht in Sambia beliefern.
Außerdem halte sich "Amatheon Agri" an die Standards der Vereinten Nationen und
der Weltbank. "Wir binden auch Hilfsorganisationen in unsere Arbeit ein."
Gemeinsam mit dem Bildungsministerium verbessert das Unternehmen zum Beispiel
Schulen in der Gegend. Bauern lernen auf "Feldtagen" über neue Anbaumethoden,
können in einem Shop Saat- und Düngemittel kaufen und ihre eigenen Erzeugnisse
an Amatheon verkaufen - "zu fairen Marktpreisen", wie das Unternehmen betont.
Regelmäßig überwacht Amatheon auch, dass die Bewässerung der neuen Anbaugebiete
den Grundwasserspiegel nicht beeinträchtigt. "Wir haben derzeit allerdings das
Luxusproblem, dass es in der Big Concession eher zu viel als zu wenig Wasser
gibt", sagt Bruhn.

Das ist in der Tat ein Luxusproblem. Anderenorts ist der weltweite Wettlauf um
Land auch ein Wettlauf um Wasser. Rund 86 Prozent des verfügbaren Wassers wird
weltweit für die Produktion von Nahrungsmitteln verbraucht. Und das, obwohl nur
rund 19 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Fläche bewässert wird. Diese
bewässerte Fläche ist dann allerdings besonders produktiv und wirft rund 40
Prozent der in der Welt erzeugten Nahrungsmittel ab. Wenn Investoren neu
gewonnenes Ackerland bewässern, dann fehlt das Wasser allerdings oftmals
anderswo. So ist zum Beispiel Kleinbauern am blauen Nil im Sudan ihr Land
vertrocknet, weshalb sie mittlerweile von internationalen Nahrungsmittelhilfen
abhängig sind. Gleichzeitig exportiert das Land wie auch Äthiopien Agrargüter,
die von Großfarmen produziert worden sind.
Die Land-Käufer kommen vielerorts aus Regionen, die unter chronischem
Wassermangel leiden. Zudem spielen Investoren aus Industriestaaten mit sehr
hohen Landpreisen ein große Rolle. In Industriestaaten wie England oder den USA
ist es einfach teurer als in Afrika, Land zu kaufen, wo die Arbeitskosten gering
sind, um das gekaufte Areal urbar zu machen. Institutionen wie die Weltbank oder
auch das UN-Welternährungsprogramm FAO versuchen derzeit, Landerwerb als Chance
für kapitalschwache Länder und verantwortungsvolle Investoren salonfähig zu
machen. Der Landverkauf solle verknüpft werden etwa mit der Schaffung von neuen
Jobs für die lokale Bevölkerung und dem kontrollierten Einsatz von Dünger und
Pflanzenschutzmitteln, heißt es in einem freiwilligen Verhaltenskodex. Damit
sollen die Ernährungssicherheit und nachhaltige Entwicklung gestärkt werden.

In Deutschland setzen sich dagegen vor allem das katholische Hilfswerk Misereor,
Brot für die Welt und Oxfam dafür ein, das weltweite Landgrabbing zu stoppen.
Sie fordern von der Bundesregierung, dass Unternehmen wie zum Beispiel
Investmentfonds, die der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen, ihre Aktivitäten
in diesem Bereich offenlegen sollen. Zwar seien zusätzliche Investitionen "in
die Landwirtschaft dringend geboten". Aber wenn das Menschenrecht auf Nahrung
verletzt werde, müsse man gegensteuern. Oxfam wird konkreter: Eine vorherige
Konsultation der Betroffenen vor dem Landerwerb durch ausländische Investoren
sei zwingend erforderlich. "Die Land- und Wasserrechte von armen Menschen müssen
gestärkt werden, so wie es in den freiwilligen Leitlinien zur Landnutzung des
UN-Welternährungsausschusses festgelegt ist", sagt Agrarexpertin Marita
Wiggerthale.

Die Hilfsorganisation Brot für die Welt weiß, wie oft diese hehren Ziele in der
Praxis eklatant verletzt werden. Beispiel Mali: Im fruchtbaren Nigerdelta hat
Libyen für 50 Jahre rund 247.000 Hektar Land für den Anbau von Reis gepachtet.
Der Deal wurde hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Die betroffenen Bauern
aber wurden in Gegenden ohne gesicherte Wasserversorgung umgesiedelt. Oder
Sierra Leone: Das Land rangiert Oxfam zufolge weltweit im unteren Viertel bei
dem Indikator Rechtsstaatlichkeit und in der unteren Hälfte bei den Indikatoren
Mitspracherecht, Rechenschaftspflicht, staatliche Regulierung und
Korruptionskontrolle. In den vergangenen zehn Jahren wurden in dem
westafrikanischen Staat ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche
verkauft.

Dies ist kein Zufall. Einer Oxfam-Untersuchung zufolge kauften viele Investoren
gezielt in Ländern mit schlechter Regierungsführung. Denn dort winken besonders
hohe Gewinne. Drei Viertel von 56 Ländern, in denen im Zeitraum der Jahre 2000
bis 2011 Landgeschäfte getätigt wurden, schnitten bei den rechtlichen Standards
besonders schlecht ab. "Dort, wo Menschen nicht die Möglichkeit haben, ihre
Rechte einzufordern, können Investoren schnell und billig Land pachten oder
kaufen", erklärt Oxfam-Agrarexpertin Wiggerthale.

Misereor hat zwölf Verträge zwischen afrikanischen Staaten und Investoren


untersucht. Sechs davon waren gerade einmal zehn Seiten lang. Verkauft wurden
jeweils mehrere zigtausend Hektar. Die betroffene Bevölkerung wurde nur
sporadisch befragt, in fast allen Fällen wurde das Land deutlich unter
Marktpreis verpachtet, und bei drei Verträgen wurde es laut Misereor sogar
kostenlos abgegeben. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere rückt immer
wieder der Landmaschinenhersteller Agco ins Rampenlicht: Afrikas Landwirtschaft
bleibe weit zurück hinter ihren Möglichkeiten. Tatsächlich hat der Kontinent in
diesem Sektor die niedrigste Produktivität der Welt. Nach Zahlen der
Afrikanischen Entwicklungsbank liegt der Output pro Arbeiter in der
Landwirtschaft - unter anderem wegen fehlender Bewässerungssysteme - nur bei der
Hälfte des weltweiten Durchschnitts. Die Lösung liegt auf der Hand, davon
zumindest ist Agco-Chef Martin Richenhagen überzeugt: Sie heißt größere Farmen
und mehr Technik. Das freilich ist nicht ganz uneigennützig, bescherte es doch
auch seinem eigenen Konzern eine steigende Nachfrage.

Schützenhilfe bekam Richenhagen auf einem Kongress vor zwei Jahren in Berlin von
höchster Stelle: Horst Köhler, Ex-Bundespräsident und Afrika-Kenner, warb dort
in seiner Rede für eine industrielle Revolution der Landwirtschaft auf dem
schwarzen Kontinent. Er preist sie geradezu als Allheilmittel: Die industrielle
Landwirtschaft könne zum "Schlüsselfaktor werden für die Lebensmittel-Sicherheit
des Kontinents, für Wachstum, Armutsbekämpfung, Umweltschutz, eine gerechtere
Vermögensverteilung und mehr Arbeitsplätze mit angemessenen Einkommen". Nebenbei
wirbt Köhler für ausländische Investitionen in Afrika. Industrieländer hätten
das Wissen und die Technologie, um in großem Stil Nahrungsmittel produzieren zu
können. Hunger auf der Welt dürfe es da eigentlich nicht mehr geben.

Doch industrielle Effizienz ist nicht alles. In der Landwirtschaft gilt es auch,
kleinere Familienbetriebe zu schützen. Davon zumindest sind viele Europäer
überzeugt. Anfang 2015 verfasste der Europäische Wirtschafts- und
Sozialausschuss (EWSA) eine Stellungnahme mit dem vielsagenden Titel: "Jagd nach
Agrarland - ein Alarmsignal für Europa und eine Bedrohung für bäuerliche
Familienbetriebe". Das beratende Gremium, in dem unter anderem Arbeitgeber,
Gewerkschaften, Landwirte und Verbraucher vertreten sind, kommt darin zu dem
Schluss: Den Mitgliedsstaaten müsse es erlaubt sein, Obergrenzen für den Erwerb
von Agrarland festzulegen. Schützt die Kleinen, heißt der Tenor. Öffnet die
Türen für diejenigen, die allzu groß denken, nicht sperrangelweit.

Die Rechte von armen Menschen müssen gestärkt werden Marita


Wiggerthale,Oxfam-Agrarexpertin

UPDATE: 11. Januar 2016

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Die Welt

Montag 11. Januar 2016

Billiger Sprit überzeugt 600.000 Auto-Muffel;


Eine Studie zeigt, wie sehr der günstige Ölpreis stimulierend auf die
Pkw-Branche wirkt. Sparsame Wagen haben es zunehmend schwerer

AUTOR: Nikolaus Doll

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 9 Ausg. 8


LÄNGE: 1202 Wörter

Natürlich wird sich die Automobilindustrie bei der Detroit Motor Show (NAIAS),
die ab Montag ihre Pforten öffnet, sauber und umweltbewusst präsentieren.
Chevrolet stellt beispielsweise die Studie für eine Elektro-Corvette vor, Audi
einen SUV mit Brennstoffzellenantrieb, den Q6 h-tron - angepeilte Reichweite:
mindestens 500 Kilometer.

Das ist das eine Gesicht der NAIAS. Das andere sind Muscle Cars wie der neue
Ford Mustang Shelby GT 350 mit 533 PS. Und der BMW X4 M40i, der es in 4,9
Sekunden von null auf Tempo 100 schafft. Oder der neue Volvo S90, der auf fast
fünf Meter Länge gewachsen ist. Vernunftautos sehen anders aus. Aber warum
sollte die Branche die auch bauen? Alle Zeichen stehen auf Wachstum. Und auf
große, schwere Autos, die Sicherheit und Überblick suggerieren, die für Prestige
stehen und Spaß machen. Autoexperten erwarten unisono für dieses Jahr weiter
steigende Absatzzahlen, weltweit mindestens 78 Millionen verkaufte Pkw. Das
wären etwa 2,5 Prozent mehr als 2015.

Allen politischen Turbulenzen zum Trotz brummt das globale Autogeschäft, vor
allem in den USA und in China, den beiden wichtigsten Automärkten der Welt. Die
Amerikaner sind in Kauflaune und bei den Absatzzahlen längst nicht wieder auf
dem Niveau der Zeit vor der Finanzkrise. Und die Chinesen haben noch mächtig
Nachholbedarf. Die Nachfrage in Europa hat sich erholt und Indien, lange ein
Hoffnungsmarkt, der nicht hielt, was man sich versprach, holt spürbar auf.

Lediglich Brasilien und Russland trüben die Aussichten. Dabei heizen die
billigen Rohölpreise die Nachfrage kräftig an, denn so bleiben die Spritpreise
günstig. Die sorgen zum ohnehin guten Lauf für eine Art Sonderkonjunktur der
Automobilbranche. Und die wird nicht kurzlebig sein. Denn die
erdölexportierenden Länder pumpen trotz Preisverfalls immer mehr Öl in die
Märkte - was nur auf den ersten Blick unverständlich erscheint.

"Insgesamt rechnen wir durch den Ölpreis-Effekt mit einer Zusatznachfrage von
mehr als 600.000 Pkw in diesem Jahr", sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. Er
geht davon aus, dass 2016 rund 78,6 Millionen Pkw verkauft werden. "Ohne
Ölpreis-Effekt läge der Markt bei 78 Millionen Pkw. Das billige Öl gibt den
Autobauern im Jahr 2016 Rückenwind. Und den dürften vor allem die Hersteller
preisgünstiger Fahrzeuge spüren." Da Steuern und Verarbeitungskosten - abgesehen
vom Mehrwertsteuerbetrag - so gut wie nicht schwanken, hat sich die Preissenkung
von Rohöl nur teilweise auf den Diesel- und Benzinpreis ausgewirkt. Aber
immerhin sind in Deutschland seit März 2012 die Dieselpreise an der Tankstelle
um knapp 50 Cent oder 31 Prozent gesunken.

Der relativ günstige Sprit lässt die Betriebskosten für ein Fahrzeug deutlich
sinken. So fallen einer Berechnung zufolge bei einem Kompaktauto mit 15.000
Jahreskilometer Fahrleistung in Deutschland mehr als zehn Prozent weniger
Gesamtkosten einschließlich Wertverlust an.

Wie stark der Ölpreiseffekt in der jeweiligen Region ist, dürfte stark davon
abhängen, wie viele Autos es dort im Durchschnitt pro Kopf gibt. In Ländern mit
einer sogenannten geringen Fahrzeugdichte dürfte die Nachfrage nach neuen Pkw
besonders angefacht werden. In Indien beispielsweise, in Südkorea, Mexiko,
Türkei, Indonesien sowie den restlichen mittleren und kleineren Staaten in
Asien.

"In diesen Ländern sind die Märkte nicht gesättigt und Preissenkungen oder
Einkommenserhöhungen wirken bei ungesättigten Märkten immer deutlich belebender
auf die Nachfrage als in gesättigten Märkten, bei denen überwiegend der
Ersatzbedarf befriedigt wird", sagt Dudenhöffer. Er hat sogar versucht, die
Nachfrage-Effekte durch das günstige Öl für jedes Land einzeln zu berechnen.
Danach werden die Absatzzahlen durch die Billigpreise der Ölförderländer
beispielsweise in Indonesien zu zusätzlichen drei Prozent mehr verkauften
Neuwagen führen. In Deutschland dagegen nur zu einem Plus von 1,6 Prozent.

Hierzulande ist zwar Kraftstoff im weltweiten Vergleich verhältnismäßig teuer,


die Autofahrer reagieren also auf Preisänderungen an den Tankstellen besonders
sensibel. Dennoch setzt kein Ansturm auf die Autohäuser bei fallenden
Spritpreisen ein, denn der deutsche Markt ist einfach gesättigt. Auf 1000
Einwohner kommen in Deutschland 548 Pkw. Das ist gering, wenn man es mit den
US-Zahlen vergleicht (808 Pkw pro 1000 Einwohner) und sogar weniger als in
Italien. Dennoch liegt diese Fahrzeugdichte weit über dem weltweiten
Durchschnitt. Die Deutschen sind einfach gut versorgt mit Autos.

Dass es in Ländern wie Brasilien oder Russland trotz des Öleffekts keine
Belebung der Autonachfrage gibt, liegt an der jeweiligen wirtschaftlichen
Situation dort. Sie stecken tief in wirtschaftlichen Krisen, die Menschen haben
anderes zu tun, als über ein neues Auto nachzudenken. Da haben auch billige
Ölpreise erwartungsgemäß keinerlei Effekt. Dass Rohöl wohl noch eine ganze Zeit
günstig bleiben, vermutlich sogar noch billiger wird, hat mit der Förderpolitik
der Ölstaaten zu tun. Zwar rangierte der Preis für das schwarze Gold bereits auf
sehr niedrigem Niveau. Am 31. Dezember 2015 wurde das Barrel der Sorte Brent für
37 Dollar gehandelt. Anfang März 2012 betrug der Preis noch 128 Dollar.

Damit ist Rohöl der Sorte Brent seit März 2012 um 91 Dollar pro Fass (das
entspricht 159 Litern) oder 71 Prozent billiger geworden. Dennoch deutet alles
darauf hin, dass die Notierungen weiter nachgeben werden. Denn viele
Förderländer stecken in schweren wirtschaftlichen Turbulenzen. Saudi Arabien zum
Beispiel, Libyen, der Irak oder Russland. Aber die Saudis beispielsweise wollen
den Staatshaushalt nicht kurzfristig zusammenstreichen, lieber fördern sie noch
mehr Öl und werfen es billig auf den Markt, als die Hähne zuzudrehen und zu
warten, bis sich die Preise erholt haben. Die wirtschaftliche und damit
politische Situation in dem Land ist aus Sicht der Herrscherfamilie um König
Salman ibn Abd al-Azizzu zu angespannt, um geduldig eine Stabilisierung des
Ölpreises abzuwarten und bis dahin die Förderung runterzufahren. Die politischen
Eliten im Iran oder Putin in Russland denken da ähnlich.

Die Folge ist eine Preisspirale nach unten. Es sind also nicht ausschließlich
die weltweite Konjunkturaussichten, die den Rohölpreis drücken, sondern die
klammen Staatsfinanzen und politischen Spannungen in jenen Krisenländern, die
auf reichen Ölquellen sitzen. Zusätzlich sind Alternativangebote wie Erdgas mit
hohem Preisdruck im Markt. Damit erscheint es wenig plausibel, dass der
Rohölpreis in absehbarer Zeit wieder auf Niveaus über 100 Dollar steigt.

Die Frage ist nun, welche Automobilhersteller von diesem Trend besonders
profitieren. Laut Dudenhöffer sind es die Kompaktwagenbauer, weil deren Kunden
besonders aufs Geld schauen. Das wäre eine schlechte Nachricht für die deutsche
Autoindustrie, denn die setzt bekanntlich vor allem auf das Premiumsegment und
gut ausgestattete, PS-starke Modelle. Doch auch Automobilhersteller aus
Deutschland können sich von der Welle billigen Öls durch das Jahr tragen lassen.
Die Chancen stehen gut, dass sie noch hochwertigere und stärkere Modelle
verkaufen, also bessere Margen einfahren. Denn billiges Benzin macht Lust auf
noch mehr PS und Autos vom Typ der schweren SUVs.

UPDATE: 11. Januar 2016


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Mehr Leistung geht kaum: Ein Ford Mustang Shelby GT500
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Die Welt

Dienstag 12. Januar 2016

Deutschland Kompakt;
Schleuser: Marineschiff auf dem Weg zum Mittelmeer ++ Internet:
Verfassungsfeindliche Hetze im Netz stoppen ++ Spitzenforschung: Wissenschaftler
mahnt Entscheidung an ++ Wiedervereinigung: Vor 25 Jahren bekam Berlin ein
Parlament

RUBRIK: POLITIK; Kompakt; S. 4 Ausg. 9

LÄNGE: 592 Wörter

Schleuser

Marineschiff auf dem Weg zum Mittelmeer

Im Kampf gegen Schleuser ist das Marineversorgungsschiff "Frankfurt am Main" von


Wilhelmshaven zu einem Einsatz im Mittelmeer ausgelaufen. Das Schiff wird in den
nächsten Monaten für die EU-Operation "Sophia" das Seegebiet zwischen der
italienischen und libyschen Küste überwachen, verdächtige Boote durchsuchen und
mutmaßliche Schleuser festnehmen. Die Besatzung erwarte ein herausfordernder
Einsatz, der für einen Großteil eine neue Erfahrung sein werde, sagte Kommandant
Andreas Schmekel. Zu den Aufgaben der Soldaten gehört aber auch, in Not geratene
Flüchtlinge von Booten zu retten. Am Samstag war bereits das Schwesterschiff
"Bonn" ebenfalls zu einem Einsatz im Mittelmeer ausgelaufen, wo es für die Nato
die Seewege sichern soll.

Internet

Verfassungsfeindliche Hetze im Netz stoppen

Schleswig-Holstein will gemeinsam mit Hamburg stärker gegen


verfassungsfeindliche Hetze im Internet vorgehen. Beide wollen eine
Gesetzesinitiative in den Bundesrat einbringen, die zum Ziel hat, Propaganda
auch dann bestrafen zu können, wenn sie vom Ausland aus betrieben wird. Wer sich
vorübergehend im Ausland aufhält und von dort aus verfassungsfeindliche Inhalte
ins Internet einstellt, bleibt bisher straflos, auch wenn sich die Inhalte an
Adressaten in Deutschland richten. Der Bundesgerichtshof sprach 2014 einen
Angeklagten frei, der von einem Computer in Tschechien aus eine
Internetplattform mit dem Namen "Arische Musikfraktion" gegründet und dort
Abbildungen von Hakenkreuzen hochgeladen hatte. Grund für den Freispruch war die
Begrenzung des geltenden Rechts auf Inlandstaaten. Mit der Initiative soll die
Gesetzeslücke geschlossen werden.

Spitzenforschung

Wissenschaftler mahnt Entscheidung an

Bei der geplanten Fortsetzung der Exzellenzinitiative für die Spitzenforschung


mahnt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Eile. Das Warten auf die
konkreten Beschlüsse von Bund und Ländern führe in der Wissenschaft zu
wachsender Nervosität, beklagte DFG-Präsident Peter Strohschneider in Berlin. Er
sprach von wachsendem Zeitdruck und steigendem Erwartungsdruck und warb für eine
Lösung bis Juni. Im nächsten halben Jahr müssten Bund und Länder
zueinanderfinden. Die milliardenschwere Exzellenzinitiative zur Förderung der
Spitzenforschung und zum Aufbau von Eliteuniversitäten läuft 2017 aus, doch eine
Verlängerung um weitere zehn Jahre ist im Grundsatz schon beschlossen. Die
Details müssen allerdings noch zwischen Bund und Ländern ausgehandelt werden.
Ende des Monats legt eine Expertenkommission eine Bewertung der bisherigen
Exzellenzinitiative vor.

Wiedervereinigung

Vor 25 Jahren bekam Berlin ein Parlament

Mit einer Feierstunde ist in der Berliner Nikolaikirche an die erste Sitzung des
Gesamtberliner Parlaments nach dem Mauerfall vor 25 Jahren erinnert worden.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte bei dem Festakt, Berlin habe es
geschafft, im vergangenen Jahrhundert von einem "Mahnmal der Teilung zu einem
Monument der Einheit" zu werden. Er betonte die Vorzüge von Parlamentarismus und
Föderalismus, auch wenn beide manchmal mit Mühen verbunden seien. Der Regierende
Bürgermeister Michael Müller (SPD) würdigte die erste Sitzung im Januar 1991 als
krönenden Abschluss der Wiedervereinigung. Mit der konstituierenden Sitzung vor
nunmehr 25 Jahren sei "die Einheit unserer Stadt auch formal vollzogen" worden.
An der Feier nahmen auch drei ehemalige Regierende Bürgermeister der Stadt teil:
Eberhard Diepgen (CDU), Walter Momper und Klaus Wowereit (beide SPD).

UPDATE: 12. Januar 2016

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Die Welt
Samstag 23. Januar 2016

Merkels Ohnmacht in Brüssel;


Die EU hat viele Ideen, wie die Flüchtlingskrise zu lösen wäre. Nur mitmachen
will lieber niemand. Statt Pioniergeist gibt es vor allem Zorn und Häme gegen
Deutschland

AUTOR: Christoph B. Schiltz

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 19

LÄNGE: 1154 Wörter

Brüssel

Sie ähneln einem alten Ehepaar, in ihrer Beziehung geht es mal aufwärts, mal
abwärts. Im Moment passt kein Blatt zwischen Angela Merkel und Jean-Claude
Juncker. Vor gut einer Woche besuchte der Chef der EU-Kommission die Kanzlerin
in Berlin. Er erklärte ihr haarklein, was Brüssel alles tut, damit die
Registrierungszentren für Flüchtlinge in Griechenland endlich funktionieren.

Die Kanzlerin hörte gespannt zu - und sicherte dem Luxemburger volle


Unterstützung in der Flüchtlingspolitik zu. "Wir müssen das schaffen", sagte
Juncker. Das Gespräch mit Merkel machte Juncker Mut. Er kann in der
Flüchtlingskrise weiter auf die Kanzlerin zählen. Aber wie lange noch? In den
ersten 17 Tagen dieses Jahres sind nach Angaben der Vereinten Nationen (UN)
bereits mehr als 30.000 Migranten aus der Türkei nach Griechenland gekommen -
trotz schlechten Wetters.

Seit Monaten versuchen die Europäer die Flüchtlingskrise in den Griff zu


bekommen. Es gibt viele gute Rezepte aus Brüssel - aber die meisten
Mitgliedsländer wollen nicht mitziehen. Sie fürchten zu Hause hohe Kosten,
weniger Sicherheit und kulturelle Spannungen, wenn die Flüchtlinge erst einmal
im Land sind. Griechenland wiederum pocht auf nationale Souveränität und will
sich beim Schutz seiner Grenzen nicht so richtig helfen lassen.

Die Folge: Eine Sicherung der EU-Außengrenzen, eine ordnungsgemäße Registrierung


der Migranten in sogenannten Hotspots, ausreichende Aufnahmeplätze und eine
faire Verteilung der Flüchtlinge auf 28 EU-Staaten - alles Fehlanzeige.

Unordnung überall. Juncker spricht von "Polykrise" und fordert den


"Pioniergeist" aus den frühen Tagen Europas zurück. Inzwischen haben Ultimaten
Hochkonjunktur. "Wir haben nur zwei Monate, um die Dinge in den Griff zu
bekommen", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Der niederländische
Ministerpräsident Mark Rutte spricht von "sechs bis acht Wochen". High Noon in
Brüssel. Alle wissen: Wenn sich das Wetter im März wieder bessert und dann noch
mehr Flüchtlinge kommen, muss eine Lösung gefunden sein.

Die Flüchtlinge sollen europäischen Boden möglichst nicht erreichen. Wenn sie es
doch schaffen, müssen sie fair verteilt und ordentlich registriert werden. Der
EU-Gipfel Mitte Februar soll die Wende einläuten. "Dann wird der Handlungsdruck
so groß sein, dass etwas in Richtung einer europäischen Lösung der
Flüchtlingskrise passieren wird", sagt ein langjähriger EU-Diplomat. Das sind
jedenfalls die Hoffnungen in der Brüsseler Galerie. Es spricht aber wenig dafür.
Der "Leidensdruck" der Europäer, wie Österreichs Außenminister Sebastian Kurz es
beschreibt, scheint immer noch nicht groß genug zu sein. Auch Kanzlerin Merkel
kann - ganz anders als in der Griechenland Krise - nicht viel ausrichten. Sie
ist im Kreis der EU-Regierungschefs weitgehend isoliert. Das hat mehrere Gründe.

Anders als in der Euro-Krise kann sie keine Milliardenhilfen verteilen. Sie ist
nicht mehr die unumstrittene Nummer 1 in Europa. Hinzu kommt, dass viele
EU-Staaten Merkel immer noch ihre Härte gegenüber Griechenland ankreiden, weil
sie einen strikten Reformkurs von Athen verlangte. "Jetzt spürt die deutsche
Kanzlerin, was es heißt, wenn andere unsolidarisch sind", sagt ein Vertreter
eines südlichen EU-Landes. Es ist viel Häme im Spiel, aber auch Zorn. Das gilt
auch für die deutsche "Willkommenskultur". Der slowakische Ministerpräsident
Robert Fico sagte in Anspielung auf die Ereignisse in der Silvesternacht: "Wir
wollen nicht, dass in der Slowakei etwas Ähnliches wie in Köln passiert".
Sollten sich die EU-Regierungen nicht bald einigen, wird das Europa im Mark
treffen. Spitzenpolitiker malen düstere Bilder. "Die Europäische Union kann
auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen", sagte Luxemburgs
Außenminister Jean Asselborn. Dieses Szenario ist unrealistisch, es soll
lediglich politischen Druck aufbauen. Was wirklich droht, ist aber schon schlimm
genug. Sollten die Flüchtlingszahlen im Frühjahr nicht spürbar sinken, dann wird
Schengen teilweise ausgesetzt - will heißen, der grenzenlose Reiseverkehr für
Griechenland vorübergehend aufgehoben.

Die Europäer sehen in der Unfähigkeit der griechischen Behörden zur Sicherung
der EU-Außengrenzen einen Hauptgrund der Misere. Sie werfen dem Land massive
Verletzungen der Schengen-Regeln vor. Mit der Folge, dass Slowenien und Kroatien
einspringen müssen und faktisch die EU-Außengrenze schützen.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Mazedonien, Kroatien und Slowenien in der
Folge nichts anderes übrig bleibt, als die eigenen Grenzen dauerhaft mit
gigantischen Zäunen zu schließen. Es kommt zu einem Dominoeffekt auf dem Balkan.
"Es kann sein, dass sich dann Hunderttausende Menschen vor den Grenzen stauen
und jedes Land nur noch um sich selbst kümmert", sagt die CSU-Innenexpertin im
EU-Parlament, Monika Hohlmeier. "Das kann bei den historischen Spannungen in der
Region eine explosive Mischung werden." Das Risiko sei unkalkulierbar, heißt es
in Brüsseler Diplomatenkreisen. Gleichzeitig werden Schlepperbanden auf dem
Westbalkan wieder Hochkonjunktur haben. Sie dürften beispielsweise versuchen,
die Flüchtlinge über das Kosovo zu schleusen. Für Griechenland wären diese
Entwicklungen dramatisch. Das Land würde zum "Depot für Flüchtlinge", wie es ein
hoher Beamter der EU-Kommission kürzlich ausdrückte. Das kann im schlimmsten
Fall zum Zusammenbruch des ohnehin fragilen Griechenlands führen - ein
ungeheures Risiko für die Europäische Union.

Parallel zum Rückstau auf dem Balkan werden die Flüchtlinge dann wieder
verstärkt versuchen, über Libyen auf dem Wasserwege nach Italien zu gelangen.
Rom plant jetzt schon vorsorglich neue Aufnahmezentren. Gleichzeitig dürfte der
Druck auf Bulgarien steigen. Je nachdem wie gut es Bulgarien, Ungarn und den
Ländern auf dem Westbalkan gelingt, die EU-Außengrenzen zu schützen, werden sich
auch die Länder weiter im Norden verhalten.

Sollte der Flüchtlingsstrom in die Schengen-Staaten Deutschland, Österreich,


Dänemark und Schweden weiter anhalten, so werden auch diese Länder langfristig
Grenzkontrollen verfügen. "Dann werden wir auch über einen Einsatz der
Bundeswehr an den Grenzen nachdenken müssen", sagt Hohlmeier. Weitere Staaten
könnten folgen. Damit wäre der freie Grenzverkehr in Europa nicht beendet, aber
an wichtigen Stellen erheblich eingeschränkt. Das hätte gravierende
wirtschaftliche Folgen, es entstünden laut Experten Milliardenkosten im
zweistelligen Bereich.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass allein Verzögerungen für die täglich rund
100.000 Pendler auf der Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden pro Jahr
einen Schaden von 300 Millionen Euro verursachen könnten. Warenhandel und
Arbeitnehmermobilität in Europa würden eingeschränkt. Das kostet Wachstum und
Beschäftigung, es wird Einkommensverluste geben. Das wäre zwar noch nicht das
Aus für den Binnenmarkt und den Euro. Aber Europa würde im globalen Wettbewerb
stark an Bedeutung verlieren.

UPDATE: 23. Januar 2016

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Die Welt

Donnerstag 28. Januar 2016

Nicht mehr alles wie geschmiert;


In Griechenland geht laut Transparency International die Korruption seit 2012
stark zurück. Das liegt an Gesetzesänderungen. In Konfliktstaaten wird die Lage
dagegen zunehmend verheerend

AUTOR: Tobias Kaiser

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 10 Ausg. 23

LÄNGE: 946 Wörter

Korruption bleibt weltweit ein großes Problem, aber 2015 war offenbar ein gutes
Jahr im Kampf gegen Machtmissbrauch und Bestechung. Das ist das Ergebnis der
jüngsten Untersuchung der Organisation Transparency International (TI). Demnach
war die Zahl der Länder, in denen die Korruption 2015 zurückging, höher als die
Zahl der Länder, in denen das Problem noch größer wurde. Das ist ein Ergebnis
der aktuellen Ausgabe des Index der Korruptionswahrnehmung.

Die Länder, die die Korruption in den vergangenen vier Jahren am


eindrucksvollsten zurückgedrängt haben, sind Großbritannien, der Senegal - und
Griechenland. Das Krisenland galt noch 2012 als der korrupteste Staat Europas.
"Die Reformen, die in der Krise auf den Weg gebracht wurden, greifen", sagt Finn
Heinrich, Forschungsdirektor bei Transparency International (TI). "Die
grassierenden Formen der Korruption, die bis 2011 gang und gäbe waren, sind
weniger geworden." Die Korruption im Gesundheitswesen sei beispielsweise stark
zurückgegangen.

Die Regierungen hätten viel dafür getan, so habe die letzte Regierung
beispielsweise einen "nationalen Koordinator" im Kampf gegen die Korruption
ernannt, und unter der gegenwärtigen Regierung wurde sogar ein
Anti-Korruptions-Minister bestimmt. Zudem werde Korruption, Geldwäsche und vor
allem Steuerhinterziehung weitaus aggressiver verfolgt als noch vor einigen
Jahren. Allerdings sei die Situation in Griechenland immer noch schwierig, sagt
Heinrich: "Im europäischen Vergleich ist die Korruption dort immer noch ein
großes Problem. Um den Anschluss an den Rest Europas zu finden, muss noch viel
getan werden."

Tatsächlich landet Griechenland im europäischen Vergleich auf dem viertletzten


Platz. Größer ist die wahrgenommene Korruption nur noch in Rumänien, Italien -
und dem europäischen Schlusslicht Bulgarien. Noch 2012 galt Griechenland als das
korrupteste Land Europas, weil es bei dem TI-Vergleich das schlechteste Ergebnis
aller Mitgliedsländer der Europäischen Union erzielt hatte.

Auch in anderen Krisenländern steht es nicht zum Besten: Ausgerechnet Spanien,


das bislang als vorbildlich bei der Reform seiner Wirtschaft galt, ist seit der
letzten TI-Untersuchung stark zurückgefallen. In kaum einem anderen Land hat die
Korruption in den vergangenen vier Jahren so stark zugenommen. "Die politische
Elite in Spanien hat sich die Korruptionsbekämpfung nicht auf die Fahnen
geschrieben", sagte TI-Experte Heinrich. "Es gibt Korruptionsskandale in allen
Parteien, und es kommen zwar mehr Fälle an die Öffentlichkeit als früher, aber
sie werden nicht angegangen und die Korruption bleibt straffrei." Die
Verquickung von Wirtschaft und Politik sei problematisch, vor allem, wenn es um
das Thema Parteienfinanzierung gehe.

Nach dem Ausbruch der Schuldenkrise im Euro-Raum im Jahr 2010 hatten Beobachter
mit zunehmender Korruption in den Krisenländern gerechnet: Angesichts der
knapper werdenden Ressourcen hatten die Experten einen härteren Verteilungskampf
erwartet. Tatsächlich ist das Bild fünf Jahre später durchwachsen: In Irland,
Griechenland und Italien hat sich die Situation seit 2012 leicht verbessert,
während es in Portugal keine Veränderung gab und die Korruption auf Zypern
offenbar zugenommen hat.

Deutschland schneidet bei dem internationalen Vergleich traditionell sehr gut


ab; im vergangenen Jahr hat sich die Korruptionswahrnehmung hierzulande sogar
zum dritten Mal in Folge leicht verbessert. Seit 2011 ist Deutschland in der
internationalen Rangliste von Platz 14 auf Platz 10 gestiegen und liegt damit
unter den wohlhabenden Volkswirtschaften im Mittelfeld noch vor Staaten wie
Luxemburg, Österreich, Australien und den USA.

Gleichwohl bleibt nach Einschätzung von TI hierzulande noch einiges zu tun, um


die Korruption einzudämmen. Zwar wurde Politikern, die in die Wirtschaft
wechseln, eine gesetzliche Zwangspause verordnet und die UN-Konvention gegen
Korruption wurde Ende 2014 auch in Deutschland ratifiziert - immerhin elf Jahre
nach ihrer Verabschiedung auf UN-Ebene. "Wenn die Korruptionsbekämpfung der
Politik wirklich am Herzen läge, dann hätte sie bei der UN-Konvention und der
Karenzzeit nicht so lange herumlaviert", sagt Heinrich.

Auch beim Thema Hausausweise für Lobbyisten im Bundestag habe sich die Politik
lange quergestellt. Grundsätzlich sei beim Thema Lobbying in Deutschland
erheblicher Bedarf an mehr Transparenz und strengeren Regeln. In diesem Bereich
habe sich die Wahrnehmung verändert, gibt der TI-Experte zu: Vor zehn Jahren
habe man Lobbyismus noch nicht unter Korruptionsgesichtspunkten diskutiert; das
ändere sich gerade. "Auch Länder, die in unserer Rangliste ganz oben landen,
sind bei weitem nicht ohne Korruption", warnt Forscher Heinrich.

Kaum überraschend landen an der Spitze der Rangliste in schöner Regelmäßigkeit


vor allem nordische Länder und vergleichsweise kleine wohlhabende
Volkswirtschaften: Eine besonders ausgeprägte Unbestechlichkeit bescheinigen die
Experten von TI den Angestellten in der öffentlichen Verwaltung in Dänemark,
Finnland und Schweden.
Am verheerendsten ist die Situation laut der Analyse in Afghanistan, Nordkorea
und Somalia - auch diese Länder landen seit Jahren am Ende der Rangliste. Dort
finden sich auch Länder wie der Südsudan, der Sudan und Libyen, in denen blutige
Konflikte der Korruption den Boden bereiten.

TI fasst in dem Index die Ergebnisse aus 13 internationalen Erhebungen zusammen,


in denen Experten zu Korruption in den betroffenen Ländern befragt werden - etwa
von der Weltbank, dem World Economic Forum oder der Bertelsmann-Stiftung.

Auch Länder mit einem Top-Platz sind nicht ohne Korruption Finn Heinrich,
Direktor bei Transparency International

UPDATE: 28. Januar 2016

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Die Welt

Donnerstag 28. Januar 2016

Mehr Handys als Wasser;


Zwei Drittel der Weltbevölkerung besitzen Mobiltelefone. Trotzdem warnt die
Weltbank vor einer digitalen Kluft zwischen reichen und armen Ländern

AUTOR: Claudia Ehrenstein

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 23

LÄNGE: 935 Wörter

Wer hätte vorhersagen können, in welch rasantem Tempo sich Mobiltelefone


weltweit verbreiten würden? Rund 5,2 Milliarden Menschen besitzen heute ein
Handy - das sind mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Und 3,2 Milliarden
Menschen haben Zugang zum Internet, wie aus dem aktuellen
Weltentwicklungsbericht "Digitale Dividende" der Weltbank hervorgeht, der in
deutscher Fassung an diesem Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde.

Danach birgt auch die globale Digitalisierung enorme Chancen für das
Wirtschaftswachstum. Doch die Weltbank mahnt zugleich, dass der digitale
Fortschritt kein Selbstläufer ist - schon gar nicht in den Entwicklungsländern.
Dort verfügen zwar mehr Haushalte über ein Mobiltelefon als über Strom und
sauberes Trinkwasser. Aber damit die Menschen tatsächlich von den Vorteilen der
Informationstechnologie profitieren können, müssten die Rahmenbedingungen
stimmen. Der Report mahnt eine "solide analoge Grundlage" an.

Dazu gehören etwa Maßnahmen zu Datenschutz und Cybersicherheit sowie Regeln für
einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen, vor allem zwischen denen, die
online agieren, und jenen, die auf herkömmlichem Weg aktiv sind. Wichtigste
Voraussetzung aber, um sich im Internet bewegen zu können, ist die Fähigkeit,
lesen und schreiben zu können. Die Weltbank pocht daher auf breitere
Bildungsangebote, um die Menschen für die digitale Welt fit zu machen und die
Kluft zwischen Onlinern und Offlinern zu schließen. Oft fehlt aber auch noch der
Anschluss ans Internet. Mehr als vier Milliarden Menschen sind von "einer vollen
Teilhabe an der digitalen Wirtschaft" ausgeschlossen, heißt es in dem Report.

Thomas Silberhorn (CSU), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium


für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), sieht daher noch große
ungenutzte Potenziale des Internets. "Bei der Förderung digitaler Technologien
darf nicht allein der Ausbau der Infrastruktur im Vordergrund stehen", sagte
Silberhorn der "Welt". "Wir müssen auch in die Fähigkeiten der Menschen
investieren." Die Bevölkerung in Afrika sei "jung, schnell und hungrig nach
Entwicklung". Deutschland fördert mit mehr als 50 Millionen Euro allein die
Digitalisierung in Afrika.

So wurde etwa die Entwicklung einer Smartphone-App für Cashewbauern in Ghana


unterstützt: Sie scannen den Barcode auf den Jutesäcken mit den Cashewnüssen
ein. So werden Gewicht, Datum der Abfüllung und der Name des jeweiligen Bauern
an eine Kooperative übertragen, die dann die Ernte vermarktet. Diese Form der
Registrierung ermöglicht auch eine Zertifizierung als Bioprodukt, was höhere
Preise garantiert. Eine solche App ist inzwischen auch für Bauern verfügbar, die
Kakao und Kaffee anbauen.

Ermutigend sei, so Silberhorn, dass zahlreiche digitale Entwicklungen von


Unternehmern vor Ort angeschoben werden. Zum Beispiel das mobile Bezahlsystem
"M-Pesa" (was auf Swahili "mobiles Geld" bedeutet). Es wurde 2007 von einem
kenianischen Telekommunikationsunternehmen entwickelt. Heute wird es täglich
allein von 17 Millionen Kenianern benutzt, um mit Handy oder Smartphone
bargeldlos Rechnungen zu bezahlen oder Geld auf ein Bankkonto zu überweisen.
Dafür brauchen sie nicht einmal einen Internetzugang, sondern es genügt, an das
Mobilnetz angeschlossen zu sein.

"M-Pesa ist die intelligente Antwort darauf, dass nach wie vor 2,5 Milliarden
Menschen kein Bankkonto haben", betont Silberhorn. Wo sich mobile
Zahlungssysteme etablierten, würden auch neue Geschäftsmodelle entstehen. Wie
etwa Versicherungen gegen Klimaschäden und Ernteausfälle: Afrikanische
Kleinbauern können sich entsprechende Policen leisten, weil sie dank digitaler
Werkzeuge relativ günstig angeboten werden können. Gemeldete Schadensfälle
werden per Satellit überprüft und das Geld dann mobil ausgezahlt. Die
Start-up-Szene in Afrika sei ein "Gegenbild zu Konflikten und Armut", vor denen
sich immer mehr Menschen nach Europa und Deutschland flüchten.

Ziel der deutschen Entwicklungshilfe ist es, die Lebensbedingungen der Menschen
vor Ort zu verbessern und so auch Fluchtursachen zu bekämpfen. "Informations-
und Kommunikationstechnologien versprechen signifikante entwicklungspolitische
Fortschritte", sagt Silberhorn. Bangladesch zum Beispiel habe mit deutscher
Hilfe seinen Gesundheitssektor digitalisiert, die Prozesse vereinfacht und damit
die Kosten reduziert. So haben 7000 Kliniken eine gemeinsame digitale
Verwaltung, die sich auch um die elektronischen Patientenakten kümmert.
Inzwischen interessieren sich weitere Länder für das
Management-Informationssystem und lassen sich von den Experten aus Bangladesch
beraten.
Weltweit fördert Deutschland mehr als 250 digitale Vorhaben in mehr als 70
Ländern. Während in den Industriestaaten 82 Prozent der Bevölkerung das Internet
nutzen, sind es in den Entwicklungsländern nur 35 Prozent. In den sieben größten
Volkswirtschaften Afrikas - 2014 waren das laut Weltbank Nigeria, Südafrika,
Ägypten, Algerien, Angola, Marokko und Libyen - haben 15 Prozent der Bevölkerung
ein Smartphone.

Bei der Veröffentlichung des Weltbankreports Mitte des Monats in Washington


hatte der Ökonom und Mitautor Deepak Mishra gewarnt, dass Menschen ohne Zugang
zu digitaler Technik den Anschluss verlieren könnten. Experten hätten völlig
falsch eingeschätzt, wie schwierig es sei, aus Investitionen in die
Digitalisierung auch alle Vorteile zu ziehen. "Es bleibt also eine dringende
Aufgabe, das Internet universell zugänglich und bezahlbar zu machen", stellt der
Report fest. Von der Informationstechnologie profitiere bislang am meisten, wer
bereits gut ausgebildet und gut vernetzt sei.

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Die Welt

Freitag 29. Januar 2016

Öl balanciert die Macht der Nationen neu aus;


Der größte Aufsteiger ist Indien, sagt Daniel Yergin, ein Energieexperte, auf
den die US-Regierung hört. Russland und Venezuela steigen ab

AUTOR: Olaf Gersemann; Holger Zschäpitz

RUBRIK: FINANZEN; Finanzen; S. 13 Ausg. 24

LÄNGE: 942 Wörter

Jetzt passiert genau das, was Daniel Yergin gesagt hat. Der Ölpreis ist in den
vergangenen sechs Tagen um mehr als 20 Prozent in die Höhe geschnellt. Statt 27
Dollar kostet das Fass der Sorte Brent wieder deutlich mehr als 34 Dollar und
bewegt sich in Richtung 45 bis 50 Dollar. Yergin rechnet mit einem solchen Preis
für Ende 2016. "Ein Preis unter 30 Dollar ist kein nachhaltiger Preis", sagt der
Energieexperte der Consultingfirma IHS der "Welt". "Niemand kann bei diesem
Preis investieren." Firmen und Staaten hätten bereits ihre Investitionen für die
kommenden vier Jahre um 1,8 Billionen Dollar zurückgefahren, eine Reduktion um
40 Prozent.
Yergin kennt sich beim Öl aus wie kaum ein anderer. Er sieht momentan eine
pessimistische Übertreibung. Gerade an den Energiemärkten würden die Akteure
nicht selten zu Extremen neigen. "Als Öl bei 100 Dollar stand, dachten alle, es
kann gar nicht unter diese Marke fallen, es gibt ja das Ölkartell Opec, das die
Preise stützt. Dann mussten die Investoren, Konzerne und Ölförderländer
schmerzhaft erfahren, dass die Opec nicht mehr existent ist und die Notierungen
fielen ins Bodenlose."

Tatsächlich kam es zu einem der größten Preisabstürze in der Geschichte des Öls.
Die Notierungen fielen von durchschnittlich 99 Dollar im Jahr 2014 auf 53 Dollar
2015 und knapp 32 Dollar im laufenden Jahr. Mit massiven Folgen für die
finanzielle Balance der Welt. Allein im vergangenen Jahr wurde ein Wohlstand von
1,61 Billionen Dollar von den Rohstoff produzierenden Ländern zu den
Ölverbraucher-Staaten umverteilt.

"Ich würde nicht von neuer Weltordnung sprechen, aber es werden die
Machtpositionen der Staaten neu balanciert", sagt Yergin. Als größten Aufsteiger
hat der Experte Indien ausgemacht. Auch dank der niedrigeren Energiekosten werde
die Volkswirtschaft in diesem Jahr eine der am schnellsten wachsenden in der
Welt sein. "Ich habe vor drei Wochen das Land bereist und das sah sehr gut aus."
Indien müsse jedoch seine Volkswirtschaft noch effizienter gestalten und eine
Bürokratie aufbauen, die ins 21. Jahrhundert passt. Die Einsparungen durch den
niedrigeren Ölpreis beziffert er auf 60 Milliarden Dollar. Aber auch die
Großverbraucher Japan und China würden profitieren. Als großen Verlierer in der
Neuverteilung der Macht sieht er Russland und Venezuela und nennt das ein
"Desaster". Kaum ein anderer Experte hat einen so intimen Einblick in die
Verflechtungen zwischen Politik und Energiemärkte. In seinem preisgekrönten Buch
"The Prize" zeigt er, wie der Aufstieg und Abstieg von Ländern auch am Öl hängt.
So geht ihm zufolge die Abhängigkeit Europas vom Nahen Osten auf eine
Entscheidung des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchill zurück. Im
Jahr 1911, damals noch im Amt als Marineminister, rüstete er kurz vor Beginn des
Ersten Weltkriegs die britische Kriegsflotte von Kohle- auf Ölfeuerung um. Das
erhöhte zwar den Aktionsradius der Royal Navy erheblich, allerdings war Europa
von nun an abhängig von iranischem und später irakischem Öl. Und das ist bis
heute so. Auch die Machtverschiebung zwischen den Konzernen und den Regierungen
hat Yergin minutiös nachgezeichnet. Waren anfänglich die Ölmultis die mächtigen
Player der Welt, änderte sich das nach der Gründung des Energiekartells Opec im
Jahr 1960. Spätestens der militärische Coup von Muammar al-Gaddafi in Libyen im
Jahr 1969 verschob die Macht von den Konzernen zugunsten der Ölförderstaaten.
Klar, dass alle Welt den Rat des Experten sucht. Das gilt umso mehr, als der
Ölpreis momentan nicht allein von Angebot und Nachfrage abhängt, sondern auch
von geopolitischen Verwicklungen im Nahen Osten. Der diplomatische Streit
zwischen dem Iran und Saudi-Arabien hat dazu geführt, dass die Preise weiter
gefallen sind. Denn keiner der beiden Kontrahenten will im Streit um die
Vorherrschaft in der Region nachgeben und weniger Öl aus dem Boden pumpen.

Vergangene Woche fuhr Yergin für IHS zum Treffen der globalen Wirtschafts- und
Politikelite nach Davos. Nicht weniger als 50 Teilnehmer des
Weltwirtschaftsforums hatten um Unterredungen gebeten. Yergin sagte allen zu.
Nur für die 30 Interviewanfragen von Reportern blieb dann keine Zeit mehr, er
beschied alle bis auf eine Handvoll abschlägig. Die "Welt" traf Yergin, als das
Forum fast schon vorüber war. Ein unscheinbarer Mann mit schütterem Haar, der
doch trotz Jetlags und gerade absolviertem Meetingmarathon hellwach war.
"Amerika gehört zu den Gewinnern", sagt Yergin. All das Gerede vom Niedergang
entbehre jeder Basis. Seit 2008 habe Amerika die Produktion mehr als verdoppelt,
kaum ein Experte habe das Potenzial der neuen Fördertechnik des Fracking richtig
vorausgesagt.

Yergin räumt mit dem Vorurteil auf, bei der Schieferölförderung würde es sich um
eine besonders teure Methode handeln, vergleichbar mit aufwendigen
Tiefwasserbohrungen oder der Förderung von kanadischen Ölsanden. "Ein Projekt in
tiefer See muss fünf bis zehn Jahre geplant werden und verschlingt
Investitionskosten von rund zehn Milliarden Dollar. Schieferölprojekte können
innerhalb von 120 Tagen entschieden werden und kosten vielleicht zehn Millionen
Dollar", sagt Yergin.

Außerdem könnten die Amerikaner dank Fracking die Produktion sehr sensibel an
die Preisveränderungen anpassen. Und bei rund 50 Dollar Ölpreis seien die
Fracker auch wieder im Geschäft. Das ist auch der Grund, warum Yergin nicht so
schnell mit einem Preisanstieg auf mehr als 100 Dollar rechnet. Am Ende der
Dekade werde das Öl in einer Spanne von 60 bis 80 Dollar notieren. Zumal nach
dem Ende der Sanktionen der Iran jede Förderkürzung in den USA mit seiner
zusätzlichen Produktion ausgleichen werde.

UPDATE: 29. Januar 2016

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Die Welt

Samstag 6. Februar 2016

Erfrischend schamlos

AUTOR: Florian Eder

RUBRIK: TITEL; Blick aus Brüssel; S. 1 Ausg. 31

LÄNGE: 214 Wörter

Matteo Renzi ist ausgezogen, das Zeitalter der Austerität zu beenden. Italiens
Premier ist gut darin, Machtansprüche zu stellen. Die Mechaniken des Brüsseler
Apparats begreift er weniger. So musste er sich jüngst von Jean-Claude Juncker
belehren lassen, der ihm einen genervten Brief schrieb.

Seit Dezember liege die Versicherung vor, die Renzi ultimativ eingefordert
hatte: Der Beitrag zum Milliardenfonds für die Türkei, den Italien blockiert
hat, wird nicht auf das Haushaltsdefizit angerechnet. Peinlich für Renzi, dass
er das nicht weiß. Juncker gab sich im Schreiben großzügig, setzte zwei
handschriftliche Rufzeichen hinter dem Satz: "Gerne bestätige ich ein weiteres
Mal, dass die Kommission zu Ihrer Stellungnahme steht." Renzi aber will noch
mehr, nämlich alle Kosten für Flüchtlinge herausrechnen. Erfrischend schamlos.
Dumm nur, dass Renzis Leuten wieder ein Fehler passierte: In eine Stellungnahme,
zur Niederschrift gegeben im Kreis der EU-Botschafter, schlich sich eine
Verneinung an unerwünschter Stelle ein - Italien forderte darin, dass die
"vollen Kosten, die Italien seit Beginn der Libyen-Krise trug", bei der
Defizitkalkulation - "nicht" eigens berücksichtigt werden.

Jeden Samstag an dieser Stelle: Florian Eder von "Politico" in Brüssel

UPDATE: 6. Februar 2016

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Die Welt

Samstag 27. Februar 2016

Wie man Impfangst kuriert;


Eula Biss schreibt ein kluges Plädoyer gegen die wachsende Unvernunft unserer
Zeit. Sie weiß, dass Impfskepsis auch eine Folge umfassender Aufklärung ist und
fordert neue Gesundheitskampagnen

AUTOR: Peter Praschl

RUBRIK: LITERARISCHE-WELT; Literarische Welt; S. 4 Ausg. 49

LÄNGE: 1708 Wörter

Als 1721 in Boston eine Pockenepidemie ausbrach, bat der puritanische Geistliche
Cotton Mather einen Arzt, bei seinem Sohn und zwei Sklaven ein Verfahren namens
Variolation zu erproben, von dem ihm sein libyscher Sklave Onesimus erzählt
hatte: Wenn man Gesunde mit abgeschwächten Pockenviren Erkrankter infiziert,
löst das bei ihnen Immunreaktionen aus, die sie vor einem schweren und oft
tödlichen Krankheitsverlauf bewahren. Nachdem die ersten drei Patienten wieder
gesund wurden, impfte der Arzt weiter, und Mather predigte, "die Variolation sei
ein Geschenk Gottes, was damals eine derart unpopuläre Ansicht war, dass eine
Brandbombe durch sein Fenster flog. Die mitgelieferte Nachricht lautete: 'Cotton
Mather, du Hund! Verflucht sollst du sein! Jag dir doch lieber gleich Feuer in
die Adern!'"

Die uralte Skepsis, an die die amerikanische Essayistin Eula Biss in ihrem
fulminanten Buch "Immun" erinnert, ist nicht ausgestorben. Im Herbst 2014
brachen sowohl in Kalifornien als auch in Deutschland die Masern aus, eine
Krankheit, die im 20. Jahrhundert mehr Kinder das Leben gekostet hat als jede
andere und an der niemand mehr leiden müsste, weil es seit Jahrzehnten eine
verlässliche Schutzimpfung gibt. Sie ist sicher, Nebenwirkungen und Impfschäden
treten sehr viel seltener auf als Komplikationen im Fall einer Infektion.

Welche Eltern würden ihren Kindern diesen Schutz vorenthalten? Viel zu viele,
und auch in Deutschland sind es nicht die Ungebildeten und Nachlässigen unter
ihnen. "Eine Analyse von Daten der US-Gesundheitsbehörde CDC aus dem Jahr 2004
zeigt, dass nicht geimpfte Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit weiß sind,
eine eher ältere, verheiratete Mutter mit akademischer Ausbildung haben und in
einem Haushalt leben, der ein Einkommen von 75.000 US-Dollar oder mehr aufweist
- wie mein Kind."

Masernepidemien sind in unserer wissenschaftlich aufgeklärten Gegenwart ein


Symptom für eine zweite Masseninfektion - durch Unvernunft. Für sie müssen auch
die Kinder vernünftiger Eltern büßen: "Man denke beispielsweise an diesen nicht
geimpften Jungen aus San Diego, der 2008 mit Masern von einer Reise in die
Schweiz zurückkam und seine beiden Geschwister, fünf Schulkameraden und vier
Kinder im Wartezimmer seines Arztes ansteckte. Drei dieser Kinder waren noch
Babys und zu klein für die Impfung, eines davon musste ins Krankenhaus."

Solange ein allgemeiner Impfzwang nicht durchsetzbar ist, steht Medizinern nur
ein Weg offen: Aufklärung darüber, wie notwendig und wie unschädlich Impfungen
sind. Doch sie findet zu oft kein Gehör - auch weil sie herablassend statt
fürsorglich auftritt, auf archaische Ängste nicht eingeht und eine Sprache
spricht, die die Herzen nicht erreicht.

Biss geht einen anderen Weg. Ihr Text ist ein ungemein dichtes Gewebe, das sich
aus vielen Quellen speist: Ergebnisse der Immunologie, Kulturgeschichte,
soziologische Studien, ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines Kleinkindes,
Gespräche mit anderen Eltern, selbst Vampirliteratur. Dennoch verliert der Text
an keiner Stelle seine Kohärenz und nie sein Ziel aus den Augen - die
Ängstlichen davon zu überzeugen, ihren Widerstand aufzugeben. Anders als die
Rationalisten urteilt Biss aber nicht von außen und von oben herab, sondern
kriecht tief in die Ängste der Impfgegner hinein, infiziert sich gleichsam mit
ihnen, damit das Denken die Erreger der Unvernunft besser bewältigen kann.

Wer ihren eleganten, in alle möglichen Richtungen denkenden Essay liest, erfährt
nicht nur einiges über Infektionskrankheiten und deren Eindämmung, sondern viel
über die Ängste der Gegenwart. Es sind all diese Qualitäten, die dafür gesorgt
haben, dass das Buch in Amerika euphorisch besprochen wurde, auf vielen
Jahresbestenlisten auftauchte und sowohl von Bill Gates als auch von Mark
Zuckerberg empfohlen wurde.

Was also ist der Grund für Impfskepsis? Paradoxerweise die Furcht, für das
eigene Kind nicht die besten Entscheidungen zu treffen. Eltern nehmen am Impfen
vor allem dessen Gewalt wahr: "Da durchstößt eine Nadel die Haut - ein so
grundstürzender Vorgang, dass manche schon bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen
- , und eine fremde Substanz wird direkt ins Fleisch gespritzt. Die Metaphern,
die diesen Vorgang umschreiben, sind überwiegend angstvoll konnotiert, und fast
immer schwingt in ihnen das Verletzende, Verfälschende und Verunreinigende mit."
Ohnehin bewegen sich Mütter in einer Landschaft, in der unablässig vor Gefahren
gewarnt wird und "in der so alltägliche Gegenstände wie Kissen oder Decken ohne
Weiteres in der Lage sind, ein Neugeborenes umzubringen."

So beginnen die Impfskeptiker, ihre eigenen Rechnungen anzustellen. Warum dem


behördlichen Impfkalender folgen? Warum gegen alles impfen? Warum auch gegen
Hepatitis B, wenn Hepatitis B vor allem Arme mit unsolidem Lebenswandel befällt?
Warum gegen Masern, wenn so viele erzählen, sie hätten ihnen nicht geschadet?
"Die vordringlichste Sorge der Impfgegner gilt Menschen wie ihnen selbst",
konstatiert Biss, und dabei unterläuft ihnen ein folgenschwerer Fehler: Sie
nehmen ihre eigenen Kinder nur als verletzlich wahr. Sie wollen ihnen mögliche
Verletzungen und Folgeschäden ersparen und bedenken nicht, dass ihre ungeimpften
Kinder andere in Gefahr bringen können.

Begünstigt wird dieser Irrtum von gesellschaftlichen Tendenzen, die auch ein
Ergebnis von Aufklärung sind. So glauben wir mündigen Patienten nicht mehr an
die Allwissenheit von Ärzten oder misstrauen der Pharmaindustrie. Biss: "In der
heutigen, manchmal mit dem 'Restaurant-Modell' beschriebenen Medizin ist der
ärztliche Paternalismus ersetzt worden durch den Konsumismus des Patienten. Der
Patient bestellt Tests und Behandlungen, die auf einer auf Marktforschung
basierenden Speisekarte stehen. Der Doktor, der im paternalistischen Modell ein
Vater war, ist heute ein Kellner."

Vor allem Alternativmediziner nähren die Fantasie, der Mensch ließe sich immer
auf sanfte Weise schützen und heilen: "Fühlen wir uns verunreinigt, wird uns
Reinigung geboten. Empfinden wir Mangel, werden uns Ergänzungsmittel geboten.
Fürchten wir uns vor Giftstoffen, wird uns Entschlackung geboten. Es sind
Metaphern im Umlauf, die unsere tief sitzendsten Ängste ansprechen. Und die
Sprache der alternativen Medizin hat verstanden, dass wir, wenn es uns schlecht
geht, etwas unzweideutig Gutes wollen. Kindern die Möglichkeit zu geben, sich
'natürlich', also ohne Impfung, gegen ansteckende Krankheiten zu immunisieren,
ist für einige ein reizvolles Modell. Einen Großteil seiner Attraktivität
verdankt es der Annahme, dass Impfstoffe per se unnatürlich sind."

Doch Natur ist so wenig "durch und durch philanthropisch" wie industriell
hergestellte Chemikalien von vornherein schädlich sind, erinnert uns Biss. Von
den Zusatzstoffen in Mehrfachimpfungen beispielsweise ist wiederholt
nachgewiesen worden, dass sie weder Autismus oder Allergien auslösen, wie es
viele Impfgegner behaupten, während die Muttermilch selbst kerngesunder Frauen,
die "allernatürlichste" Flüssigkeit, auch Aluminium, Farbverdünner, Pestizide
und Weichmacher enthalten kann.

Kurieren ließe sich Impfangst am ehesten durch die Konfrontation mit den
Krankheiten. Doch Pocken und Polio bekommt niemand mehr zu Gesicht, wie schwer
Folgeschäden von Masern sein können, erfährt man glücklicherweise eher durch die
Medien als aus der eigenen Umgebung. So kommt es, dass zu viele Menschen
glauben, eine Impfung sei "im Vergleich mit einer Krankheit die größere
Monstrosität".

Biss verschweigt nicht, dass auch die Korrektur dieses Irrtums eine Art Glauben
voraussetzt: "Die Vorstellung, dass der Eiter einer kranken Kuh, einem Menschen
in eine Wunde gestrichen, diesen Menschen immun macht gegen eine tödliche
Krankheit, ist heute ja fast immer noch so schwer zu glauben wie 1796. Wer
Wissenschaft betreibt, hält sich im Wunderland auf. Was Wissenschaftler offenbar
genauso empfinden wie Laien." Am Ende bleibt auch dem Rationalisten nichts
anderes übrig als zu vertrauen. Schon deswegen sollte man Impfskeptiker nicht
besserwisserisch behandeln.

Stattdessen könnte man ihnen geduldig erklären, was Wissenschaftler tun und
welchen Aufwand sie dabei treiben: "Ein Komitee aus 18 Fachleuten brauchte zum
Beispiel zwei Jahre für die Auswertung von 12.000 durch Experten begutachteten
Artikeln als Vorbereitung für den 2011 erschienenen Bericht über
Impfnebenwirkungen für das Institute of Medicine. Zu dem Komitee gehörten eine
Spezialistin für Forschungsmethodik, ein Experte für Autoimmunerkrankungen, eine
Medizinethikerin, eine Fachfrau für kindliche Immunreaktionen, ein
Kinderneurologe und eine zur Entwicklung des Gehirns arbeitende Forscherin.
Außer dass er die relative Sicherheit von Impfstoffen bestätigte, machte der
Bericht deutlich, welche Art von Zusammenarbeit heutzutage notwendig ist, um die
uns zugänglichen Informationen zu verarbeiten. Niemand weiß für sich allein."

Das wichtigste Argument von Biss lautet: Es geht beim Impfen nicht ums einzelne
Kind, sondern um die Herde, die Gemeinschaft. Der Pieks in den Arm schützt jene,
die sich nicht impfen lassen können: Babys, die noch zu jung sind, Alte und
Immunschwache. Erst "wenn genügend Menschen geimpft sind - und sei es mit einem
relativ ineffektiven Impfstoff - , fällt es Viren schwerer, von Wirt zu Wirt zu
springen, und ihre Verbreitung wird aufgehalten, was sowohl allen Nichtgeimpften
als auch denjenigen zugutekommt, die von der Impfung nicht immunisiert worden
sind. Aus diesem Grund kann die Wahrscheinlichkeit einer Masernerkrankung für
einen geimpften Menschen, der in einer mehrheitlich nicht geimpften Gemeinde
wohnt, größer sein als für einen nicht geimpften Menschen, der in einer
mehrheitlich geimpften Stadt lebt."

Das zu verstehen, setzt allerdings voraus, anzuerkennen, dass kein einziger


Körper sich abschotten kann, nicht vor den Gefahren der Natur, nicht vor den
Chemikalien, nicht vor anderen Körpern: "Wir alle sind Umwelt füreinander.
Immunität ist ein gemeinschaftlich geteilter Raum - ein Garten, den wir
gemeinsam hegen und pflegen."

Alternativmedizin nährt die Fantasie, alles liesse sich sanft heilen

Eula Biss: Immun. Über das Impfen - von Zweifel, Angst und Verantwortung.Aus dem
Englischen von Kirsten Riesselmann.Hanser, München. 240 S., 19,90 .

UPDATE: 27. Februar 2016

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Wie verabreicht man die Botschaft heute? Impfwerbung anno 1973
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Die Welt

Montag 29. Februar 2016

Bill, stell den Schampus kalt!

AUTOR: Ansgar Graw

RUBRIK: FORUM; Kommentar; S. 3 Ausg. 50

LÄNGE: 355 Wörter


Den Champagner öffnen sollte Hillary Clinton noch nicht - aber in den
Kühlschrank kann Bill die Flasche schon einmal packen. Ihr Triumph über den
"demokratischen Sozialisten" Bernie Sanders bei den Vorwahlen in South Carolina
ebnet der einstigen First Lady den Weg zur Nominierung durch ihre Partei. Denn
am Samstagabend fuhr Clinton nicht nur einen klaren Sieg ein, sondern auch vier
wichtige Erkenntnisse für den vorentscheidenden "Super Tuesday".

Erstens: Das Resultat von 73 zu 26 Prozent war eindeutiger als von jeder Umfrage
vorausgesagt. Künftig muss Clinton nicht mehr mit dem Vorwurf leben, die
Demoskopen überschätzten sie - eher scheint das Gegenteil der Fall. Zweitens:
Die Schwarzen, die mit einer rekordverdächtigen Wahlbeteiligung von 60 Prozent
die Mehrheit der Wähler in South Carolina stellten, votierten zu 87 Prozent für
Clinton - nicht einmal Barack Obama kam 2008 auf diesen Wert. Und zu den zwölf
Bundesstaaten, in denen am Dienstag gewählt wird, gehören mit Georgia, Alabama
und Virginia drei weitere Staaten mit hohem afroamerikanischen
Bevölkerungsanteil; Louisiana folgt vier Tage später und eine Woche darauf
Mississippi, der schwärzeste Staat überhaupt. Drittens: Bernie Sanders zieht bei
seinen Wahlkampfauftritten die Jungwähler magnetisch an. Aber zur Wahl gehen sie
nicht - nur jeder sechste Wähler in South Carolina war unter 30. Und viertens:
Laut Wählerbefragungen lag Clinton auch vorne bei Wählern, denen die Ehrlichkeit
eines Kandidaten das wichtigste Kriterium ist. Nach der katastrophalen
Informationspolitik der damaligen Außenministerin zum Terrorangriff im libyschen
Bengasi und zur Nutzung ihres privaten E-Mail-Kontos ist ihr Image auf diesem
Feld angeschlagen.

Am Dienstag geht es um 1004 Wahlleute für den Parteitag im Sommer. Clinton


braucht 1236 Delegierte und führt aktuell mit 544 zu 85 Delegierten. Umfragen
sagen Clinton Siege in neun Staaten voraus und nur eine Niederlage in Sanders'
Heimatstaat Vermont. Dessen "demokratischer Sozialismus" findet in den
Vereinigten Staaten wohl doch keine Heimat.

ansgar.graw@weltn24.de (mailto:ansgar.graw@weltn24.de)

UPDATE: 29. Februar 2016

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GRAFIK: M. Lengemann

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Die Welt

Dienstag 8. März 2016


Ein Kessel Buntes;
An Ideen zur Lösung der Flüchtlingskrise mangelt es nicht. Aber wie tauglich
sind die Vorschläge? Die "Welt" macht den Realitätscheck

AUTOR: Christoph B. Schiltz; Andre Tauber

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 57

LÄNGE: 1278 Wörter

Brüssel

Der Kanzlerin schwante nichts Gutes. Es sollten "schwierige Verhandlungen"


werden, sagte sie vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel am Montagmorgen. Und sie
sollte recht behalten. Die Staats- und Regierungschefs verlängerten ihr Treffen,
das doch eigentlich nur einen halben Tag dauern sollte. Es brauche mehr Zeit für
die Gespräche mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu, so die
Begründung. Der Türke blieb zum Abendessen.

Das Ziel des Sondergipfels war es, endlich Ordnung in das Flüchtlingschaos zu
bringen. Die Anzahl der Ankommenden aus der Türkei soll reduziert werden. Die
Flüchtlinge sollten auch nicht mehr wie bislang auf eigene Faust durch Europa
ziehen, sondern nach festen Regeln aufgenommen und verteilt werden. Das geht aus
dem Entwurf der Gipfelerklärung hervor, die der "Welt" vorliegt. Wird man mit
dem neuen Rettungsplan die Flüchtlingskrise beilegen können? Die "Welt" stellt
die einzelnen Maßnahmen auf den Prüfstand und macht den Tauglichkeitscheck.

Balkanroute für Flüchtlinge schließen

Plan: Die Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen in den Norden Europas soll
beendet werden. Darin sind sich die EU-Staaten einig. Nun wird gefragt, was das
denn eigentlich heißen soll. Im Entwurf der EU-Gipfelerklärung heißt es, die
Balkenroute sei "geschlossen". Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann begrüßte
das, Lob kam auch von Frankreichs Staatspräsident François Hollande.

Problem: Es trifft nicht ganz die Realität. Zwar kontrolliert Mazedonien die
Grenze stärker als zuvor. Doch nach wie vor werden Hunderte von Flüchtlingen in
den Norden gelassen. Eine pauschale Abweisung an der Grenze ist weder mit
EU-Recht noch mit den internationalen Regeln vereinbar. Auch deswegen erklärte
Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Widerstand gegen die Feststellung, die Route
sei schon jetzt zu.

Fazit: Es wird auch nach diesem Gipfel weiter gestritten werden, was es konkret
heißt, die "Politik des Durchwinkens" zu beenden.

Flüchtlinge aus Griechenland umverteilen

Plan: Die Europäische Union bekennt sich dazu, Griechenland durch die Abnahme
von Flüchtlingskontingenten zu entlasten. Man wolle die bereits beschlossene
Umverteilung "beschleunigen", heißt es im Entwurf der EU-Gipfelerklärung. Die
EU-Mitgliedstaaten sollten "dringend mehr Plätze" zur Verfügung stellen.

Problem: Die Mitgliedstaaten sind dazu allenfalls zögerlich bereit. Bereits im


vergangenen Jahr beschlossen sie zwar, Griechenland und Italien bis zu 160.000
Flüchtlinge abzunehmen. Doch bislang verteilt wurden nur 660 Menschen. Ein
Grund: Die Staaten wollen derzeit zu viel Einfluss darauf nehmen, wer ihnen
zugeteilt wird. Darüber hinaus lehnen manche Staaten die Umverteilung generell
ab.
Fazit: Das Thema wird ein Dauerbrenner bleiben.

Hilfe für Griechenland organisieren

Plan: Griechenland entwickelt sich immer mehr zum Auffangbecken für die
Flüchtlingsströme und ist damit zunehmend überfordert. Die EU möchte auch
deswegen das Signal senden, dass die Griechen nicht im Stich gelassen werden.
Sie kündigen alle erdenkliche Hilfe an. Bis zum nächsten Gipfel am 17. März
sollen Vorschläge der Europäischen Kommission für schnelle Nothilfe innerhalb
der EU verabschiedet werden. Darüber hinaus soll Griechenland Hilfe beim
Grenzschutz geboten werden.

Problem: Griechenland war bislang sehr zögerlich dabei, internationale Hilfe zu


akzeptieren. Das hatte etwas mit nationalem Stolz zu tun. Allerdings auch mit
der Furcht, dass das Durchwinken der Flüchtlinge an die Nordgrenze erschwert
wird.

Fazit: Die Nothilfe dürfte Griechenland gerne akzeptieren. Die Zusammenarbeit


beim Grenzschutz könnte aber schwierig bleiben.

Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa bringen

Plan: Die illegale Immigration soll durch legale Wege nach Europa abgelöst
werden. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen sich im Prinzip dazu bekennen,
Flüchtlingskontingente aus der Türkei direkt im Flugzeug nach Europa zu holen.
Damit sollen die Menschen auch von der gefährlichen Überfahrt mit dem Boot
abgehalten werden.

Problem: Über konkrete Zusagen wird erst dann gesprochen werden, wenn die Türkei
Erfolge dabei nachweist, die Flüchtlingsströme nach Europa zu reduzieren.
Darüber hinaus ist die Teilnahme an so einem Verteilungsmechanismus freiwillig.
Viele Staaten werden sich wegducken.

Fazit: Das Thema dürfte im Frühjahr noch einmal besprochen werden.

Funktionierende Hotspots

Plan: In Registrierungszentren, den sogenannten Hotspots, auf fünf griechischen


Inseln soll die Umverteilung und die Rückführung von Flüchtlingen organisiert
werden. Die Wirtschaftsflüchtlinge sollen möglichst nur zwei Wochen, nachdem sie
in Griechenland aufgegriffen worden sind, wieder in die Türkei abgeschoben
werden.

Problem: Zu wenig Personal. Bereits in der Vergangenheit hatten sich die


EU-Regierungen verpflichtet, ausreichend Experten und logistische Unterstützung
in die Hotspots zu schicken, daraus wurde nichts. Wenn die Registrierungszentren
jetzt auch noch die Rückführungen organisieren sollen, droht noch mehr
Überlastung.

Fazit: Richtiger Ansatz, eine Ruckzuck-Abschiebung dürfte in der Praxis aber


scheitern.

Rückführung in die Türkei

Plan: Im Rahmen eines sogenannten Rückführungsabkommens zwischen Griechenland


und der Türkei - und ab 1.Juni zwischen der EU und der Türkei - sollen illegale
Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei abgeschoben werden. Dazu muss die
Türkei als sicheres Herkunftsland gelten. Zentraler Baustein der EU-Strategie.
Problem: Abschiebung könnte viel langsamer laufen als geplant. In der
Zwischenzeit tauchen die Flüchtlinge unter oder ziehen unkontrolliert weiter.

Fazit: Vieles hängt von der Zusammenarbeit der Türken ab. Wann immer sie wollen,
können sie Abschiebungen verzögern. Türkische Beamte können leicht bestochen
werden. Nachhaltiger Erfolg bleibt fraglich.

Nato spürt Schleuser auf

Plan: Nato-Schiffe überwachen künftig die griechischen und türkischen Gewässer


und stellen den Küstenwachen der beiden Länder die Informationen über
Menschenschmuggler zur Verfügung.

Problem: Ob die Schlepper gefasst werden, hängt letztlich nicht von der Nato ab,
sondern vor allem von der Reaktionsgeschwindigkeit der türkischen Behörden. Die
Türken müssen innerhalb von wenigen Minuten reagieren, um die Schleuserboote am
Auslaufen zu hindern oder sie rechtzeitig abzufangen - andernfalls erreichen die
Boote im engen Insellabyrinth der Ägäis bereits nach kurzer Zeit griechischen
Boden.

Fazit: Es bleibt abzuwarten, ob die teilweise korrupten türkischen Behörden


wirklich so schnell reagieren wie nötig. Der Nato-Einsatz wird von Berlin
teilweise überbewertet: Er kann allenfalls ein kleiner Baustein sein, um den
Flüchtlingsstrom zu reduzieren.

Bessere Kontrolle der Seegrenzen

Plan: Die türkische Küstenwache soll hart gegen Schleuser vorgehen und die
Seegrenzen besser schützen.

Problem: Die griechisch-türkische Küste ist fast 1000 Kilometer lang und an
vielen Stellen schwer einsehbar. Außerdem arbeiten viele Grenzbeamte gegen Geld
eng mit Schleusern zusammen. Bisher ist diese Strategie nicht aufgegangen.

Fazit: In der Praxis schwer umsetzbar, Ankara kann den Migrantenstrom durch mehr
oder weniger intensive Kontrollen nach Belieben steuern. Die Idee an sich ist
aber richtig.

Wie geht es weiter? Sollte der Schutz der EU-Außengrenze demnächst tatsächlich
funktionieren und die Türkei ihre Hausaufgaben machen, werden einige EU-Länder
Ankara und Athen Flüchtlinge abnehmen und auf die europäischen Länder verteilen.
Dennoch bleiben Fragen: Was passiert, wenn die Türkei an ihre Grenzen stößt und
nicht mehr Flüchtlinge verkraften kann? Außerdem besteht die Gefahr, dass die
Flüchtlinge sich neue Routen suchen, beispielsweise über Albanien, Libyen und
Italien.

UPDATE: 8. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Olivier Hoslet


Frankreichs Präsident Hollande, der türkische Premier Davutoglu, Angela Merkel
und EU-Ratspräsident Tusk in Brüssel
Olivier Hoslet

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Die Welt

Montag 14. März 2016

Der Fluch des billigen Öls;


Terror, Kriminalität, Aufstände: Warum ein Preisverfall der Rohstoffe die Welt
gefährlicher macht

AUTOR: Stefan Beutelsbacher; Stephan Maaß

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 9 Ausg. 62

LÄNGE: 927 Wörter

Der Brief, den Joseph Beti Assomo seinen Generälen schickte, in einem Umschlag
mit dem Stempel "geheim", klingt beunruhigend: Terroristen seien hier, heißt es
darin, sie planten etwas, vielleicht in einem Bus, vielleicht in einem Hotel.
Die islamistische Gruppe Boko Haram, beheimatet im Norden Nigerias, halte sich
nun auch in Yaoundé auf, der Hauptstadt Kameruns. Seit das Schreiben des
Verteidigungsministers ungewollt an die Öffentlichkeit gelangte, ist Yaoundé in
Angst. Soldaten patrouillieren, die Bürger meiden den Nahverkehr, eine
Haushaltskonferenz mit den Nachbarstaaten wurde abgesagt - der Ort des Treffens,
das Hilton, sei ein mögliches Anschlagsziel.

Nicht der Islamische Staat, nicht die Taliban, nicht Al-Qaida, sondern Boko
Haram ist die Gruppe, die im vergangenen Jahr die meisten Menschen tötete. In
Nigeria haben die Terroristen mehrere Provinzen destabilisiert, nun tragen sie
die Gewalt über die Grenze. Boko Haram expandiert - auch, weil Nigeria das Geld
für große Gegenschläge fehlt. Dem Staat brechen die Einnahmen weg, seit seine
wichtigste Ressource auf den globalen Märkten dramatisch an Wert verlor: das Öl.

Ist der Ölpreis niedrig, droht die Gewalt zu steigen - eine Formel, die nicht
nur für Nigeria gilt, sondern für viele Förderländer. In Venezuela gab es
Aufstände, als die Regierung, bedroht vom Bankrott, die Benzinpreise erhöhte.
Mexiko bekommt Schwierigkeiten, den teuren Krieg gegen die Drogenkartelle zu
finanzieren. Die Ölmächte des Nahen Osten benötigen Petro-Dollar, um gegen den
Islamischen Staat zu kämpfen. Das billige Öl macht den Planeten gefährlicher.

"Die Konflikte nehmen zu", sagt Silja-Leena Stawikowski, die für den
Versicherungsmakler Aon Risk Solutions politische Gefahren analysiert.
"Extremistische Gruppen wie Boko Haram und der IS profitieren davon, wenn
Grenzen durchlässig sind und Institutionen schwach." Das sieht auch Ian Bremmer
so, der Gründer der Beratungsfirma Eurasia Group. "Das günstige Öl befördert den
Terror", sagt er. Der Absturz der Rohstoffpreise hat viele Staaten ausgezehrt.
Ihre finanziellen Mittel schrumpfen, um Terroristen zu jagen, Kriminelle
einzusperren und soziale Unruhen abzuwenden. Im Fall des IS gibt es aber auch
eine Kehrseite: Die Gruppe hat selbst Bohrtürme unter ihrer Kontrolle und erhält
Geld aus der arabischen Welt - tiefe Ölpreise erschweren daher die
Terrorfinanzierung.

120 Dollar müsste das Fass kosten, damit Nigerias Haushalt ausgeglichen ist.
Venezuela benötigt 125 Dollar, Mexiko rund 80. In der vergangenen Woche kostete
Öl der Sorte Brent um die 40 Dollar. Zu wenig - aber ein Hoffnungsschimmer. Denn
zu Beginn des Jahres waren die Preise zeitweise unter 30 Dollar gefallen.
Verbraucher leiden darunter, wenn Rohstoffe teurer werden, weil sie dann im
Alltag mehr Geld ausgeben müssen, etwa zum Tanken oder Heizen - für die
Sicherheit der Welt hingegen ist das eine positive Entwicklung.

Seit Juni 2014 fallen die Preise, weil die Ölmächte ungezügelt fördern, allen
voran Saudi-Arabien und die USA. Sie haben sich in einen ruinösen Preiskrieg
verstrickt. Niemand will die Quoten als erster reduzieren, aus Angst, dann
Marktanteile zu verlieren. Die Saudis und die Amerikaner können niedrigere
Notierungen über einen längeren Zeitraum aushalten - kleinere Produzenten nicht.
Venezuela etwa steht vor dem Kollaps. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Land in
den nächsten fünf Jahren pleitegeht, liegt bei 99 Prozent.

Die taumelnden Staaten suchen Ersatz für die entgangenen Einnahmen. Sie
entscheiden sich häufig für Steuererhöhungen - und machen es damit nur noch
schlimmer. Es ist ein Teufelskreis. "In vielen Ländern dürften höhere Steuern zu
weiteren politischen Spannungen führen", sagt Stawikowski, die Aon-Analystin.
Weil das Unternehmen Versicherungspolicen an Firmen vermittelt, die in
gefährlichen Regionen aktiv sind, beobachtet es die Gefahrenlage sehr genau. Es
gibt kaum etwas, das Unternehmen so verabscheuen wie politische Unsicherheiten.
Der Ölpreis ist Stawikowski zufolge für Investoren im Irak, in Zentral- und
Westafrika, in Libyen, Russland und Venezuela das größte Risiko in diesem Jahr.

Und womöglich auch noch länger. Die Chancen, dass der Ölpreis bald wieder die
benötigten Schwellen erreicht, dass er auf 80, 120 oder sogar 125 Dollar steigt,
sind gering. Die Kurse dürften niedrig bleiben, trotz aller politischen
Initiativen. Saudi-Arabien und Russland haben sich gerade darauf verständigt,
die Förderung auf dem Januar-Niveau einzufrieren - ein Rekordwert, aber
immerhin. Venezuela redete kürzlich auf den Iran ein, sich dem Deal
anzuschließen. Zugleich schlossen amerikanische Ölfirmen den dritten Monat in
Folge Bohrtürme, wie aus Daten des Unternehmens Baker Hughes hervorgeht. All das
hat den Preis zuletzt steigen lassen.

Auf lange Sicht dürften die Initiativen aber wenig bewirken. Selbst wenn die
globale Überproduktion von heute auf morgen gestoppt würde - die hohen Bestände
in den Lagern dürften die Preise weiterhin drücken. In Amerika quellen die Tanks
fast über. 600 Millionen Barrel kann das Land bevorraten, 517 Millionen davon
sind belegt.

Am Ende dieses Jahres könnten die Bestände der westlichen Welt bei 3,6
Milliarden Barrel liegen, wie Daten der Internationalen Energieagentur zeigen -
mehr als eine Milliarde höher als noch Ende 2014. Die Experten rechnen damit,
dass es bis 2021 dauert, ehe der Überschuss abgebaut ist. Was die Petromächte
auch tun, welche Abmachungen ihre Diplomaten auch aushandeln: Gegen die vollen
Tanks kommen sie nicht an. Die Tanks bedeuten die Ohnmacht der Politik.

UPDATE: 14. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: AFP/PIUS UTOMI EKPEI


Dieser Turm in Nigeria verbrennt überschüssiges Gas, das bei der Ölförderung
entsteht
Jörn Baumgarten
PIUS UTOMI EKPEI

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Die Welt

Donnerstag 17. März 2016

Wer Chef ist am Kotti;


Das Kottbusser Tor ist eine der härtesten Gegenden Berlins. Die Menschen sind
hier vieles gewohnt. Aber jetzt nehmen Gewalt und Kriminalität dramatisch zu.
Ein Ortsbesuch

AUTOR: Antje Hildebrandt

RUBRIK: PANORAMA; Panorama; S. 31 Ausg. 65

LÄNGE: 1467 Wörter

Es ist an einem Donnerstagabend gegen 22.15 Uhr, als Slawo in seinem Kiosk in
der U-Bahn-Station Kottbusser Tor die 112 wählt. Eine junge Frau hat sich in
seinen Laden geflüchtet, er hat ihre Schreie schon von draußen gehört. Jetzt
steht sie zitternd vor ihm. Blut tropft von ihrer Hand.

Sie heißt Razya und ist 16 Jahre alt. Sie trägt einen roten Mantel und die
nackte Angst im Gesicht. Razya sagt, ein Mann habe ihr erst das Handy geklaut
und sie dann mit dem Kopf gegen eine Wand gestoßen.

Dabei ging eine Alcopop-Flasche zu Bruch, die sie bei sich trug. Die Scherben
stecken jetzt in ihrer Hand. Razya ringt nach Luft, die Worte sprudeln aus ihr
heraus. Slawo braucht einen Moment, um zu verstehen, warum sie immer noch völlig
außer sich ist. Der Mann steht direkt neben ihr.

Er ist einen Kopf größer als sie. Ein Schwarzafrikaner, Anfang zwanzig. Er
strahlt nicht die Aggressivität der anderen Diebe aus. Er macht eher einen
verwirrten Eindruck, wie er da steht und ihr zerkratztes Handy in der Hand hält,
halb hilflos, halb triumphierend.

Man fragt sich, warum er nicht türmt, wo doch die Polizei jeden Moment
eintreffen wird. Doch der Mann macht gar keine Anstalten zu gehen. Es scheint
ihm weniger um das Handy zu gehen als um die Frau. Er redet auf Englisch auf
Rayza ein. Es ist nicht zu verstehen, was er eigentlich will. Und vielleicht ist
das der Grund dafür, warum keiner der anderen Kunden eingreift und auch Slawo
keine Anstalten macht, den Mann vor die Tür zu setzen.
Niemand weiß so genau, worum es hier eigentlich geht. Um einen Überfall oder ein
Beziehungsdrama?

Es ist ein Szenario, das auch Slawo ratlos hinterlässt. Dabei erlebt er solche
Überfälle inzwischen täglich. Er sagt, es habe vor ungefähr einem Jahr mit
"diesen Männern" begonnen.

Sie sind zwischen 20 und 30, junge Männer aus dem Norden Afrikas, aus Marokko
oder Ägypten. Keine Flüchtlinge, das erkannte Slawo auf den ersten Blick. Dazu
waren sie zu teuer gekleidet, dazu waren sie zu aggressiv. Postierten sich
breitbeinig am Kotti, die Arme vor der Brust verschränkt. Scannten die Umgebung.
Verfolgten Passanten. Und irgendwann griffen sie zu. Entweder blitzschnell aus
dem Hinterhalt oder mit dem beliebten Antanz-Trick: Einer lenkt das Opfer ab,
die anderen entreißen ihm dann die Tasche. Organisierter Diebstahl, keine Frage.
Wer sich wehrte, bekam die Quittung. "Viele dieser Männer sind bewaffnet", sagt
ein Kontaktbeamter der Polizei, der im Abschnitt 53 Streife läuft und der in
dieser Geschichte anonym bleiben muss. "Ihre Opfer werden bedroht, geschlagen
und gewürgt."

Slawo kennt viele solcher Geschichten. Er ist Anfang 50, ein freundlicher Mann,
der gerne erzählt. Eigentlich. Aber auch er will seinen vollen Namen nicht in
den Medien lesen. Er ist selber schon bedroht worden.

Slawo sagt, er brauche jetzt sonntags keinen "Tatort" mehr zu gucken. Er erlebe
es ja täglich hautnah. Gestern die Eheleute aus Australien, die völlig aufgelöst
in seinen Kiosk platzten. Es war ihr erster Tag in Berlin. Sie wollten sich
"Klein-Istanbul" ansehen - oder das, was noch davon übrig geblieben ist, seit
Besserverdiener dem Charme dieser abgerockten Gegend verfallen sind und die
Mieten und Preise in die Höhe getrieben haben.

Die Australier sollten nichts davon sehen. Noch in der U-Bahn-Station bemerkten
sie, dass man ihnen neben den Handys auch die Brieftaschen geklaut hatte, die
Pässe inklusive. Slawo rief die Polizei.

Oder heute morgen der Student, der ihn fragte, ob er sein iPhone vielleicht bei
ihm liegen gelassen habe, als er vor fünf Minuten eine Zeitung bei ihm kaufte.
Es sei weg. Oder der Typ, der die U-Bahn auf einer Trage wieder verließ und mit
Blaulicht ins Krankenhaus kam.

Es war ein junger Schwarzafrikaner. Slawo dachte erst, er wäre betrunken, weil
er zur Tür hereintorkelte. Doch dann sah er Blut, viel Blut. Es tropfte aus
einer Wunde, und als sich der Mann umdrehte, sah er es auch, das Loch. "Der Mann
hatte ein Messer im Rücken."

Das Kottbusser Tor galt schon in den Siebzigerjahren als heißes Pflaster. Eine
betongewordene Bausünde in Gestalt eines Hochhauses, das den Platz wie eine
Brücke überspannt, das "Zentrum Kreuzberg". Heroin, Koks oder Marihuana. Wer
Drogen brauchte, hier bekam er alles.

Doch um die Junkies kümmerten sich irgendwann Streetworker, die Dealer


vertickten ihren Stoff weiter in den dunklen Ecken dieses Labyrinths. Die
Geschäftsleute arrangierten sich mit ihnen. Vor dem Mauerfall war das eben
Kreuzberg 61, multikulti total. Man war tolerant. Und tolerant bedeutete: Man
drückte beide Augen zu.

Doch das gelingt jetzt nicht einmal mehr jenen Geschäftsleuten, die das raue
Reizklima immer mehr als Chance denn als Bedrohung verstanden haben. Warum das
so ist, zeigt ein Blick in die Polizeistatistik. Danach hat sich die Zahl der
angezeigten Taschendiebstähle von 2014 bis 2015 verdoppelt und der Drogenhandel
sogar verdreifacht. Auch die Anzeigen wegen Raub und Körperverletzung nahmen
überproportional zu.

Was bedeutet das für die Menschen, die hier schon seit Jahren leben? Besuch bei
Ercan Yasaroglu, 56. Zusammen mit seinem Bruder betreibt er das "Café Kotti" in
der ersten Etage des Hochhauses, nebenbei arbeitet er noch als Sozialarbeiter
für das Jugendamt. Ercan ist so etwas wie der Kummerkasten vom Kotti, ein
kleiner, elegant gekleideter Mann mit einer mächtigen Ray-Ban-Brille in einem
freundlichen Gesicht.

"Dealer haben Hausverbot", steht auf der Eingangstür zu seinem Café. Es sieht
aus wie das Wohnzimmer einer Studenten-WG, mit Sofas vom Sperrmüll.
Zigarettenqualm hängt in der Luft. Abends ist es immer voll.

Das war nicht immer so, sagt Yasaroglu. Andere Kollegen haben ihre Läden mit
Sicherheitskameras ausgerüstet. Er hat zwischenzeitlich vier Bodyguards
beschäftigt. Sie setzten jene Männer vor die Tür, die Gäste bedrängten oder
beklauten.

Wer sie sind, daran hat der Gastronom keinen Zweifel. Kriminelle
Trittbrettfahrer, die mit dem Flüchtlingsticket nach Europa reisten. Unter ihnen
vielleicht sogar ehemalige Soldaten aus Libyen. "Wir sind die Söldner Gaddafis",
so hat sich einer ihrer Anführer mal bei ihm vorgestellt - und damit
klargestellt, wer am Kotti der Boss ist.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Mann in dieser Rolle nur deshalb zur
Hochform auflaufen kann, weil er keinerlei Konsequenzen befürchten muss. Das
sagt der Kontaktbeamte aus dem Abschnitt 53: "Wir sind machtlos, weil Politik
und Justiz kläglich versagen. Taschendiebstähle gelten als Bagatelldelikte, wir
haben keine Möglichkeit, die Täter einem Richter vorzuführen. Niemand bewertet
die Gewalt, die dahintersteckt."

Aus dem Mund von Berlins Innensenator Frank Henkel (CD) klingt das ganz anders.
Im Juni 2015 sammelten Geschäftsleute Unterschriften für mehr Polizeipräsenz am
Kottbusser Tor. In seiner Antwort schrieb ihnen Henkel (CDU), ihre Angst sei
"subjektiv". Es habe "weder eine signifikante Steigerung der festgestellten
Straftaten" noch Bedrohungen von Gewerbetreibenden gegeben.

Inzwischen räumt Henkel immerhin ein, dass der Kotti neben dem RAW-Gelände einer
der Kriminalitätsschwerpunkte der Stadt ist. Die Polizei wolle die Kriminalität
zurückdrängen. Hier brauche man eben einen langen Atem. "Und die Polizei hat
diesen langen Atem."

Tatsächlich? Razya erlebt das gerade anders. Zehn Minuten nach Slawos Anruf
kommt ein Sanitäter, begleitet von zwei Polizisten. Sie sind schlecht gelaunt.
Wer weiß, wie oft sie dieses Spiel heute schon gespielt haben. Der Afrikaner ist
ihnen bekannt. Auch Razya weiß, wer er ist. Sie sagt, er hänge Tag und Nacht am
Kotti herum und habe sie vor einigen Wochen mal angesprochen. Ein netter Typ,
dachte Razya. Sie gab ihm sogar ihre Adresse.

Ein Fehler, wie sie heute weiß. Denn seither, erzählt sie den verdutzten
Beamten, werde sie ihn nicht mehr los. Er drohe ihr auf Facebook, wenn sie ihn
nicht treffe, dann werde er sich rächen.

Er lauere er ihr sogar vor ihrer Haustür auf. Einmal hat ihr Vater deshalb schon
die Polizei gerufen, und was sie dann über ihn erfuhr, habe sie alarmiert. Er
leide an einer Psychose, sagten die Beamten - möglicherweise die Folge
traumatischer Erlebnisse auf der Flucht.
Razya holt tief Luft. Sie habe sich heute zum ersten Mal seit einer Woche wieder
auf die Straße getraut - und dann das. Sie ist den Tränen nah. Sie ringt nach
Luft.

Die Beamten geben ihr das Handy zurück. Razya würde eigentlich eine Anzeige
wegen Körperverletzung erstatten, aber ihre Geschichte hat die Polizisten
verwirrt. Meistens sind es Touristen, die überfallen werden. Dass sich Täter und
Opfer schon vorher kannten, passt irgendwie nicht in ihr Bild.

Den Afrikaner lassen sie wieder laufen. Aber er geht auch jetzt nicht. Er steht
noch immer vor dem Kiosk. Er wirkt wie gelähmt. Razya nutzt die Gelegenheit. Sie
greift nach ihrem Handy und rennt die Treppen zur U-Bahn herunter.

Nix wie weg hier.

UPDATE: 17. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Berlin-Kreuzberg kann manchmal so grausam sein: Blick durch die Fenster des
U-Bahnhofs Kottbusser Tor
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Mietshäuser mit Satellitenschüssel und kleine Geschäfte sind Kennzeichen des
Kottbusser Tors
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Die Welt

Samstag 19. März 2016

Der Unterschätzte;
Kaum ein Politiker hat so polarisiert: Mit 54 Jahren ist Guido Westerwelle
gestorben. Er hat die FDP in den 90er-Jahren neu erfunden, war einer der besten
Oppositionsführer der Berliner Republik und ein wegweisender AußenpolitikerVon
Ulf Poschardt

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 67

LÄNGE: 1108 Wörter

Er hatte sich so auf sein Leben ohne die Politik gefreut. Strahlend, braun
gebrannt, mit Seglerschuhen stand Guido Westerwelle im Juni 2014 in der
prächtigen, frisch renovierten Altbauwohnung am Kudamm in Berlin und konnte es
kaum erwarten, als Anwalt und Vorsitzender seiner Stiftung zu wirken, die den
Geist des freiheitlichen, rheinischen Kapitalismus in die Welt tragen wollte.
Wenige Wochen später wurde publik, dass Westerwelle an Leukämie erkrankt war.
Anders als viele andere hatte er nach der Amtsübergabe an Frank-Walter
Steinmeier im Dezember 2013 einen "clean cut" vollzogen. Westerwelle war durch
mit der Politik. Er wollte sein Leben genießen, seine glückliche Ehe mit Michael
Mronz, seine Liebe zur Kunst und zu den schönen Dingen des Lebens.

Wir standen auf dem Balkon seiner Stiftung, und er erzählte, wie er jetzt jeden
Morgen von seiner Charlottenburger Wohnung in die Stiftung spazieren könne, ohne
Fahrer, ohne Bodyguards, mit einer Sonnenbrille auf der Nase. Er lachte und
blinzelte dabei in die Sonne. Er war mit sich im Reinen. Hatte seine Lektionen
gelernt. Westerwelle hat viel gemacht, immer schon, von klein auf. Und damit hat
er natürlich auch immer schon viel falsch gemacht. Aber er hat das in einem Land
getan, das Fehler nicht mag und wohl auch keine Vertreter einer Minderheit
(schwul, liberal, gut gelaunt), die ohne Hauch von Demut und Komplexen lebte.

Als Bürgerkind hatte Guido Westerwelle lange Haare und "machte eine
Schülerzeitung", wie er sich stolz erinnerte. Nun kann man sich streiten, ob
lange Haare Ende der 70er-Jahre ein Zeichen der Anpassung oder immer noch eines
der Rebellion waren. Wahrscheinlich beides: abhängig vom Kontext, in dem sich
der Langhaarige bewegte. Westerwelle war also nicht mit Krawatte, kurzen Haaren
und einer Rolex geboren worden, so viel steht fest. Bemerkenswert war, dass man
ihm das zugetraut hätte. Dabei passten die langen Haare und das Rebellentum
besser zu Leben und Werk Westerwelles als die Hassprojektion, die in ihm das
personifizierte Asoziale vermuteten. Dabei veränderte er die Bundesrepublik
nachhaltig. Als offen schwuler Vizekanzler war er Teil des wohl progressivsten
Kabinetts der Bundesrepublik: mit einer Frau als Kanzlerin (Tochter eines
Kommunisten, kinderlos, Naturwissenschaftlerin), einem Schatzkanzler im
Rollstuhl, einem Vietnamesen als Youngster.

Seit Westerwelle 1994 als FDP-Generalsekretär die politische Bühne betrat, hatte
er sich nicht verändert: keine Spurenelemente einer Vergangenheit, die etwas
anderes gewesen sein könnte als das, was ist. Anders als Joschka Fischer, der
vom Turnschuh-Lümmel zum Typ Bankvorstand konvertierte, anders als Helmut Kohl,
dessen Bauchumfang mit der Macht wuchs, anders als Claudia Roth, deren
Erscheinung heiter changiert.

Glatt und kühl wirkte er oft - etwas, das einem Liberalen gut ansteht, wäre da
nicht jene mangelnde Erdigkeit, die in Deutschland kaum jemandem verziehen wird:
Karl Lagerfeld ebenso wenig wie Josef Ackermann. Das deutsche
Authentizitätsbedürfnis wurde von Westerwelle ausgesprochen unzureichend
bedient. Sein Auftreten umgab stets etwas Kulissenhaftes, seine Selbsttreue
wirkte arrangiert, nicht zuletzt aufgrund der Jahre jenes Versteckspiels um
seine Homosexualität. Gemütlich machen können es sich die Deutschen mit einer
derart postmodernen Figur kaum, aber vielleicht war der Bonner daran gar nicht
interessiert.

Eine von Westerwelles unterschätzten Stärken war sein Fleiß. Als Autodidakt hat
er sich Politik selbst beigebracht: "streberhaft", wie Kritiker anmerken, "sehr
zweckorientiert", wie Freunde meinten. Westerwelle führte die Partei nicht von
Berlin aus, sondern war pausenlos unterwegs. Nicht nur während des Wahlkampfes
tourte er auch durch kleinste Ortsverbände, um die Bodenhaftung nicht zu
verlieren. Die Basis hüte er wie seinen Augapfel, erklärte er nicht ohne
Rührung. Im Jahre des Möllemann-Desasters hat ihm das vielleicht seinen Job als
Parteichef gerettet: Die Basis wusste, dass sich dieser Chef die Hacken ablief
und sich nie zu fein war, auch in die kleinsten Gemeinden zu kommen, um
Kandidaten vor Ort zu unterstützen.
Als liberaler Vordenker wird er nicht in die Geschichte eingehen, aber als ein
hingebungsvoller leitender Angestellter seiner Partei, der dem Liberalismus in
der Stunde seiner größten Bedrohung Handlungsspielraum und Zukunft gegeben
hatte. Als Westerwelle 2001 Parteivorsitzender wurde, war die FDP gerade noch in
fünf Landesparlamenten vertreten. Am Höhepunkt seines Wirkens hatte er bei der
Bundestagswahl unglaubliche 14,6 Prozent für die FDP erkämpft. Das war die
Rendite für seine Jahre als Oppositionsführer, virtuos, rhetorisch brillant, bei
Regierung wie bei der Konkurrenz gefürchtet.

Guido Westerwelle gab es mit und ohne Verstärker. Die Öffentlichkeit kannte ihn
ausschließlich laut, pointenstark, nie um eine schnelle Antwort und die Lösung
des Problems verlegen. Als eine Art ständige Vertretung neoliberaler
Kampfrhetorik wirkte er rastlos - und oft auch wie ein Chuck Norris des
Neoliberalismus. Westerwelles Stimme hatte sich an den Tonfall gewöhnt: Dass es
eine Bühnenstimme war, erkannte man, wenn er den Lautsprecher ausschaltete; wenn
der aufhörte, seine Rolle zu spielen.

Der andere Westerwelle war eine eher zurückhaltende Person. Im politischen


Berlin gab es Momente, in denen er es genoss, am Seitenrand des Spielfelds zu
stehen und seinen Blick auf die Welt zu schärfen. Eine Zigarre im Mund, sensibel
fragend, mit stillem Humor. Erst im Umgang mit seiner Krebserkrankung wurde auch
die weiche Seite Westerwelles für die Öffentlichkeit greif- und vorstellbar. Zu
spät, wie man jetzt sagen muss. Davor hat ihm die Mehrheit dieses Landes nie
etwas verziehen, keine ungeschickte Bemerkung zu Journalisten der BBC, keine
polemische Zuspitzung einer in der Tat problematischen Mentalität ("spätrömische
Dekadenz"), kein Wohnmobil mit großen Sprüchen, die Schuhe nicht mit den beiden
Ziffern.

Er war berühmt und berüchtigt. Kurt Krömer musste nur "Nak Nak Nak" ins Publikum
schnattern und am Ende sagen, das wäre Guido Westerwelle gewesen, und das
Publikum tobte. Guido Westerwelle war eine Ikone der Politik. Seine wegweisenden
Reden zu Europa, seine rückblickend richtige Enthaltung beim Waffengang in
Libyen, sein existenzielles Eintreten für ein selbstbestimmtes Leben in
Freiheit, auch als Staatsmann, der seine Identität als Waffe einsetzte: All das
machte ihn zum großen Staatsmann. Wer ihn eher privat kennenlernen durfte, dem
bleibt er in seiner frechen, charmanten, liebenswerten Feinheit in Erinnerung.
Wir Deutschen werden ihn vermissen. Er hat viel für dieses Land getan. Seiten 2
und 3

UPDATE: 19. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Gene Glover/ Agentur Focus


Guido Westerwelle im vergangenen Jahr auf Mallorca
Gene Glover

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Die Welt

Dienstag 29. März 2016

"Frau Merkel hat die Tür nicht geöffnet";


Klaus von Dohnanyi über die Pläne der Kanzlerin, die Flüchtlinge und das Zündeln
der Rechtspopulisten

AUTOR: Daniel Friedrich Sturm

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 73

LÄNGE: 1295 Wörter

Hinter Klaus von Dohnanyi liegt ein ganztägiger Kongress bei der Deutschen
Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Seine 87 Lebensjahre sind dem
Sozialdemokraten und früheren Hamburger Bürgermeister nicht anzusehen.

Die Welt:

Herr von Dohnanyi, nähert sich Deutschland Weimarer Verhältnissen, wenn die AfD
in Sachsen-Anhalt 24 Prozent holt und dort CDU und SPD zusammen ihre
parlamentarische Mehrheit verlieren?

Natürlich nicht! Sachsen-Anhalt ist nicht die Bundesrepublik. Aber wir haben
unruhige Zeiten mit beunruhigenden Entwicklungen, beispielsweise dem großen
Zustrom an Flüchtlingen. Das wird von der AfD genutzt und führt zwangsläufig zu
Einbrüchen bei den in Berlin regierenden Parteien.

Für wie gefährlich, für wie rechtsradikal halten Sie die AfD?

Das Gefährliche ist, sie sammelt rechtsradikale Stimmen. In Sachsen-Anhalt hat


die NPD ihre Anhänger sogar dazu aufgerufen, mit der Zweitstimme AfD zu wählen.
Mit keiner anderen Partei hätte sich die NPD so verbrüdern können! Das zeigt,
dass es rechtsextreme Momente bei der AfD gibt, auch wenn ihr Programm das nicht
überall hergibt.

Worauf fußt der Erfolg der AfD? Ist es allein der Zuzug der Flüchtlinge? Oder
eher ein allgemeines Unbehagen?

Das allgemeine Unbehagen ist weltweit. Das gibt es in Skandinavien, den


Niederlanden, in Frankreich, Italien, Großbritannien. Die durch die
Digitalisierung extrem beschleunigte Globalisierung beunruhigt die Menschen.
Gewohnte Strukturen lösen sich auf. Diese Unruhe lässt sich entzünden. Die AfD
nutzt heute das Thema Flüchtlinge als Streichholz, um dieses Unbehagen zu
entflammen. Wenn es nicht mehr die Flüchtlingsproblematik ist, wird sich die AfD
andere "Streichhölzer" suchen: den Islamismus, die Digitalisierung und so
weiter.

Marine Le Pen, Donald Trump, die Populisten der AfD - machen Ihnen diese Leute
Angst?

Man muss besorgt sein. Wir müssen unbedingt die demokratischen Strukturen
stabilisieren. Vor allem in Staaten mit unserem Verhältniswahlrecht. Das
Parlament könnte sich schnell in viele Grüppchen aufteilen. Das aber erschwert
die Regierbarkeit, erschwert Entscheidungen und schafft zusätzliche
Unzufriedenheit. Diesen Teufelskreis müssen wir durch festere demokratische
Strukturen brechen.

Franz Josef Strauß hat stets gesagt, rechts von der Union dürfe keine
demokratische Partei Platz finden. Hat Angela Merkel diesen Raum der AfD
überlassen?

Frau Merkel hat doch diesen "Platz" nicht geschaffen. Dann wäre sie ja auch für
die Niederlande oder Finnland verantwortlich. Sie ist es auch nicht für Herrn
Trump. Der Grund liegt eben tiefer: diese rapide Veränderung der Gesellschaft
und die Auflösung gewohnter demokratischer Strukturen. Das führt zu neuen
Parteien, zu den Chancen etwa für die AfD.

Während die AfD aus dem Stand heraus zweistellige Ergebnisse erreichte, verlor
die Linke Stimmen, in Sachsen-Anhalt sieben Prozentpunkte. Sehen Sie eine
Schnittmenge zwischen AfD und Linken?

Nein und ja. Ostdeutschland ist immer noch der Verlierer des Kalten Krieges. Die
Arbeitslosigkeit ist höher, junge Leute wandern gern ab, es gibt keine großen
Unternehmenszentralen. Der Osten bleibt tief geschädigt durch das Sowjetregime.
Insofern ist die Linke - wie die AfD - auch eine Protestpartei. Beide reiben
sich am Westen, der praktizierten Demokratie, den alten Parteien. Viele
Ostdeutsche kritisieren Demokratie und Marktwirtschaft, den sogenannten
Kapitalismus.

Ist die Demokratie im Osten weniger gefestigt als im Westen?

Vielleicht. Denn die Demokratie lebt von einer gefestigten Zivilgesellschaft,


die den einfachen Antworten von extrem rechts und extrem links widersteht.
Demokratie ist auch ein ständiger Dialog über die begrenzten Möglichkeiten der
Politik. Wer das nicht akzeptiert, wer alle Menschheitsprobleme lösen will,
verfällt leicht den Vereinfachern an den Rändern des politischen Spektrums.

Horst Seehofer suggeriert immer wieder, das Thema Flüchtlinge ließe sich mit
einem Schalter ausknipsen. Ist der CSU-Vorsitzende mit verantwortlich für die
Wahlerfolge der Vereinfacher von der AfD?

Vielleicht. Er muss doch wissen, dass Fluchtursachen mit Obergrenzen nicht zu


bekämpfen sind. Warum beharrt er dennoch darauf? Ich glaube, es ist diese
ständige Furcht der CSU, ihre absolute Mehrheit zu verlieren. Die CSU ist
eigentlich eine ängstliche Partei, die dann in schwierigen Situationen mutlos
agiert. Ein Politiker muss in wichtigen Fragen aber auch riskieren können,
Stimmen zu verlieren! Frau Merkel hat diesen Mut. Sie beweist: Nur ein
Politiker, der notfalls auch bereit ist zu fallen, kann stehen.

Aber hat Frau Merkel nicht auch diverse Versäumnisse zu verantworten? Etwa, dass
Deutschland in Europa weitgehend isoliert ist?

Die Flüchtlinge wollen nach Deutschland, die Türen wurden von ihnen
"aufgedrückt" und nicht von Frau Merkel geöffnet. Sie folgte übrigens damals
einer Bitte Österreichs. Ein Fehler von Frau Merkel, von Schröder und Kohl ist
viel älter: Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hatte schon vor 20
Jahren eine europäische Asylpolitik gefordert. Aber es passierte: nichts. Die
großen Probleme kommen aber erst, denken Sie nur an die Migration infolge des
Klimawandels.

Hat Frau Merkel wirklich einen Plan, wie sie selbst behauptet?
Ja. Die Außengrenzen sichern, aber wir haben im Süden keine Landgrenzen und auch
keinen unüberwindlichen Ozean. Also brauchen wir eine enge Kooperation mit den
Ländern der "Gegenküste", Türkei, Libyen, Tunesien, Algerien und so fort. Das
ist nun unterwegs.

Die Kanzlerin macht also alles richtig?

Wer macht schon alles richtig. Aber sie hat eine lobenswerte Schwäche: Sie ist
kein guter Demagoge. Ihre Klugheit und Standfestigkeit übersteigen bei Weitem
ihre rhetorischen Fähigkeiten.

Gerhard Schröder wirft Merkel vor, den Schulterschluss mit Frankreich aufgegeben
zu haben.

Das kann ich nicht erkennen.

Kommen wir zu Ihrer Partei, der SPD. Sehen Sie bei ihr noch eine strukturelle
Mehrheitsfähigkeit?

Die SPD trägt noch immer die Folgen eines historischen Fehlers: Sie wollte 1990
auch anständige ehemalige SED-Mitglieder, Mitläufer also, nicht pauschal
aufnehmen. So entstand die Linke. Hätten wir uns damals anders entschieden, gäbe
es diese nicht, und die SPD wäre in einer viel stärkeren Position. Nach dem
Krieg wurden doch auch einfache NSDAP-Leute nicht ausgegrenzt. Zu Recht. Man
kann nämlich nicht von jedem verlangen, ein Widerstandskämpfer zu sein. Menschen
wollen leben. Wenn sie unter einer Diktatur keine Verbrecher waren, muss man mit
ihnen weiter arbeiten.

Die SPD will in Ihrer zeitweiligen politischen Heimat Rheinland-Pfalz künftig


mit FDP und Grünen koalieren. Erwarten Sie neue sozialliberale Perspektiven?

SPD und FDP werden gemeinsam wohl zu schwach sein, um eine Mehrheit zu bilden.
Hier zeigt sich übrigens ein zweites strukturelles Problem. Wir sind eine
Programmpartei. In Zeiten großer neuer Fragen differenzieren sich zwangsläufig
auch die Programme. Das führte einst zur Spaltung durch die Kommunisten. Später
verlor die SPD Anhänger an die Programme von Grünen und Linken. Die Gefahr einer
ständigen Aufsplitterung geht weiter. Solche Probleme haben die Pragmatiker in
der Mitte und auf der rechten Seite nicht. Sie sind flexibler.

Die Union will regieren.

Das wäre zu einfach. Die Mitte ist pragmatisch und hat ein anderes Verständnis
der Welt: Die Menschen sind so, wie sie sind, und damit müssen wir umgehen. Man
fährt auf Sicht. Das nennen einige zynisch, ich halte es für einen durchaus
vertretbaren Standpunkt.

Während sich die politische Linke aufspaltet und die stetig kleiner werdende SPD
sich intern streitet.

Das ist eben einer Programmpartei immanent. Gerade in Zeiten wie diesen, wenn
sich die äußeren Verhältnisse so radikal ändern wie heute. Deswegen müssen wir
auch die demokratischen Strukturen überdenken und stärken.

UPDATE: 29. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Klaus von Dohnanyi: Demokratie muss den einfachen Antworten widerstehen
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Die Welt

Donnerstag 14. April 2016

Retter der Flüchtlinge;


Warum ein Brandenburger auf dem Mittelmeer Patrouille fährt

AUTOR: Antje Hildebrandt

RUBRIK: PANORAMA; Panorama; S. 23 Ausg. 87

LÄNGE: 1360 Wörter

Ein Knopfdruck, und der Mann, den sie Kapitän Hoffnung nannten, öffnet das Tor
zu seinem Zuhause. Lautlos schieben sich zwei Tore zur Seite. Harald Höppner
rollt mit dem Kombi auf den Hof. Es ist eine Hacienda wie aus der "Schöner
Wohnen", ein rotes Backsteinhaus, dahinter ein gepflegt verwilderter Garten mit
Feuerstelle und Kletterturm. Im Hintergrund drei Ziegen. Das ist sein Zuhause.

Ein Dorf in Brandenburg, 400 Einwohner, halb so viele Rinder. Hier wohnt der
Mann, der sich vor einem Jahr in die Schlagzeilen katapultierte, als er Günther
Jauch und dessen Gäste in der gleichnamigen Talkshow zum Schweigen brachte.
Harald Höppner, 42, Globetrotter und Familienvater, Unternehmer und neuerdings
auch Seenotretter. Viele erinnern sich vielleicht noch an seinen Auftritt.
Höppner, das war ein Riese im Kapuzenpullover.

Höppner hatte sich mit seinem Geschäftspartner einen alten Fischkutter gekauft.
Damit wollten sie schiffbrüchige Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten. Um
ehrenamtliche Helfer zu finden, hatten sie den Verein Sea-Watch e. V. gegründet.
150.000 Euro, das war ihr Startkapital. Doch irgendwie lief die Jauch-Sendung
aus dem Ruder. Am Ende blieb kaum noch Zeit, über Sea-Watch zu reden. Deshalb
sprang Höppner. Er forderte eine Schweigeminute für die Flüchtlinge, für die das
Mittelmeer schon zum Grab geworden war. Ein Visionär oder ein Verrückter? Die
Meinungen darüber gingen auseinander. Als blauäugigen Gutmenschen so sahen ihn
die einen; als Robin Hood des Mittelmeeres die anderen. So steht es auch in
seinem Buch, das am 15. April erscheint. "Menschenleben retten! Mit der
Sea-Watch im Mittelmeer". Er sagt heute, er habe eine Weile gebraucht, um sich
zwischen diesen Fronten zu positionieren. Der Medienrummel habe ihn überrollt.
Und wer ihn damals interviewte, der traf tatsächlich auf einen Mann, der bei
allem hemdsärmeligen Pragmatismus den Eindruck erweckte, als wisse er nicht so
recht, worauf er sich da eingelassen habe.
Heute lehnt er sich entspannt zurück. Zweifel, Bedenken, Irrtümer? Fehlanzeige.
Die Fakten sprechen ja auch für ihn. 2000 gerettete Flüchtlinge. Mehr als eine
Millionen Euro Spenden. Ein neues Rettungsschiff, doppelt so groß wie das alte.
Ein Flugzeug, das die Suche nach Schiffbrüchigen erleichtert. Ein zweiter
Rettungsstützpunkt auf der griechischen Insel Lesbos mit Schnellbooten. Ein
eigenes Vereinsbüro in Berlin, dazu eine Handvoll Festangestellter. Das ist die
Bilanz nach einem Jahr Sea-Watch. Eine Erfolgsgeschichte, frisch gedruckt, auf
223 Seiten. Höppner wirkt locker, beinahe gelöst. Er führt den Gast durch sein
Haus in die Wohnküche. Es ist ein ehemaliger Schweinestall. Es gibt Möbel im
Kolonialstil, wie er sie mit seiner Firma aus Asien importiert. Dazwischen
Spielzeug von Theo, 5, seinem Jüngsten. Höppner macht erst mal zwei Latte
Macchiato. Auf dem Esstisch liegt sein Buch.

Sie erzählt eine filmreife Geschichte. Ein Held, der keiner sein will. Eine
Reise, die ihn bis an seine eigene Grenze führt. Ein Schiff, das ständig kaputt
geht. Eine Besatzung, die so lange meutert, bis er den ersten Kapitän gegen
einen weniger autoritären auswechselt. Ein TV-Reporter vom RBB, der nach einer
Woche entnervt von Bord geht, weil die Satellitenanlage veraltet ist. Das ist
die Kulisse für diese Geschichte. Der Held, das ist er. Ein Arztsohn aus dem
Osten Berlins, der nach der Wende in der Welt herumreist. Von einer Reise aus
Asien bringt er Möbel, Schmuck und Bekleidung mit. Er verkauft sie im eigenen
Laden und verdient ein Vermögen damit. Politik interessiert ihn nicht, doch als
er im Herbst 2014 in den TV-Nachrichten das Bild einer Frau sieht, die im
Mittelmeer ertrinkt, da macht es bei ihm "Klick!". Er recherchiert, wie das ist,
wenn jemand ertrinkt. "Nach etwa einer Minute unter Wasser atmet man reflexhaft.
Wasser dringt in die Lungen, das Zwerchfell krampft, man hustet, noch mehr
Wasser gelangt in die Atemwege. Der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt unaufhaltsam.
Nach ein paar Minuten wird man bewusstlos. Kurz darauf steht der Atem still und
wenig später das Herz." Höppner ist schockiert. Ein qualvoller Tod. Das Bild der
ertrunkenen Frau lässt ihn nicht los. Er beschließt, zu handeln.

Es ist das Jahr 25 nach dem Mauerfall. Der Eiserne Vorhang, das ist jetzt das
Mittelmeer: die gefährlichste Grenze der Welt. Im Trubel der Gedenkfeiern
erkennt Höppner, wie viel Glück er gehabt hat, dass er als Ossi in den Westen
gekommen ist, "ohne dass die Russen Panzer gegen uns aufgefahren haben." Er
erinnert sich an die Gastfreundschaft, mit der er auf seinen Reisen ins Ausland
empfangen wurde. Er will etwas zurückgeben. Sein Handy klingelt jetzt im
Interview, schon zum dritten Mal. "Na, Schwacki. Wie läuft's?" Ein Mitarbeiter
aus Malta ist dran. Dort entsteht gerade das neue Camp für die ehrenamtlichen
Helfer von Sea Watch. Ärzte, Seeleute, Handwerker. In diesem Jahr wird das neue
Schiff von hier aus starten und nicht mehr in Lampedusa. Höppner murmelt was von
günstigeren Flügen und einer besseren Infrastruktur.

Er verschwindet mit dem Handy in seinem Büro. Von hier aus koordiniert er immer
noch Einsätze der "Sea-Watch". Er war selber nur eine Woche im Mittelmeer
unterwegs. Er redet nicht gern darüber. Der alte Kutter schaukelte hin- und her.
Er wurde seekrank. Und dann waren da noch die Helfer. Alle hoch motiviert. Und
viele enttäuscht, als sie erkannten, dass sie nicht so helfen konnten, wie sie
wollten. Anderthalb Tage brauchte der Kutter jedes Mal von Lampedusa bis zur
libyschen Küste, dort, wo die meisten Schlauchboote starten, überfüllt, ohne
genug Trinkwasser und Benzin. Oft aber kamen sie umsonst. Bevor sie da waren,
war es entweder zu spät, oder andere Retter waren ihnen zuvorgekommen. Höppner
spielt das herunter. Das ist seine Art. Nur das Positive sehen, den Rest
verdrängen. Sonst hätte er sich gar nicht erst auf dieses Abenteuer eingelassen.
Er sagt: "Viel schlimmer ist es doch, wenn man fünf Schlauchboote mit
Flüchtlingen bei sich hat und es acht Stunden dauert, bis professionelle Hilfe
kommt." Ein Schiff, das die Flüchtlinge nach Italien bringt. Boote der
Bundesmarine oder der EU seien nie dabei gewesen, sagt er. "Und da fragt man
sich schon: Ey, Leute. Warum guckt ihr weg?" 2738 von 945.000 Menschen starben
allein 2015 auf der 300 Kilometer langen Strecke zwischen Italien und Libyen,
dort, wo auch die "Sea-Watch" patrouillierte. Ein Jahr zuvor seien es noch 3500
von 219.000 gewesen, heißt es beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Doch die
Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Dass der Strom abreißt, damit
rechnet niemand, auch Höppner nicht.

Armut, Bürgerkriege, Höppner sagt, wenn die EU eine Grenze schließe, suchten
sich die Flüchtlinge eben andere Routen, möglicherweise solche, die noch
gefährlicher sind. Aber müssen sich die Seeretter nicht den Vorwurf gefallen
lassen, sie kurbelten das Geschäft der Schlepper noch an? Höppner setzt sein
Pokerface auf. Er sagt: "Uns interessieren nur die Menschen, die in dieser
miserablen Lage sind." Was aus ihnen wird, weiß er nicht. Die meisten blieben
wohl als Rosen- oder Sonnenbrillenverkäufer in Italien hängen. So hat es ihm
Demba, 18, erzählt, ein Junge aus Gambia. Er wäre um ein Haar ertrunken, wenn
ihn die "Sea-Watch" nicht aus einem geplatzten Schlauchboot gerettet hätte.
Demba bedankte sich überschwänglich auf Facebook. Es war das einzige Mal, dass
der Verein eine Rückmeldung bekam.

Höppner lächelt matt. Noch vier Monate, dann gibt er den Vereinsvorsitz ab.
Tanja, seine Frau, kann dann aufatmen. Sie ist eine zierliche, aber drahtige
Frau mit Nasenpiercing und Beanie-Mütze. Eine ehemalige DDR-Leistungssportlerin.
Die letzten Monate waren auch für sie nicht leicht. Ein Notruf nach dem anderen
von der "Sea-Watch". Sie ist nicht der Typ, der jammert. Aber sie ist froh, wenn
die "Sea-Watch", dieses vierte Kind, jetzt endlich selber laufen lernt. Wobei
sie jetzt schon ahnt, dass es nicht sein letztes Projekt bleiben wird. Höppner
grinst. Er sagt: "Ich bin einfach nicht der Typ, der vierzehn Tage lang am
Strand chillen kann."

Harald Höppner, Veronica Frenzel, Menschenleben retten! Mit der Sea-Watch im


Mittelmeer, Eichborn, 19,99 Euro.

UPDATE: 14. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Aus Brandenburg ins Mittelmeer und zurück: Harald Höppner
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Sonntag 10. Januar 2016 9:24 PM GMT+1

US-Presseschau zu Köln;
"Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss"
AUTOR: Ansgar Graw, Washington

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 794 Wörter

HIGHLIGHT: Die Übergriffe in der Silvesternacht beschäftigen auch US-Medien.


Dort ist man zunehmend besorgt über die deutsche Flüchtlingspolitik. Ein "New
York Times"-Gastautor fordert den Rückzug der Kanzlerin.

Die sexuellen Übergriffe ausländischer Männer auf Frauen in der Silvesternacht


beschäftigen auch die amerikanischen Medien. Mit der dramatischen Zeile
"Deutschland auf der Kippe" war am Sonntag ein Meinungsstück in der "New York
Times" überschrieben. Die Kölner Behörden hätten die Angriffe von Tätern vor
allem aus Nordafrika und dem Nahen Osten zunächst heruntergespielt, weil sie
sich als "unbequem erweisen für Angela Merkels Politik eines Massenasyls für
Flüchtlinge", argumentiert der Autor.

Und trotz der zwischenzeitlichen Amtsenthebung des Kölner Polizeichefs "scheint


die deutsche Regierung weiterhin stärker besorgt um die Überwachung der
besorgten Einheimischen - zuletzt per Vereinbarung mit Facebook und Google zur
Einschränkung von einwanderungskritischen Kommentaren - als mit der Überwachung
der Zuwanderung".

Geschrieben ist das Stück von dem konservativen Autor Ross Douthat. Er gehört
nicht der Redaktion der eher linken "New York Times" an, sondern ist einer ihrer
Gastkolumnisten. Seine Stücke erscheinen darum auf der "Op-Ed"-Seite, was für
"Opposite the Editorial Page" steht, also die Seite gegenüber den Kommentaren
der Redaktion, den sogenannten Editorials".

Gefährlicher Männerüberschuss

Douthat verweist auf Warnungen, die Konservative auf beiden Seiten des Atlantik
schon länger erheben: Muslimische Einwanderung bringt große Herausforderung mit
sich, weil diese Gruppe schwer zu integrieren sei und die Gefahr einer
Radikalisierung berge.

Gleichwohl hätten "eher apokalyptische Voraussagen" unter dem Stichwort


"Eurabia" und "Massen-Islamisierung" übertrieben gewirkt. Mit dem aktuellen
Zustrom "nicht von Zehntausenden, sondern eher von Hunderttausenden" Migranten,
unter ihnen vor allem junge Männer unter 30 Jahren, bewege sich die Entwicklung
jedoch in einer neuen Dimension. Unter Verweis auf eine aktuelle Studie der
Wissenschaftlerin Valerie Hudson auf Politico.com warnt Douthat, dass
Gesellschaften mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis und einem
starken Überschuss an Männern "instabil" zu drohen werden.

Wer glaube, "dass eine alternde, säkularisierte, bislang weitgehend homogene


Gesellschaft die Zuwanderung in einer solchen Größe und bei derartigen
kulturellen Unterschieden mutmaßlich friedlich absorbieren wird, hat eine
leuchtende Zukunft als Pressesprecher für die aktuelle deutsche Regierung. Aber
er ist auch ein Narr. Derartige Transformationen lassen eine zunehmende
Polarisierung zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen erwarten."

Douthats Schlussfolgerung: "Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss - damit
ihr Land und der Kontinent, der es trägt, vermeiden kann, einen zu hohen Preis
zu zahlen für ihre wohlmeinende Torheit."

Merkel als Vorbild

Die Redaktion der "New York Times" selbst beobachtet die Entwicklung hingegen
optimistischer. Nur einen Tag zuvor erschien in dem Blatt ein (wie üblich nicht
namentlich gezeichnetes) Editorial, in dem zwar die Flüchtlingspolitik Europas
kritisiert, aber die Linie der Bundeskanzlerin gelobt wird. Weil sich in diesem
Jahr die Zahl der Einwanderer von einer Million auf drei Millionen nochmals
massiv erhöhen werde, müsse die EU "legale Wege für Einwanderung" schaffen, um
den Zustrom besser zu kontrollieren und Menschenschmugglern das Geschäft zu
verderben".

Daneben sei "die Verwundbarkeit weiblicher Flüchtlinge durch sexuellen


Missbrauch" ein Problem. Zu den Kölner Übergriffen auf Frauen heißt es, der
deutsche Innenminister habe gesagt, unter den mehr als 30 identifizierten Tätern
seien 18 Asylsuchende - was richtig sein mag und die Dimension der Ereignisse
dennoch verzerrt.

Das Schlusswort räumt die "New York Times" Merkel persönlich ein. Ihre
Neujahrsbotschaft, laut der "der Zustrom und die Integration so vieler Menschen
eine Chance für das Morgen" sei, solle "ganz Europa beherzigen".

Grenzfreies Europa hat einen Preis

Skeptischer ist das konservative "Wall Street Journal". Wähler, die bislang
Europas freien Grenzverkehr innerhalb der Schengenzone begrüßten, "werden
Kontrollen verlangen, wenn ihre Regierungen die Masseneinwanderung nicht
bewältigen und Recht und Ordnung nicht garantieren können", hieß es in einem
Kommentar am Donnerstag. Die Schlussfolgerung: Europa müsse mehr tun, um
"Ordnung zu bringen in das politische Chaos von Libyen bis Afghanistan, das
diese Flüchtlinge nach Europa lockt". Ein Europa ohne Grenzen sei weiterhin ein
lohnenswerter Traum - "solange Europas Führer bereit sind, harte Anstrengungen
zu unternehmen, um sein Absinken in einen Albtraum zu verhindern".

Die "Washington Post" analysierte, dass es auch in der eigenen Partei große
Zweifel an Merkels "Wir schaffen das"-Losung gebe. Die Schlussfolgerung bereits
im Dezember: Die Kanzlerin müsse "ihren Mut mit ihren politischen Fähigkeiten
vermählen".

UPDATE: 11. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 19. Januar 2016 10:44 AM GMT+1

Landgrabbing;
Rücksichtslose Jagd auf den neuen, alten Bodenschatz

AUTOR: Inga Michler, Ernst August Ginten

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 2447 Wörter

HIGHLIGHT: Es geschieht in Afrika, Nahost, nun in Europa. Nicht Wertpapiere,


nicht Immobilien kaufen die Investoren. Sie jagen nach einem besonderen Rohstoff
- dessen Wert jahrzehntelang unterschätzt wurde.

Die Investoren aus dem Libanon denken groß. Sogar einen eigenen Hafen und einen
Schlachthof haben sie sich in der Europäischen Union gesichert. 65.000 Hektar
Land, eine Fläche beinahe so groß wie Hamburg, bewirtschaftet die Maria Group in
Rumänien. Die Libanesen sind damit die größten Farmer des osteuropäischen
Landes. Von dort versorgen sie den Nahen Osten und Ostafrika tonnenweise mit
Fleisch und Getreide.

Der große Run auf Land, das sogenannte Landgrabbing, spielt sich längst nicht
mehr nur in Afrika, Asien und Lateinamerika ab. Auch in Europa bringen sich
Investoren aus aller Welt in Stellung. Ob in Rumänien, Bulgarien, Estland,
Litauen oder Ungarn, ausländische Konzerne kontrollieren immer größere Flächen.

Auch in Ostdeutschland sind internationale Investoren aktiv. Das wird nicht


zuletzt in der Studie "Ausmaß des Landgrabbings in der EU" deutlich, die das
Amsterdamer Transnational Institute 2015 im Auftrag des EU-Agrarausschusses
erstellt hat.

Angesichts der weltweit wachsenden Bevölkerung scheinen steigende Preise für


Nahrungsmittel und Agrarrohstoffe und damit satte Renditen garantiert. Bei
niedrigen Zinsen ist Ackerland auch in Europa zu einem beliebten Spekulations-
und Anlageobjekt geworden - mit weitreichenden Folgen.

"Schleichender Prozess der Landkonzentration"

Die Struktur der Landwirtschaft ändert sich. Durch effizientere Bewirtschaftung


der Großen geraten die Kleinbauern unter Druck. Allein in Deutschland gehören
rund 70 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr den Bauern, die
sie bewirtschaften.

Die Europaabgeordnete und Milchbäuerin Maria Heubuch schreibt im Vorwort einer


neuen Studie der Grünen im Europaparlament, "Landjäger - Europas Äcker im
Ausverkauf", von einem "schleichenden Prozess der Landkonzentration". Bauern
verlören zunehmend "den Boden, auf dem sie wirtschaften, unter ihren Füßen".

In Afrika und Asien ist dies längst in großem Stil geschehen. Entwicklungshelfer
beklagen seit Jahren das einseitige Geschäft, bei dem diejenigen gewinnen, die
sich möglichst viel Land "krallen": die internationalen Investoren.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Wie viel Land wirklich verkauft wird, können auch Experten nur schätzen. Viele
Verträge werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht. Die Website
Landmatrix.org - unterstützt unter anderem von der staatlichen Deutschen
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) - stellt seit 2012 Daten
über Landverkäufe in der ganzen Welt zur Verfügung. Danach sind seit der
Jahrtausendwende mindestens 56 Millionen Hektar (Stand September 2015) Land
verkauft worden.

Das ist rund eineinhalb Mal die Fläche der gesamten Bundesrepublik. 70 Prozent
der Geschäfte wurden in Afrika gemacht. Und auf rund 39 Millionen Hektar haben
die Investoren bereits angefangen, im großen Stil Agrarprodukte zu produzieren,
die nur zum Teil als Lebensmittel genutzt werden.

Die britische Entwicklungshilfeorganisation Oxfam geht von einer sehr hohen


Dunkelziffer aus. Sie spricht gar von mehr als 200 Millionen Hektar Land, die in
den vergangenen Jahren in Entwicklungsländern verkauft oder langfristig
verpachtet worden sind. Die meisten Stücke waren dabei zwischen 10.000 und
200.000 Hektar groß. Zum Vergleich: Die landwirtschaftliche Nutzfläche aller 27
EU-Staaten zusammen beträgt rund 185 Millionen Hektar.

Die Hektarpreise steigen

Die Gründe für den Run auf Land sind vielschichtig. Weltweit wächst sowohl die
Zahl der Nahrungsmittelkonsumenten als auch der Fleischkonsum. Beides führt
dazu, dass mehr Ackerflächen benötigt werden. Länder wie die arabischen Staaten
oder China kaufen inzwischen Flächen im Ausland zu, um die eigene Bevölkerung zu
versorgen. Industriestaaten wie die USA und Deutschland fördern den Verbrauch
von Biotreibstoffen, was zusätzliche Flächen beansprucht.

Gleichzeitig verkarsten immer mehr ehedem fruchtbare Flächen aufgrund des


Klimawandels. Hinzu kommt das Geld von Investoren aus aller Welt, die nach der
weltweiten Finanzkrise im Jahr 2008 nach inflationssicheren Anlagealternativen
suchen. All das lässt die Hektarpreise steigen.

Landgrabbing sei mittlerweile ein globales Problem, heißt es in einer ersten


umfassenden Studie "Global land and water grabbing", die Wissenschaftler der
Polytechnischen Universität Mailand und der University of Virginia 2013 im
Journal der National Academy of Sciences of the United States of America
veröffentlicht haben.

Die Wissenschaftler zählten 62 Länder, in denen Land gekauft wurde, die


Investoren kamen aus 41 Ländern. Rund 90 Prozent der Flächen wurden in 24
Ländern gekauft. Den Autoren zufolge ist mittlerweile fast die Hälfte des
kultivierten Landes auf den Philippinen in die Hände von ausländischen
Investoren übergegangen. Im armen Sierra Leone sind es mehr als 40 Prozent.

Einheimische werden übergangen

Ein Kernproblem liegt darin, dass die Bevölkerung vor allem in


Entwicklungsländern immer noch systematisch übergangen wird. Die Bundesregierung
will die Regierungen dort deshalb stärker in die Pflicht nehmen.

"Diese müssen sich der Herausforderung stellen, das verantwortungslose


'Grapschen' von Land zu verhindern und stattdessen das Investitionsinteresse in
eine Richtung zu lenken, bei der es nur Gewinner, aber keine Verlierer gibt",
schrieb 2013 der damalige Staatssekretär im Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Hans-Jürgen Beerfeltz, in
einem BMZ-Strategiepapier.

Auch der Chef der staatlichen Deutschen Investitions- und


Entwicklungsgesellschaft (DEG), Bruno Wenn, ist sich der Risiken und Chancen der
Finanzierung von großen Flächen in Entwicklungsländern bewusst. Da sei in den
letzten Jahren viel passiert, was kritikwürdig gewesen sei. Doch "nicht jede
Investition in Afrika ist Landgrabbing", sagt Wenn.

Natürlich müsse beim Landkauf aber die ansässige Bevölkerung einbezogen werden,
und deren Recht müsse gewahrt werden. "Wir finanzieren nur, wenn nachgewiesen
wird, ob ökologische und soziale Standards eingehalten werden."

Landhandel statt Müllermilch

Carl Heinrich Bruhn sagt, er habe genau das im Blick. Der einstige Chef von
Müllermilch hat sein Büro im ehemaligen Internationalen Handelszentrum der DDR
und schaut aus riesigen Fenstern auf den Berliner Dom und den Fernsehturm. Bruhn
ist Vorstandsvorsitzender der Amatheon Agri Holding N.V., an der der ehemalige
Vorzeigeunternehmer Lars Windhorst über seine Investmentgesellschaft Sapinda
beteiligt ist.

Amatheon hat in den vergangenen Jahren viel Geld vor allem in Sambia investiert.
Der studierte Landwirt Bruhn erklärt, Amatheon verhandele direkt mit den
einzelnen Grundbesitzern in Sambia und kaufe das Land "zu fairen Preisen". Man
habe Vertreter der Bewohner und der Regierung in die Gespräche eingebunden.
Mittlerweile verfügt Amatheon nach eigenen Angaben über 40.000 Hektar in Sambia
- Tendenz weiter steigend.

Für die lokale Bevölkerung bringt das aber wohl nicht allzu viel. Nach einer
Studie der Ernährungsexperten von Fian leiden in Sambia heute mehr Menschen an
Hunger als noch zur Jahrtausendwende. "Sambias Wirtschaftswachstum hat zu keiner
signifikanten Verringerung der Armut beigetragen", bestätigt die Weltbank.

"Feldtage" für die Bauern

Bruhn, eckige Brille, breite Schultern, entrollt auf seinem Besprechungstisch


großformatige Flurpläne des Gebiets der "Big Concession" in Sambia - ein
Landstrich, den die britischen Kolonialherren einst als Farmland auswiesen.
Bewirtschaftet wurde er allerdings nie.

Als deutscher Unternehmer in Afrika will Bruhn Vorbild sein, sich abgrenzen zum
Beispiel von den Chinesen, die massenhaft Land kaufen und Rohstoffe und
Lebensmittel aus dem Schwarzen Kontinent herausholen. Er will mit seinen Waren
auch die Mittelschicht in Sambia beliefern. Außerdem halte sich Amatheon Agri an
die Standards von UN und Weltbank. "Wir binden auch Hilfsorganisationen in
unsere Arbeit ein."

Gemeinsam mit dem Bildungsministerium verbessert das Unternehmen zum Beispiel


Schulen in der Gegend. Bauern lernen auf "Feldtagen" über neue Anbaumethoden,
können in einem Shop Saat- und Düngemittel kaufen und ihre eigenen Erzeugnisse
an Amatheon verkaufen - "zu fairen Marktpreisen", betont das Unternehmen.

Regelmäßig überwacht Amatheon auch, dass die Bewässerung der neuen Anbaugebiete
den Grundwasserspiegel nicht beeinträchtigt. "Wir haben derzeit allerdings das
Luxusproblem, dass es in der Big Concession eher zu viel als zu wenig Wasser
gibt", sagt Bruhn.

Wettlauf um Wasser

Das ist in der Tat ein Luxusproblem. Andernorts ist der weltweite Wettlauf um
Land auch ein Wettlauf um Wasser. Rund 86 Prozent des verfügbaren Wassers werden
weltweit für die Produktion von Nahrungsmitteln verbraucht. Und das, obwohl nur
rund 19 Prozent der globalen landwirtschaftlichen Fläche bewässert werden. Diese
bewässerte Fläche ist dann allerdings besonders produktiv und wirft rund 40
Prozent der in der Welt erzeugten Nahrungsmittel ab.

Wenn Investoren neu gewonnenes Ackerland bewässern, dann fehlt das Wasser
allerdings oftmals anderswo. So ist zum Beispiel Kleinbauern am Blauen Nil im
Sudan ihr Land vertrocknet, weshalb sie mittlerweile von internationalen
Nahrungsmittelhilfen abhängig sind. Gleichzeitig exportiert das Land wie auch
Äthiopien Agrargüter, die von Großfarmen produziert worden sind, schreiben die
Autoren der Gemeinschaftsstudie aus Mailand und Virginia.

Institutionen wie die Weltbank oder auch das UN-Welternährungsprogramm FAO


versuchen derzeit, Landerwerb als Chance für kapitalschwache Länder und
verantwortungsvolle Investoren salonfähig zu machen. Der Landverkauf solle
verknüpft werden etwa mit der Schaffung von neuen Jobs für die lokale
Bevölkerung und dem kontrollierten Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln,
heißt es in einem freiwilligen Code of Conduct. Damit sollen
Ernährungssicherheit und nachhaltige Entwicklung gestärkt werden.

Bauern werden unfreiwillig umgesiedelt

In Deutschland setzen sich vor allem das katholische Hilfswerk Misereor, Brot
für die Welt und Oxfam dafür ein, das weltweite Landgrabbing zu stoppen. Sie
fordern von der Bundesregierung, dass Unternehmen wie zum Beispiel
Investmentfonds, die der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen, ihre Aktivitäten
in diesem Bereich offenlegen sollen. Zwar seien zusätzliche Investitionen "in
die Landwirtschaft dringend geboten". Aber wenn das Menschenrecht auf Nahrung
verletzt werde, müsse man gegensteuern. Oxfam wird konkreter. Eine vorherige
Konsultation der Betroffenen vor dem Landerwerb durch ausländische Investoren
sei zwingend erforderlich. "Die Land- und Wasserrechte von armen Menschen müssen
gestärkt werden, so wie es in den freiwilligen Leitlinien zur Landnutzung des
UN-Welternährungsausschusses festgelegt ist", sagt Agrarexpertin Marita
Wiggerthale.

Die Hilfsorganisation Brot für die Welt weiß, wie oft diese hehren Ziele in der
Praxis eklatant verletzt werden. Beispiel Mali: Im fruchtbaren Nigerdelta hat
Libyen für 50 Jahre rund 247.000 Hektar Land für den Anbau von Reis gepachtet.
Der Deal wurde hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Die betroffenen Bauern
aber wurden in Gegenden ohne gesicherte Wasserversorgung umgesiedelt. Ein
unfreiwilliger, schlechter Tausch.

Beispiel Sierra Leone: Das Land rangiert laut Oxfam weltweit im unteren Viertel
bei dem Indikator Rechtsstaatlichkeit und in der unteren Hälfte bei den
Indikatoren Mitspracherecht, Rechenschaftspflicht, staatliche Regulierung und
Korruptionskontrolle. In den letzten zehn Jahren wurde in dem westafrikanischen
Staat ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche verkauft.

Deutlich unter Marktpreis

Dies ist kein Zufall. Einer Oxfam-Untersuchung zufolge kauften viele Investoren
gezielt in Ländern mit schlechter Regierungsführung. Dort winken besonders hohe
Gewinne. Drei Viertel von 56 Ländern, in denen im Zeitraum von 2000 bis 2011
Landgeschäfte getätigt wurden, schnitten bei den rechtlichen Standards besonders
schlecht ab. "Dort, wo Menschen nicht die Möglichkeit haben, ihre Rechte
einzufordern, können Investoren schnell und billig Land pachten oder kaufen",
erklärt Oxfam-Agrarexpertin Wiggerthale.

Misereor hat zwölf Verträge zwischen afrikanischen Staaten und Investoren


untersucht. Sechs davon waren gerade einmal zehn Seiten lang. Verkauft wurden
jeweils mehrere Zigtausend Hektar. Die betroffene Bevölkerung wurde nur
sporadisch befragt, in fast allen Fällen wurde das Land deutlich unter
Marktpreis verpachtet, und bei drei Verträgen wurde es laut Misereor gar
kostenlos abgegeben.

Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere rückt immer wieder der
Landmaschinenhersteller Agco ins Rampenlicht: Afrikas Landwirtschaft bleibe weit
hinter ihren Möglichkeiten zurück. Tatsächlich hat der Kontinent in diesem
Sektor die niedrigste Produktivität der Welt. Nach Zahlen der Afrikanischen
Entwicklungsbank liegt der Output pro Arbeiter in der Landwirtschaft - unter
anderem wegen fehlender Bewässerungssysteme - nur bei der Hälfte des weltweiten
Durchschnitts.

Die Lösung liegt auf der Hand, davon zumindest ist Agco-Chef Martin Richenhagen
überzeugt: Sie heißt größere Farmen und mehr Technik. Das freilich ist nicht
ganz uneigennützig, bescherte es doch auch seinem eigenen Konzern eine steigende
Nachfrage.

Obergrenzen für den Erwerb von Agrarland

Schützenhilfe bekam Richenhagen auf einem Kongress vor zwei Jahren in Berlin von
höchster Stelle: Horst Köhler, Ex-Bundespräsident und Afrika-Kenner, warb dort
in seiner Rede für eine industrielle Revolution der Landwirtschaft auf dem
Schwarzen Kontinent. Er preist sie geradezu als Allheilmittel: Die industrielle
Landwirtschaft könne zum "Schlüsselfaktor werden für die Lebensmittelsicherheit
des Kontinents, für Wachstum, Armutsbekämpfung, Umweltschutz, eine gerechtere
Vermögensverteilung und mehr Arbeitsplätze mit angemessenen Einkommen".

Nebenbei wirbt Köhler für ausländische Investitionen in Afrika. Industrieländer


hätten das Wissen und die Technologie, um in großem Stil Nahrungsmittel
produzieren zu können. Hunger auf der Welt dürfe es da eigentlich nicht mehr
geben.

Doch industrielle Effizienz ist nicht alles. In der Landwirtschaft gilt es auch,
kleinere Familienbetriebe zu schützen. Davon zumindest sind viele Europäer
überzeugt. Anfang 2015 verfasste der Europäische Wirtschafts- und
Sozialausschuss (EWSA) eine Stellungnahme mit dem vielsagenden Titel: "Jagd nach
Agrarland - ein Alarmsignal für Europa und eine Bedrohung für bäuerliche
Familienbetriebe".

Das beratende Gremium, in dem unter anderem Arbeitgeber, Gewerkschaften,


Landwirte und Verbraucher vertreten sind, kommt zu dem Schluss: Den
Mitgliedsstaaten müsse es erlaubt sein, Obergrenzen für den Erwerb von Agrarland
festzulegen. Schützt die Kleinen, heißt der Tenor: Öffnet die Türen für
diejenigen, die allzu groß denken, nicht sperrangelweit.

UPDATE: 19. Januar 2016

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Mittwoch 27. Januar 2016 7:41 AM GMT+1

Korruptionsbericht;
Wo die Welt ein bisschen unbestechlicher geworden ist

AUTOR: Tobias Kaiser

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 956 Wörter

HIGHLIGHT: Transparency lobt die Entwicklung in Griechenland: Nach


Gesetzesänderungen ist Bestechung dort seit 2012 stark zurückgegangen. In einem
anderen Krisenland hat sich die Lage hingegen verschlimmert.

Korruption bleibt weltweit ein großes Problem, aber 2015 war offenbar ein gutes
Jahr im Kampf gegen Machtmissbrauch und Bestechung. Das ist das Ergebnis der
jüngsten Untersuchung der Organisation Transparency International (TI): Demnach
war die Zahl der Länder, in denen die Korruption 2015 zurückging höher als die
Zahl der Länder, in denen das Problem noch größer wurde. Das ist ein Ergebnis
der aktuellen Ausgabe des vielbeachteten Index der Korruptionswahrnehmung.

Die Länder, die die Korruption in den vergangenen vier Jahren am


eindrucksvollsten zurückgedrängt haben, sind Großbritannien, der Senegal - und
Griechenland. Das Krisenland galt noch 2012 als der korrupteste Staat Europas.
"Die Reformen, die in der Krise auf den Weg gebracht wurden, greifen", sagt Finn
Heinrich, Forschungsdirektor bei Transparency International (TI). "Die
grassierenden Formen der Korruption, die bis 2011 gang und gebe waren, sind
weniger geworden." Die Korruption im Gesundheitswesen sei beispielsweise stark
zurückgegangen.

Die Regierungen hätten viel dafür getan, so habe die letzte Regierung
beispielsweise einen Nationalen Koordinator im Kampf gegen die Korruption
ernannt und unter der gegenwärtigen Regierung wurde sogar ein
Anti-Korruptions-Minister ernannt. Zudem werde Korruption, Geldwäsche und vor
allem Steuerhinterziehung weitaus aggressiver verfolgt als noch vor einigen
Jahren.

Allerdings sei die Situation in Griechenland immer noch schwierig, sagt


Heinrich: "Die Situation in Griechenland hat sich zwar stark verbessert, aber im
europäischen Vergleich ist die Korruption dort immer noch ein großes Problem. Um
den Anschluss an den Rest Europas zu finden, muss noch viel getan werden."

Europäisches Schlusslicht: Bulgarien

Tatsächlich landet Griechenland im europäischen Vergleich auf dem viertletzten


Platz. Größer ist die wahrgenommene Korruption nur noch in Rumänien, Italien -
und dem europäischen Schlusslicht Bulgarien. Noch 2012 galt Griechenland als das
korrupteste Land Europas, weil es bei dem TI-Vergleich das schlechteste Ergebnis
aller Mitgliedsländer der Europäischen Union erzielt hatte.
Auch in anderen Krisenländern steht es nicht zum Besten: Ausgerechnet Spanien,
das bislang als vorbildlich bei der Reform seiner Wirtschaft galt, ist seit der
letzten TI-Untersuchung stark zurückgefallen. In kaum einem anderen Land hat die
Korruption in den vergangenen vier Jahren so stark zugenommen.

"Die politische Elite in Spanien hat sich die Korruptionsbekämpfung nicht auf
die Fahnen geschrieben", sagte TI-Experte Heinrich. "Es gibt Korruptionsskandale
in allen Parteien und es kommen zwar mehr Fälle an die Öffentlichkeit als
früher, aber sie werden nicht angegangen und die Korruption bleibt straffrei."
Die Verquickung von Wirtschaft und Politik sei problematisch, vor allem, wenn es
um das Thema Parteienfinanzierung gehe.

Nach dem Ausbruch der Schuldenkrise im Euro-Raum im Jahr 2010 hatten Beobachter
mit zunehmender Korruption in den Krisenländern gerechnet: Angesichts der
knapper werdenden Ressourcen hatten die Experten einen härteren Verteilungskampf
erwartet. Tatsächlich ist das Bild fünf Jahre später durchwachsen: In Irland,
Griechenland und Italien hat sich die Situation seit 2012 leicht verbessert,
während es in Portugal keine Veränderung gab und die Korruption auf Zypern
offenbar zugenommen hat.

Deutschland liegt vor Luxemburg und den USA

Deutschland schneidet bei dem internationalen Vergleich traditionell sehr gut


ab; im vergangenen Jahr hat sich die Korruptionswahrnehmung hierzulande sogar
zum dritten Mal in Folge leicht verbessert. Seit 2011 ist Deutschland in der
internationalen Rangliste von Platz 14 auf Platz 10 gestiegen und liegt damit
unter den wohlhabenden Volkswirtschaften im globalen Mittelfeld noch vor Staaten
wie Luxemburg, Österreich, Australien und den USA.

Gleichwohl bleibt nach Einschätzung von TI hierzulande noch einiges zu tun, um


die Korruption einzudämmen. Zwar wurde Politikern, die in die Wirtschaft
wechseln eine gesetzliche Zwangspause verordnet und die UN-Konvention gegen
Korruption wurde Ende 2014 auch in Deutschland ratifiziert - immerhin elf Jahre
nach ihrer Verabschiedung auf UN-Ebene.

"Wenn die Korruptionsbekämpfung der Politik wirklich am Herzen läge, dann hätte
sie bei der UN-Konvention und der Karenzzeit nicht so lange herum lawiert", sagt
allerdings Heinrich.

Auch beim Thema Hausausweise für Lobbyisten im Bundestag habe sich die Politik
lange quergestellt. Grundsätzlich sei beim Thema Lobbying in Deutschland
erheblicher Bedarf an mehr Transparenz und strengeren Regeln. In diesem Bereich
habe sich die Wahrnehmung verändert, gibt der TI-Expert zu: Vor zehn Jahren habe
man Lobbyismus noch nicht unter Korruptionsgesichtspunkten diskutiert; das
ändere sich gerade. "Auch in Länder, die in unserer Rangliste ganz oben landen,
sind bei weitem nicht ohne Korruption", warnt Forscher Heinrich.

Die drei Unbestechlichen

Kaum überraschend landen an der Spitze der Rangliste in schöner Regelmäßigkeit


vor allem nordische Länder und vergleichsweise kleine wohlhabende
Volkswirtschaften: Eine besonders ausgeprägte Unbestechlichkeit bescheinigen die
Experten von TI den Angestellten in der öffentlichen Verwaltung in Dänemark,
Finnland und Schweden.

Am verheerendsten ist die Situation laut der Analyse in Afghanistan, Nordkorea


und Somalia - auch diese Länder landen seit Jahren am Ende der Rangliste. Dort
finden sich auch Länder wie der Südsudan, der Sudan und Libyen, in denen blutige
Konflikte der Korruption den Boden bereiten.

TI fasst in dem Index die Ergebnisse aus 13 internationalen Erhebungen zusammen,


in denen Experten zu Korruption in den betroffenen Ländern befragt werden - etwa
von der Weltbank, dem World Economic Forum oder der Bertelsmann-Stiftung.

UPDATE: 27. Januar 2016

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Freitag 29. Januar 2016 11:32 AM GMT+1

Rohstoffe;
Wie Öl die Macht zwischen den Nationen neu verteilt

AUTOR: Olaf Gersemann und Holger Zschäpitz

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 948 Wörter

HIGHLIGHT: Kaum einer kennt die Öl-Welt so gut wie Daniel Yergin. Der
Bestsellerautor und Ökonom hat viele Entwicklungen vorhergesagt. Auch in der
aktuellen Preiskrise wagt er eine Prognose. Und die überrascht.

Jetzt passiert genau das, was Daniel Yergin gesagt hat. Der Ölpreis ist in den
vergangenen sechs Tagen um mehr als 20 Prozent in die Höhe geschnellt. Statt 27
Dollar kostet das Fass der Sorte Brent wieder deutlich mehr als 34 Dollar und
bewegt sich in Richtung 45 bis 50 Dollar. Yergin rechnet mit einem solchen Preis
für Ende 2016.

"Ein Preis unter 30 Dollar ist kein nachhaltiger Preis", sagt der Energieexperte
der Consultingfirma IHS der "Welt". "Niemand kann bei diesem Preis investieren."
Firmen und Staaten hätten bereits ihre Investitionen für die kommenden vier
Jahre um 1,8 Billionen Dollar zurückgefahren, eine Reduktion um 40 Prozent.

Yergin kennt sich beim Öl aus wie kaum ein anderer. Er sieht momentan eine
pessimistische Übertreibung. Gerade an den Energiemärkten würden die Akteure
nicht selten zu Extremen neigen. "Als Öl bei 100 Dollar stand, dachten alle, es
kann gar nicht unter diese Marke fallen, es gibt ja das Ölkartell Opec, das die
Preise stützt. Dann mussten die Investoren, Konzerne und Ölförderländer
schmerzhaft erfahren, dass die Opec nicht mehr existent ist und die Notierungen
fielen ins Bodenlose."

Tatsächlich kam es zu einem der größten Preisabstürze in der Geschichte des Öls.
Die Notierungen fielen von durchschnittlich 99 Dollar im Jahr 2014 auf 53 Dollar
2015 und knapp 32 Dollar im laufenden Jahr. Mit massiven Folgen für die
finanzielle Balance der Welt. Allein im vergangenen Jahr wurde ein Wohlstand von
1,61 Billionen Dollar von den Rohstoff produzierenden Ländern zu den
Ölverbraucherstaaten umverteilt.

Russland und Venezuela die großen Verlierer

"Ich würde nicht von neuer Weltordnung sprechen, aber es werden die
Machtpositionen der Staaten neu balanciert", sagt Yergin. Als größten Aufsteiger
hat der Experte Indien ausgemacht. Auch dank der niedrigeren Energiekosten werde
die Volkswirtschaft in diesem Jahr eine der am schnellsten wachsenden in der
Welt sein. "Ich habe vor drei Wochen das Land bereist und das sah sehr gut aus."
Indien müsse jedoch seine Volkswirtschaft noch effizienter gestalten und eine
Bürokratie aufbauen, die ins 21. Jahrhundert passt.

Die Einsparungen durch den niedrigeren Ölpreis beziffert er auf 60 Milliarden


Dollar. Aber auch die Großverbraucher Japan und China würden profitieren. Als
großen Verlierer in der Neuverteilung der Macht sieht er Russland und Venezuela
und nennt das ein "Desaster". Kaum ein anderer Experte hat einen so intimen
Einblick in die Verflechtungen zwischen Politik und Energiemärkten.

In seinem preisgekrönten Buch "The Prize" zeigt er, wie der Aufstieg und Abstieg
von Ländern auch am Öl hängt. So geht ihm zufolge die Abhängigkeit Europas vom
Nahen Osten auf eine Entscheidung des ehemaligen britischen Premiers Winston
Churchill zurück. Im Jahr 1911, damals noch im Amt des Marineministers, rüstete
er kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs die britische Kriegsflotte von Kohle-
auf Ölfeuerung um. Das erhöhte zwar den Aktionsradius der Royal Navy erheblich,
allerdings war Europa von nun an abhängig von iranischem und später irakischem
Öl. Und das ist bis heute so. Auch die Machtverschiebung zwischen den Konzernen
und den Regierungen hat Yergin minutiös nachgezeichnet.

Waren anfänglich die Ölmultis die mächtigen Player der Welt, änderte sich das
nach der Gründung des Energiekartells Opec im Jahr 1960. Spätestens der
militärische Coup von Muammar al-Gaddafi in Libyen im Jahr 1969 verschob die
Macht von den Konzernen zugunsten der Ölförderstaaten. Klar, dass alle Welt den
Rat des Experten sucht.

Das gilt umso mehr, als der Ölpreis momentan nicht allein von Angebot und
Nachfrage abhängt, sondern auch von geopolitischen Verwicklungen im Nahen Osten.
Der diplomatische Streit zwischen dem Iran und Saudi-Arabien hat dazu geführt,
dass die Preise weiter gefallen sind. Denn keiner der beiden Kontrahenten will
im Streit um die Vorherrschaft in der Region nachgeben und weniger Öl aus dem
Boden pumpen.

Fracker bald wieder im Geschäft

Vergangene Woche fuhr Yergin für IHS zum Treffen der globalen Wirtschafts- und
Politikelite nach Davos. Nicht weniger als 50 Teilnehmer des
Weltwirtschaftsforums hatten um Unterredungen gebeten. Yergin sagte allen zu.
Nur für die 30 Interviewanfragen von Reportern blieb dann keine Zeit mehr, er
beschied alle bis auf eine Handvoll abschlägig.

Die "Welt" traf Yergin, als das Forum fast schon vorüber war. Ein unscheinbarer
Mann mit schütterem Haar, der trotz Jetlags und gerade absolviertem
Meetingmarathon hellwach war. "Amerika gehört zu den Gewinnern", sagt Yergin.
All das Gerede vom Niedergang entbehre jeder Basis. Seit 2008 habe Amerika die
Produktion mehr als verdoppelt, kaum ein Experte habe das Potenzial der neuen
Fördertechnik des Frackings richtig vorausgesagt.

Yergin räumt mit dem Vorurteil auf, bei der Schieferölförderung würde es sich um
eine besonders teure Methode handeln, vergleichbar mit aufwendigen
Tiefwasserbohrungen oder der Förderung von kanadischen Ölsanden. "Ein Projekt in
tiefer See muss fünf bis zehn Jahre geplant werden und verschlingt
Investitionskosten von rund zehn Milliarden Dollar. Schieferölprojekte können
innerhalb von 120 Tagen entschieden werden und kosten vielleicht zehn Millionen
Dollar", sagt Yergin.

Außerdem könnten die Amerikaner dank Fracking die Produktion sehr sensibel an
die Preisveränderungen anpassen. Und bei rund 50 Dollar Ölpreis seien die
Fracker auch wieder im Geschäft. Das ist auch der Grund, warum Yergin nicht so
schnell mit einem Preisanstieg auf mehr als 100 Dollar rechnet. Am Ende der
Dekade werde das Öl in einer Spanne von 60 bis 80 Dollar notieren. Zumal nach
dem Ende der Sanktionen der Iran jede Förderkürzung in den USA mit seiner
zusätzlichen Produktion ausgleichen werde.

UPDATE: 29. Januar 2016

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Dienstag 16. Februar 2016 11:17 AM GMT+1

Idi Amin & Co.;


Warum Folter-Camps zu Touristenattraktionen werden

AUTOR: Florian Stark

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 870 Wörter

HIGHLIGHT: Mit 300.000 bis 400.000 Opfern verdiente sich Ugandas Diktator Idi
Amin in den 70ern den Titel "Schlächter von Afrika". Jetzt werden seine
Todeslager zu Magneten des "Dark Tourism".

Von Idi Amin Dada gibt es eine nette Geschichte. Als Großbritannien in den
70er-Jahren von Streiks und sozialen Unruhen erschüttert wurde, soll der
Staatspräsident von Uganda hundert Kilogramm Bananen auf die Insel geschickt
haben. Damit, so hieß es, wollte er der hungernden britischen Unterschicht seine
Solidarität erweisen.

Ob die Geschichte stimmt, steht dahin. Sicher ist nur, dass sich der Zynismus
von Idi Amin Dada nicht in derlei Späßen erschöpfte. Während der Herrschaft von
"Seiner Exzellenz, Präsident auf Lebenszeit, Feldmarschall Al Hadschi Doktor Idi
Amin Dada, VC, DSO, MC, Herr aller Tiere der Erde und aller Fische der Meere und
Bezwinger des Britischen Empires in Afrika im Allgemeinen und Uganda im
Speziellen", so sein vollständiger Titel, fanden zwischen 1971 und 1979 300.000
bis 400.000 Menschen den Tod. Die Zahl der Verstümmelten und Versehrten ist kaum
zu ermessen. Als Inbegriff des skrupellosen Gewaltherrschers ist Idi Amin in die
Geschichte des wahrlich nicht unblutigen postkolonialen Afrika eingegangen.

Heute zählt der zentralafrikanische Staat zwar immer noch zu den ärmsten Ländern
der Erde. Aber zumindest im Süden, um den Victoriasee, hat sich ein
internationaler Tourismus entwickelt. Zu seinen Anziehungspunkten gehören nicht
zuletzt die Folterkammern Idi Amins.

Der 1928 geborene Hilfskoch und Sergeant der britischen Kolonialtruppen und
Boxchampion des Landes hatte es nach der Unabhängigkeit Ugandas 1962 zum
Stabschef der Armee gebracht. Während einer Auslandsreise von Präsident Obote
putschte er sich 1971 an die Macht. Bald verschwanden Oppositionelle und
Intellektuelle in großer Zahl. Eines von Amins Foltercamps lag mitten in der
Hauptstadt Kampala.

"Hier verreckten bis zu 25.000 Menschen: Sie wurden erschossen, mit Knüppeln
totgeschlagen, mit Macheten zerhackt", sagt Allan Kakembo. Er ist Reiseführer
und hat sich auf eine besondere Art von Abenteuerreisen spezialisiert: "Dark
Tourism", Führungen in die blutige Vergangenheit Ugandas. Seit fünf Jahren
erklärt Kakembo Touristen, die zuvor Elefanten in der Serengeti bestaunt haben,
die dunkle Seite Afrikas.

In einem bunkerartigen Schacht wurden die Gefangenen durchs Wasser getrieben.


Das wurde anschließend unter Strom gesetzt. "Eine perfekte Methode, die Menschen
zu foltern und zu verhindern, dass sie flüchten", erklärt Kakembo das Grauen,
dem Idi Amin die Titel "Schlächter von Afrika" und "Afrikas Hitler" verdankte.
Um die Leichen zu entsorgen, wurden sie einfach den Krokodilen im Victoriasee
zum Fraß vorgeworfen.

Der Besuch von derartigen Folterstätten ist weltweit nur eine Nische des großen
Tourismusgeschäfts - aber eine wachsende. Immer mehr Menschen wollen etwa in den
Gedenkstätten Ruandas die Knochenberge des Völkermords von 1994 sehen oder in
der Nähe der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh durch die "Killing Fields"
der Roten Khmer laufen. Andere unternehmen Busreisen nach Tschernobyl, die
Hartgesottenen fahren direkt in den Irak oder nach Afghanistan.

Der Brite Geoff Hann bietet solche "Abenteuerreisen" an. Seine Firma Hinterland
Travel hat sich auf den Irak und Afghanistan spezialisiert und brüstet sich
damit, im Jahr 2015 neun Reisen in den Nordirak auf die Beine gestellt zu haben
- "trotz der chaotischen Zustände, die gerade in der Region herrschen". Es gehe
ihm eigentlich um die Kultur, sagt Hann, der schon seit Anfang der 70er-Jahre im
Geschäft ist. Dass jetzt immer mehr Wagemutige kommen, die einmal im Leben
Pulverdampf riechen möchten, stört ihn aber nicht: "Das Geschäft boomt nach ein
paar Jahren Flaute endlich wieder."

Die Terrorherrschaft Idi Amins, die erst gut drei Jahrzehnte vorbei ist, wird in
Uganda zumeist unter den Teppich gekehrt. In dem düsteren Schacht in Kampala
gibt es denn auch keine einzige Schautafel, die das Unfassbare erklärt. Es wirkt
alles so, als seien die Opfer gerade erst fortgeschafft worden.

Seit ein paar Jahren ist der Abstecher in diese ehemalige Hölle jedoch ein
fester Bestandteil von Tagesausflügen. "Nachdem der Idi-Amin-Film ,Der letzte
König von Schottland' in die Kinos kam, ging es plötzlich los", erinnert sich
Kakembo. "Vor allem Touristen aus Europa und Amerika wollten sehen, wo der
Schlächter sein Unwesen trieb."

Amin, der sich zunächst dem Westen zuwandte, suchte unter den Bedingungen des
Kalten Krieges bald sein Heil im sowjetischen und arabischen Fahrwasser. Im Juni
1976 geriet er unfreiwillig ins Zentrum des Weltinteresses, als palästinensische
und deutsche Terroristen ein Flugzeug der Air France mit 105 Geiseln zur Landung
auf dem Flughafen Entebbe zwangen. Als eine israelische Spezialeinheit die
Geiseln befreite und die embryonale Luftwaffe Ugandas nebenbei zerstörte, stand
Amin als der Blamierte da. Seine Rache traf zahlreiche Kenianer, weil Kenia die
Aktion logistisch unterstützt hatte.

Erst als der Machtrausch Amin 1978 dazu trieb, die Invasion Tansanias zu
befehlen, geriet seine Herrschaft ins Wanken. 1979 eroberten tansanische und
ugandische Guerillaverbände Kampala. Amin floh ins Exil. Die Machthaber von
Libyen, Irak und Saudi-Arabien bewiesen nacheinander ihre Solidarität mit
"Afrikas Hitler" und gewährten ihm Gastfreundschaft. Im saudischen Dschidda ist
Amin 2003 gestorben. In einem Krankenhausbett.

UPDATE: 16. Februar 2016

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Montag 29. Februar 2016 7:40 AM GMT+1

"Immun";
Woher die Angst vor dem Impfen wirklich kommt

AUTOR: Peter Praschl

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1692 Wörter

HIGHLIGHT: An den Masern sind im 20. Jahrhundert mehr Kinder gestorben als an
jeder anderen Krankheit. Welche Eltern können da gegen Impfschutz sein? Viel zu
viele. Und nicht nur die Ungebildeten unter ihnen.

Als 1721 in Boston eine Pockenepidemie ausbrach, bat der puritanische Geistliche
Cotton Mather einen Arzt, bei seinem Sohn und zwei Sklaven ein Verfahren namens
Variolation zu erproben, von dem ihm sein libyscher Sklave Onesimus erzählt
hatte: Wenn man Gesunde mit abgeschwächten Pockenviren Erkrankter infiziert,
löst das bei ihnen Immunreaktionen aus, die sie vor einem schweren und oft
tödlichen Krankheitsverlauf bewahren.

Nachdem die ersten drei Patienten wieder gesund wurden, impfte der Arzt weiter,
und Mather predigte, "die Variolation sei ein Geschenk Gottes, was damals eine
derart unpopuläre Ansicht war, dass eine Brandbombe durch sein Fenster flog. Die
mitgelieferte Nachricht lautete: 'Cotton Mather, du Hund! Verflucht sollst du
sein! Jag dir doch lieber gleich Feuer in die Adern!'"

Das Argument vom Impfschaden

Die uralte Skepsis, an die die amerikanische Essayistin Eula Biss in ihrem
fulminanten Buch "Immun" erinnert, ist nicht ausgestorben. Im Herbst 2014
brachen sowohl in Kalifornien als auch in Deutschland die Masern aus, eine
Krankheit, die im 20. Jahrhundert mehr Kindern das Leben gekostet hat als jede
andere und an der niemand mehr leiden müsste, weil es seit Jahrzehnten eine
verlässliche Schutzimpfung gibt. Sie ist sicher, Nebenwirkungen und Impfschäden
treten sehr viel seltener auf als Komplikationen im Fall einer Infektion.

Welche Eltern würden ihren Kindern diesen Schutz vorenthalten? Viel zu viele,
und auch in Deutschland sind es nicht die Ungebildeten und Nachlässigen unter
ihnen. "Eine Analyse von Daten der US-Gesundheitsbehörde CDC aus dem Jahr 2004
zeigt, dass nicht geimpfte Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit weiß sind,
eine eher ältere, verheiratete Mutter mit akademischer Ausbildung haben und in
einem Haushalt leben, der ein Einkommen von 75.000 US-Dollar oder mehr aufweist
- wie mein Kind."

Infiziert durch Unvernunft

Masernepidemien sind in unserer wissenschaftlich aufgeklärten Gegenwart ein


Symptom für eine zweite Masseninfektion - durch Unvernunft. Für sie müssen auch
die Kinder vernünftiger Eltern büßen: "Man denke beispielsweise an diesen nicht
geimpften Jungen aus San Diego, der 2008 mit Masern von einer Reise in die
Schweiz zurückkam und seine beiden Geschwister, fünf Schulkameraden und vier
Kinder im Wartezimmer seines Arztes ansteckte. Drei dieser Kinder waren noch
Babys und zu klein für die Impfung, eines davon musste ins Krankenhaus."

Solange ein allgemeiner Impfzwang nicht durchsetzbar ist, steht Medizinern nur
ein Weg offen: Aufklärung darüber, wie notwendig und wie unschädlich Impfungen
sind. Doch sie findet zu oft kein Gehör - auch weil sie herablassend statt
fürsorglich auftritt, auf archaische Ängste nicht eingeht und eine Sprache
spricht, die die Herzen nicht erreicht.

Die Kulturgeschichte der Impfangst

Biss geht einen anderen Weg. Ihr Text ist ein ungemein dichtes Gewebe, das sich
aus vielen Quellen speist: Ergebnisse der Immunologie, Kulturgeschichte,
soziologische Studien, ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines Kleinkindes,
Gespräche mit anderen Eltern, selbst Vampirliteratur. Dennoch verliert der Text
an keiner Stelle seine Kohärenz und nie sein Ziel aus den Augen - die
Ängstlichen davon zu überzeugen, ihren Widerstand aufzugeben.
Anders als die Rationalisten urteilt Biss aber nicht von außen und von oben
herab, sondern kriecht tief in die Ängste der Impfgegner hinein, infiziert sich
gleichsam mit ihnen, damit das Denken die Erreger der Unvernunft besser
bewältigen kann.

Wer ihren eleganten, in alle möglichen Richtungen denkenden Essay liest, erfährt
nicht nur einiges über Infektionskrankheiten und deren Eindämmung, sondern viel
über die Ängste der Gegenwart. Es sind all diese Qualitäten, die dafür gesorgt
haben, dass das Buch in Amerika euphorisch besprochen wurde, auf vielen
Jahresbestenlisten auftauchte und sowohl von Bill Gates als auch von Mark
Zuckerberg empfohlen wurde.

Was also ist der Grund für Impfskepsis? Paradoxerweise die Furcht, für das
eigene Kind nicht die besten Entscheidungen zu treffen. Eltern nehmen am Impfen
vor allem dessen Gewalt wahr: "Da durchstößt eine Nadel die Haut - ein so
grundstürzender Vorgang, dass manche schon bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen
-, und eine fremde Substanz wird direkt ins Fleisch gespritzt. Die Metaphern,
die diesen Vorgang umschreiben, sind überwiegend angstvoll konnotiert, und fast
immer schwingt in ihnen das Verletzende, Verfälschende und Verunreinigende mit."

Ohnehin bewegen sich Mütter in einer Landschaft, in der unablässig vor Gefahren
gewarnt wird und "in der so alltägliche Gegenstände wie Kissen oder Decken ohne
Weiteres in der Lage sind, ein Neugeborenes umzubringen."

So beginnen die Impfskeptiker, ihre eigenen Rechnungen anzustellen. Warum dem


behördlichen Impfkalender folgen? Warum gegen alles impfen? Warum auch gegen
Hepatitis B, wenn Hepatitis B vor allem Arme mit unsolidem Lebenswandel befällt?
Warum gegen Masern, wenn so viele erzählen, sie hätten ihnen nicht geschadet?

"Die vordringlichste Sorge der Impfgegner gilt Menschen wie ihnen selbst",
konstatiert Biss, und dabei unterläuft ihnen ein folgenschwerer Fehler: Sie
nehmen ihre eigenen Kinder nur als verletzlich wahr. Sie wollen ihnen mögliche
Verletzungen und Folgeschäden ersparen und bedenken nicht, dass ihre ungeimpften
Kinder andere in Gefahr bringen können.

Die Dialektik der Aufklärung

Begünstigt wird dieser Irrtum von gesellschaftlichen Tendenzen, die auch ein
Ergebnis von Aufklärung sind. So glauben wir mündigen Patienten nicht mehr an
die Allwissenheit von Ärzten oder misstrauen der Pharmaindustrie. Biss: "In der
heutigen, manchmal mit dem 'Restaurant-Modell' beschriebenen Medizin ist der
ärztliche Paternalismus ersetzt worden durch den Konsumismus des Patienten. Der
Patient bestellt Tests und Behandlungen, die auf einer auf Marktforschung
basierenden Speisekarte stehen. Der Doktor, der im paternalistischen Modell ein
Vater war, ist heute ein Kellner."

Vor allem Alternativmediziner nähren die Fantasie, der Mensch ließe sich immer
auf sanfte Weise schützen und heilen:

"Fühlen wir uns verunreinigt, wird uns Reinigung geboten. Empfinden wir Mangel,
werden uns Ergänzungsmittel geboten. Fürchten wir uns vor Giftstoffen, wird uns
Entschlackung geboten. Es sind Metaphern im Umlauf, die unsere tief sitzendsten
Ängste ansprechen. Und die Sprache der alternativen Medizin hat verstanden, dass
wir, wenn es uns schlecht geht, etwas unzweideutig Gutes wollen. Kindern die
Möglichkeit zu geben, sich 'natürlich', also ohne Impfung, gegen ansteckende
Krankheiten zu immunisieren, ist für einige ein reizvolles Modell. Einen
Großteil seiner Attraktivität verdankt es der Annahme, dass Impfstoffe per se
unnatürlich sind."
Doch Natur ist so wenig "durch und durch philanthropisch" wie industriell
hergestellte Chemikalien von vornherein schädlich sind, erinnert uns Biss. Von
den Zusatzstoffen in Mehrfachimpfungen beispielsweise ist wiederholt
nachgewiesen worden, dass sie weder Autismus oder Allergien auslösen, wie es
viele Impfgegner behaupten, während die Muttermilch selbst kerngesunder Frauen,
die "allernatürlichste" Flüssigkeit, auch Aluminium, Farbverdünner, Pestizide
und Weichmacher enthalten kann.

Kurieren ließe sich Impfangst am ehesten durch die Konfrontation mit den
Krankheiten. Doch Pocken und Polio bekommt niemand mehr zu Gesicht, wie schwer
Folgeschäden von Masern sein können, erfährt man glücklicherweise eher durch die
Medien als aus der eigenen Umgebung. So kommt es, dass zu viele Menschen
glauben, eine Impfung sei "im Vergleich mit einer Krankheit die größere
Monstrosität".

Besserwisserische Aufklärung hilft nicht

Biss verschweigt nicht, dass auch die Korrektur dieses Irrtums eine Art Glauben
voraussetzt: "Die Vorstellung, dass der Eiter einer kranken Kuh, einem Menschen
in eine Wunde gestrichen, diesen Menschen immun macht gegen eine tödliche
Krankheit, ist heute ja fast immer noch so schwer zu glauben wie 1796. Wer
Wissenschaft betreibt, hält sich im Wunderland auf. Was Wissenschaftler offenbar
genauso empfinden wie Laien." Am Ende bleibt auch dem Rationalisten nichts
anderes übrig als zu vertrauen. Schon deswegen sollte man Impfskeptiker nicht
besserwisserisch behandeln.

Stattdessen könnte man ihnen geduldig erklären, was Wissenschaftler tun und
welchen Aufwand sie dabei treiben: "Ein Komitee aus 18 Fachleuten brauchte zum
Beispiel zwei Jahre für die Auswertung von 12.000 durch Experten begutachteten
Artikeln als Vorbereitung für den 2011 erschienenen Bericht über
Impfnebenwirkungen für das Institute of Medicine.

Zu dem Komitee gehörten eine Spezialistin für Forschungsmethodik, ein Experte


für Autoimmunerkrankungen, eine Medizinethikerin, eine Fachfrau für kindliche
Immunreaktionen, ein Kinderneurologe und eine zur Entwicklung des Gehirns
arbeitende Forscherin. Außer dass er die relative Sicherheit von Impfstoffen
bestätigte, machte der Bericht deutlich, welche Art von Zusammenarbeit
heutzutage notwendig ist, um die uns zugänglichen Informationen zu verarbeiten.
Niemand weiß für sich allein."

Das wichtigste Argument von Biss lautet: Es geht beim Impfen nicht ums einzelne
Kind, sondern um die Herde, die Gemeinschaft. Der Pieks in den Arm schützt jene,
die sich nicht impfen lassen können: Babys, die noch zu jung sind, Alte und
Immunschwache.

Erst "wenn genügend Menschen geimpft sind - und sei es mit einem relativ
ineffektiven Impfstoff -, fällt es Viren schwerer, von Wirt zu Wirt zu springen,
und ihre Verbreitung wird aufgehalten, was sowohl allen Nichtgeimpften als auch
denjenigen zugutekommt, die von der Impfung nicht immunisiert worden sind. Aus
diesem Grund kann die Wahrscheinlichkeit einer Masernerkrankung für einen
geimpften Menschen, der in einer mehrheitlich nicht geimpften Gemeinde wohnt,
größer sein als für einen nicht geimpften Menschen, der in einer mehrheitlich
geimpften Stadt lebt."

Das zu verstehen, setzt allerdings voraus, anzuerkennen, dass kein einziger


Körper sich abschotten kann, nicht vor den Gefahren der Natur, nicht vor den
Chemikalien, nicht vor anderen Körpern: "Wir alle sind Umwelt füreinander.
Immunität ist ein gemeinschaftlich geteilter Raum - ein Garten, den wir
gemeinsam hegen und pflegen."
UPDATE: 29. Februar 2016

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Dienstag 1. März 2016 9:51 AM GMT+1

US-Wahl;
Hillary kann schon mal den Champagner kalt stellen

AUTOR: Ansgar Graw

RUBRIK: DEBATTE; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 348 Wörter

HIGHLIGHT: Ihr schärfster Konkurrent verliert an Schwung: Der "demokratische


Sozialist" Bernie Sanders bekommt junge Sympathisanten nicht an die Wahlurne. So
scheint der Weg frei für die einstige First Lady.

Den Champagner öffnen sollte Hillary Clinton noch nicht - aber in den
Kühlschrank kann Bill die Flasche schon einmal packen. Ihr Triumph über den
"demokratischen Sozialisten" Bernie Sanders bei den Vorwahlen in South Carolina
ebnet der einstigen First Lady den Weg zur Nominierung durch ihre Partei. Denn
am Samstagabend fuhr Clinton nicht nur einen klaren Sieg ein, sondern auch vier
wichtige Erkenntnisse für den vorentscheidenden "Super Tuesday".

Erstens: Das Resultat von 73 zu 26 Prozent war eindeutiger als von jeder Umfrage
vorausgesagt. Künftig muss Clinton nicht mehr mit dem Vorwurf leben, die
Demoskopen überschätzten sie - eher scheint das Gegenteil der Fall.

Zweitens: Die Schwarzen, die mit einer rekordverdächtigen Wahlbeteiligung von 60


Prozent die Mehrheit der Wähler in South Carolina stellten, votierten zu 87
Prozent für Clinton - nicht einmal Barack Obama kam 2008 auf diesen Wert.

Und zu den zwölf Bundesstaaten, in denen am Dienstag gewählt wird, gehören mit
Georgia, Alabama und Virginia drei weitere Staaten mit hohem afroamerikanischen
Bevölkerungsanteil; Louisiana folgt vier Tage später und eine Woche darauf
Mississippi, der schwärzeste Staat überhaupt.

Hillarys Integrität scheint wiederhergestellt


Drittens: Bernie Sanders zieht bei seinen Wahlkampfauftritten die Jungwähler
magnetisch an. Aber zur Wahl gehen sie nicht - nur jeder sechste Wähler in South
Carolina war unter 30.

Und viertens: Laut Wählerbefragungen lag Clinton auch vorne bei Wählern, denen
die Ehrlichkeit eines Kandidaten das wichtigste Kriterium ist. Nach der
katastrophalen Informationspolitik der damaligen Außenministerin zum
Terrorangriff im libyschen Bengasi und zur Nutzung ihres privaten E-Mail-Kontos
ist ihr Image auf diesem Feld angeschlagen.

Am Dienstag geht es um 1004 Wahlleute für den Parteitag im Sommer. Clinton


braucht 1236 Delegierte und führt aktuell mit 544 zu 85 Delegierten. Umfragen
sagen Clinton Siege in neun Staaten voraus und nur eine Niederlage in Sanders'
Heimatstaat Vermont. Dessen "demokratischer Sozialismus" findet in den
Vereinigten Staaten wohl doch keine Heimat.

UPDATE: 1. März 2016

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Dienstag 8. März 2016 9:08 AM GMT+1

Flüchtlingsgipfel;
So soll die Türkei Europa aus der Patsche helfen

AUTOR: Christoph B. Schiltz und André Tauber, Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1297 Wörter

HIGHLIGHT: Der Türkei-EU-Gipfel geht in die Verlängerung. Gemeinsam mit der


Türkei will die EU die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen. Wieder einmal. Um
welche Maßnahmen geht es in den Verhandlungen?

Der Kanzlerin schwante nichts Gutes. Es würden "schwierige Verhandlungen", sagte


sie vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel am Montagmorgen. Und sie sollte recht
behalten. Die Staats- und Regierungschefs haben ihr Treffen, das doch eigentlich
nur einen halben Tag andauern sollte, verlängert. Es brauche mehr Zeit für die
Gespräche mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu, so die Begründung.
Der Sondergipfel soll endlich Ordnung in das Flüchtlingschaos bringen. Die Zahl
der Ankommenden aus der Türkei soll reduziert werden. Die Flüchtlinge sollen
auch nicht mehr wie bislang auf eigene Faust durch Europa ziehen, sondern nach
festen Regeln aufgenommen und verteilt werden. Das geht aus einem Entwurf der
EU-Gipfel-Erklärung vor, der der "Welt" vorliegt.

Wird man mit dem neuen Rettungsplan die Flüchtlingskrise beilegen können? Wir
haben die Maßnahmen einem Realitätscheck unterzogen.

Ziel 1 - Balkanroute für Flüchtlinge schließen

Der Plan: Die Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen in den Norden Europas
soll beendet werden. Darin sind sich die EU-Staaten einig. Nun wird gefragt, was
das eigentlich heißen soll. Im Entwurf der EU-Gipfel-Erklärung steht, die
Balkanroute sei "geschlossen". Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann begrüßte
das, Lob kam auch von Frankreichs Staatspräsidenten François Holland.

Das Problem: Der Text trifft nicht ganz die Realität. Zwar kontrolliert
Mazedonien die Grenze stärker als zuvor. Doch nach wie vor werden Hunderte von
Flüchtlingen in den Norden durchgelassen. Eine pauschale Abweisung an der Grenze
ist weder mit EU-Recht noch mit internationalen Regeln vereinbar. Auch deswegen
erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Widerstand gegen die Feststellung,
die Route sei schon jetzt zu.

Fazit: Es wird auch nach diesem Gipfel weiter gestritten werden, was es konkret
heißt, "die Politik des Durchwinkens" zu beenden.

Ziel 2 - Flüchtlinge aus Griechenland umverteilen

Der Plan: Die Europäische Union bekennt sich dazu, Griechenland zu entlasten,
indem die anderen Mitglieder den Griechen kontingentweise Flüchtlinge abnehmen.
Man wolle die bereits beschlossene Umverteilung "beschleunigen", heißt es im
Entwurf der EU-Gipfel-Erklärung. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten "dringend mehr
Plätze" zur Verfügung stellen.

Das Problem: Die Mitgliedsstaaten sind dazu allenfalls zögerlich bereit. Bereits
im vergangenen Jahr beschlossen sie zwar, Griechenland und Italien bis zu
160.000 Flüchtlinge abzunehmen. Doch bislang verteilt wurden nur 660 Menschen.
Ein Grund: Die Staaten wollen derzeit zu viel Einfluss darauf nehmen, wer ihnen
zugeteilt wird. Darüber hinaus lehnen manche Regierungen die Umverteilung
generell ab.

Fazit: Das Thema wird ein Dauerbrenner bleiben.

Ziel 3 - Hilfe für Griechenland organisieren

Der Plan: Griechenland entwickelt sich immer mehr zum Auffangbecken für die
Flüchtlingsströme und ist damit zunehmend überfordert. Die EU möchte auch
deswegen das Signal senden, dass die Griechen nicht im Stich gelassen werden.
Sie kündigt alle erdenkliche Hilfe an. Bis zum nächsten Gipfel am 17. März
sollen Vorschläge der Kommission für schnelle Nothilfe innerhalb der EU
verabschiedet werden. Darüber hinaus soll Griechenland Unterstützung beim
Grenzschutz erhalten.

Das Problem: Griechenland hat internationale Hilfe bislang nur sehr zögerlich
angenommen. Das hatte offenbar vor allem etwas mit Nationalstolz zu tun.
Allerdings auch mit der Furcht, dass damit das Durchwinken der Flüchtlinge
Richtung Norden schwerer werden könnte.
Fazit: Die Nothilfe dürfte Griechenland gerne akzeptieren. Die Zusammenarbeit
beim Grenzschutz könnte aber schwierig bleiben.

Ziel 4 - Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa bringen

Der Plan: Die illegale Immigration soll durch legale Wege nach Europa abgelöst
werden. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen sich im Prinzip dazu bekennen,
Flüchtlingskontingente aus der Türkei direkt im Flugzeug nach Europa zu holen.
Damit sollen die Menschen auch vor der gefährlichen Überfahrt mit dem Boot
abgehalten werden.

Das Problem: Über konkrete Zusagen wird erst dann gesprochen, wenn die Türkei
Erfolge bei der Eindämmung der Flüchtlingsströme nach Europa vorweisen kann.
Darüber hinaus ist die Teilnahme an so einem Verteilungsmechanismus freiwillig.
Viele Staaten werden sich wegducken.

Fazit: Das Thema dürfte im Frühjahr noch einmal besprochen werden.

Ziel 5 - Funktionierende Hotspots

Der Plan: In Registrierungszentren, den sogenannten Hotspots auf fünf


griechischen Inseln, soll die Umverteilung und die Rückführung von Migranten
organisiert werden. Die Wirtschaftsflüchtlinge sollen möglichst nur zwei Wochen,
nachdem sie in Griechenland aufgegriffen wurden, wieder in die Türkei
abgeschoben werden.

Das Problem: Es gibt zu wenig Personal. Bereits in der Vergangenheit hatten sich
die EU-Regierungen verpflichtet, ausreichend Experten und logistische
Unterstützung in die Hotspots zu schicken. Daraus wurde nichts. Wenn die
Registrierungszentren jetzt auch noch die Rückführungen organisieren sollen,
droht noch mehr Überlastung.

Fazit: Der Ansatz ist richtig, eine Ruckzuck-Abschiebung dürfte in der Praxis
aber scheitern.

Ziel 6 - Rückführung in die Türkei

Der Plan: Im Rahmen eines sogenannten Rückführungsabkommens zwischen


Griechenland und der Türkei - und ab 1. Juni zwischen der EU und der Türkei -
sollen illegale Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei abgeschoben werden.
Dazu muss die Türkei als sicheres Herkunftsland gelten. Dies ist ein zentraler
Baustein der EU-Strategie.

Das Problem: Abschiebungen könnten viel langsamer laufen als geplant. In der
Zwischenzeit tauchen die Flüchtlinge unter oder ziehen unkontrolliert weiter.

Fazit: Vieles hängt von der Zusammenarbeit der Türken ab. Wann immer sie wollen,
können sie Abschiebungen verzögern. Die verbreitete Korruption unter türkischen
Beamten ist ein weiteres Problem. Ein nachhaltiger Erfolg bleibt fraglich.

Ziel 7 - Nato spürt Schleuser auf

Der Plan: Nato-Schiffe überwachen künftig die griechischen und türkischen


Gewässer und stellen den Küstenwachen der beiden Länder die Informationen zur
Ergreifung der Menschenschmuggler zur Verfügung.

Das Problem: Ob Schlepper gefasst werden, hängt letztlich nicht von der Nato ab,
sondern vor allem von der Reaktionsgeschwindigkeit der türkischen Behörden. Die
Türken müssen innerhalb von wenigen Minuten reagieren, um Schleuserboote am
Auslaufen zu hindern oder sie rechtzeitig abzufangen - andernfalls erreichen die
Boote im engen Insellabyrinth der Ägäis schon nach kurzer Zeit griechischen
Boden.

Fazit: Es bleibt abzuwarten, ob die türkischen Behörden wirklich so schnell


reagieren wie nötig. Der Nato-Einsatz wird von Berlin teilweise überbewertet. Er
kann allenfalls ein kleiner Baustein sein, um den Flüchtlingsstrom zu
reduzieren.

Ziel 8 - Bessere Kontrolle der Seegrenzen

Der Plan: Die türkische Küstenwache soll hart gegen Schleuser vorgehen und die
Seegrenzen besser schützen.

Das Problem: Die griechisch-türkische Küste ist fast 1000 Kilometer lang und an
vielen Stellen schwer einsehbar. Außerdem arbeiten auch viele griechische
Grenzbeamte gegen Geld eng mit Schleusern zusammen. Bisher ist diese Strategie
nicht aufgegangen.

Fazit: In der Praxis schwer umsetzbar, Ankara kann den Migrantenstrom durch mehr
oder weniger intensive Kontrollen nach Belieben steuern. Die Idee an sich ist
aber richtig.

Wie geht es weiter? Sollte der Schutz der EU-Außengrenze demnächst tatsächlich
funktionieren und die Türkei ihre Hausaufgaben machen, dann werden einige
EU-Länder Ankara und Athen Flüchtlinge abnehmen und auf die europäischen Länder
verteilen.

Dennoch bleiben Fragen: Was passiert, wenn die Türkei an ihre Grenzen stößt und
nicht mehr Flüchtlinge verkraften kann? Außerdem besteht die Gefahr, dass die
Flüchtlinge sich neue Routen suchen, etwa über Albanien, Libyen und Italien.

UPDATE: 9. März 2016

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Mittwoch 16. März 2016 12:00 PM GMT+1

Rohstoffe;
Wie das billige Öl die Welt gefährlicher macht

AUTOR: Stefan Beutelsbacher und Stephan Maaß


RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 928 Wörter

HIGHLIGHT: Sinkt der Preis, steigt die Gewalt: Vielen Öl-Mächten fehlt Geld, um
Terror, Kriminalität und Aufstände zu bekämpfen. Sie wollen die Verluste
ausgleichen - und könnten damit alles noch verschlimmern.

Der Brief, den Joseph Beti Assomo seinen Generälen schickte, in einem Umschlag
mit dem Stempel "geheim", klingt beunruhigend: Terroristen seien hier, heißt es
darin, sie planten etwas, vielleicht in einem Bus, vielleicht in einem Hotel.

Die islamistische Gruppe Boko Haram, beheimatet im Norden Nigerias, halte sich
nun auch in Yaoundé auf, der Hauptstadt Kameruns. Seit das Schreiben des
Verteidigungsministers ungewollt an die Öffentlichkeit gelangte, ist Yaoundé in
Angst. Soldaten patrouillieren, die Bürger meiden den Nahverkehr, eine
Haushaltskonferenz mit den Nachbarstaaten wurde abgesagt - der Ort des Treffens,
das "Hilton", sei ein mögliches Anschlagsziel.

Nicht der Islamische Staat, nicht die Taliban, nicht al-Qaida, sondern Boko
Haram ist die Gruppe, die im vergangenen Jahr die meisten Menschen tötete. In
Nigeria haben die Terroristen mehrere Provinzen destabilisiert, nun tragen sie
die Gewalt über die Grenze. Boko Haram expandiert - auch weil Nigeria das Geld
für große Gegenschläge fehlt. Dem Staat brechen die Einnahmen weg, seit seine
wichtigste Ressource auf den globalen Märkten dramatisch an Wert verlor: das Öl.

Kostet das Öl wenig, droht die Gewalt zu steigen - eine Formel, die nicht nur
für Nigeria gilt, sondern für viele Förderländer. In Venezuela gab es Aufstände,
als die Regierung, bedroht vom Bankrott, die Benzinpreise erhöhte. Mexiko
bekommt Schwierigkeiten, den teuren Krieg gegen die Drogenkartelle zu
finanzieren. Die Ölmächte des Nahen Ostens benötigen Petrodollar, um gegen den
Islamischen Staat zu kämpfen. Das billige Öl macht den Planeten gefährlicher.

Ruinöser Preiskrieg

"Die Konflikte nehmen zu", sagt Silja-Leena Stawikowski, die für den
Versicherungsmakler Aon Risk Solutions politische Gefahren analysiert.
"Extremistische Gruppen wie Boko Haram und der IS profitieren davon, wenn
Grenzen durchlässig sind und Institutionen schwach." Das sieht auch Ian Bremmer
so, der Gründer der Beratungsfirma Eurasia Group. "Das günstige Öl befördert den
Terror", sagt er. Der Absturz der Rohstoffpreise hat viele Staaten ausgezehrt.
Ihre finanziellen Mittel schrumpfen, um Terroristen zu jagen, Kriminelle
einzusperren und soziale Unruhen abzuwenden.

Im Fall des IS gibt es aber auch eine Kehrseite: Die Gruppe hat selbst Bohrtürme
unter ihrer Kontrolle und erhält Geld aus der arabischen Welt - tiefe Ölpreise
erschweren daher die Terrorfinanzierung.

120 Dollar müsste das Fass kosten, damit Nigerias Haushalt ausgeglichen ist.
Venezuela benötigt 125 Dollar, Mexiko rund 80. In der vergangenen Woche kostete
Öl der Sorte Brent um die 40 Dollar. Zu wenig - aber ein Hoffnungsschimmer. Denn
zu Beginn des Jahres waren die Preise zeitweise unter 30 Dollar gefallen.
Verbraucher leiden darunter, wenn Rohstoffe teurer werden, weil sie dann im
Alltag mehr Geld ausgeben müssen, etwa zum Tanken oder Heizen - für die
Sicherheit der Welt hingegen ist das eine positive Entwicklung.
Seit Juni 2014 fallen die Preise, weil die Ölmächte ungezügelt fördern, allen
voran Saudi-Arabien und die USA. Sie haben sich in einen ruinösen Preiskrieg
verstrickt. Niemand will die Quoten als Erster reduzieren, aus Angst, dann
Marktanteile zu verlieren. Die Saudis und die Amerikaner können niedrigere
Notierungen über einen längeren Zeitraum aushalten - kleinere Produzenten nicht.
Venezuela etwa steht vor dem Kollaps. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Land in
den nächsten fünf Jahren pleitegeht, liegt bei 99 Prozent.

Im Teufelskreis

Die taumelnden Staaten suchen Ersatz für die entgangenen Einnahmen. Sie
entscheiden sich häufig für Steuererhöhungen - und machen es damit nur noch
schlimmer. Es ist ein Teufelskreis. "In vielen Ländern dürften höhere Steuern zu
weiteren politischen Spannungen führen", sagt Stawikowski, die Aon-Analystin.
Weil das Unternehmen Versicherungspolicen an Firmen vermittelt, die in
gefährlichen Regionen aktiv sind, beobachtet es die Gefahrenlage sehr genau. Es
gibt kaum etwas, das Unternehmen so verabscheuen wie politische Unsicherheiten.
Der Ölpreis ist Stawikowski zufolge für Investoren im Irak, in Zentral- und
Westafrika, in Libyen, Russland und Venezuela das größte Risiko in diesem Jahr.

Und womöglich auch noch länger. Die Chancen, dass der Ölpreis bald wieder die
benötigten Schwellen erreicht, dass er auf 80, 120 oder sogar 125 Dollar steigt,
sind gering. Die Kurse dürften niedrig bleiben, trotz aller politischen
Initiativen. Saudi-Arabien und Russland haben sich gerade darauf verständigt,
die Förderung auf dem Januar-Niveau einzufrieren - ein Rekordwert, aber
immerhin. Venezuela redete kürzlich auf den Iran ein, sich dem Deal
anzuschließen. Zugleich schlossen amerikanische Ölfirmen den dritten Monat in
Folge Bohrtürme, wie aus Daten des Unternehmens Baker Hughes hervorgeht. All das
hat den Preis zuletzt steigen lassen.

Auf lange Sicht dürften die Initiativen aber wenig bewirken. Selbst wenn die
globale Überproduktion von heute auf morgen gestoppt würde - die hohen Bestände
in den Lagern dürften die Preise weiterhin drücken. In Amerika quellen die Tanks
fast über. 600 Millionen Barrel kann das Land bevorraten, 517 Millionen davon
sind belegt.

Am Ende dieses Jahres könnten die Bestände der westlichen Welt bei 3,6
Milliarden Barrel liegen, wie Daten der Internationalen Energieagentur zeigen -
mehr als eine Milliarde höher als noch Ende 2014. Die Experten rechnen damit,
dass es bis 2021 dauert, ehe der Überschuss abgebaut ist. Was die Petromächte
auch tun, welche Abmachungen ihre Diplomaten auch aushandeln: Gegen die vollen
Tanks kommen sie nicht an. Die Tanks bedeuten die Ohnmacht der Politik.

UPDATE: 16. März 2016

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Donnerstag 31. März 2016 11:04 AM GMT+1

Tod an DDR-Grenze;
So mörderisch waren die Selbstschussanlagen

AUTOR: Ulli Kulke

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 1209 Wörter

HIGHLIGHT: Im März 1976 begann Michael Gartenschläger, Selbstschussanlagen an


der innerdeutschen Grenze zu demontieren. Bis die Stasi einen Funkspruch des
Bundesgrenzschutzes abfing - und ihn erschoss.

Schwarzer Mantel, schwarz geschminktes Gesicht, so schlich sich Michael


Gartenschläger in den frühen Morgenstunden des 30. März 1976 in Richtung
DDR-Grenze. Vom Westen her, bei der Gemeinde Bröthen in Schleswig-Holstein. Er
verschüttete Pfeffer gegen Ost-Spürhunde und verteilte Zweige gegen neugierige
West-Grenzer über die Wege, damit sie sich durch lautes Knacksen verraten und
ihm nicht in die Quere kommen. Und er hatte eine Leiter in der Hand. Im Schutz
von Dunkelheit und Gebüsch ging er weiter bis an den hohen Zaun, der schon 50
Meter weit auf DDR-Gebiet lag.

Dort, am Gitter, fand er, was er gesucht hatte, auf östlicher Seite anmontiert:
eine Selbstschussanlage, trichterförmig. Verbunden mit einem Draht, den jeder
berühren musste, der von drüben versuchte, über den Zaun zu klettern - und schon
würde er beschossen, mit einer tödlichen Ladung aus 90 scharfkantigen
Stahlwürfeln.

Gartenschläger stieg auf die Leiter, knipste die Kabel durch, schraubte in aller
Ruhe die Halterungen ab und hob das Gerät, samt Gestänge fünf Kilo schwer,
herüber, unbehelligt von Grenzern aus Ost wie West. Am nächsten Tag brachte er
die Trophäe zur Redaktion des "Spiegel", die ihm dafür 12.000 Mark zahlte und
daraus eine große "Story" machte.

60.000 solcher Anlagen, Typ "SM-70", waren damals an den unübersichtlichen


Abschnitten der innerdeutschen Grenze montiert. Die DDR-Regierung bestritt ihre
Existenz hartnäckig. Bis zu Gartenschlägers Coup, danach ging es nicht mehr, das
Regime war bloßgestellt. Und sann von dem Moment an auf Rache.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Gartenschläger ebenfalls im "Spiegel" über die
Geheimapparate gelesen: "Obwohl der SM-70-Automat seit 1971 verwendet wird, weiß
der Bundesgrenzschutz bis heute nicht, wie er funktioniert". Man hatte keine
Ahnung, "wie er etwa von einem Flüchtling gefahrlos entschärft werden könnte".
Das habe ihn zu seiner Tat veranlasst. "Wenn die so 'n Ding brauchen und nicht
haben, wirst du denen eben so 'n Ding besorgen", sagte er dem "Spiegel", der
"das Ding" anschließend akribisch untersuchen ließ.

Nun war nicht nur der Bundesgrenzschutz im Bilde, auch die Öffentlichkeit. Ein
weiteres Bauteil der Todesmaschinerie der DDR war offenbart. Eines mit
denkwürdiger Vergangenheit: Das Prinzip der Selbstschussanlage hatten einst
SS-Ingenieure für KZ-Zäune entwickelt.
Der Automat vom 30. März war nicht der einzige, mit dem Gartenschläger die
DDR-Organe foppte. Zwei Nächte zuvor hatte er bei einem anderen in der Nähe mit
einem Stab die Zündung ausgelöst und so eine Ladung Eisenwürfel den
"antifaschistischen Schutzwall" entlanggeschossen. Ebenfalls im selben
Grenzabschnitt baute er dann am 23. April ein weiteres Gerät ab. Die
"Arbeitsgemeinschaft 13. August", damals schon Betreiber des Mauermuseums am
Berliner Checkpoint Charlie, hatte ihm dafür 3000 Mark in Aussicht gestellt.
Dort steht es noch heute.

Gartenschläger hatte es nicht mal nötig, für seine Coups den Ort zu wechseln.
Stets schlug er im selben Abschnitt zu - umso beschämender für den
Staatssicherheitsdienst, der das Grenzregime unterhielt. So sollte es sein. Der
32-Jährige hatte mit den DDR-Organen noch eine Rechnung offen.

Der in Strausberg bei Ost-Berlin geborene Gartenschläger lernte früh die


finsterste Seite des SED-Staates kennen. Als er nach dem Mauerbau 1961 mit
Freunden Protestparolen an Wände malte und eine Scheune anzündete, wurde er mit
17 Jahren zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Gartenschläger erging es übel in der Haft, aber er ließ sich nicht unterkriegen.
Einmal kletterte er auf einen hohen Schornstein, aus Protest. Zweimal wäre ihm
fast die Flucht aus dem Knast geglückt. Ob er in der DDR weit gekommen wäre?
1971, zehn Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, kaufte ihn die Bundesregierung
frei, für 40.000 D-Mark.

In der Bundesrepublik schlug er sich als Tankstellenpächter durch. Als er nach


ein paar Jahren wieder die Transitwege nach Berlin benutzen durfte, betätigte er
sich nebenbei als Fluchthelfer, aus Ostdeutschland, aus Rumänien, selbst aus
Libyen. Insgesamt 31 DDR-Bürgern half er in den Westen.

Jetzt aber, 1976, ging es ihm nicht nur darum, Menschen durch die Grenze zu
bringen, jetzt wollte er die Grenze selbst schwächen. Einen Monat nach seinem
ersten Schlag, in der Nacht zum 1. Mai 1976, fuhr er erneut mit seinem BMW zu
jenem rechtwinkligen Grenzknick bei Bröthen. Er wolle nur die Leiter abholen,
hatte er Bekannten zuvor anvertraut. Stimmte das, oder ging es doch um eine
weitere SM-70? War es eine falsche Fährte? Er fühlte sich von der Stasi
beschattet. Wieder betrat er DDR-Gebiet, wieder ging er zum Zaun.

Was Gartenschläger in dem Moment nicht wusste: Vier Tage vorher, am Morgen des
26. April 1976, war vom Bundesgrenzschutz-Kommando Schwarzenbek in
Schleswig-Holstein ein Funkspruch an Kollegen gegangen, die an der Grenze
Streife fuhren. Sie sollten auf den Fahrer eines BMW achten. "Falls dieser Mann
DDR-Gebiet betritt, rufen sie uns über Funk an. Nicht in Gewahrsam nehmen, bloß
die SM-70, die er wahrscheinlich holt, abnehmen, festhalten, bis jemand
rauskommt." So ist der Funkspruch protokolliert. Von der Stasi.

Die Anweisung an die West-Grenzer hatte die Funkaufklärung auf östlicher Seite
mitgeschnitten. Ihr Inhalt ging kurz darauf nach Berlin, an Stasi-General Karl
Kleinjung. Sein sofortiger Befehl: Jener BMW-Fahrer solle "verhaftet bzw.
vernichtet" werden. Die Bundesbeamten hatten Gartenschläger davon abhalten
wollen, sich in tödliche Gefahr zu begeben. Richtig gefährlich wurde es für ihn
allerdings erst durch ihren Funkspruch.

Am 26. April wurde er nicht mehr gesehen, weder von West- noch von Ost-Grenzern.
Doch die Stasi blieb auf der Lauer, auch am 1. Mai noch, als Gartenschläger
erneut über die Grenze kam.

Das weitere Geschehen ist umstritten. Seine beiden Begleiter, die er auf
West-Gebiet zurückließ, sagten später, er sei kurz darauf ohne Anruf und ohne
selbst einen Schuss abgegeben zu haben, von Salven aus Maschinenpistolen der
DDR-Grenzer zunächst niedergestreckt und, nach kurzer Feuerpause, am Boden
liegend getötet worden.

Im Jahr 1999 kam es zum Prozess gegen die Schützen. Ihre Version: Gartenschläger
habe aus einer Pistole zuerst geschossen, sie hätten ihn dann angerufen und
darauf erst die tödlichen Schüsse abgegeben. Ihre Aussage konnte nicht widerlegt
werden, das Gericht erkannte auf Notwehr. Freispruch.

Einen Monat nach Gartenschlägers Tod hatte irgendjemand eine Hommage an ihn
vollbracht und die nächste SM-70 geklaut. In der Zeit auch stellte sich ein
Freund Gartenschlägers der Polizei und offenbarte sich als inoffizieller
Stasi-Mitarbeiter.

Auch er gehörte zu den einst verurteilten von Strausberg, auch er war aus dem
DDR-Knast freigekauft worden. Und auch er war später wieder über die
Transitstrecken gefahren, geriet dort aber in die Fänge der Stasi, die ihn
fortan als Agenten an der Angel hatte. Jetzt, so sagte er der Polizei, fühle er
sich von den anderen Freunden Gartenschlägers bedroht, die seine Stasi-Mitarbeit
geahnt hatten und ihn verdächtigten, den DDR-Behörden vor dem 1. Mai den Tipp
gegeben zu haben. Das stritt er vehement ab.

Dass es vor allem der abgehörte Funkspruch war, der die Stasi alarmiert hatte,
kam erst nach der Wende heraus.

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UPDATE: 31. März 2016

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Donnerstag 14. April 2016 11:57 AM GMT+1

Harald Höppner;
Der Retter der Flüchtlinge gibt nicht auf. Niemals

AUTOR: Antje Hildebrandt

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1422 Wörter


HIGHLIGHT: Er sieht im Fernsehen, wie eine Frau ertrinkt und recherchiert, wie
sich das anfühlen muss. Dann beschließt der Unternehmer Harald Höppner,
Flüchtlinge in Seenot mit einem alten Fischkutter zu retten.

Ein Knopfdruck, und der Mann, den sie Kapitän Hoffnung nannten, öffnet die Tor
zu seinem Zuhause, die sich lautlos zur Seite schieben. Harald Höppner rollt mit
dem Kombi auf den Hof. Es ist ein Anwesen wie aus der "Schöner Wohnen", ein
rotes Backsteinhaus, dahinter ein gepflegt verwilderter Garten mit Feuerstelle
und Kletterturm. Im Hintergrund drei Ziegen. Das ist sein Zuhause.

Ein Dorf in Brandenburg, 400 Einwohner, halb so viele Rinder. Hier wohnt der
Mann, der vor einem Jahr bekannt wurde, als er Günther Jauch und dessen Gäste in
der gleichnamigen Talkshow zum Schweigen brachte. Harald Höppner, 42,
Globetrotter und Familienvater, Unternehmer und Seenotretter. Viele erinnern
sich noch an seinen Auftritt. Höppner, das war ein Riese im Kapuzenpullover.
Jauch hatte ihn eingeladen, sein Projekt vorzustellen.

Höppner hatte sich mit seinem Geschäftspartner einen alten Fischkutter gekauft.
Damit wollten sie schiffbrüchige Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten. Um
ehrenamtliche Helfer zu finden, hatten sie den Verein "Sea Watch" gegründet.
150.000 Euro, das war ihr Startkapitel.

Positioniert zwischen den Fronten

Doch irgendwie lief die Jauch-Sendung aus dem Ruder. Am Ende blieb kaum noch
Zeit, über "Sea Watch" zu reden. Deshalb sprang Höppner auf. Er forderte eine
Schweigeminute für die Flüchtlinge, für die das Mittelmeer schon zum Grab
geworden war.

Ein Visionär oder ein Verrückter? Die Meinungen darüber gingen auseinander. Als
blauäugigen Gutmenschen, so sahen ihn die einen; als Robin Hood des Mittelmeeres
die anderen. So steht es auch in seinem Buch: "Menschenleben retten! Mit der Sea
Watch im Mittelmeer".

Er sagt heute, er habe eine Weile gebraucht, um sich zwischen diesen Fronten zu
positionieren. Der Medienrummel habe ihn überrollt. Und wer ihn damals
interviewte, der traf tatsächlich auf einen Mann, der bei allem hemdsärmeligen
Pragmatismus den Eindruck erweckte, als wisse er nicht so recht, worauf er sich
da eingelassen habe.

Heute lehnt er sich entspannt zurück. Zweifel, Bedenken, Irrtümer? Fehlanzeige.

Die Fakten sprechen ja auch für ihn. 2000 gerettete Flüchtlinge. Mehr als eine
Million Euro Spenden. Ein neues Rettungsschiff, doppelt so groß wie das alte.
Ein Flugzeug, das die Suche nach Schiffbrüchigen erleichtert. Ein zweiter
Rettungsstützpunkt auf der griechischen Insel Lesbos mit Schnellbooten. Ein
eigenes Vereinsbüro in Berlin, dazu eine Handvoll Festangestellter. Das ist die
Bilanz nach einem Jahr "Sea Watch". Eine Erfolgsgeschichte.

Der TV-Reporter ging von Bord

Höppner wirkt locker, beinahe gelöst. Er führt den Gast durch sein Haus in die
Wohnküche. Es ist ein ehemaliger Schweinestall. Er hat ihn selber umgebaut und
renoviert. Es gibt Möbel im Kolonialstil, wie er sie mit seiner Firma aus Asien
importiert. Dazwischen fliegt Spielzeug herum von Theo, 5, seinem Jüngsten.
Höppner macht erst mal zwei Latte Macchiato. Auf dem Esstisch liegt sein Buch.
Er erzählt eine filmreife Geschichte. Ein Held, der keiner sein will. Eine
Reise, die ihn bis an seine eigene Grenze führt. Ein Schiff, das ständig
kaputtgeht. Eine Besatzung, die so lange meutert, bis er den ersten Kapitän
gegen einen weniger autoritären auswechselt. Ein TV-Reporter vom RBB, der nach
einer Woche entnervt von Bord geht, weil die Satellitenanlage veraltet ist. Das
ist die Kulisse für diese Geschichte.

Der Held, das ist er. Ein Arztsohn aus dem Osten Berlins, der nach der Wende in
der Welt herumreist. Von einer Reise aus Asien bringt er Möbel, Schmuck und
Bekleidung mit. Er verkauft sie im eigenen Laden und verdient ein Vermögen
damit. Politik interessiert ihn nicht, doch als er im Herbst 2014 in den
TV-Nachrichten das Bild einer Frau sieht, die im Mittelmeer ertrinkt, da macht
es bei ihm "Klick!".

Er recherchiert, wie das ist, wenn jemand ertrinkt. "Nach etwa einer Minute
unter Wasser atmet man reflexhaft. Wasser dringt in die Lungen, das Zwerchfell
krampft, man hustet, noch mehr Wasser gelangt in die Atemwege. Der
Sauerstoffgehalt im Blut sinkt unaufhaltsam. Nach ein paar Minuten wird man
bewusstlos. Kurz darauf steht der Atem still und wenig später das Herz." Höppner
ist schockiert. Ein qualvoller Tod. Das Bild der ertrunkenen Frau lässt ihn
nicht los. Er beschließt, zu handeln.

Das Thema, über das er nicht gerne redet

Es ist das Jahr 25 nach dem Mauerfall. Der Eiserne Vorhang, das ist jetzt das
Mittelmeer: die gefährlichste Grenze der Welt. Im Trubel der Gedenkfeiern
erkennt Höppner, wie viel Glück er gehabt hat, dass er als Ossi in den Westen
gekommen ist, "ohne dass die Russen Panzer gegen uns aufgefahren haben". Er
erinnert sich an die Gastfreundschaft, mit der er auf seinen Reisen ins Ausland
empfangen wurde. Er will etwas zurückgeben.

Sein Handy klingelt jetzt, schon zum dritten Mal.

"Na, Schwacki. Wie läuft's?"

Ein Mitarbeiter aus Malta ist dran. Dort entsteht gerade das neue Camp für die
ehrenamtlichen Helfer von "Sea Watch". Ärzte, Seeleute, Handwerker. In diesem
Jahr wird das neue Schiff von hier aus starten und nicht mehr von Lampedusa aus.
Höppner murmelt etwas von günstigeren Flügen und einer besseren Infrastruktur.

Er verschwindet mit dem Handy in seinem Büro. Von hier aus koordiniert er immer
noch Einsätze der "Sea Watch". Er war selber nur eine Woche im Mittelmeer
unterwegs. Er redet nicht gern darüber. Der alte Kutter schaukelte hin und her.
Er wurde seekrank. Und dann waren da noch die Helfer. Alle hoch motiviert. Und
viele enttäuscht, als sie erkannten, dass sie nicht so helfen konnten, wie sie
wollten.

Anderthalb Tage brauchte der Kutter jedes Mal von Lampedusa bis zur libyschen
Küste, dort, wo die meisten Schlauchboote starten, überfüllt, ohne genug
Trinkwasser und Benzin.

"Ey, Leute. Warum guckt ihr weg?"

Oft aber kamen sie umsonst. Bevor sie da waren, war es entweder zu spät, oder
andere Retter waren ihnen zuvorgekommen. Höppner spielt das herunter. Das ist
seine Art. Nur das Positive sehen, den Rest verdrängen. Sonst hätte er sich gar
nicht erst auf dieses Abenteuer eingelassen.

Er sagt: "Viel schlimmer ist es doch, wenn man fünf Schlauchboote mit
Flüchtlingen bei sich hat und es acht Stunden dauert, bis professionelle Hilfe
kommt." Ein Schiff, das die Flüchtlinge nach Italien bringt. Boote der
Bundesmarine oder der EU seien nie dabei gewesen, sagt er. "Und da fragt man
sich schon: Ey, Leute. Warum guckt ihr weg?"

2738 von 945.000 Menschen starben allein 2015 auf der 300 Kilometer langen
Strecke zwischen Italien und Libyen, dort, wo auch die "Sea Watch"
patrouillierte.

Ein Jahr zuvor seien es noch 3500 von 219.000 gewesen, heißt es beim
Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Doch die Dunkelziffer dürfte um einiges höher
liegen. Dass der Strom abreißt, damit rechnet niemand, auch Höppner nicht.
Schließlich, sagt er, habe sich nichts an den Ursachen für die Flucht geändert.

Armut, Bürgerkriege. Höppner sagt, wenn die EU eine Grenze schließe, suchten
sich die Flüchtlinge eben andere Routen, möglicherweise solche, die noch
gefährlicher sind. Aber müssen sich die Seenotretter nicht den Vorwurf gefallen
lassen, sie kurbelten das Geschäft der Schlepper noch an?

Nur ein Mal meldete sich ein Flüchtling zurück

Höppner setzt sein Pokerface auf. Er sagt: "Uns interessieren nur die Menschen,
die in dieser miserablen Lage sind."

Was aus ihnen wird, weiß er nicht. Die meisten blieben wohl als Rosen- oder
Sonnenbrillenverkäufer in Italien hängen. So hat es ihm Demba, 18, erzählt, ein
Junge aus Gambia. Er wäre um ein Haar ertrunken, wenn ihn die "Sea Watch" nicht
aus einem geplatzten Schlauchboot gerettet hätte. Demba bedankte sich
überschwänglich auf Facebook. Es war das einzige Mal, dass der Verein eine
Rückmeldung von einem Flüchtling bekam.

Höppner lächelt matt. Noch vier Monate, dann gibt er den Vereinsvorsitz ab.
Tanja, seine Frau, kann dann aufatmen. Sie ist eine zierliche, aber drahtige
Frau mit einem Nasenpiercing und einer Beanie-Mütze. Eine ehemalige
DDR-Leistungssportlerin.

Die letzten Monate waren auch für sie nicht leicht. Ein Notruf nach dem anderen
von der "Sea Watch". Ein Mann, der mit einem Ohr immer bei der Crew war. Sie hat
ihn in der Firma vertreten und sich um die drei Söhne gekümmert. Sie ist nicht
der Typ, der jammert.

Aber sie ist froh, wenn die "Sea Watch", dieses vierte Kind, jetzt endlich
selber laufen lernt. Wobei sie jetzt schon ahnt, dass es nicht sein letztes
Projekt bleiben wird. Höppner grinst. Er sagt: "Ich bin einfach nicht der Typ,
der 14 Tage lang am Strand chillen kann."

Harald Höppner, Veronica Frenzel: Menschenleben retten! Mit der Sea-Watch im


Mittelmeer. Eichborn, Köln. 223 S., 19,99 Euro.

UPDATE: 14. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 18. April 2016 2:02 PM GMT+1

Flüchtlingsboot gekentert;
Italienischer Präsident spricht von Hunderten Toten im Mittelmeer

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 338 Wörter

HIGHLIGHT: Unglück im Mittelmeer: Beim Untergang eines Flüchtlingsbootes sind


offenbar mehrere Hundert Menschen ums Leben gekommen. Außenminister Frank-Walter
Steinmeier spricht von rund 300 Todesopfern.

Im Mittelmeer hat sich nach italienischen Angaben erneut eine


Flüchtlingskatastrophe ereignet. "Es ist sicher, dass wir es genau ein Jahr nach
der Tragödie in libyschen Gewässern wieder mit einer Tragödie zu tun haben",
sagte der italienische Außenminister Paolo Gentiloni am Montag am Rande eines
EU-Ministertreffens in Luxemburg. Die verunglückten Menschen waren demnach in
Ägypten aufgebrochen. Konkrete Opferzahlen nannte er nicht.

Auch Italiens Präsident Sergio Mattarella bestätigte das Unglück. Es habe sich
eine Tragödie auf See ereignet, bei der offenbar mehrere Hundert Menschen ums
Leben gekommen seien, sagte er in Rom.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte in Luxemburg, nach seinen


Informationen seien bei dem Versuch einer Überfahrt von Flüchtlingen über 300
Menschen umgekommen. Ein Sprecher wies jedoch ausdrücklich darauf hin, dass
diese Informationen noch nicht bestätigt seien.

Der arabische Dienst des britischen Senders BBC hatte zuvor unter Berufung auf
nicht näher genannte ägyptische Berichte gemeldet, bei der Katastrophe seien
mehr als 400 Flüchtlinge ertrunken, die meisten von ihnen Somalier. Insgesamt
seien vier Boote im Mittelmeer gesunken, hieß es.

Ein Jahr nach verheerendem Unglück

Kurz zuvor hatte Italien angekündigt, das Wrack des vor einem Jahr
untergegangenen Flüchtlingsboots bergen zu lassen. Marineschiffe sollten am
Montagabend von Sizilien aus zum Ort des Unglücks starten. Dort soll dann
bestimmt werden, wie das Fischerboot am besten aus einer Tiefe von 360 Metern
vom Meeresgrund hochgezogen werden kann.

Das Boot war mit rund 800 eingeschlossenen Menschen untergegangen. Im Wrack
befinden sich noch Leichen von Opfern. Die italienische Marine barg bereits 169
Leichen, die in der Nähe des Wracks gefunden wurden.

Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hatte die Bergung der Leichen
versprochen - aus Respekt für die Toten. Das Boot soll nach seiner Bergung in
den sizilianischen Hafen Augusta geschleppt werden. Der Einsatz wird
voraussichtlich bis Ende April dauern.

UPDATE: 18. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Montag 25. April 2016 10:26 AM GMT+1

Anne Will;
Martin Schulz schimpft über türkische Arroganz

AUTOR: Ralf Dargent

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 884 Wörter

HIGHLIGHT: Die EU am Gängelband der Türkei - eine Vorstellung, die


EU-Parlamentspräsident Schulz erbost. Bei Anne Will sieht er das Land auf dem
Weg in die Autokratie. Und schickt eine klare Warnung an Erdogan.

Es geht mal wieder erstaunlich schnell. Noch vor ein paar Tagen erschien das
Thema Türkei für Angela Merkel massiv bedrohlich. Auch die Redaktion von Anne
Will dachte wohl so. "Abhängig von Erdogan - Zu hoher Preis für weniger
Flüchtlinge?" hieß die Sendung am Sonntag. Kombiniert mit der Frage, ob die
Kanzlerin zu viel Rücksicht auf den türkischen Präsidenten nehme.

Wer die Sendung am Sonntag dann aber sah, wird am Ende nicht mehr an Merkel
gedacht haben. Alles Mögliche war Thema, aber fast nicht mehr eine Kanzlerin in
der Türkei-Krise. Merkel scheint sich aus der Schusslinie gebracht zu haben.
Womöglich wegen des Eingeständnisses eines Fehlers in der Causa Böhmermann am
vergangenen Freitag. Womöglich auch wegen ihres recht stoischen Umfelds.

Bei Anne Will saß Sonntagabend etwa ihr Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU)
und gab mal wieder ein Lehrbeispiel dafür, wie in der Politik Tempo aus einem
Thema genommen werden kann. Umfassend - an manchen Punkten eher ausufernd -
beantwortete er jede Frage. Und blieb gleichzeitig so zurückhaltend, dass er
keine Neuigkeiten sagte. Am ehesten hängen blieb dabei sein Satz zur Sache
Böhmermann, dass nur die Justiz nach Auffassung der Bundesregierung entscheiden
könne, wo die Kunstfreiheit und die Meinungsfreiheit aufhören.

Özdemir und Schulz trumpfen auf

Dafür nutzten zwei andere Gäste die Chance, ihr Profil auch mit Blick auf
künftige Aufgaben zu schärfen. Allen voran Martin Schulz. Der
EU-Parlamentspräsident von der SPD war forsch, frech und präzise. Er nutzte die
Anwesenheit des in Deutschland groß gewordenen Abgeordneten Mustafa Yeneroglu
aus Erdogans AKP, um erfrischend Klartext zu reden. "Die Türkei ist auf dem Wege
in einen autoritären Staat, und das halte ich für sehr gefährlich", sagte
Schulz.

Bei Yeneroglu war er mit solch einer pauschalen Kritik genau an der richtigen
Adresse. Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses der Großen Kammer der
Türkischen Nationalversammlung versuchte, den Spieß umzudrehen. In Deutschland
werde so getan, als hätten die Deutschen "die Menschenrechte für sich
gepachtet". Jeden Tag gebe es durchschnittlich drei Anschläge auf
Flüchtlingsunterkünfte, die institutionellen Rechte der muslimischen
Gemeinschaft seien nicht ausreichend. Für den Türken ist es "teilweise schon
maßlos", wie die Regierung in Ankara dargestellt werde. Und Erdogan sei
derjenige, der am meisten für den Aufstieg der Türkei zu einer freiheitlichen
Demokratie getan habe.

So selbstbewusst trat Yeneroglu auf. Doch er traf dabei nicht nur auf Schulz.
Sondern auch auf den Grünen-Chef Cem Özdemir, der ja gerade um die
Spitzenkandidatur seiner Partei bei der Bundestagswahl kämpft. Özdemir ließ
Yeneroglu nicht nur sein Loblied auf Erdogan nicht durchgehen. Er entlarvte auch
dessen perfide Argumentation. So sagte der türkische Abgeordnete zu den vielen
inhaftierten Journalisten in der Türkei, diese hätten ja "ganz andere Dinge"
verbrochen, hätten sich Straftaten schuldig gemacht.

Özdemirs Konter: "Jeder Kritiker ist einfach kriminell, so kann man es auch
lösen." Leider verzettelte sich der Grüne an manchen Stellen in einer
Klein-Klein-Argumentation um vermeintliche Skandale in der Türkei, die weder für
das Publikum noch für die anderen Talkgäste aufzulösen war. Doch im Großen und
Ganzen zeigte Özdemir, weshalb er für die Grünen ein guter Spitzenkandidat sein
könnte. Energisch und pointiert, dabei zugleich sachkundig trat er auf.

Beziehung der Türkei zu Partnern "am Nullpunkt"

Dass es noch eine Spur besser geht, demonstrierte aber Schulz. Der unternahm
alles, um den Eindruck zu vermeiden, europäische Parlamentarier würden sich
wegen der nötigen Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise von der Türkei auf der
Nase herumtanzen lassen. Wer sich heute in der Türkei kritisch äußere, müsse
morgen damit rechnen, das Rollkommando vor der Tür zu haben, prangerte Schulz
an.

Dass beim Merkel-Besuch in der Türkei Ministerpräsident Ahmet Davutoglu das


Rückführungsabkommen mit der EU infrage stellte, bekam Yeneroglu stellvertretend
um die Ohren gehauen. Die Abgeordneten im EU-Parlament, die gegenüber diesem
Abkommen kritisch gewesen seien, seien nun noch kritischer geworden, warnte
Schulz. "Die Türkei braucht die EU mehr als umgekehrt", sagte er. Um dann
aufzuzählen, wie sehr Erdogan mit seinem Land außenpolitisch derzeit in der
Klemme stecke.

Die Verbindungen zum traditionell engsten Verbündeten Israel seien auf dem
Nullpunkt, die Beziehungen zu Russland seien auf dem Nullpunkt, über das
Verhältnis zu den Nachbarländern wolle er gar nicht reden. Und in den USA
bekomme Erdogan nicht mal mehr einen Termin beim Präsidenten. Wo er schon mal so
schön in Fahrt war, kritisierte Schulz gegenüber dem AKP-Abgeordneten eine
türkische Arroganz, die "übrigens auch von Ihnen an den Tag gelegt wird." Da
wirkte das Selbstbewusstsein von Yeneroglu schon deutlich erlahmt.

In der SPD wird ja immer wieder über die Frage geredet, welche starken Köpfe sie
hat. Ohne ihn als möglichen Kanzlerkandidaten auszurufen, gehört Schulz
jedenfalls dazu. Dazu gehörte auch, dass er den Blick in Richtung Zukunft
lenkte. Denn da sich durch die Schlepper die Flüchtlingsströme in Richtung
Libyen veränderten, werde Europa bald auch mit der libyschen Regierung
zusammenarbeiten müssen. "Da werden wir über ganz andere Dinge reden müssen."

UPDATE: 25. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Montag 18. Januar 2016

Ein Hort der Kleinkriminalität;


Düsseldorfer Polizei geht mit Razzia gegen Täter aus Nordafrika vor. Die
Warnungen vor "Maghreb-Banden" wurden lange ignoriert

AUTOR: Kristian Frigelj

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 14

LÄNGE: 876 Wörter

Düsseldorf

Es sollte eine Demonstration der Staatsmacht sein - mitten im "Maghreb-Viertel"


von Düsseldorf: Etwa 300 Polzisten sperrten am Samstagabend sechs Straßen in der
Nähe des Hauptbahnhofs und begannen mit einer mehrstündigen Razzia. Die Beamten
betraten 18 Cafés, Shisha-Bars, Spielkasinos und überprüften die Papiere von
fast 300 Personen mit meist nordafrikanischer Herkunft. Bei 38 von 40
Festgenommenen besteht der Verdacht, dass sie sich illegal in Deutschland
aufhalten. Zudem gab es Anzeigen wegen Drogendelikten, Diebstahls und Verstoßes
gegen das Waffengesetz. Das Viertel gilt als Rückzugsraum für Kleinkriminelle.

Seit den Silvester-Übergriffen am Hauptbahnhof Köln, die eine vielfach beklagte


Ohnmacht der Polizei deutlich machen, stehen die deutschen Sicherheitsbehörden
unter Erfolgsdruck. Die Polizei Düsseldorf betont, dass die Razzia nichts mit
Köln zu tun habe, sondern, dass es sich um die "Fortführung unserer seit langer
Zeit andauernden Bekämpfungsstrategie" handele. Es ist allerdings auffällig, wie
sehr sich die Polizei nach dem Desaster in der Domstadt landesweit bemüht, den
Eindruck eines durchsetzungsstarken Staates zu vermitteln.

Richtig ist, dass die Polizei Düsseldorf schon länger mit dem Problem der
Kriminalität durch Nordafrikaner zu tun hat. Vor fast genau einem Jahr gab es
eine ähnliche Razzia im "Maghreb-Viertel". Unter den Namen "Casablanca" haben
die Behörden zwischen Juni 2014 und November 2015 ein sogenanntes Analyseprojekt
durchgeführt. Damit bezog man sich auf die gleichnamige Stadt in Marokko, aus
deren Armutsvierteln sich viele junge Männer auf den Weg nach Europa machen. Mit
der Sonderkommission wollte die Polizei das zunehmende Diebstahlproblem
bekämpfen und mehr über Täterstrukturen erfahren.

Es geht dabei vor allem um Marokkaner, Algerier, Tunesier, Libyer und Ägypter.
Im Untersuchungszeitraum wurden 2244 junge nordafrikanische Tatverdächtige und
4392 Delikte registriert, wovon es in 1294 Fällen um Laden- und Taschendiebstahl
geht.

Der Anteil nordafrikanischen Tatverdächtiger an Taschendiebstählen sei mit 73


Prozent in der Altstadt "weiterhin enorm hoch", heißt es in dem internen
"Casablanca"-Bericht. Es seien überwiegend auswärtige Tatverdächtige. Ein
Viertel von ihnen habe keinen festen bzw. bekannten Wohnsitz. Die meisten der
ermittelten Personen seien Flüchtlinge und Asylsuchende.

Die Ermittler in Düsseldorf nennen zwei "zentrale Kontaktpersonen", die in


Asylunterkünften gemeldet seien und über einen "weit gestreuten Bekanntenkreis"
verfügten, schränken aber zugleich ein: "Inwiefern man hier aufgrund der hohen
Anzahl von involvierten Personen von einer möglichen Bande sprechen kann, ist
hier nicht einzuschätzen." Andernfalls müsste man schon fast von einer
"grundsätzlichen Bereitschaft zur Delinquenz bei den sich regelmäßig im
,Maghreb-Viertel' auffälligen männlichen Nordafrikanern zwischen 18 und 30
Jahren sprechen", heißt es weiter im "Casablanca"-Bericht.

Die Ermittler machen deutlich, dass sich bestimmte Personen "verbunden haben, um
miteinander auch in unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen immer wieder
Strafen im Bereich der Diebstähle und Raubdelikte zu begehen". Nicht nur ihr
Bericht beweist, dass den Sicherheitsbehörden die besonderen Probleme mit
Personen nordafrikanischer Herkunft bekannt sind. Auch die Landespolitik in
Nordrhein-Westfalen wusste darüber früh Bescheid. Allerdings entschloss man sich
parteiübergreifend, dies zurückhaltend zu kommunizieren, um nicht Ressentiments
gegen Flüchtlinge zu schüren. Diesen Eindruck vermittelt das Protokoll einer
Sitzung des Innenausschusses im NRW-Landtag vom 23. Oktober 2014, über das die
"Welt am Sonntag" exklusiv berichtete.

Ein weiteres vertrauliches Dokument der Bezirksregierung Arnsberg zeigt, dass


Probleme mit Asylbewerbern aus Nordafrika intern viel länger bekannt sind. Die
Bezirksregierung wandte sich mit Schreiben vom 14. März 2013 direkt an
NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), den obersten Dienstherrn der Polizei, und
berichtete über "teilweise erhebliche Probleme", die "das Verhalten einzelner
Asylbewerber in NRW" hervorrufe. Demnach gehe eine zunehmende Gewaltbereitschaft
vor allem von "jungen, teilweise drogenabhängigen, männlichen Asylbewerbern aus
den Herkunftsländern Marokko und Algerien aus", heißt es in dem Schreiben, das
der "Welt" vorliegt.

Das Verhalten dieser Minderheit sei "geeignet, generelle Vorurteile gegen


Asylbewerber zu schüren, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung massiv zu
beeinträchtigen und deren Bereitschaft, verfolgte Minderheiten bei uns
aufzunehmen, zu minimieren". Diese Akzeptanz sei seit "ca. zwei Jahren
zunehmenden Belastungen ausgesetzt". Es handele sich "nicht nur um ein lokales
Problem", heißt es in dem Schreiben.
Die Bezirksregierung unterbreitete Lösungsvorschläge, vor allem eine
"konsequentere und wesentlich zeitnähere Verfolgung sämtlicher - auch kleinerer
- Straftaten durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte" sowie
beschleunigte Asylverfahren.

Die Polizei reagiert nun auf die Alarmmeldungen: In Düsseldorf will man auch
nach der Razzia das "Maghreb-Viertel" verstärkt kontrollieren.

Es handelt sich nicht nur um ein lokales Problem Aus einem Schreiben an
NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD)

UPDATE: 18. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 18. Januar 2016 9:13 AM GMT+1

Kriminelle Struktur;
Die erschreckenden Details des "Casablanca"-Berichts

AUTOR: Kristian Frigelj, Florian Flade

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1048 Wörter

HIGHLIGHT: Mit der Düsseldorfer Razzia will die Polizei Härte gegen
nordafrikanische Kriminelle zeigen. Sie hat die Szene eineinhalb Jahre
observiert - und Einblicke in die Anatomie der Täterstrukturen erlangt.

Es sollte eine Demonstration der Staatsmacht sein - mitten im "Maghreb-Viertel"


von Düsseldorf: Etwa 300 Polizisten sperrten am frühen Samstagabend sechs
Straßen in der Nähe des Hauptbahnhofs und begannen mit einer Razzia, die sechs
Stunden dauerte. Die Beamten betraten 18 Cafés, Shisha-Bars sowie Spielcasinos
und überprüften die Papiere von fast 300 Personen überwiegend nordafrikanischer
Herkunft.

Bei 38 von 40 Festgenommenen besteht der Verdacht, dass sie sich illegal in
Deutschland aufhalten. Zudem gab es Anzeigen wegen Drogendelikten, Diebstahls
und Verstößen gegen das Waffengesetz. Das Viertel gilt als Rückzugsraum für
Taschendiebe und Kleinkriminelle.

Seit den Silvester-Übergriffen am Hauptbahnhof Köln, die eine vielfach beklagte


Ohnmacht der Polizei deutlich machten, stehen die deutschen Sicherheitsbehörden
unter Erfolgsdruck. Die Polizei Düsseldorf betont zwar, dass die Razzia nichts
mit den Köln-Übergriffen zu tun habe, sondern dass es sich um die "Fortführung
unserer seit langer Zeit andauernden Bekämpfungsstrategie" handele. Es ist
allerdings auffällig, wie sich die Polizei gerade nach dem Desaster in der
Domstadt landesweit bemüht, den Eindruck eines durchsetzungsstarken Staates zu
vermitteln.

Eine Bande - oder "grundlegende Bereitschaft zur Delinquenz"?

Vor fast genau einem Jahr führte die Polizei Düsseldorf eine ähnlich große
Razzia im "Maghreb-Viertel" durch. Sie hat zudem ein Analyseprojekt zwischen
Juni 2014 und November 2015 unter dem Namen "Casablanca" durchgeführt. Damit
bezieht man sich auf die Armutsviertel in der gleichnamigen Stadt in Marokko;
von dort aus machen sich viele junge Männer auf den Weg nach Europa.

Mit der eingerichteten Sonderkommission wollte die Polizei Düsseldorf das


verstärkte Diebstahlproblem bekämpfen und mehr über Täterstrukturen erfahren. Im
Untersuchungszeitraum registrierte die Polizei 2244 junge nordafrikanische
Tatverdächtige und 4392 Delikte, wobei es in 1294 Fällen um Laden- und
Taschendiebstahl geht.

Der Anteil nordafrikanischer Tatverdächtiger an Taschendiebstählen sei mit 73


Prozent in der Altstadt "weiterhin enorm hoch", heißt es in dem internen
"Casablanca"-Bericht, welcher der "Welt" vorliegt. Es handele sich überwiegend
um auswärtige Tatverdächtige, die aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands
stammten und sich zuvor im Düsseldorfer "Maghreb-Viertel" aufgehalten haben. Es
geht dabei vor allem um Marokkaner, Algerier, Tunesier, Libyer und Ägypter. Ein
Viertel von ihnen hat keinen festen beziehungsweise bekannten Wohnsitz.

Die Ermittler in Düsseldorf können nicht sagen, ob es eine Bandenstruktur gibt.


Sie nennen zwei "zentrale Kontaktpersonen", die in Asylunterkünften gemeldet
sind und über einen "weit gestreuten Bekanntenkreis" verfügten. "Inwiefern man
hier aufgrund der hohen Anzahl von involvierten Personen von einer möglichen
Bande sprechen kann, ist hier nicht einzuschätzen. Andernfalls müsste man schon
fast von einer grundsätzlichen Bereitschaft zur Delinquenz bei den sich
regelmäßig im ,Maghreb-Viertel' aufhaltenden männlichen Nordafrikanern zwischen
18 und 30 Jahren sprechen", heißt es in dem Dokument.

Die Ermittler machen deutlich, dass sich bestimmte Personen "verbunden haben, um
miteinander auch in unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen immer wieder
Straftaten im Bereich der Diebstähle und Raubdelikte zu begehen". Die Täter sind
demnach überaus mobil und agieren abgeschottet gegenüber Personen anderer
Herkunftsstaaten.

Die meisten der ermittelten Personen halten sich den Angaben zufolge als
Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland auf. "Dies bedeutet, dass sie keiner
legalen Erwerbstätigkeit nachgehen (dürfen) und dementsprechend nur über geringe
Barmittel verfügen können", heißt es in dem Bericht. Die Täter verfügten über
hochwertige Mobiltelefone und Kleidung, "die nur über die staatlichen Leistungen
nicht zu erwerben sein dürften. Es besteht also der Verdacht, dass die
staatlichen Leistungen durch zusätzliche (dauerhafte) Einnahmequellen
angereichert werden."

Gruppe gilt seit Jahren als problematisch


Nicht nur der "Casablanca"-Bericht belegt, dass deutschen Sicherheitsbehörden
die besonderen Probleme mit Personen nordafrikanischer Herkunft bekannt sind.
Auch Landespolitiker in Nordrhein-Westfalen wussten darüber früh Bescheid.
Allerdings entschloss man sich offenbar parteiübergreifend, dies zurückhaltend
zu kommunizieren, wohl aus Sorge, Ressentiments gegen Flüchtlinge in der
Bevölkerung zu schüren. Diesen Eindruck vermittelt das Protokoll einer Sitzung
des Innenausschusses im NRW-Landtag vom 23. Oktober 2014, über das die "Welt am
Sonntag" berichtete.

Ein weiteres vertrauliches Dokument der Bezirksregierung Arnsberg zeigt


exemplarisch, dass die Probleme mit Asylbewerbern aus Nordafrika intern sogar
schon viel länger bekannt sind. Die Bezirksregierung Arnsberg ist federführend
für Flüchtlingsverteilung und -betreuung in Nordrhein-Westfalen zuständig.

Im März 2014 hatte sich der damalige Regierungspräsident der Bezirksregierung,


Gerd Bollermann (SPD), direkt an NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gewandt, den
obersten Dienstherrn der Polizei. Bollermann berichtete über "teilweise
erhebliche Probleme", die "das Verhalten einzelner Asylbewerber in NRW"
hervorrufe, so steht es im Schreiben vom 14. März 2014, das der "Welt" vorliegt.

Demnach gehe eine zunehmende Gewaltbereitschaft vor allem von "jungen, teilweise
drogenabhängigen, männlichen Asylbewerbern aus den Herkunftsländern Marokko und
Algerien aus". Das Verhalten dieser Minderheit sei "geeignet, generelle
Vorurteile gegen Asylbewerber zu schüren, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung
zu beeinträchtigen und deren Bereitschaft, verfolgte Minderheiten bei uns
aufzunehmen, zu minimieren". Diese Akzeptanz sei seit etwa "zwei Jahren
zunehmenden Belastungen ausgesetzt". Es handele sich "nicht nur um ein lokales
Problem", heißt es in dem Schreiben.

Die Bezirksregierung unterbreitete dem NRW-Innenminister in dem Schreiben einige


Lösungsvorschläge, vor allem eine "konsequentere und wesentlich zeitnähere
Verfolgung sämtlicher - auch kleinerer - Straftaten durch Polizei,
Staatsanwaltschaften und Gerichte" sowie beschleunigte Asylverfahren. In
Düsseldorf hofft die Polizei nach der Razzia zusätzliche Erkenntnisse zu
bekommen, um die kriminellen Strukturen zu bekämpfen.

UPDATE: 18. Januar 2016

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Die Welt

Samstag 2. Januar 2016

"Diplomatie ist immer mühsam";


Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher sieht "Spuren eines neuen Kalten
Krieges" in Europa. Deutschland sollte jetzt seinen OSZE-Vorsitz nutzen, um eine
Friedensordnung voranzutreiben

AUTOR: Thorsten Jungholt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 1

LÄNGE: 1331 Wörter

Als Außenminister unterzeichnete Hans-Dietrich Genscher (FDP) zusammen mit


Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) einst die KSZE-Schlussakte und legte damit
einen Grundstein für die deutsche Einheit. Das war 1975. Der KSZE-Nachfolger,
die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), lässt
Genscher bis heute nicht los. Ausdauernd wirbt er für eine Wiederbelebung dieses
in Vergessenheit geratenen Instruments der Diplomatie.

Die Welt:

Herr Genscher, Deutschland hat am 1. Januar den Vorsitz der OSZE übernommen.
Eine richtige Entscheidung?

Hans-Dietrich Genscher:

Eine überfällige Entscheidung und eine große Chance. Deutschland war in der
Vergangenheit der Motor des KSZE-Prozesses. Deutschland sollte heute den Ehrgeiz
haben, diesen Motor, der jetzt OSZE heißt, neu anzuwerfen. Wahr ist allerdings
auch: Frank-Walter Steinmeier wird sehr viel Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Die Geschichte der vergangenen 25 Jahre zeigt, dass viele Akteure das Konzept
der KSZE nicht verstanden haben.

Wie würden Sie dieses Konzept in wenigen Worten erklären?

Verhandeln, kooperieren, Vertrauen aufbauen. Die KSZE ist aufgrund einer


sowjetischen Initiative in den 60er-Jahren entstanden. Das Ziel der Staaten des
Warschauer Paktes war klar: Sie hatten sehr früh erkannt, dass die Mauer auf
Dauer wohl nicht halten würde. Deshalb wollten sie eine Bestätigung des Status
quo, eine Festschreibung der Unveränderbarkeit der Grenzen. Für Deutschland
hätte das bedeutet: eine Ewigkeitsgarantie für die DDR.

Uns ist es dann gelungen, diese Konferenzidee aus Moskau aufzugreifen und
inhaltlich so zu verändern, dass die Schlussakte von Helsinki 1975 das genaue
Gegenteil bewirkte und einen dynamischen Prozess der Veränderung in Gang setzte.
Nicht Grenzen wurden festgeschrieben, sondern wirtschaftlicher Austausch und
humanitäre Standards. Von da an war Kritik an den menschenrechtlichen Zuständen
im Ostblock möglich, ohne dass dies als eine Einmischung in innere
Angelegenheiten zurückgewiesen werden konnte.

Allein die Vereinbarung, dass Rundfunksendungen nicht mehr elektronisch gestört


werden durften, hatte enorme Auswirkungen. Kurz: Der KSZE-Prozess war keine
Plauderei, sondern ein ganz wesentliches Element zur Überwindung der Teilung
Europas und Deutschlands sowie dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Der allerdings ist seit der russischen Annexion der Krim und dem Einmarsch in
die Ostukraine zurückgekehrt. Russland hat sich dabei um die Einhaltung von
OSZE-Regeln nicht sonderlich gekümmert.

Niemand hat sich um die OSZE gekümmert. Sehen Sie, wir hatten am 21. November
den 25. Jahrestag der Charta von Paris. Er blieb leider nahezu unbemerkt. Dabei
war diese Charta 1990 das große Versprechen aller europäischen Staaten,
einschließlich der USA und Kanadas, nunmehr ihre Beziehungen auf eine völlig
neue Grundlage zu stellen. Und das in allen Lebensbereichen, von Vancouver bis
Wladiwostok. Was ist daraus geworden?

Wir stehen mit leeren Händen da. Das politische Klima in Europa wird wieder und
immer stärker von den Spuren eines neuen Kalten Krieges vergiftet. Die OSZE ist
nicht ernst genommen worden, sie stieß auf Desinteresse. Das liegt nicht an der
Institution, sondern an den Staaten, die das Instrument nicht genutzt haben.

Geschichte wiederhole sich nicht, heißt es. Kann das Instrument OSZE unter den
heutigen Bedingungen noch funktionieren?

Wenn gewichtige Länder das wollen: natürlich. Es ist meine feste Überzeugung,
dass eine regionale Sicherheitskonferenz nicht von gestern ist, sondern im
Gegenteil das Morgen auf dieser Weltkugel. Wir leben in einer Zeit, in der es
zum ersten Mal wirklich eine Weltordnung gibt. Wenn wir früher von Weltreichen
gesprochen haben, dem englischen oder persischen, dann waren das immer nur
Teilreiche, die regional Macht ausgeübt haben.

Durch die technologische Globalisierung haben wir eine einheitliche


Öffentlichkeit und dadurch eine Weltnachbarschaftsordnung: Nicht nur ein Land,
mit dem ich eine physische Grenze habe, ist mein Nachbar, sondern alle. Wenn es
in den USA eine Immobilienkrise gibt, heben die Sparer in Mecklenburg-Vorpommern
ihr Geld von der Bank ab. Wenn es in Syrien einen Bürgerkrieg gibt, suchen die
Flüchtlinge Schutz bei uns. Diese neue Welt lässt sich nur durch Kooperation
ordnen.

Wir haben die UN, das ist gut so. Aber wir brauchen auch regionale Formen der
Zusammenarbeit, wie sie in der UN-Charta ja sogar ausdrücklich vorgesehen sind.
Die OSZE ist also ein Rollenmodell, sie wird in Europa gebraucht, und die Idee
würde sich auch in Gegenden wie dem Nahen Osten anbieten.

Hätte eine funktionierende OSZE die Ukraine-Krise verhindern können?

Die Charta von Paris hat das Bild einer europäischen Friedensordnung entworfen.
Das hätte man pflegen müssen. Doch viele im Westen haben nach dem Fall der Mauer
gesagt: Wir haben uns jetzt durchgesetzt. Wir in Deutschland haben die Einheit
gesehen, andere haben das Auseinanderfallen der Sowjetunion gesehen. Statt
weiter an einer neuen, gemeinsamen Ordnung zu bauen, wurde der Schwerpunkt auf
die Ausweitung der Nato und der EU gelegt. Die OSZE verfiel durch westliche
Inaktivität in einen Dornröschenschlaf.

Hat denn Russland ein Interesse an der OSZE? Immerhin hat der Prozess, Sie sagen
es selbst, zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt.

Es kann schon sein, dass es in Moskau Leute gab und gibt, die froh sind,
bestimmte Verpflichtungen los zu sein. Weil der Westen das Instrument OSZE nicht
genutzt hat, haben wir es den Russen auch bequem gemacht. Aber es gab ja
durchaus Signale, denken Sie an die Rede Putins im Bundestag, in der er eine
Freihandelszone zwischen Lissabon und Wladiwostok in Aussicht gestellt hat. Das
ist beklatscht worden, aber es wurde nicht aufgegriffen. Ich glaube, dass es im
Umfeld Putins auch heute noch Leute gibt, die sagen: Für uns steckt da was drin.

Was denn?

Ich bin sicher, dass auch Putin ein Interesse hat, seinem Land Wohlstand zu
bringen.
Haben die USA Interesse an einer Wiederbelebung der OSZE?

Da möchte ich ein berühmtes Wort von Henry Kissinger umdrehen, der einst fragte:
Wo ist die Telefonnummer von Europa? Heute müssen Sie fragen: Welche
Telefonnummer hat Amerika? Wen ruft man in Washington an? Ist es der Präsident?
Ist es die Mehrheit in den Häusern? Wenn ich mit dem Präsidenten sprach, wusste
ich: Ich spreche mit Amerika.

Das ist zum ersten Mal völlig anders. Um innenpolitische Anliegen wie die
Krankenversicherung durchsetzen zu können, hat Obama außenpolitisch viele
Zugeständnisse gemacht. Aber klar ist: Ohne die USA wird eine Stärkung der OSZE
nicht gelingen. Es ist ja gerade das Sensationelle an diesem Prozess, dass ganz
Europa, Russland und eben die USA darin vertreten sind.

Es wird also mühsam für Außenminister Frank-Walter Steinmeier im OSZE-Vorsitz

Diplomatie ist immer mühsam. Als die Sowjetunion 1983 ein koreanisches
Passagierflugzeug abschoss, wollten die Amerikaner eine KSZE-Folgekonferenz in
Madrid abbrechen. Außenminister Schultz schickte mir seinen KSZE-Beauftragten.
Den fragte ich: Warum machen wir diese Konferenz? Weil wir einen Erfolg für uns
verbuchen wollen und auch Chancen darauf sehen. Wenn wir nun unterbrechen,
torpedieren wir unsere eigenen Interessen und machen den Russen ein Geschenk.
Das kann doch nicht die Strafe für den Abschuss eines Flugzeugs sein!

Das wirkte noch nicht. Also versuchte ich, Herrn Schultz persönlich anzurufen.
Geht nicht, hieß es in seinem Büro, er sei auf privatem Urlaub in Kalifornien.
Da habe ich dort angerufen. Dort hieß es: Der Außenminister ist derzeit im
Swimmingpool. Ich sagte: Wie ich Ihren Laden kenne, haben Sie ein Telefon, dass
sie auf eine schwimmende Basis legen können. Ich telefonierte dann mit Schultz,
während er im Wasser stand, und habe ihm die Konferenz abgerungen.

Damals wie heute gilt: Eine Spannungslage duldet keine Ausreden, die
Herausforderungen müssen angepackt werden, und Deutschland sollte den Vorsitz
der OSZE nutzen, um die Charta von Paris wieder nach ganz oben auf die
Tagesordnung zu setzen.

UPDATE: 2. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: pa/UPI
Außenminister Hans-Dietrich Genscher (r.) 1975 im KSZE-Plenum in Helsinki, neben
ihm Bundeskanzler Helmut Schmidt. Links sieht man DDR-Staatschef Erich Honecker
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Die Welt

Montag 4. Januar 2016

Ohne Radar in das Jahr;


Zwischen AfD, Putin und Trump: 2016 wird für Angela Merkel ein Krimi. Mit im
Spiel sind etliche außenpolitische Akteure, die der Bundeskanzlerin alle Pläne
verhageln können

AUTOR: Torsten Krauel

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 2

LÄNGE: 2193 Wörter

Das Jahr 2016 liegt so jung und unschuldig da, und wird doch so spannend wie ein
Krimi. Angela Merkel und Sigmar Gabriel nehmen Anlauf zum Bundestagswahljahr
2017, und wie sie zum Jahresende dastehen werden, hängt von Faktoren ab, die
beide weder im Bundestag noch auf Parteitagen einfach wegbeschließen können.
Welche Faktoren zählen dazu?

Erstens: Bekommt die Union dauerhaft Konkurrenz von rechts? Dann verschieben
sich die Gewichte zwischen Merkel und Gabriel - und die Gewichte in Brüssel.

Zweitens: Erholt sich die SPD? Oder stürzt sie in einen Zwist wie Anfang der
80er-Jahre? Dann muss Merkel auf die FDP hoffen, und bei den Sozialdemokraten
wenden sich etliche Blicke nach links.

Drittens: Macht die internationale Politik die deutsche Innenpolitik leichter?


Oder wird die Lage im Gegenteil so unübersichtlich, dass Einigungen schwierig
werden? Dann kann alles noch gänzlich anders kommen.

Bundeskanzlerin Merkels spannendste innenpolitische Frage ist die mögliche


Konkurrenz von rechts. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sieht es derzeit
so aus, als könne die AfD bei den Landtagswahlen des 14. März so stark werden,
dass dort weder ein Kabinett aus SPD und Grünen noch ein CDU-FDP-Kabinett
möglich sind. Zusätzlich kann die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ein
zweistelliges Ergebnis einfahren und so eine rot-rote Regierung unter Führung
der Linkspartei unmöglich machen. Drei notgedrungene große Koalitionen wären die
wahrscheinliche Folge. Ein Teil der Medien und der sonstigen öffentlichen
Meinung wird davon ausgehen, dass der Protest gegen den Flüchtlingszustrom das
bürgerliche Lager dauerhaft so spaltet wie Ende der 70er-Jahre der Protest gegen
die Nato-Nachrüstung und die Atomkraft das linke Lager.

Damals entstanden neben der SPD die Grünen, zu denen ab 1990 die heutige
Linkspartei stieß. Ab März kann es im AfD-Erfolgsfall heißen, nun gebe es rechts
von der SPD ebenfalls drei Parteien - die Union, die FDP und die AfD. Ein gutes
Abschneiden der AfD auch bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin im
September erscheint dann denkbar. Besonders groß könnte das Beben werden, wenn
am 13. März zwei Szenarien eintreffen, die nach derzeitigen Umfragelagen nicht
gänzlich auszuschließen sind. Das eine Szenario ist, dass die CDU in
Baden-Württemberg wegen der Flüchtlingsfrage so weit an Zuspruch verliert, dass
die Grünen mit ihr Kopf an Kopf liegen. Das zweite Szenario ist, dass die AfD in
Sachsen-Anhalt die SPD überholt. Wenn das so kommt, kehrt die Nervosität in der
Union zurück, und in der SPD bricht Panik aus.

Das kann die Bundespräsidentenwahl Anfang 2017 spannend machen. Wenn die AfD in
den Landtagswahlen gut abschneidet und entsprechend viele Vertreter in die
Bundesversammlung entsenden darf, könnte sie erstmals große Politik machen. Denn
vielleicht besitzt dann außer der großen Koalition nur Rot-Rot-Grün die absolute
Mehrheit, die für die ersten beiden Wahlgänge nötig ist. Für die Bundesrepublik
wird deshalb Joachim Gaucks Entscheidung, zur Wiederwahl anzutreten oder nicht,
eine Zäsur. Tritt er an, ist die Wahl Routinesache. Verzichtet er, kommt es für
alle Parteien zum Schwur. Mit wem will Merkel einen Kandidaten durchbringen? Mit
wem die SPD? Schickt die Linke abermals eine eigene Persönlichkeit ins Rennen,
oder sucht sie die Absprache mit anderen? Stellt die AfD einen Kandidaten gegen
die Altparteien auf oder wartet sie ab? Wen würde im dritten Wahlgang eine FDP
favorisieren, der in ihren südwestlichen Stammlanden womöglich die politische
Wiedergeburt gelingt? Diese Entscheidungen wären eine Weichenstellung für das
Bundestagswahljahr.

Am wichtigsten dabei ist der Kurs der SPD. Das ist Merkels zweites spannendes
Thema. Auf dem Bundesparteitag Mitte Dezember haben die Sozialdemokraten den
offenen Machtkampf zwischen Anhängern der großen Koalition und den Befürwortern
einer rot-rot-grünen Koalition gerade eben noch vermieden. Die Lager
verabreichten sich gegenseitig Ohrfeigen bei den Abstimmungen zum Vorstand,
hielten aber inhaltlich still. Das kann sich nach dem 13. März ändern. Es sind
nicht nur die üblichen Verdächtigen, die Rot-Rot-Grün gern aus dem Giftschrank
zögen, in den SPD-Chef Sigmar Gabriel das Thema weggesperrt hat. So manche
Sozialdemokraten fühlen sich bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung,
Flüchtlingspolitik oder der Transatlantischen Investitions- und Freihandelszone
(TTIP) den Grünen und Linken näher als der Union. Besonders TTIP hängt einigen
wie ein Mühlstein um den Hals, und der Mühlstein wird um so schwerer sein, je
besser Donald Trumps Aussichten werden, die Präsidentenwahl am 8. November
vielleicht doch zu gewinnen. Das Thema kann mit Blick auf Sigmar Gabriels
politisches Überleben ein vergleichbar großes Konfliktpotenzial bekommen wie
Anfang der 80er-Jahre die Nato-Nachrüstung zwischen dem damaligen linken Flügel
und Kanzler Helmut Schmidt. Angela Merkel hat gerade erst wieder bekräftigt,
dass TTIP für sie unverzichtbar ist. Sie hat auf dem CDU-Parteitag auch
angedeutet, welche Entwicklung sie in der SPD für wahrscheinlich hält. Merkel
polemisierte mehrfach gegen Rot-Grün und stimmte so die CDU für 2017 auf einen
Lagerwahlkampf ein. Der wird umso wahrscheinlicher, als einige SPD-Politiker die
rot-rot-grüne Karte auch aus taktischen Erwägungen ziehen möchten. Sie glauben,
die Sozialdemokraten müssten gegenüber Merkel offen mit einer Alternative drohen
können, um in der großen Koalition bis 2017 den Einfluss zu wahren. Im
Stadtstaat Berlin könnte im September deshalb eine neue rot-rote Landesregierung
entstehen, diesmal unter Führung der SPD.

Mehr denn je fallen solche Entscheidungen aber auch unter dem Eindruck möglicher
außenpolitischer Lagen. Das ist Merkels drittes und zeitlich dringlichstes
Thema. Der Iran wählt am 26. Februar ein neues Parlament. Das Ergebnis kann für
Syrien und den Kampf gegen den Islamischen Staat interessant werden, besonders
falls die Fundamentalisten an Gewicht gewinnen. Die gespannte Lage zwischen
Teheran und dem saudischen Riad zeigt, wie viele Pulverfässer dort auf Funken
warten. Wladimir Putin hat schon im Spätherbst durchblicken lassen, er könne
sich die Ausweitung des russischen Einsatzes auf den Irak womöglich durchaus
vorstellen. Er hat im September eine Parlamentswahl vor sich. Autokraten werden
dann risikofreudig. Die Flüchtlingskrise kann sich zusätzlich dramatisch
verschärfen, falls neben dem Nahen Osten auch die Ukraine und Bosnien erneut
außer Kontrolle geraten - und dafür werden die Weichen ebenfalls schon im Winter
gestellt.

Am 20. März wollen die ukrainischen Separatistenrepubliken ihre im Herbst


verschobene eigenständige Regionalwahl abhalten. Sie wäre ein weiterer Schritt
in Richtung Abspaltung. Präsident Wladimir Putin kann seinen Einfluss geltend
machen, um die Wahl noch einmal zu verschieben und die Minsker Vereinbarungen
vom vergangenen Februar doch noch umzusetzen. Er hat aber fünf Punkte benannt,
die zuvor erfüllt werden müssen. Sie laufen auf ein Vetorecht der Separatisten
in innerukrainischen Belangen hinaus. Zugleich mehren sich Indizien dafür, dass
Russland Vorbereitungen für einen militärischen Aufmarsch trifft, der diesmal
auch von Norden die Ukraine bedrohen könnte. Den Abend der russischen
Parlamentswahl am 18. September will Putin als Sieger in Richtung des
G-20-Gipfels im chinesischen Hangzhou verlassen. Angela Merkel fliegt direkt von
der letzten Landtagswahl 2016, dem Wahlabend des Berliner Abgeordnetenhauses,
dorthin. Das Zeitfenster für Lösungen schließt sich.

Je nachdem, wie diese Lage sich entwickelt, kann auch Bosnien wieder ein großer
Konfliktherd werden. Die bosnischen Serben wollen nach ostukrainischem Vorbild
ein Vetorecht bekommen. Sie haben ein Referendum ihrer Teilrepublik zur
gegenwärtigen Staatsstruktur angekündigt und drohen mit einem
Unabhängigkeitsreferendum für 2018. Es gibt ein veritables Wettrennen zwischen
dem EU-Beitrittsantrag Bosniens, derzeit hastig geplant für Ende 2016 mit
Inkrafttreten 2017, und der Aufspaltung. Nicht zuletzt mit Blick auf die
Stimmung in der bosnisch-serbischen Teilrepublik und in Serbien selber hat
Angela Merkel im September die Grenze für die Flüchtlinge in Ungarn geöffnet,
die sonst alle nach Serbien zurückgeflutet wären. Instabilität kann im Licht der
politisch-psychologischen Situation des Balkans und der prorussischen Stimmung
von Teilen der serbischen Bevölkerung rasch in die Stärkung extremistischer
Kräfte, ja sogar in Schusswechsel münden. Von der Stabilisierung der Ukraine
hängt in Bosnien psychologisch viel ab, und damit auch für Angela Merkel. Ein
neuer Krisenherd in Europa verändert ihr Blatt. Sie wäre als Managerin so
gefragt wie im letzten Winter bei der zeitweiligen Beruhigung der ukrainischen
Krise. Und die SPD hätte es schwerer als vielleicht sonst, über Außenminister
Frank-Walter Steinmeier als denkbaren Bundespräsidentschaftskandidaten auch nur
nachzusinnen. Das alles gilt besonders auch deshalb, weil die USA für längere
Zeit als weltpolitischer Ordnungsfaktor in den Hintergrund treten. Das neue
amerikanische Staatsoberhaupt, wer auch immer es sei, wird erst am 20. Januar
2017 vereidigt. Wie schnell die neue Regierung die Amtsgeschäfte aufnehmen kann,
hängt entscheidend von der Zusammensetzung des zeitgleich in großem Umfang neu
gewählten amerikanischen Parlaments ab, dessen Senat die Kabinettsmitglieder
bestätigen muss.

Zeitgleich wird die Bundeskanzlerin durch Großbritannien gefordert. Die


EU-Reform soll möglichst so rasch kommen, dass eine risikolose Vorziehung des
britischen EU-Referendums auf 2016 und damit seine zeitliche Trennung von der
Parlamentswahl in den Niederlanden im Frühjahr 2017 und der französischen
Präsidentenwahl im Mai 2017 möglich würde. Bei diesen beiden Wahlen geht es
darum, ob die Waage sich in der EU endgültig zugunsten populistischer Parteien
neigt. Besonders Holland ist wichtig, wo Merkels Verbündeter Mark Rutte in den
derzeitigen Umfragen gegenüber der Partei von Geert Wilders dramatisch an
Rückhalt verliert. Die EU-Reform und die Flüchtlingspolitik werden in einem Jahr
wichtiger Gedenktage verhandelt, was die Sache nicht unbedingt leichter macht.
Am 21. Februar jährt sich die Schlacht von Verdun zum 100. Mal, ebenso am 24.
April der irische Aufstand gegen London. Im November folgt der 60. Jahrestag des
Ungarnaufstands. Nicht außer Acht lassen sollte man auch den fünften Todestag
des IS-Gründers Abu Musab al-Zarqawi am 7. Juni und seinen 50. Geburtstag am 30.
Oktober. Solche Daten nehmen Terroristen gern zum Anlass von Aktionen. Sie
können mehr denn je nun auch Deutschland treffen.

Ein Lichtblick für Merkel könnte die irische Wahl im Frühjahr 2016 sein. Dort
neigt eine Wählerschaft, die sich erfolgreich aus der nationalen Schuldenkrise
herausgearbeitet hat und EU-Hilfen nicht mehr braucht, zur Stärkung der irischen
Schwesterpartei der CDU/CSU, die jetzt schon den Premier stellt. Die
Parteifreunde der SPD von der heute mitregierenden Labour Party scheinen
hingegen einer schweren Niederlage entgegenzugehen. Angela Merkel käme eine
Stärkung der europäischen Mitte sehr gelegen. In der SPD hingegen werden so
manche darüber nachsinnen, dass die Labour Party die Mehrheitsbeschafferin des
Wahlsiegers war. Sigmar Gabriels Partnerparteien schwinden überall die Kräfte.
Außer in Litauen und in der Slowakei, die 2016 ebenfalls wählen - aber diese
linkspopulistischen Sozialdemokraten sind ihm bei einem besonnenen Mittekurs
nicht zwingend eine Hilfe.

Angela Merkels Jahr 2016 ähnelt ihrer bislang schwersten Zeit - der von 2000 bis
2002. Die ist fast vergessen, aber damals hat Merkel gelernt, welche Widerstände
eine riskante Entscheidung nach sich zieht. Ihr Entschluss, Helmut Kohl und
Wolfgang Schäuble zu stürzen und sich zur CDU-Chefin zu machen, hatte eine
ähnliche Qualität wie die Grenzöffnung im September. Beide Male glaubte Merkel,
nur eine Blitzentscheidung könne die CDU (2000) beziehungsweise die EU (2015)
vor unabsehbaren Folgen bewahren. Vor 15 Jahren wurde es zunächst sehr einsam um
sie, nachdem die ambitionierten Rivalen sich gefasst hatten und ihr Knüppel
zwischen die Beine warfen, ermuntert durch manche Fehler Merkels. "Die kann es
nicht" wurde zu einer verbreiteten Einschätzung über die neue
Oppositionsführerin.

Bei der Flüchtlingsfrage herrscht in etlichen EU-Partnerregierungen heute eine


ähnliche Stimmung. EU-Kollegen stellen sich offen gegen Merkel, bezichtigen sie
wahlweise der Naivität, der Egozentrik oder schlicht der Unfähigkeit, und
etliche EU-Partner tun vieles, um Merkels Vorhaben zu konterkarieren. Inmitten
dessen nehmen Union und SPD 2016 Anlauf zur Bundestagswahl.

Merkel hat im Dezember auf dem CDU-Parteitag die Trompete herausgeholt. Sie hat
Deutschlands Tatkraft beschworen und sich selber Mut zugeblasen: Wir, die Union,
stehen in der Globalisierung mit offenem Visier und voller Tatendrang da; wir
schaffen das. Das war ihre Botschaft. Auf der langen Straße, die von Januar 2016
zur Bundestagswahl 2017 führt, klingt der Nachhall der Trompete trotzdem wie ein
Nebelhorn.

2016 ähnelt Merkels bisher schwerster Zeit - der von 2000 bis 2002

Die AfD kann bei Gaucks Nachfolge erstmals große Politik machen

UPDATE: 4. Januar 2016

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Die Welt
Mittwoch 6. Januar 2016

"Es gibt keinen Bonus für Nationalität";


Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt über Integrationsanforderungen und
die Silvester-Exzesse

AUTOR: Claudia Kade

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 4

LÄNGE: 1161 Wörter

Die Grünen halten Angela Merkel Planlosigkeit bei der Integration der
Flüchtlinge vor. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt präsentiert jetzt ein
eigenes Konzept.

Die Welt:

Frau Göring-Eckardt, Dutzende Frauen sind in Köln von Männern angegriffen


worden, die nach Erkenntnissen der Polizei aus Nordafrika und dem arabischen
Raum kommen. Ist das Ausdruck von Integrationsproblemen?

Katrin Göring-Eckardt:

Was in Köln und in St. Pauli passiert ist, sind ungeheuerliche Straftaten, und
die müssen konsequent verfolgt werden. Es gibt keinen Bonus für Nationalität
oder Aufenthaltsstatus. Das Gesetz gilt für jeden. Ob er aus Dresden oder
Damaskus stammt. Aber anders als die Union glaube ich nicht, dass man auf diesen
Gewaltausbruch ein Pflaster namens "Integrationspflicht" klebt und alles wird
gut.

Für die Hunderttausenden Neuankömmlinge der vergangenen Monate kommt nach der
Unterbringung jetzt die Aufgabe der Integration auf uns zu. Lässt Merkel die
Menschen im Unklaren über die Dimension der Aufgabe?

Die Kanzlerin hat Zuversicht, aber zu wenig Plan. Was wir dringend brauchen, ist
ein Integrationskonzept, das über die nächsten Jahre trägt. Wir sind uns zwar
alle einig, dass wir die Fehler aus der Gastarbeiterzeit nicht wiederholen
wollen. Aber solange die Regierung kein umfassendes Integrationskonzept vorlegt,
erleben wir dieselben Versäumnisse wie vor 50 Jahren.

Was ist Ihr Konzept?

Zuallererst müssen wir unsere Kräfte bündeln: Auf Bundesebene muss umgehend ein
Migrations- und Integrationsministerium geschaffen werden. In der Regierung
herrscht seit Monaten ein heilloses Durcheinander, das auch der für die
Koordination zuständige Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) bisher nicht
sortieren konnte. Und der Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz fehlen die
Kompetenzen.Außerdem brauchen wir in jedem der 295 Landkreise und in den 110
kreisfreien Städten Integrationscenter. Dort sollen die Neuankömmlinge
Ansprechpartner und Aufklärung über die ihnen zustehende finanzielle
Unterstützung finden und die Ehrenamtlichen ihre Hilfe anbieten können. Eine
zentrale Anlaufstelle für alle Beteiligten vor Ort ist wichtig, damit Geld,
Kompetenzen, Know-how und Engagement gebündelt werden. Dann kann auch der Bund
stärker einsteigen.

Dort soll es dann auch Integrationslotsen geben, die entscheiden, welche


Schritte für den einzelnen Asylsuchenden am vordringlichsten sind.
Nordrhein-Westfalen hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht.

Also neue Bürokratie?

Weniger! Ehrenamtler, Wohlfahrtsverbände und auch Vertreter der Flüchtlinge


selbst sollen bei Fragen von Unterbringung, Integrationskursen mitwirken.
Faktisch tun sie das schon jetzt. Ohne freiwillige Helfer geht nichts. Deshalb
wollen wir Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht zulassen.

Für die Verwaltung geht es darum, die Arbeit, die bisher unkoordiniert in
verschiedenen Behörden geleistet wird, in einer zentralen Anlaufstelle
zusammenzuführen. Auf Bundesebene soll es genauso laufen: In einem neuen
Integrationsministerium würden aus den übrigen Ressorts die betreffenden
Abteilungen zusammengezogen.

Wird die Integration so teuer, dass der Bund wieder in die Neuverschuldung
rutscht?

Diese Mega-Aufgabe wird viel Geld kosten: Für die Schulen brauchen wir allein
vom Bund in den nächsten zehn Jahren jährlich eine Milliarde, ebenso viel für
die Kitas, und für den Wohnungsbau sind noch einmal zwei Milliarden Euro im Jahr
erforderlich.

Im Moment haben wir noch genug Geld. Aber klar ist: Die Haushaltsziele müssen
sich im Zweifelsfall dieser zentralen gesellschaftlichen Aufgabe unterordnen.
Finanzminister Schäuble hat die schwarze Null ohnehin nur mit einigen
Buchungstricks erreicht.

SPD-Fraktionschef Oppermann wirft Merkel vor, nicht konservativ genug sein und
damit der AfD Wähler zuzutreiben. Finden Sie das logisch?

Herrn Oppermann ist an den Feiertagen wohl die Feuerzangenbowle zu Kopf


gestiegen. Er scheint vergessen zu haben, dass er Teil von Merkels Koalition
ist. Die SPD kann doch nicht auf der einen Seite die Flüchtlingspolitik der
Kanzlerin unterstützen und ihr auf der anderen Seite vorwerfen, mit ihrem Kurs
der AfD Zulauf zu verschaffen. Gegen die AfD hilft nur, Haltung zu zeigen und
nicht, der Kanzlerin die Schuld zuzuschieben. Das sollte Herr Oppermann lassen.

Wie enttäuscht sind Sie von Schweden, dem Sozialstaatsvorbild?

Die Ausweiskontrollen, die Schweden jetzt an seinen Grenzen vornimmt, sind nicht
das, was ich mir für die Zukunft Europas vorstelle.

Es ist ausgerechnet eine rot-grüne Regierung, die diesen Schritt geht, um


Flüchtlinge abzuhalten

Mir gefällt das nicht. Zumindest müssen wir anerkennen, dass die Schweden pro
Einwohner viermal so viele Flüchtlinge aufgenommen haben wie wir in Deutschland.
Außerdem ist das schwedische Asylrecht viel großzügiger als unseres. Die
Schweden wollen jetzt Klarheit darüber, wer zu ihnen ins Land kommt.

Dänemark nimmt ebenfalls Passkontrollen vor. Dann stecken Tausende Asylsuchende,


die weiter nach Norden wollen, in Deutschland fest.

Dass Dänemark gleich nachgezogen hat mit den Grenzkontrollen, ist absurd. Die
Dänen haben weit weniger Asylsuchende aufgenommen als Schweden oder wir. Sie
nutzen aber jetzt die Gelegenheit, aus der Solidarität auszusteigen. Das ist
nicht akzeptabel.
Kann Deutschland es sich leisten, weiter auf solche Kontrollen zu verzichten?

Wir brauchen endlich an den europäischen Außengrenzen eine sichere


Registrierung. Wir müssen wissen, wer zu uns kommt. An den Außengrenzen, an den
sogenannten Hotspots, muss auch eine ausgewogene Verteilung der Schutzsuchenden
auf die einzelnen EU-Staaten vorgenommen werden, dort werden Flüchtlinge
registriert, unter anderem mit Fingerabdrücken, und es wäre sehr sinnvoll, auch
den Ausbildungsstand der Menschen zu kennen. Darum muss sich die EU intensiv
kümmern.

Aber gegen eine Verteilung sperren sich doch viele EU-Staaten und auch viele
Flüchtlinge.

Die Flüchtlinge müssen in Zukunft akzeptieren, dass nicht jeder von ihnen sein
Wunschziel erreicht, sondern in ein anderes Land geschickt werden kann.
Voraussetzung sind anständige Standards in allen Ländern. Trotzdem ist das hart,
aber notwendig. Es kann zwar Ausnahmen geben: Wenn zum Beispiel schon Verwandte
da sind, dann sollen die Neuankömmlinge in dieses Land nachkommen. Das ist auch
besser für die Integration. Aber grundsätzlich muss die Aufteilung gelten, die
die EU an den Außengrenzen künftig vornimmt.

Welche Druckmittel gibt es, widerwillige EU-Staaten zur Aufnahme zu bewegen?

Am besten funktioniert das leider über Geld. Länder, die sich der Solidarität in
der Flüchtlingskrise verweigern, sollten das finanziell auch spüren. Die Länder,
die viele Flüchtlinge aufnehmen, sollten stärker unterstützt werden als bislang.
Dafür sollte ein EU-Solidaritätsfonds für Flüchtlinge eingerichtet werden. Die
Idee: Alle Mitgliedsstaaten zahlen wie in eine Versicherung ein. Leistungen
erhalten die Staaten, die besondere Leistungen erbringen, also zusätzliche
Flüchtlinge aufnehmen.

UPDATE: 6. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt
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Die Welt

Mittwoch 6. Januar 2016

Taten verlangen "harte Antwort des Rechtsstaats";


Nach Übergriffen von Köln: Kanzlerin bezeichnet Vorfälle als "widerwärtig"und
sagt OB Reker Unterstützung zu. Noch keine Erkenntnisse über Täter

AUTOR: Claudia Kade; Manuel Bewarder

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 4

LÄNGE: 494 Wörter

Mit Entsetzen und der Forderung nach konsequenter Verfolgung der Täter haben
Spitzenpolitiker auf die massenhaften Sexualstraftaten an Frauen in Köln
reagiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) telefonierte mit der Kölner
Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) und drückte ihre Empörung über
diese "widerwärtigen Übergriffe und sexuellen Attacken" aus. Sie verlangten
"nach einer harten Antwort des Rechtsstaats". Allerdings wird die juristische
Aufarbeitung sehr schwierig.

Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers sagte: "Wir haben derzeit keine
Erkenntnisse über Täter." Oberbürgermeisterin Reker warnte vor
Vorverurteilungen. "Es gibt keinen Hinweis, dass es sich hier um Menschen
handelt, die hier in Köln Unterkunft als Flüchtlinge bezogen haben."
Entsprechende Vermutungen halte sie für "absolut unzulässig".

Dutzende Frauen sollen in der Silvesternacht auf dem Bahnhofsvorplatz aus einer
Gruppe von etwa 1000 Männern heraus angegriffen worden sein. Die Polizei hatte
von Sexualdelikten in massiver Form und von einer Vergewaltigung gesprochen. Aus
der Menge bildeten sich Gruppen, die Frauen umzingelten, bedrängten und
ausraubten. Diese Vorgehensweise ist auch als "Antanzen" bekannt. Nach Angaben
von Polizisten und Opfern waren die Täter überwiegend junge Männer, die aus dem
"nordafrikanisch-arabischen Raum" stammen. Aus Hamburg und Stuttgart wurden
ähnliche Vorfälle gemeldet.

Albers stellte allerdings klar: "Es gibt keine tausend Täter." Der
Polizeipräsident wies Kritik zurück. "Wir waren an dem Abend ordentlich
aufgestellt." Er kritisierte jedoch die erste polizeiliche Einschätzung der Lage
am Neujahrsmorgen als "falsch". In einer Pressemitteilung hatte die Polizei die
Einsatzlage zu Silvester als entspannt beschrieben. Bundesjustizminister Heiko
Maas (SPD) sagte, man müsse klären, ob es sich bei den Vorfällen um eine neue
Form von organisierter Kriminalität handele.

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sagte der


"Welt": "Die Tatbegehungsweise in Köln war grundsätzlich nicht neu. In dieser
gewalttätigen Art und in diesem Ausmaß haben wir es aber mit einem neuen
Phänomen zu tun, das nicht vorhersehbar war." Mit stärkeren Kräften hätte die
Polizei energischer reagieren können, aber mittlerweile sorge der "massive
Einsatz der Bundespolizei an der Grenze zu Österreich immer häufiger dafür, dass
Bahnhofsdienststellen nur noch äußerst knapp besetzt sind". Köln will die
Sicherheitsvorkehrungen jetzt verschärken, auch mit Videoüberwachung. Reker
sagte, Frauen müssten ohne jedes Unsicherheitsgefühl Karneval feiern können.

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte der "Welt": "Was in Köln und


in St. Pauli passiert ist, sind ungeheuerliche Straftaten, und die müssen
konsequent verfolgt werden. Es gibt keinen Bonus für Nationalität oder
Aufenthaltsstatus. Das Gesetz gilt für jeden. Ob er aus Dresden oder Damaskus
stammt." Siehe Kommentar, Seiten 4 bis 6 und 21

UPDATE: 6. Januar 2016


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Oliver Berg; © 2015 Twentieth Century Fox


Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker warnt vor Vorverurteilungen und
kündigt mehr Sicherheitsmaßnahmen an
Oliver Berg

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Die Welt

Freitag 8. Januar 2016

61 Prozent sagen Ja zu Obergrenze für Flüchtlinge;


Mehrheit der Deutschen wünscht härteren Kurs

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 6

LÄNGE: 669 Wörter

Eine große Mehrheit der Bürger wünscht sich härtere Maßnahmen gegen den
islamistischen Terrorismus. 87 Prozent der im Deutschlandtrend von Infratest
Dimap im Auftrag der ARD-"Tagesthemen" und der "Welt" Befragten würden deutschen
Staatsbürgern, die für Terrormilizen gekämpft haben, die deutsche
Staatsbürgerschaft entziehen - wenn die Gefährder einen weiteren Pass besitzen.
Sieben von zehn Deutschen sind für eine grundsätzliche Verschärfung der
Überwachungsmaßnahmen und 88 Prozent der Befragten würden gewaltbereiten
Islamisten bei einem konkreten Anschlagsverdacht für eine bestimmte Zeit die
Annäherung an größere Veranstaltungen verbieten. 68 Prozent der Bürger
fürchteten im Januar, dass in nächster Zeit Terroranschläge in Deutschland
verübt werden könnten, damit haben sich nach der Münchner Bedrohungslage in der
Silvesternacht die Sorgen merklich verstärkt (sieben Punkte mehr als im
Dezember).

Auch in der Zuwanderungspolitik fordert die Mehrheit der Befragten einen


härteren Kurs. 61 Prozent sind für eine staatlich festgesetzte Obergrenze für
die Aufnahme von Flüchtlingen. 51 Prozent der Deutschen würden Flüchtlingen und
solchen, die vorgeben es zu sein, die Einreise verweigern, wenn sie keine
gültigen Ausweispapiere besitzen.

57 Prozent sprechen sich für die Wiedereinführung von Kontrollen an den


deutschen und anderen EU-Binnengrenzen aus. Das waren 12 Punkte mehr als noch im
September. Drei von vier Befragten würden sogar ein Gesetz begrüßen, das regelt,
wie man Zuwanderer auf deutsche Grundwerte verpflichtet.
Obwohl die Bundesregierung keine dieser Maßnahmen plant, erfreut sie sich
wachsender Beliebtheit. Drei Punkte mehr (51 Prozent) als noch im Dezember sind
mit der schwarz-roten Gruppenleistung zufrieden oder sehr zufrieden. Die
Zustimmung für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist sogar um vier Punkte
gestiegen (58 Prozent). In der Einzelwertung wird dieser Beliebtheitssprung nur
noch von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) getoppt. Ihre
Zustimmungswerte steigen im Monatsvergleich um bemerkenswerte acht Punkte auf 47
Prozent.

Zuletzt war Kritik an ihr laut geworden, weil ihrer Ankündigung, 100.000
Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge zu schaffen, bislang keine Taten gefolgt sind.
Zudem hatte sie ein Bundessozialgerichtsurteil kritisiert, das Sozialleistungen
für arbeitslose EU-Ausländer, die nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland
Sozialhilfe beantragen, für rechtmäßig hält.

Was auch immer die Befragten an Nahles beeindruckt haben mag - ihre Partei
profitiert jedenfalls nicht von dem Beliebtheitssprung. Die Sozialdemokraten
bekämen nur 24 Prozent (-1) der Stimmen. Die CDU/CSU legt im Urteil der
Bundesbürger leicht zu und könnte derzeit mit 39 Prozent (+2) der Stimmen
rechnen. Die Grünen liegen konstant bei elf Prozent, die Linke ebenfalls
unverändert bei acht. Den Liberalen bliebe mit erneuten vier Prozent der
Wiedereinzug in den Bundestag verwehrt. Die AfD könnte dagegen trotz leichter
Verluste im Parlament Platz nehmen (neun Prozent, -1).

Der politische Umgang mit der drastisch gestiegen Zuwanderung ist aus Sicht der
Bürger das mit Abstand wichtigste Thema in diesem Jahr. Drei Viertel (73
Prozent) sind der Meinung, dass sich die Bundesregierung vorrangig um diesen
Komplex kümmern sollte. Der Arbeitsmarkt (10 Prozent) und die wirtschaftliche
Situation (8 Prozent) werden von rund jedem Zehnten genannt und spielen damit
eine deutlich nachrangigere Rolle. Die Befriedung der Auseinandersetzungen, etwa
in Syrien, und damit die Bekämpfung der Fluchtursachen nennen sechs Prozent als
Thema, um das sich die Bundesregierung 2016 kümmern sollte.

Dass die Bundesrepublik aus der Zuwanderung eher Vorteile ziehen wird, glauben
38 Prozent, während eine geringfügig höhere Zahl von 41 Prozent davon ausgeht,
dass die Nachteile überwiegen werden. Eine kleine Gruppe von 15 Prozent ist der
Ansicht, dass sich beides die Waage halten wird.

Für den Deutschlandtrend befragte Infratest Dimap am 4. und 5. Januar 1004


wahlberechtigte Bürger.

UPDATE: 8. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Samstag 9. Januar 2016

"Der Staat muss wehrhaft bleiben";


Bayerns Finanzminister Söder fordert mehr Rückhalt für Polizei und
Verfassungsschutz. Und zweifelt an Merkels Flüchtlingspolitik

AUTOR: Peter Issig

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 7

LÄNGE: 1320 Wörter

Er hielt sich für seine Verhältnisse lange bedeckt. Seit dem CSU-Parteitag Ende
November war von Bayerns Finanzminister Markus Söder kaum etwas zur
Bundespolitik zu hören. Jetzt, zwischen den beiden Klausurtagungen der
CSU-Landesgruppe und der Landtagsabgeordneten in Wildbad Kreuth, meldet sich der
potenzielle Seehofer-Nachfolger wieder zu Wort: Söder warnt vor einer
Destabilisierung der Gesellschaft und den steigenden Kosten für die
Flüchtlingspolitik.

Die Welt:

Was ist in Ihren Augen die Folge der Kölner Übergriffe?

Markus Söder:

Die Bürger sind verunsichert, empört und geschockt. So etwas hat es in diesem
Ausmaß noch nie in Deutschland gegeben. Und so etwas darf auch nie wieder
passieren. Der Schutz der Bürger ist die wichtigste Aufgabe des Staates. Wenn
der Staat nicht in der Lage ist, den Schutz der Bürger zu gewährleisten,
verfehlt er seinen Auftrag. Deswegen müssen wir allen, die sich nicht an unsere
Regeln und Gesetze halten, zeigen, dass dieser Staat wehrhaft ist.

Nach allem was bekannt ist, haben sich tatsächlich viele Zuwanderer,
Flüchtlinge, Migranten an den Ausschreitungen beteiligt. Was für Konsequenzen
muss das haben?

Natürlich muss erst alles genau aufgeklärt werden. Klar ist aber: Wer vor Gewalt
flieht und hier Frieden findet und dennoch gewalttätig wird, hat bei uns keine
Zukunft. Dabei darf nicht nur darüber geredet werden, ob die Wortwahl einer
Oberbürgermeisterin unglücklich oder ob die Einsatzplanung der örtlichen Polizei
Schuld war. Man muss offen und ehrlich darüber sprechen, dass sich
offensichtlich Parallelgesellschaften gebildet haben und die Integration nicht
überall funktioniert.

Wie kann das geändert werden?

Der Staat muss wehrhaft bleiben. Deswegen ist es dringend notwendig, dass mehr
in die Polizei investiert wird. Bayern ist hier ein Vorbild. Wir haben im
vergangenen Jahr über 1000 neue Stellen geschaffen, die Ausrüstung verbessert
und die Bezahlung aufgestockt. Ein Polizeihauptmeister in Bayern verdient im
Jahr 2000 Euro mehr als sein Kollege in Nordrhein-Westfalen. Die Besoldung ist
immer auch Ausdruck von Wertschätzung.

Sind die Kölner Übergriffe ein Problem der Polizeiführung in Nordrhein-Westfalen


oder ist es ein strukturelles Problem? Viele Bundespolizisten sind zur
Grenzkontrolle in Bayern abgestellt.

In Bayern können wir uns Vorfälle in solchen Dimensionen nicht vorstellen. Weil
unsere Polizei besser aufgestellt ist und weil wir zu unserer Polizei stehen.
Diese Rückendeckung müssen wir allen Polizisten in Deutschland geben. Debatten,
ob Polizeibeamte etwas sagen dürfen, oder lieber nicht, schwächen den Rückhalt
für die Beamten.

Genügt es, die Polizei aufzurüsten?

Natürlich müssen auch der Verfassungsschutz und die Nachrichtendienste gestärkt


werden. Wir müssen realitätsbewusst diskutieren, was notwendig ist. Gerade zur
Terrorbekämpfung benötigen wir mehr eigene Quellen, um weniger auf ausländische
Partner angewiesen zu sein.

Sie kritisieren, dass nicht offen darüber gesprochen wird, wer die Täter
möglicherweise sind. An wen richtet sich dieser Vorwurf, an die Politik, an die
Medien?

Viele Bürger waren überrascht, dass man über die Terrorwarnung in der
Silvesternacht in München ausführlich diskutiert hat. Aber was in anderen
Städten tatsächlich passiert ist, wurde erst Tage später über das Internet
bekannt und hat in manchen Medien zunächst gar nicht stattgefunden.

Aus der CSU war schon der Vorwurf eines Schweigekartells zu hören. Befördert die
Partei Verschwörungstheorien?

Nein, aber es gab Versäumnisse. Der ein oder andere Fernsehsender hat sich ja
auch dafür entschuldigt. Weder Politik noch Medien dürfen aus falsch
verstandener politischer Correctness die Wahrheit ignorieren. Wir müssen ehrlich
miteinander umgehen.

Aber die öffentliche Debatte findet doch statt.

Jetzt ja. Aber erst nachdem einzelne Polizeibeamte Details veröffentlicht haben.
Fakt ist, dass die Bürger manchmal genauer Bescheid wissen über das, was im Land
geschieht, als es die öffentliche Debatte wahrhaben will. Und wenn politische
Kräfte jetzt immer noch sagen, man solle nicht darüber reden, dass in Köln
Personen mit Migrationshintergrund beteiligt waren, ist das ein falscher Ansatz.
Natürlich muss man besonnen reagieren, aber auch ehrlich. Sonst entsteht der
Eindruck, dass die Politik nicht in der Lage sei, ernsthafte Probleme auch
ernsthaft zu benennen. Dann verliert die Bevölkerung das Vertrauen.

Zurück zu den Sicherheitsbehörden. Wer soll die bessere Ausstattung eigentlich


bezahlen?

In der Tat ist die finanzielle Lage der Länder wegen der Flüchtlingssituation
sehr angespannt. Bayern macht keine neuen Schulden und kann sogar noch alte
Schulden tilgen. Andere Länder müssen neue Schulden machen oder wollen Steuern
erhöhen. Wir sind da strikt dagegen.

Rechtfertigen Ausnahmesituationen nicht auch Ausnahmen bei der Haushaltspolitik?

Wenn wir in Deutschland wieder Schulden machen wegen einer unbegrenzten


Zuwanderung, wenn wir Steuern deswegen erhöhen, oder gar Gesundheitsleistungen
oder Renten kürzen, wird das für die Integration keinen Vorteil bringen. Im
Gegenteil: Es entsteht sozialer Unfrieden vor allem in den unteren
Einkommensgruppen der Gesellschaft. Denn die sozial Schwächeren schultern in
Wahrheit die Integration.
Wie kann Stabilität erreicht werden?

Durch die Begrenzung der Zuwanderung. Dafür ist der Bund zuständig. Wenn der
Bund diese Begrenzung nicht leistet, muss er zumindest den Ländern das Geld zur
Verfügung stellen, das sie zur Bewältigung der Folgen benötigen.

Ist dann die schwarze Null im Bundeshaushalt noch zu halten?

Das hängt davon ab, wie sich die Flüchtlingszahlen entwickeln. Bayern gibt in
den Jahren 2015 und 2016 rund 4,5 Milliarden Euro für die Flüchtlinge aus. Davon
könnte man zwei Universitäten bauen oder mehrere Hunderttausend Kita-Plätze
einrichten. Eine Million Menschen mehr bedeuten natürlich auch bei der sozialen
Sicherung Veränderungen. Deswegen brauchen wir eine Reduktion der Zuwanderung.

Die Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen, die die CSU fordert, könnte schon Ende
Februar, wenn Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
stattfinden, erreicht sein. Was geschieht dann?

Wir werden schauen, was in den kommenden Wochen und Monaten passiert. Ohne eine
Änderung der Flüchtlingspolitik werden wir aber noch ganz andere Fragen als die
Finanzpolitik diskutieren müssen.

Die Kanzlerin sagt, sie brauche Zeit. Die CSU sagt, wir haben es eilig. Wie
lange geht das noch gut?

Die Kanzlerin setzt auf eine internationale Lösung. Ob diese internationale


Lösung tatsächlich in absehbarer Zeit erreicht wird, ist aus heutiger Sicht
fraglich. Die Lage in Syrien und dem Nahen Osten wird täglich unübersichtlicher.
Denken Sie an die Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran oder der Türkei
und Russland. Und auch in Europa steigen die Schwierigkeiten. Es droht eine
Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa. Wenn die internationale Lösung nicht
zeitgerecht funktioniert, brauchen wir einen Plan B.

Der lautet?

Deutschland muss dann national handeln. Wenn wir klare Signale setzen wie
Schweden und Dänemark, dann wird sich die Lage auch wieder in Deutschland
stabilisieren.

Die CDU ist gegen Grenzsperrungen?

Es geht nicht um Sperrungen, sondern um konsequentere Grenzkontrollen und


Abschiebungen. Manchmal überholt die Realität Parteitagsbeschlüsse.

Ist mit Köln die Stimmung in der Bevölkerung gekippt?

Im letzten Jahr konnten wir die Herausforderung mit großer Solidarität und
Barmherzigkeit leisten. In diesem Jahr wird es finanziell und organisatorisch
wesentlich schwieriger. Und ob wir es kulturell schultern, wird sich erst in
Jahren zeigen. Aus einer reinen Willkommenskultur ist auch eine Besorgniskultur
geworden.

Mit welchen politischen Konsequenzen rechnen Sie?

Es wäre falsch, nur ängstlich darauf zu starren, ob die AfD oder andere Gruppen
ein Prozent mehr oder weniger bekommen. Wir müssen Probleme lösen. Mein Eindruck
ist, dass nach Köln etwas in Bewegung kommt.
UPDATE: 9. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Amin Akhtar/Amin Akhtar


Bayerns Finanzminister Markus Söder: "Nach Köln kommt etwas in Bewegung"
Amin Akhtar

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Die Welt

Mittwoch 13. Januar 2016

"Mehr für das Wohl der Tiere tun";


Deutschlands oberster Verbraucherschützer Klaus Müller über bessere Ställe,
teurere Lebensmittel - und ein besonderes Angebot für Flüchtlinge

AUTOR: Claudia Ehrenstein

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 11 Ausg. 10

LÄNGE: 1130 Wörter

Am Freitag beginnt in Berlin die Internationale Grüne Woche, die weltweit größte
Leistungsschau der Landwirtschaft und Ernährungsindustrie. Deutschlands oberster
Verbraucherschützer Klaus Müller fordert, dass Verbraucher für bestimmte
Lebensmittel künftig mehr bezahlen.

Die Welt:

Herr Müller, was erwarten Sie von der Grünen Woche?

Klaus Müller:

Die Messe bietet die Chance zum Austausch. Wir wünschen uns, dass die Messe
stärker die Interessen und Bedürfnisse der Verbraucher in den Blick nimmt und
etwas weniger die Marketinginteressen der Anbieter. Alle Beteiligten sollten
viel intensiver diskutieren, wie wir uns unsere Lebensmittel der Zukunft
vorstellen.

Zum Beispiel?

Ein gutes Beispiel ist das Thema Nutztierhaltung. Umfragen zeigen, dass eine
wachsende Zahl von Verbrauchern will, dass Nutztiere artgerechter gehalten
werden. Die Bauern und auch die Politik merken, dass sie mehr für das Wohl der
Tiere im Stall tun müssen.

Was genau ist das Problem?

Die Mehrheit der Verbraucher will Fleisch genießen, ohne dabei ein schlechtes
Gewissen haben zu müssen. Sie wollen, dass es den Tieren gut geht, und dafür
sind sie auch durchaus bereit, an der Ladentheke mehr zu zahlen. Außer bei
Biolebensmitteln können sie im Supermarkt aber bislang nur schwer erkennen, ob
ein Steak, Schnitzel oder Filet von einem Tier stammt, das besonders artgerecht
gehalten wurde. Diese Lücke müssen wir schließen.

Was fordern Sie?

Wir brauchen zum einen ein verbindliches Tierschutzlabel, um Vertrauen in


Produkte aus tiergerechter Haltung zu schaffen und die Erkennbarkeit zu
verbessern. Da muss Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt die
Initiative ergreifen. Darüber hinaus schlagen wir eine Tierhaltungskennzeichnung
auf europäischer Ebene vor. Dafür gibt es ein Vorbild, das die Verbraucher sehr
gut angenommen haben: Das ist die Eierkennzeichnung mit 0, 1, 2 und 3 für die
unterschiedlichen Haltungsformen. Ein vergleichbares System mit klar definierten
Kriterien sowie strengen Kontrollen und Sanktionen brauchen wir auch für
Fleisch.

Und weiter?

Um mehr Tierschutz im Stall zu gewährleisten, müssen wir die Vorschriften zur


Haltung von landwirtschaftlichen Nutztieren verschärfen. Und schließlich müssen
die EU-Subventionen aus Brüssel, die deutsche Bauern ja nach wie vor erhalten,
noch stärker an Standards zum Tierschutz gekoppelt werden. Es gibt nationalen
Handlungsspielraum, auch wenn Agrarpolitik vor allem in Brüssel bestimmt wird.

Es soll aber auch den Bauern besser gehen, die derzeit mit Milch und Fleisch
kein Geld mehr verdienen?

Das Preisniveau für Lebensmittel wie Fleisch und Milch muss insgesamt so hoch
liegen, dass Bauern davon leben können. Landwirtschaft ist ein angesehener
Berufsstand. Landwirte sorgen für Landschaftspflege und Artenschutz, sie pflegen
regionale Traditionen und sorgen für vielfältige Lebensmittel. Das muss der
Gesellschaft etwas wert sein.

Gibt es so etwas wie einen blinden Fleck des Verbraucherschutzes?

Die Klassiker des Verbraucherschutzes sind Lebensmittel und Energie, der


Finanzmarkt und mittlerweile die Digitalisierung. Es entwickelt sich gerade ein
fünftes großes Thema: Das ist der Gesundheits- und Pflegebereich. Verbraucher
informieren sich hier noch stark über Werbung. Die Verbraucherpolitik und auch
wir Verbraucherschützer müssen diesen Bereich stärker berücksichtigen und
Verbrauchern mehr unabhängige Orientierung liefern. Ein besonders kritisches
Thema ist die Erhebung sensibler Daten über Apps und Fitnessarmbänder und die
Frage, wer diese Daten in welcher Weise nutzt.

Vor welche Herausforderungen steht der Verbraucherschutz durch die wachsende


Zahl von Flüchtlingen?

Geschäftemacher versuchen, die aktuelle Situation für sich zu nutzen. Es war


sicher kein Einzelfall, dass Flüchtlingen überteuerte 24-Monatsverträge für ihre
Handys verkauft wurden oder Fernseher zusammen mit 24-Monatsverträgen für
Pay-TV-Sender. Zum Teil konnten Verbraucherzentralen die Flüchtlinge aus diesen
Verträgen rauspauken. Sicher sind die Lebenswelt und der Konsumalltag in
Deutschland für viele neu und ungewohnt. Eine umso wichtigere Rolle spielt
Verbraucherbildung.

Zur Integration gehört also auch Verbraucherbildung?

Ja, unbedingt. Integration bedeutet verkürzt gesagt, seine Rechte und Pflichten
zu kennen. In vielen Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen, gibt es nicht das
Maß an Recht und Ordnung im Konsumalltag, das wir hier kennen. Aber zu wissen,
wie man sich nicht über den Tisch ziehen lässt, gibt ein Gefühl von Sicherheit.
Flüchtlinge müssen auch lernen, dass sie einen Vertrag, den sie unterschrieben
haben, erfüllen müssen.

Was bieten Sie Flüchtlingen an?

Momentan sind wir vor allem in Gesprächen mit Wohlfahrtsverbänden, die ja die
Notunterkünfte betreuen und damit direkten Kontakt zu den Flüchtlingen haben.
Manche Flüchtlinge haben zwar etwas Geld, aber sie haben noch keine Arbeit und
wissen noch nicht genau, wo genau sie auf Dauer leben werden. Es gibt einen
Vorlauf von etwa sechs bis neun Monaten, bis die Flüchtlinge zu Verbrauchern
werden.

Welche besonderen Bedürfnisse haben die Flüchtlinge?

Wir bereiten gerade ein "Kleines Einmaleins für den Verbraucheralltag" vor. In
kleinen YouTube-Videoclips wollen wir möglichst einfach und ohne erhobenen
Zeigefinger in verschiedenen Sprachen erklären, was wichtig ist: Wie
funktioniert das mit den Telefonverträgen? Welche Versicherungen sind notwendig?
Wie kann ich mich hierzulande meiner Tradition und meinem Glauben entsprechend
ernähren? Wie falle ich nicht auf Tricks rein? Mit den Filmen wollen wir vor
allem auch die Jüngeren erreichen, die ja fast alle ein Smartphone besitzen und
im Internet surfen.

Werden sich Konsummuster ändern?

Natürlich, auf jeden Fall. In jeder großen Stadt gibt es heute einen
Telekommunikationsladen mit speziellen Angeboten für Telefonate in die Türkei
oder Russland. Das wird es auch für Nordafrika, Syrien und andere Länder geben.
Auch für Überweisungen ins Ausland wird es neue Angebote geben müssen. Da
erheben Anbieter bislang noch horrende Gebühren. Das muss sich ändern.

Gibt es weitere Veränderungen?

Menschen aus einem anderen Kulturkreis haben andere Ernährungsgewohnheiten. Für


Muslime ist etwa wichtig zu wissen, wo es Halal-Lebensmittel gibt. Darauf werden
sich bald auch die großen Handelsketten einstellen müssen.

Wird die Nachfrage nach bestimmten Nahrungsmitteln steigen?

Ob sich das tatsächlich quantitativ messen lässt, halte ich eher für
unwahrscheinlich. Aber vielleicht wird sich der eine oder andere künftig von der
arabischen Küche inspirieren lassen.

Italienische Kost war einmal fremd

Pizza und Pasta wurden anfangs auch kritisch beäugt und sind heute nicht mehr
aus der deutschen Küche wegzudenken. Warum sollen nicht auch Couscous und
Rosinenreis ganz selbstverständlich zu unserem Alltag gehören?
UPDATE: 13. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Getty Images/jp/jl


Hühner in einem deutschen Biohof: Viele Verbraucher wären bereit, für
artgerechtere Haltung mehr zu zahlen
jp/jl

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Die Welt

Dienstag 19. Januar 2016

Teherans Angst vor Imperialismus in Burger-Form;


Eröffnet McDonald's demnächst Filialen im Iran?

AUTOR: Sonja Gillert

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 15

LÄNGE: 672 Wörter

Mash Donald's, Pizza Hat, Subways und Burger House - Fast-Food-Restaurants


findet man viele in Teheran und anderen großen iranischen Städten. Die
amerikanischen Originale dürfen allerdings bisher nicht ins Land. Das könnte
sich mit dem Ende der Wirtschaftssanktionen im Rahmen des Atomabkommens ändern -
und McDonald's und Co. dürfte im Iran ein großer Markt erwarten. "Fast Food ist
mittlerweile sehr beliebt im Iran, besonders unter jungen Leuten", sagt die
Iranerin Negar, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, der "Welt".

Im Juli berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasmin, McDonald's habe sich


im Iran um eine Lizenz beworben. Bestätigt wurde das von dem US-Unternehmen
nicht. Kurz darauf hieß es in einem Bericht des iranischen Staatssenders Press
TV, die Fast-Food-Kette habe doch keinen Antrag gestellt. Wie BBC kurz nach der
Unterzeichnung des Atomabkommens im Sommer schrieb, ist es mittlerweile
zumindest möglich, auf der internationalen Webseite von McDonald's einen Antrag
für die Eröffnung einer Filiale im Iran auszufüllen. Der Link zu dem Formular
ist noch aktiv. Zugleich findet sich noch ein Statement des Unternehmens auf der
Webseite: "Wir haben noch kein festes Datum für eine Entwicklung von
McDonald's-Restaurants im Iran bestimmt." Allerdings wird der Iran nicht mehr in
der Liste der Franchising-Märkte des Unternehmens auf der Webseite aufgeführt.
Auf eine Anfrage der "Welt" zu möglichen Plänen im Iran äußerte sich das
Unternehmen bisher nicht. Vor der Islamischen Revolution im Jahr 1979 gab es die
Fast-Food-Kette bereits im Iran.
Aber auch mit dem Wegfall der Sanktionen dürfte eine Lizenz nicht ohne weiteres
zu bekommen sein. Einerseits dürften Investitionen für US-Unternehmen im Iran
immer noch von einige Einschränkungen betroffen sein und es gibt in dem Land
Gegner des US-Konzerns. Für die religiösen Kräfte ist McDonald's mehr als ein
Gastronomieunternehmen, das Burger verkauft. "Es gibt Hardliner, die gegen diese
Restaurants sind", sagt Negar. "Sie denken, dass sie ein Teil der westlichen
Kultur sind, um die iranische und islamische Kultur zu beeinflussen."
Imperialismus und amerikanischer Kapitalismus, frittiert oder in Form eines
Burgers also. Sogar ein der amerikanischen Fast-Food-Kette Kentucky Fried
Chicken (KFC) nur ähnlich sehendes Restaurant mit dem Namen Halal KFC wurde im
November 2015 bereits einen Tag nach der Öffnung in Teheran wieder geschlossen.
Dabei gehörte es einem türkischen Unternehmen. Der Vorsitzende der iranischen
Handelskammer sagte der Nachrichtenagentur Ilna nach der Schließung, man würde
"im Einklang mit den Anweisungen des höchsten Anführers" an westliche
Fast-Food-Unternehmen keine Lizenzen vergeben.

McDonald's hat mit den Behörden der Islamischen Republik bereits eigene
Erfahrungen gemacht. Ende der 1990er-Jahre, unter dem gemäßigten Präsidenten
Mohammed Khatami, hatte McDonald's Berichten zufolge geplant, in Teherans eine
Filiale zu eröffnen. Die religiösen Hardliner protestierten dagegen. Da es jede
Menge iranische Burger-Fans gibt, wurde als "Ersatz" ein Fast-Food-Geschäft mit
dem Namen Superstar auf dem Gelände eröffnet, auf dem die McDonald's-Filiale
stehen sollte.

In Nordkorea, dem Jemen oder Syrien gibt es ebenfalls noch keine


McDonald's-Restaurants. In Russland eröffnete die erste Filiale erst 1990 - nach
dem Zerfall der Sowjetunion. Im selben Jahr gab es auch im chinesischen Shenzhen
die ersten Mc-Burger zu kaufen. Für jedes Land entwickelt die Fast-Food-Kette
ein passendes Angebot. In China sorgte kürzlich ein grauer "Modern China Burger"
für Aufregung, in Indien verkauft das Unternehmen einen "McCurry Pan", und in
der Schweiz geht gerade der "McFondue" an den Start. Wer weiß, ob es im Iran
bald einen "McTscholo Kebab Burger" geben wird, inspiriert von dem wohl
beliebtesten iranischen Grillgericht. Doch selbst wenn McDonald's seine Türen in
Teheran bald öffnen sollte, Negar würde sich über eine andere Fast-Food-Kette
viel mehr freuen: "Ich mag lieber Kentucky Fried Chicken."

UPDATE: 19. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1622 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Dienstag 19. Januar 2016

Beim Thema Waffen fliegen bei den Demokraten die Fetzen;


In der letzten TV-Debatte vor den Primaries verschärft sich der Ton zwischen
Bernie Sanders und Hillary Clinton. Sie präsentiert sich als wahre
Obama-Nachfolgerin

AUTOR: Clemens Wergin

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 15

LÄNGE: 939 Wörter

Washington

Nach Ansicht der Experten hätte das Rennen bei den Demokraten längst für Hillary
Clinton entschieden sein sollen. Doch in einer Wahlperiode, in sehr viele alte
Gewissheiten über Bord gegangen sind, scheint auch die zu wackeln, wonach ein
selbst erklärter Sozialist wie Bernie Sanders nicht Kandidat einer der großen
Parteien sein kann. Im ersten Vorwahlstaat Iowa liegt Clinton nur knapp vor
Sanders, in New Hampshire führt der Altrevoluzzer sogar. Clinton musste also zum
Angriff übergehen bei der letzten TV-Debatte vor dem Beginn der Vorwahlen.

Und der Abend begann gut für Clinton, weil die Moderatoren von NBC ihr
mundgerecht eine Frage zu schärferen Waffengesetzen servierten. Clinton warf
Sanders vor, immer wieder für Gesetze gestimmt zu haben, die der Waffenlobby
genutzt haben. Eine weiche Flanke von Sanders, der aus dem ländlichen Vermont
stammt und bei dieser Frage auf seine Wählerschaft Rücksicht nehmen muss.
Sanders konterte, die Waffenlobby NRA habe ihm eine sehr schlechte, also
waffenfeindliche Abstimmungsbilanz bescheinigt, und warf Clinton Unehrlichkeit
vor bei der Darstellung seiner Positionen. Aber dieser Punkt ging eindeutig an
Clinton.

Nach einem stolpernden Anfang kam Sanders jedoch richtig in Fahrt, etwa beim
Thema Gesundheitsreform. Er pries zwar das von Präsident Barack Obama erreichte
Versicherungsgesetz, plädierte aber für eine umfassendere Reform, die
Abschaffung der privaten Krankenversicherung und die Einführung eines
universellen, staatlich regulierten Versicherungssystems für alle Bürger. Immer
noch seien 29 Millionen Amerikaner gar nicht und zahlreiche weitere
unterversichert. Clinton warnte scharf davor, noch einmal von null anzufangen
und wieder in eine "kontroverse Debatte" einzusteigen.

Sanders schloss das Ganze ab mit seinem Lieblingsthema. "Wir haben einfach nicht
den Mut, die Pharmaindustrie anzugreifen, die Geld in politische Kampagnen
schleust." Das sei das eigentliche Thema, dass nämlich der US-Kongress vom Geld
beherrscht werde und nicht die Interessen der Bürger vertrete. Laut,
gestikulierend und mit rauer Stimme intonierte Sanders das Kernthema seiner
Kampagne. "Ich nehme kein Geld von großen Banken, und ich bekomme keine
persönlichen Redehonorare von Goldman Sachs", griff er Clinton an und warf ihr
vor, in einem Jahr 600.000 Dollar Redehonorare von den Investmentbankern
bekommen zu haben. Clintons Verteidigungsversuche fielen wenig überzeugend aus.

Die Debatte fand in Charleston in South Carolina statt, einem Staat, in dem
Schwarze einen wichtigen Teil der demokratischen Wählerschaft stellen. Bei ihnen
kommt Sanders bisher nicht so gut an, und Clinton wollte ihren Vorsprung bei
dieser Wählergruppe weiter ausbauen. Weshalb sie sich immer wieder demonstrativ
hinter die Politik Obamas stellte, den Helden der amerikanischen Schwarzen. Sie
warf Sanders vor, den Präsidenten mehrfach kritisiert zu haben - als hätte
Clinton 2008 nicht selbst einst einen harten Wahlkampf gegen Obama geführt.

Der Erfolg von Sanders hat Clinton gezwungen, immer weiter nach links zu
schwenken, um die demokratische Basis zufriedenzustellen. In der Außenpolitik
jedoch besteht sie noch am ehesten auf zentristischen Akzenten. Was die
Entspannung mit dem Iran anbelangt, gab sie sich skeptischer als Sanders oder
der selten zu Wort kommende dritte im Bunde, Marylands Ex-Gouverneur Martin
O'Malley. "Wir hatten einen guten Tag in 36 Jahren", sagte sie über Teheran,
"aber wir brauchen mehr gute Tage, bevor wir schnell zu einer Normalisierung der
Beziehungen übergehen." Sie wandte sich auch gegen Sanders' Position, mit dem
Iran gegen den IS zu kämpfen und sich danach erst mit Syriens brutalem Diktator
Baschar al-Assad zu beschäftigen. Auf ihr Verhältnis zu Russlands Präsident
Wladimir Putin angesprochen, meinte Clinton ausweichend, es sei "interessant".
Putin sei ein brutaler Kerl, dem man ständig Grenzen aufzeigen müsse. Und man
müsse Europa drängen, sich stärker gegen Putin zu behaupten.

Auf die Frage, welche Rolle ihr Mann im Weißen Haus spielen würde, ob er sie nur
am Küchentisch beraten oder mehr tun werde, reagierte Clinton souverän. "Wir
fangen erst mal am Küchentisch an und sehen dann, wo das hinführt", meinte sie
und hatte die Lacher auf ihrer Seite. Sie könne sich aber vorstellen, ihren Mann
durch das Land zu schicken, um die besten Ideen für ihre Politik zu sammeln. Die
Moderatoren wollten dann von Sanders wissen, wie er die sexuellen Eskapaden von
Bill Clinton beurteile, die er in einem Interview als "bedauernswert" bezeichnet
hatte. "Diese Frage ärgert mich", antwortete Sanders. Er habe das damals gesagt,
weil er direkt danach gefragt worden sei, wolle aber nicht mit solchen Dingen
Wahlkampf führen, sondern über Themen reden. Hillary schien erleichtert, dass
Sanders das Thema abbügelte.

Fazit: Clinton konnte bei den Waffengesetzen und in der Außenpolitik einige
Punkte machen, aber insgesamt wirkte Sanders energiegeladener und authentischer.
"Bestimmt, emphatisch, mit heiser werdender Stimme: Sanders debattiert wie ein
Mann, der gerade erst zu sich selbst gesagt hat: warte mal, vielleicht kann ich
das ja tatsächlich gewinnen" - so sah es etwa "New York Times"-Kolumnist Frank
Bruni. Clinton sei zwar unheimlich gut informiert, twitterte Brunis
Redaktionskollege Nicholas Kristof. Das Problem sei nur, dass sie für
Kontinuität plädiere zu einer Zeit, in der sich sehr viele Leute nach Umwälzung
sehnten. Sanders jedenfalls hat alles getan, um seine Chancen in Iowa und New
Hampshire zu wahren.

Wir haben einfach nicht den Mut, die Pharmaindustrie anzugreifen Bernie Sanders,
Herausforderer Hillary Clintons

UPDATE: 19. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt
Donnerstag 21. Januar 2016

Der glückhafte Virtuose;


Erinnerungen an Lord Weidenfeld, den großen Verleger und Netzwerker. Er war eine
Jahrhundertfigur undweit mehr als ein Freund

AUTOR: Mathias Döpfner

RUBRIK: FORUM; Forum; S. 3 Ausg. 17

LÄNGE: 2788 Wörter

Bevor er vor ein paar Tagen wegen Schmerzen im Bein ins Krankenhaus musste, rief
er mich an. Er sprudelte sofort los: "Du bist mein größter Freund, mein Bruder
und mein Sohn. Und auch mein Vater, ja." Und dann sagte er, was er mir in
zwanzig Jahren noch nie gesagt hatte: "Ich liebe dich." Ich erwiderte das aus
tiefstem Herzen - und war doch sehr besorgt. George Weidenfeld war kein Mann des
Überschwangs. Dass er diesen Satz unbedingt loswerden wollte und immerzu
wiederholte, war wunderschön - aber kein gutes Zeichen. Er ahnte, dass er das
Krankenhaus nicht mehr verlassen würde.

Kann man über einen Menschen, der einem so nah war, einen Nachruf schreiben? Ich
nicht. Nur sehr persönliche Erinnerungen.

Zum ersten Mal begegneten wir uns 1988 in seinem Londoner Apartment. Ich sprach
mit ihm als Journalist. Unsere Freundschaft aber begann vor zwanzig Jahren
während der Buchmesse in Frankfurt. Wir liefen uns in der Lobby des Hotels
"Frankfurter Hof" über den Weg. Ein Gespräch begann und hörte nicht mehr auf.
Wir redeten über seine gerade erschienene Autobiografie und über Politik. Fast
zwei Stunden ging das so. Niemand konnte uns stören. Wir standen vor dem Gebläse
einer Klimaanlage und bemerkten es nicht. Als ich George Weidenfeld einige Tage
später erreichen wollte, erfuhr ich, dass er mit einer Lungenentzündung im
Krankenhaus lag. Ich dachte, er würde mir das ewig übel nehmen. Als er wieder
genesen zu Hause war, bedankte er sich bei mir: "Sie haben mir das Leben
gerettet. Ohne unser Gespräch keine Lungenentzündung. Ohne Lungenentzündung
hätte ich mir das Rauchen nicht abgewöhnt. Und als Raucher wäre ich sicher bald
gestorben." Ich hatte etwas über die Kraft des Optimismus und über Höflichkeit
gelernt.

Die Biografie von Arthur George Weidenfeld mutet an wie aus dem 19. Jahrhundert.
Ein Leben aus einem anderen Jahrhundert. Ein Leben, das ein Jahrhundert nicht
nur umspannt, sondern erfasst und geprägt hat.

Geboren am 13. September 1919 in Wien, aufgewachsen in bescheidenen


Verhältnissen einer aus Galizien in der Ukraine nach Österreich eingewanderten
Familie, Sohn eines kunstsinnigen Versicherungsmitarbeiters und einer Mutter,
die einer Rabbinerdynastie entstammte. Als Weidenfeld vor einigen Jahren
zusammen mit mir das Hinterhaus im ärmlichen sechsten Wiener Bezirk zum ersten
Mal seit seiner Kindheit wieder besucht, brechen die Erinnerungen schonungslos
auf. Keine Verklärung, keine Nostalgie. Es war eine behütete, aber traurige, vor
allem einsame Kindheit. George ist Einzelkind. Das Alleinsein prägt eine ewige
Sehnsucht nach Gesellschaft. Nie mehr allein sein. Und möglichst schnell raus
aus der Ärmlichkeit und dem Powidl-Fett-Geruch der Hinterhofwelt. Seine Welt ist
das Theater. Erst das Puppentheater, dann das richtige. Später das Welttheater.

Max Reinhardt war für Weidenfeld kein Mythos, sondern Jugenderinnerung.


Alexander Moissi hat er noch als Jedermann in Salzburg erlebt. Immer wieder
ahmte er seine Stimme, den unverwechselbaren Singsang nach.
Aus einer anderen, sehr fernen Zeit stammt auch die Geschichte von dem Duell,
das er als ganz junger Mann gefochten hat. Eine Geschichte wie aus Tschaikowskis
"Eugen Onegin". Weidenfeld war in einer schlagenden Studentenverbindung. Einer
jüdischen Verbindung, die sich Ende der Dreißigerjahre den
nationalsozialistischen Verbindungen entgegenstellte. Weidenfeld wollte ein
Exempel statuieren, organisierte bei einem arroganten Adeligen eine läppische
Beleidigung ("Herr Graf, Ihre Schnürsenkel stehen offen", obwohl sie das gar
nicht taten), wurde zum Duell aufgefordert, traf sich mit Sekundanten an
geheimem Ort und besiegte den Größeren und Stärkeren durch Ausdauer und
Geschick. Eine zionistische Selbstbehauptung. Theodor Herzl hätte seine Freude
gehabt.

Sein Mitschüler war Kurt Waldheim. Weidenfeld wurde sein Leben lang nicht müde,
dessen Hilfsbereitschaft, Mut und Treue zu loben. Seine Demontage als
überzeugter Nazi hielt Weidenfeld immer für ungerecht und sah in ihr das
Ergebnis einer politischen Intrige. Waldheims Witwe hat er noch vor ein paar
Jahren in Wien besucht und sich bei ihr bedankt, dass ohne die indirekte Hilfe
ihres Mannes seine Flucht aus Österreich nach dem Anschluss wohl nicht möglich
gewesen wäre.

Als 19-Jähriger kommt George in London an und wird zunächst von einer
strenggläubigen christlichen Familie aufgenommen. Bis zum Schluss prägte ihn die
Dankbarkeit für diese lebensrettende Hilfe. Sein letztes großes Projekt war die
Unterstützung verfolgter Christen, besonders christlicher Familien aus Syrien.
Mindestens zweitausend Familien hat er mit dieser Initiative aus Dankbarkeit
gerettet.

In London fängt der ehrgeizige junge Mann schnell an, für die BBC zu arbeiten.
Berühmt wird er eines Tages als er in einer Radiosendung ausgerechnet Adolf
Hitler imitieren muss. Die Geschichte klingt wie eine Erfindung und erinnert an
den Film "Mein Führer - Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler". Darin
muss Hitlers jüdischer Rhetoriklehrer aufgrund der Heiserkeit des Führers dessen
Propagandarede im Berliner Lustgarten halten, während Hitler selbst nur die
Lippen bewegt.

Unter dem Titel "The Shadow of the Swastika" berichtet die BBC einmal die Woche
über Nazi-Deutschland. Fester Bestandteil der Sendung ist ein Ausschnitt aus
einer aktuellen Hitler-Rede. Doch eines Tages kommen die Bänder nicht
rechtzeitig an. Da sich rumgesprochen hat, dass der junge Weidenfeld in der
Kantine immer so gut Hitler imitiert, muss der Einwanderer aus Österreich ran.
In täuschend echtem Idiom improvisiert er eine Hitler-Rede. Und für ein paar
Minuten halten die Radiohörer Großbritanniens einen 22-jährigen Juden für den
Führer. Noch als 95-Jähriger hat Weidenfeld beim Abendessen oder in einer
Hotelbar gerne Kostproben seines Könnens gegeben. Und sich selbst am lautesten
darüber amüsiert.

Seine große berufliche Zeit beginnt nach dem Krieg, als er mit Nigel Nicolson in
London den Verlag Weidenfeld and Nicolson gründet. Doch kurz danach fragt ihn
Chaim Weizmann, der erste Staatspräsident Israels, ob er ihn als Stabschef bei
der Gründung des Staates Israel unterstützen will. Mit Nicolson einigt
Weidenfeld sich, für ein Jahr den gerade gegründeten Verlag zu verlassen und die
historische Aufgabe anzunehmen. Es wird das Jahr seines Lebens. Als
Pendeldiplomat vermittelt er zwischen Israel und England, zwischen Ben Gurion
und Weizmann, schafft Fundamente, von denen das Land noch heute profitiert, und
etabliert ein internationales Netzwerk, das ihn sein ganzes Leben lang begleitet
und das in dieser Form wohl einzigartig ist.

Zurück in London etabliert er sich als ebenso vielseitiger wie erfolgreicher


Verleger. Vor allem Biografien publiziert er mit Leidenschaft - das Spektrum
reicht vom Kriegsverbrecher Speer bis zum Papst und zu Mick Jagger, der sein
Manuskript aber nie fertig bekommt. Zu seinen wichtigsten Durchbrüchen gehören
das Standardwerk der Genforschung "Die Doppelhelix" von James Watson, die
Entdeckung des jungen Harvard-Professors Henry Kissinger, dessen Buch "Das
Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas
1812 - 1822" vor Weidenfeld niemand drucken will, und vor allem natürlich die
Erstveröffentlichung von Vladimir Nabokovs Skandalroman "Lolita". Wie Weidenfeld
die Veröffentlichung trickreich gegen politischen Widerstand und Zensur
durchsetzt und dabei sogar das Risiko in Kauf nimmt, selbst im Gefängnis zu
landen, ist typisch und eine große Lektion in Sachen Leadership oder Löwenmut.

Mit dem Weidenfeld Institute for Strategic Dialogue und dem Club of Three, der
Meinungsmacher und Wirtschaftsführer aus England Frankreich und Deutschland
zusammenführte, schuf sich Weidenfeld seine Konferenzplattformen. Ziel war die
Weltverbesserung oder konkreter: die Stärkung des kerneuropäischen Dreiecks.
Europa war Weidenfelds zweitgrößtes politisches Projekt (nach Israel), und
Konferenzen waren seine Leidenschaft. Diskutierend und überzeugend war er in
seinem Element. Stunden, Tage konnte er so sitzen. Zwischendurch sank sein Kopf
mitunter auf die Brust und die Augen schlossen sich wie zum Schlaf. Beobachter
dachten oft fälschlich: Der betagte Lord schläft. Doch es war nur eine Art
Stand-by-Modus oder eine besondere Form der erholsamen Konzentration. Jederzeit
konnte man ihn in diesem Versenkungszustand ansprechen, und er würde sofort eine
präzise Zusammenfassung des Gespräch der letzten zehn Minuten und einen
weiterführenden Gedanken liefern.

Das Netzwerk, das George Weidenfeld im Laufe seines Lebens etabliert und so
großzügig geteilt und zum Wohle anderer genutzt hat, war einmalig in seiner
Breite und menschlichen Tiefe. Ob amerikanische Präsidenten oder deutsche oder
europäische Staatschefs (besonders nah war er zeitlebens Henry Kissinger und
Helmut Kohl). Ob Wirtschaftsführer oder Milliardäre aus Russland, Skandinavien,
England oder den USA. Ob Schriftsteller von Ian Fleming über Graham Greene (den
er bei der Entstehung des "Dritten Mannes" begleitete) bis zu Truman Capote - er
kannte sie alle. Aber auch in der Welt der Mode und der schönen Frauen bewegte
sich Weidenfeld - der Homme à Femmes - genüsslich und geschickt. Er verkörperte
nie den Typus des verknöcherten Intellektuellen oder des verbitterten
Machtmenschen. Er war vielmehr ein machtpolitisch interessierter und breit
gebildeter Hedonist.

Seine berühmten George-Dinner in seinem im Stile der Wiener Gründerzeit


eingerichteten Londoner Apartment waren die begehrtesten Einladungen in der
englischen Gesellschaft. Man traf sich unter den großen Papst-Bildern, die der
Gastgeber sammelte. Und man rieb sich die Augen, wer alles seinen Einladungen
folgte. Ein Drittel exzentrische Young Hopefuls, ein Drittel reiche oder
mächtige Macher und ein paar Has-Beens sowie einige bildhübsche Frauen - das war
sein Erfolgsrezept. Und natürlich kollektive Gespräche bei Tisch, die die Welt
veränderten, mindestens.

Bis ins hohe Alter hatte George Weidenfeld eine beneidenswerte Vitalität.
Geistig kristallklar. Bis in die letzten Stunden wirkte er nie wie ein alter
Mann. Im Gegenteil: Im Alter wurde er immer besser. Mit 70 sah Weidenfeld - the
"Natural Born Lord" wie Tina Brown ihn nannte - besser aus als mit 50. Und auch
mit Mitte 90 nahm er an allen Ereignissen geistig und physisch teil, flog von
London nach Tel Aviv, von New York nach Berlin, war an jedem noch so
zwischenmenschlichen Klatsch brennend interessiert. Geschichten von früher
erzählte er dabei eher selten und ungern. Der Rückblick interessierte ihn wenig.
Der Blick nach vorne war seine Sache. Pläne für die nächsten zehn Jahre
schmieden - das liebte er.
Noch wenige Tage vor seinem Tod plante er mit mir einen gemeinsamen Sommerurlaub
in Lucca. Und wenn er so plante, war er wacher als alle. Wenn wir uns wie jedes
Jahr im November in New York trafen, passierte es gelegentlich, dass ich nach
einem Langstreckenflug und vom Jetlag geplagt nach einem Dinner nur noch schnell
ins Bett wollte. George blitzte dann in der Lobby seines Lieblingshotels
"Carlyle" mit den Augen und sagte: "Come on, einen Nightcap in der Bar nehmen
wir noch."

Das größte Thema seines Lebens war Israel. Hier galt bei dem Brückenbauer und
Mann der Mitte die Devise: "Right or wrong - my country." Der Zionismus Theodor
Herzls war sein Lebensthema. Als pragmatische realpolitische Antwort auf den
Holocaust. Alles, was er tat, tat er direkt oder indirekt dafür. Der Nüchterne,
den die Erfahrungen des Nationalsozialismus zum angelsächsischen Pragmatiker
gehärtet hatten - hier wurde er leidenschaftlich. Bei unseren ungezählten Reisen
nach Israel sprachen wir immer wieder - meist auf der Terrasse des Hotels "King
David" in Jerusalem - über seine Motivation, alles zu tun, damit dieses Land
sicher und in der Welt geachtet existieren kann. Religion war es nicht.
Weidenfeld war der Inbegriff des säkularen Juden. Auch Hebräisch sprach der
Kosmopolit kein Wort, er zog es als Weltbürger der alten Schule vor, fließend in
Englisch, Französisch, Italienisch oder einigen deutschen und österreichischen
Dialekten zu parlieren. Israel war für ihn eine politische Idee, die er für
wichtig hielt. Eine Schicksalsgemeinschaft. Eine Hoffnung. Und vor allem eine
kulturelle Heimat. Auch deshalb wird er an diesem Freitag auf dem Ölberg in
Jerusalem beerdigt.

Die Sorge vor den verheerenden Folgen des islamistischen Terrors war das
wichtigste Thema seiner letzten Jahre. Tag und Nacht rief er deshalb an, um
Sorgen und Ideen auszutauschen. Er fürchtete dabei nicht nur die Bedrohung
Israels, sondern seit vielen Jahren schon die Bedrohung des freien Westens
insgesamt. Israel - da war er seherisch sicher - wäre nur der Vorbote. Dann
kämen Amerika und Europa. Je weniger seine Sorgen geteilt wurden, desto schärfer
wurde sein Ton. Immer öfter verglich er islamistische Terroristen mit den Nazis,
erklärte, warum er ihre Bestialität schlimmer als alles andere fände, und
wunderte sich über die Gleichgültigkeit und Wehrlosigkeit des Westens.

Sein letztes Interview, das er Dirk Schümer gab, als wir in diesem Dezember die
letzten glücklichen gemeinsamen Tage in New York verbrachten, beschäftigte sich
mit der Flüchtlingskrise, die er als ehemaliger Flüchtling ohne jede Altersmilde
mit größter Sorge betrachtete. Am Abend, bevor ich abflog, saßen wir in seinem
Hotelzimmer, in dem großen Sessel ein immer kleiner wirkender Mann, ein Körper,
der sich merklich von dem großen Kopf, dem unermüdlichen Geist entkoppelte, der
ihn sozusagen langsam in Stich ließ. Weidenfeld trank Apfelsaft und war wacher
denn je. Wütend beschrieb er, wie wir durch Kulturrelativismus und Trägheit all
das gefährden, was europäische Humanität nach dem Krieg mühsam erarbeitet hat.
Warum? "Warum wird zugelassen, dass dieses Europa sich auflöst?", rief er. Ein
wenig erinnerte die Szene an Stefan Zweig und die Enttäuschung darüber, dass am
Ende eines Lebens für Europa die große Idee Europa doch noch scheitern könnte.
Weidenfelds Stimme werden wir in den turbulenten Herausforderungen der nächsten
Jahre, in denen wir um Entschiedenheit und Maß ringen, nicht mehr hören. Das ist
nicht gut. Seine Weisheit und Entschiedenheit fehlen zum besonders falschen
Zeitpunkt.

George Weidenfeld war ein großer Europäer, aber auch ein wirklicher Freund
Deutschlands. Schon 1986 prophezeite er einer Gruppe deutscher Intellektueller
um Enzensberger und anderen, dass es eine deutsche Wiedervereinigung geben
würde. Und er prophezeite es nicht nur, er propagierte es auch. Ein Leitartikel
von ihm kurz nach dem 9. November 1989 in der Londoner "Times" war nicht
unschuldig daran, dass die englische Regierung den Widerstand gegen die
Wiedervereinigung aufgab. Immer wieder rief der betagte Holocaust-Überlebende
den jungen Deutschen mehr Mut zum Selbstbewusstsein zu. Er meinte ein
Selbstbewusstsein der Republik. Der Demokratie. Des Rechtsstaats. Der Toleranz.
Und vor allem der Freiheit. Dafür hat er gelebt. Fröhlich und sinnlich. Und
ernst nur, wenn es sein musste. Aber manchmal ist es eben ernst. Er wusste wann.
Und gab dann alles.

Wer macht das in Zukunft?

Menschen wie er werden nicht mehr geboren. Aber Kulturpessimismus und


Resignation sind keine Option. Wir müssen seine Fackel weitertragen.

Den Tod hat Weidenfeld nie gefürchtet. "Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen.
Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht", hat er Epikur zitierend gesagt.
"Warum also sollte ich den Tod fürchten?"

In der Nacht vom 20. Januar um kurz nach 2 Uhr nachts hat der Tod ihn nach ganz
kurzem Leiden doch geholt. Irgendwie dachte ich, dass das nie passieren würde.
Dass er bleibt. Und irgendwie wird er bleiben. Als Kraft. Als Leitstern.

George Weidenfeld hat alles aus seinem Leben gemacht. Bis zum Schluss war er ein
begehrter Gesprächspartner junger Menschen. Er wurde gebraucht. Das hielt ihn
jung. 96 prachtvolle Jahre. Er hatte alles: Er hatte geistige Wirkung. Er hatte
politischen Einfluss. Er hatte Geld. Er hatte Spaß. Und er hatte Liebe. Seine
vierte Frau Annabelle war die Liebe seines Lebens. Seine Muse. Seine Fürsorge.
Seine Freundin. Sie hat ihn bis zum Schluss - allen Widrigkeiten zum Trotz -
glücklich gemacht. George Weidenfeld war das, was Thomas Mann über Artur
Rubinstein gesagt hat, jenen Pianisten, mit dem Annabelle zusammenlebte, bevor
sie George kennengelernt hat: Thomas Mann sprach vom "glückhaften Virtuosen".

So ist der glückhafte Virtuose Weidenfeld - ja man kann es sagen - fröhlich


gestorben. Am Sonntag versammelte sich seine Familie bei ihm am Krankenbett. Ich
war mit meiner Familie über FaceTime auf dem Handy zugeschaltet. George freute
sich, dass er plötzlich von seiner Mischpoke umringt war. Und begann zu lachen
und zu singen. Ich glaube Wiener Burschenschaftslieder.

Ich kann ihn nun nicht mehr fragen. Nie mehr.

UPDATE: 21. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Seit den 50er-Jahren wurde Weidenfeld mehr und mehr zu einer
öffentlichen Person. Der deutsch-jüdische Dialog ist ohne ihn genauso wenig zu
denken wie der christlich-jüdische. Weidenfeld war ein großer Philantrop. Das
Foto oben zeigt ihn mit Johannes Paul II. und dem berühmten Islamwissenschaftler
Bernard Lewis (M.). Weidenfeld war viermal verheiratet. Das Foto oben rechts
zeigt ihn mit seiner letzten Frau Annabelle
Seit den 50er-Jahren wurde Weidenfeld mehr und mehr zu einer öffentlichen
Person. Der deutsch-jüdische Dialog ist ohne ihn genauso wenig zu denken wie der
christlich-jüdische. Weidenfeld war ein großer Philantrop. Das Foto oben zeigt
ihn mit Johannes Paul II. und dem berühmten Islamwissenschaftler Bernard Lewis
(M.). Weidenfeld war viermal verheiratet. Das Foto oben rechts zeigt ihn mit
seiner letzten Frau Annabelle
Seit den 50er-Jahren wurde Weidenfeld mehr und mehr zu einer öffentlichen
Person. Der deutsch-jüdische Dialog ist ohne ihn genauso wenig zu denken wie der
christlich-jüdische. Weidenfeld war ein großer Philantrop. Das Foto oben zeigt
ihn mit Johannes Paul II. und dem berühmten Islamwissenschaftler Bernard Lewis
(M.). Weidenfeld war viermal verheiratet. Das Foto oben rechts zeigt ihn mit
seiner letzten Frau Annabelle
George Weidenfeld wurde 1976 zum Baron ernannt. Als solcher wurde er Mitglied im
Oberhaus (l.). Seine Bindung zu Deutschland ließ er nie abreißen - von
Bundeskanzler Helmut Kohl (o). bis Angela Merkel. Dem Haus Axel Springer war er
als Autor und Freund Friede Springers (l.) und Mathias Döpfners verbunden
George Weidenfeld wurde 1976 zum Baron ernannt. Als solcher wurde er Mitglied im
Oberhaus (l.). Seine Bindung zu Deutschland ließ er nie abreißen - von
Bundeskanzler Helmut Kohl (o). bis Angela Merkel. Dem Haus Axel Springer war er
als Autor und Freund Friede Springers (l.) und Mathias Döpfners verbunden
George Weidenfeld wurde 1976 zum Baron ernannt. Als solcher wurde er Mitglied im
Oberhaus (l.). Seine Bindung zu Deutschland ließ er nie abreißen - von
Bundeskanzler Helmut Kohl (o). bis Angela Merkel. Dem Haus Axel Springer war er
als Autor und Freund Friede Springers (l.) und Mathias Döpfners verbunden
George Weidenfeld wurde 1976 zum Baron ernannt. Als solcher wurde er Mitglied im
Oberhaus (l.). Seine Bindung zu Deutschland ließ er nie abreißen - von
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Die Welt

Freitag 22. Januar 2016

"Flüchtlinge können mehr";


Manpower-Chef Jonas Prising erklärt seine Vision von der Arbeit der Zukunft und
warnt vor Fehlern bei der Integration der Asylbewerber

AUTOR: Karsten Seibel

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 12 Ausg. 18

LÄNGE: 1450 Wörter

Jonas Prising kennt die internationale Arbeitswelt wie kaum ein anderer. Der
Chef des Personaldienstleisters Manpower arbeitete bereits in neun Ländern,
spricht fünf Sprachen. Ständig ist der gebürtige Schwede unterwegs, um eine der
80 Niederlassungen des US-Konzerns zu besuchen. Bei seinem Stopp in der
Deutschland-Zentrale in Eschborn bei Frankfurt machte er deutlich, wie er sich
die Zukunft der Arbeit vorstellt, wie der technische Fortschritt das Berufsleben
verändert und wie Europa mit den vielen Flüchtlingen umgehen soll.

Die Welt:

Herr Prising, immer häufiger ersetzen Maschinen den Menschen. Wird es in Zukunft
noch genug Arbeit geben?

Jonas Prising:

Mehr als genug, ich bin davon überzeugt, dass in den kommenden Jahren mehr neue
Arbeitsplätze entstehen als alte zerstört werden.

Wo sollen die neuen Jobs herkommen? In Fabriken dominieren heute schon Roboter,
das Internet macht immer mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich
überflüssig, etwa im Einzelhandel und bei Banken.

Schauen Sie sich beispielsweise den Gesundheitsbereich an. Die Alterung der
Bevölkerung ist einer der großen globalen Trends. Das gilt für Europa und die
Vereinigten Staaten, aber auch für viele Schwellenländer, allen voran China. Die
Menschen müssen nicht nur medizinisch versorgt werden, irgendjemand muss ihnen
auch das Essen kochen und vorbeibringen.

Wer sind in dieser neuen Welt die Gewinner, wer die Verlierer?

Die gut ausgebildeten, besonders anpassungsfähigen Menschen gewinnen, der Rest


verliert, da dürfen wir uns nichts vormachen. Die Zeiten, in denen man sich in
jungen Jahren einen Beruf aussuchte und den bis zum Renteneintritt ausübte, sind
vorbei. Zehn bis zwölf Jobwechsel werden für kommende Generationen nichts
Ungewöhnliches mehr sein.

Das klingt nach ständiger Unsicherheit.

Die Unsicherheit wird zunehmen - aber nicht nur bei Arbeitnehmern, sondern auch
bei Arbeitgebern. Da sich ohnehin kein Angestellter seines Jobs mehr sicher sein
kann, verändert sich auch die Einstellung zu diesem. Schon heute hören wir bei
jungen Menschen immer häufiger: Die Arbeit ist mir wichtig, mein Leben aber
auch. Die neue Generation am Arbeitsmarkt ist wählerischer. Darauf müssen sich
Unternehmen einstellen, indem sie sich beispielsweise sehr viel stärker sozial
engagieren als bislang. Da gilt umso mehr, je härter der Kampf um die gut
ausgebildeten Kräfte wird, je stärker im Zuge der Überalterung der Gesellschaft
die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter sinkt.

Manch einer sieht in den Flüchtlingen, die derzeit nach Europa kommen, bereits
die Lösung des Demografie-Problems.

Die Flüchtlinge sind eine gewaltige Chance für Europa. Normalerweise müssten
alle Länder sagen: Kommt zu uns und tragt dazu bei, dass unsere Wirtschaft auch
in Zukunft wächst.

Nur wenige sind allerdings direkt auf dem Arbeitsmarkt einsetzbar.

Natürlich sind heute andere Fähigkeiten gefragt als zu Zeiten der ersten
Gastarbeiter, die vor 60 Jahren nach Deutschland kamen. Damals wurde vor allem
Muskelkraft gebraucht, heute ist eher Wissen gefragt. Aber man sollte niemanden
unterschätzen. Nichts ist von Geburt an gegeben, viele können mehr, als es der
Lebenslauf aussagt.

Wenn das Sprachproblem nicht wäre.


Mit der Sprache verbindet sich einer der großen Fehler der Integration. In
vielen Ländern, auch in Deutschland, gibt es die Haltung, erst müssen die
Menschen die Sprache lernen, dann können sie einer Arbeit nachgehen. Das ist die
falsche Reihenfolge. Je eher die Menschen Teil der Arbeitswelt werden, desto
besser für sie und die Gesellschaft. Jeder einzelne wird die Sprache sehr
schnell lernen, wenn er sie lernen muss. Ich habe Sprachen immer erst gelernt,
nachdem ich meinen Job bereits angetreten hatte.

Es wird aber nur wenige Unternehmer geben, die Arbeitskräfte ohne


Sprachkenntnisse einstellen.

Nicht nur die Politik muss in dem Punkt umdenken, sondern auch die Unternehmen.
Vielleicht sprechen die Flüchtlinge noch nicht die Sprache, vielleicht verfügen
sie noch nicht über die richtige Qualifikation. Aber künftig fehlen in den
meisten Ländern Arbeitskräfte, deshalb ist es auch die Pflicht der Unternehmen,
dafür zu sorgen, dass die Menschen entsprechend ausgebildet werden.

Wie viele Flüchtlinge hat Manpower in den vergangenen zwölf Monaten eingestellt?

In Deutschland stammen gut 200 der 27.000 Mitarbeiter aus Krisengebieten, davon
rund 50 aus Syrien. Darunter sind Schlosser und Tischler, die ein Jahr nach
ihrer Einreise von uns festangestellt wurden und nun in Kundenprojekten
arbeiten.

Kaum ein Unternehmer wird bei der Ausbildung und Schulung in Vorleistung gehen
wollen.

Flüchtlinge kosten die Gesellschaft so oder so erst einmal Geld - für Essen, für
Kleidung, für Wohnung. Entsprechend wird der Staat auch für den Lohn aufkommen
müssen. Aufgabe der Unternehmen ist es aber, die Menschen zu qualifizieren, sie
für die Gesellschaft als Arbeitskräfte zu aktivieren. Wenn dies nicht schnell
geschieht, züchten sich die Länder neue Langzeitarbeitslose heran. Schweden, wo
ich herkomme, ist dafür ein schlechtes Beispiel.

Inwiefern?

Dort dauert es sieben bis acht Jahre, ehe die Menschen in Arbeit sind und
Steuern zahlen. Sie müssen ein Arbeitsrecht vorweisen, die Sprache können. Sehr
viele Migranten bleiben während dieser langen Zeit auf der Strecke und sind dann
nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern auch für die Gesellschaft verloren.

Wie viel Zeit bleibt?

Ziel muss es sein, dass alle Migranten nach zwei, spätestens drei Jahren etwas
zur Produktivität ihres neuen Heimatlandes beitragen, einen Wert schaffen - je
eher, desto besser.

Haben Sie auch einen Vorschlag, wie Europa die hohe Jugendarbeitslosigkeit in
den Griff bekommen kann, gerade in südlichen Ländern?

Die Kombination aus technischem Fortschritt und alternder Bevölkerung erfordert


sehr viel mehr Flexibilität als in der Vergangenheit. An dieser Flexibilität
mangelt es gerade im Süden Europas. Dort sind viele Arbeitsplätze mit Menschen
besetzt, die sich eher am Ende ihrer Erwerbskarriere befinden.

Wie meinen Sie das?

Unternehmer haben es schwer, sich an dem Pool junger Arbeitskräfte zu bedienen.


Die Zugangshürden für Berufseinsteiger sind dort extrem hoch - sehr viel höher
als in Deutschland. Hierzulande hat man durch Praktika und Ausbildung ein System
gefunden, junge Menschen frühzeitig in die Belegschaft eines Unternehmens zu
integrieren. Das ist in vielen Ländern im Süden sehr viel schwerer.

Was schlagen Sie vor?

Die Politik, auch in Deutschland, muss wegkommen von dem Ziel der
Arbeitsplatzsicherheit, hin zu dem Ziel der Beschäftigungssicherheit. Ein
einzelner Arbeitsplatz kann in der schnelllebigen, international vernetzten Welt
leicht verschwinden. Doch das ist nicht schlimm, solange jeder Einzelne zügig
auf einen anderen Arbeitsplatz wechseln kann. Genau auf solchen Wechseln muss in
Zukunft die Konzentration der Politik liegen, hier brauchen die Menschen
Unterstützung.

Also Fortbildung statt Kündigungsschutz?

Besitzstandswahrung kann nicht mehr im Interesse der Gesellschaft sein. Die


Politik ist gefordert: Sie muss klar machen, dass es mehr Unsicherheit in der
Arbeitswelt der Zukunft für jeden Einzelnen geben wird. Gleichzeitig muss sie
aber auch beruhigen, indem sie deutlich macht, dass jedem geholfen wird, wenn
die nächste Veränderung ansteht. Ständiges Training und finanzielle
Unterstützung zwischen zwei Jobs werden unerlässlich sein, damit Menschen bereit
sind, sich zu verändern.

Einem Personalvermittler wie Manpower käme eine solche Arbeitswelt zugute.

Auch in Zukunft wird es alles geben: Vollzeit, Teilzeit, freie


Mitarbeiterschaft, die Menschen werden direkt beim Unternehmen beschäftigt sein
oder für Projekte dort arbeiten, angestellt bei einem Dienstleister wie
Manpower. Der Erfolg am Arbeitsmarkt wird vom Umgang der Gesellschaft mit den
Herausforderungen der Zukunft abhängen. Wenn man wartet, bis man gezwungen wird,
ist es zu spät.

Wird es in der von Ihnen skizzierten flexiblen Arbeitswelt überhaupt noch


Bürojobs geben, oder sitzt jeder für sich irgendwo alleine an einem Computer?

Die moderne Technik bietet natürlich die Möglichkeit, überall und zu jeder Zeit
zu arbeiten. Abteilungen, die zusammen auf einer Büroetage sitzen, sind dafür
nicht mehr notwendig. Die Frage ist allerdings, wie produktiv die Heimarbeit
ist? Viele Menschen mögen es nun einmal, sich mit anderen Menschen direkt
auszutauschen, von Angesicht zu Angesicht.

Sie plädieren für eine Präsenzpflicht?

Die Welt der Arbeit wird den gleichen Weg gehen wie die Einkaufswelt. Jeder wird
seine Arbeitskraft parallel über verschiedene Kanäle anbieten, so wie es
weiterhin den Laden vor Ort und den Internet-Handel gibt. Je nach
Lebenssituation, vielleicht auch je nach Wochentag, werden wir woanders sitzen.

UPDATE: 22. Januar 2016

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Harte Jungs gesucht: Ein Mann bearbeitet ein Stück Stahl
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Die Welt

Samstag 23. Januar 2016

An Grundsätzen wird nicht gerüttelt;


Die deutsch-türkischen Regierungskonsultationen enden ohne neue Beschlüsse. Die
Lösung der Flüchtlingskrise rückt in noch weitere Ferne

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 19

LÄNGE: 1299 Wörter

Forscher haben herausgefunden, dass die wichtigste Gefühlsregung bei einer


Begegnung zwischen zwei Menschen Vertrauen ist. Erst wenn die Frage, ob man dem
Gegenüber vertrauen kann, beantwortet ist, macht man sich Gedanken über dessen
Kompetenzen. Fehlt es an Vertrauen, hilft die Vorspiegelung sämtlicher
Kompetenzen wenig. Insofern konnten die ersten deutsch-türkischen
Regierungskonsultationen keinen Durchbruch zur Lösung der Flüchtlingskrise
bringen.

Denn in den zwischenstaatlichen und wohl teils auch menschlichen Beziehungen


mangelt es erheblich an Vertrauen. Dafür verantwortlich sind beide Seiten. Das
greifbarste und gar nicht lapidare Ergebnis des Treffens, das mit dem Empfang
des türkischen Premiers Ahmet Davutoglu durch Bundeskanzlerin Angela Merkel
begann, ist, dass sich beide als Vertreter der Humanität verstehen. Davutoglu
sprach im Zusammenhang mit Merkels Entscheidung, die muslimischen Flüchtlinge
ins Land zu lassen, von "Gewissen der Menschheit". Bemerkenswert seine Aussage:
"Wir als Europäer haben ein gemeinsames Schicksal."

Dass die Türkei ein Teil Europas ist, das ist nicht zuletzt in der Union Angela
Merkels umstritten. Davutoglu nannte das Treffen einen "historischen Schritt".
Das erste Mal sei man in dieser Form auf Regierungsebene zusammengekommen. Die
Türkei nutzt die Flüchtlingskrise, um sich aufzuwerten und aufwerten zu lassen.
Und Deutschland hat keine andere Wahl, als dem Land diesen Gefallen zu tun. Mit
der humanen Haltung sei die Türkei jederzeit an Merkels Seite, so der Premier.

Doch eine humane Haltung allein reicht längst nicht mehr aus, um die Probleme zu
bewältigen. Dafür braucht es konkrete politische Schritte, die nötigenfalls
inhumane Schritte einbeziehen. Doch hier kam man in Berlin offenbar nicht
weiter. Die von beiden beschworene intensive Gesprächsatmosphäre darf nicht
darüber hinwegtäuschen, dass großes Misstrauen die Politik und vor allem ihre
Umsetzung erschwert. Die Begegnung habe zu "einer Vertiefung der Beziehungen
beigetragen", sagte Merkel in beschwichtigender Diplomatensprache. Und: "Uns
stehen noch Tage engster Zusammenarbeit ins Haus."
Beiden Regierungschefs war ja bewusst, dass in Berlin ein weiterer Partner
unsichtbar mit am Tisch saß: die Europäische Union. Deutschland verhandelt aus
seinem eigenen Selbstverständnis heraus stellvertretend für die Union. Die
Türkei stellt das nicht infrage. Aus diesem Grund ging es ja bei dem Treffen und
schon im Vorfeld auch um jene drei Milliarden Euro, die der Türkei seit November
von den Staats- und Regierungschefs der EU zugesagt sind, wenn sie die Küsten
besser bewacht, die Schleuser stoppt und Flüchtlinge, die das Land verlassen,
zurücknimmt. Allein, dieses Geld ist bis heute nicht geflossen. Auch die
Verhandlungen über Visaerleichterungen für türkische Bürger bei Reisen in die
EU, stocken.

Das ist ein Vertrauensbruch, begangen von der EU und mithin auch Deutschland.
Denn die Staaten der Union streiten bis heute darüber, wer welchen Anteil
übernimmt. Vor allem Italien bremst. Die Motive sind vielfältig. Das
schlichteste ist, dass Italien schmollt, nun von Berlin und Brüssel zu einer
Lösung gedrängt zu werden, während gerade die deutsche Regierung noch vor einem
Jahr jede Flüchtlingsverteilung, um die Italien dringend ersucht hatte,
ablehnte. Das Land will vordergründig, dass das gesamte Geld aus dem EU-Budget
kommt. Vereinbart ist allerdings, dass nur eine Milliarde aus diesem Topf
fließt, während sich der Rest unter den Nationalstaaten verteilt.

"Wir werden die drei Milliarden zur Verfügung stellen. Das habe ich heute noch
mal zugesichert", sagte Merkel im Beisein des Premiers. Gleichzeitig erklärte
sie, dass das Geld an konkrete Projekte gebunden ist. An den Aufbau von Schulen,
an die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge. Diese wiederum hat die türkische
Seite noch nicht benannt. Wohl, weil sie gerne selbst entscheiden würde, was mit
dem Geld geschieht.

Die Türkei hat darüber hinaus bisher die Zusage, sich besser um die Grenzen zu
kümmern, nicht eingehalten. Allein im Januar kamen schon 35.000 Menschen über
die Ägäis, und das trotz des schlechten Wetters. Der nächste Vertrauensbruch.
Wohlwollend könnte man noch von einem Missverständnis sprechen. Die EU ging
davon aus, dass mit Vereinbarung der Zahlung Maßnahmen anlaufen. Die Türken
wollen dies dagegen so verstanden haben, dass erst das Geld überwiesen sein muss
und sie dann etwas unternehmen. Zu einem weiteren Vertrauensbruch kam es kurz
vor dem Treffen, als Davutoglu weiteres Geld forderte. Die drei Milliarden seien
"nur dazu da, den politischen Willen zur Lastenteilung zu zeigen", sagte er in
einem Interview. Er fügte hinzu: "Niemand kann von der Türkei erwarten, die
gesamte Last alleine zu tragen."

Die Reaktion kam prompt. Zunächst einmal müsse das gemeinsam Vereinbarte
umgesetzt werden, forderte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei,
Manfred Weber (CSU). Er halte nichts davon, wenn jetzt schon wieder neue Summen
genannt würden. Dass die Türkei in der Lage ist, die Grenzen zu sichern, hat sie
in Einzelaktionen immer wieder bewiesen. Merkel ließ sich auf den Handel nicht
ein. Ihr ist klar, dass schon die Bereitstellung von drei Milliarden Euro die EU
vor eine Herausforderung stellt.

Aus Sicht der Kanzlerin wirkte sich auch die Entscheidung Österreichs,
Obergrenzen für die Flüchtlingsaufnahme festzulegen, ungünstig auf die
Verhandlungen mit der Türkei aus. Bereits Mitte der Woche sagte sie beim Treffen
mit CSU-Politikern in Wildbad Kreuth, dass das ihre Verhandlungsposition
schwäche. Offenbar noch ein Vertrauensbruch. Was sie damit meint, ist nicht ganz
eindeutig. Möglicherweise könnten die Türken die österreichische Entscheidung
als Abkehr von einer internationalen Lösung und damit einer Lösung mit der
Türkei verstehen. Je mehr Länder sich für nationale Maßnahmen - ob die nun
sinnvoll sind oder nicht - entscheiden, desto weniger arbeiten gemeinsam an
einer internationalen, so die logische Konsequenz.
Ohne sich auf Österreich und andere Staaten zu beziehen, sprach Davutoglu das
Thema doch an: "Wenn jeder nur versucht, die Krise auf den anderen zu schieben,
wird es nicht gelingen, die Krise einfach zu lösen." Und hier machte Merkel im
Beisein Davutoglus einen Punkt, gewissermaßen als vertrauensbildende Maßnahme.
Er dürfte den türkischen Premier zwar mit Genugtuung erfüllen, jedoch
innenpolitisch in Deutschland für Aufruhr sorgen. Bei der CSU hatte Merkel noch
davon gesprochen, Mitte Februar, nach dem Treffen des EU-Rats, eine
"Zwischenbilanz" ziehen zu wollen. Dies war so interpretiert worden, dass sie
eine Wende in der Politik der offenen Grenzen vorbereiten könnte und nationale
Maßnahmen dem weiteren Ringen um internationale vorziehen könnte.

Nun stellte sie klar: "Es geht nicht darum, dass man den Grundansatz
hinterfragt." Sie sei innerlich sehr davon überzeugt, dass die Frage der
illegalen Migration nur gelöst werden kann, wenn wir zusammenarbeiten, wenn wir
bei den Fluchtursachen ansetzen. "Wir haben auch in der Europäischen Union ein
großes Interesse daran, den Schengenraum zu erhalten." Jeder Staat für sich, das
werde nicht weiterhelfen. "Wir brauchen einen gesamteuropäischen Ansatz."

Merkel verwies auf die zahlreichen kommenden Treffen zwischen Vertretern der
EU-Staaten und der Türkei. Dazu gehört auch die Syrien-Geberkonferenz am 4.
Februar in London. Danach, also drei Monate nach dem EU-Türkei-Gipfel, könne man
dann auch mal eine Zwischenbilanz ziehen und sagen, was man weiter tun müsse,
sagte Merkel. Wie die gerade in der CSU herbeigesehnte Wende in der
Flüchtlingspolitik der Kanzlerin klingt das nicht. Eher wie ein Bekenntnis dazu,
nach diesem Datum den Druck auf die Türkei zwar erhöhen zu wollen, am Prinzip
des Vorrangs einer internationalen Lösung aber nicht zu rütteln.

UPDATE: 23. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Guido Bergmann


"Wir brauchen einen gesamteuropäischen Ansatz": Angela Merkel (2. v. l.) im
Gespräch mit Premier Ahmet Davutoglu. Links ihr außenpolitischer Berater
Christoph Heusgen, rechts der türkische Außenstaatssekretär Feridun Sinirlioglu
Guido Bergmann

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Die Welt

Samstag 23. Januar 2016

"Es war grundfalsch, Finanzen für Flüchtlingslager zu kürzen";


Die drei Topmanager führen Konzerne mit mehr als einer halben Million
Mitarbeitern auf verschiedenen Kontinenten. Beim "Welt"-Wirtschaftsgipfel
diskutierten die Chefs von Siemens, Airbus und Deutscher Bank die drängenden
Probleme unserer Zeit. in der Bewertung des Flüchtlingsstroms nach Deutschland
sind sie gespalten - einig sind sie in der Sorge um Europa

AUTOR: Klaus Geiger; Jan Dams; Sebastian Jost

RUBRIK: SONDERTHEMEN; SONDERTHEMEN Ausg. 19

LÄNGE: 3107 Wörter

Börsenbeben in China, der Ölpreis im freien Fall, Sorge um die Weltkonjunktur -


diverse Themen konnten einen Konzernchef zu Jahresbeginn beunruhigen. Doch als
sich die Vorstandschefs Tom Enders (Airbus), Jürgen Fitschen (Deutsche Bank) und
Joe Kaeser (Siemens) am Rande des "Welt"-Wirtschaftsgipfels zum Gespräch
treffen, ist schnell klar, dass es kein rein wirtschaftliches Thema ist, das sie
am meisten bewegt: Die Flüchtlingskrise und die Folgen für Europas Zusammenhalt
beschäftigen die Manager mehr als alles andere. Und sie sind sich keineswegs
immer einig darin, wie die richtigen Antworten aussehen sollten.

Die Welt:

Vor einem Jahr sprachen noch alle über Griechenland, nun erscheinen Athens
Finanzen als kleines Problem verglichen mit der Flüchtlingssituation, für die
keine europäische Lösung in Sicht ist. Ist Europa noch in der Lage, solche
Herausforderungen zu stemmen - oder auf dem Weg in den Zerfall?

Tom Enders:

Ich war nie so besorgt über den Zustand Europas wie heute. Man sagt immer so
schön: Europa wächst an seinen Krisen. Aber wir haben nun eine Kumulation von
Krisen. Und momentan sind die Zentrifugalkräfte größer als die Kräfte, die
Europa zusammenhalten. Das ist sehr bedenklich.

Jürgen Fitschen:

Wir erleben das Erstarken nationaler Egoismen. Das gab es so bisher nicht und
ist das Kardinalproblem für die Weiterentwicklung Europas. Es geht nun um
grundsätzliche Entscheidungen: Wie viel nationale Souveränität tritt man ab,
damit Europa sich weiterentwickeln kann? Wenn die Länder dazu nicht bereit sind,
läuft Europa Gefahr, wieder in die Kleinstaaterei zurückzufallen.

Gibt es nur die Alternative, mehr zu integrieren oder zurückzufallen? Kann man
nicht auch auf dem derzeitigen Niveau der EU stehen bleiben?

Joe Kaeser:

Es gibt nur einen Weg, und das ist der Weg nach vorne. Unter einer Krise
versteht man normalerweise den Unterschied zu einem Normalzustand. Die Frage
ist, ob die Krise nicht der neue Normalzustand ist. Und die Antwort kann nur
eine weitere Integration sein, um den größten Wirtschaftsraum der Welt zu einer
echten Gemeinschaft zu machen.

Enders:

Grundsätzlich stimme ich dem zu. Aber man muss realistisch sein: Mit allen 28
EU-Staaten geht das auf absehbare Zeit nicht. Wir müssen daher variabler werden.
Jetzt sollten die Länder enger zusammenarbeiten, die zu stärkerer Integration
bereit sind - notfalls auch ohne die anderen.
Das ist die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, die immer wieder
kontrovers diskutiert wird. Ist jetzt die Zeit dafür gekommen?

Fitschen:

In einigen Bereichen haben wir explizit die Möglichkeit unterschiedlicher


Geschwindigkeiten. In der Praxis kann dies aber zu Schwierigkeiten führen. Wer
will befinden, wer in welcher Klasse mitfahren darf? Niemand möchte sich
zurückgesetzt fühlen. Wir sollten auf die Institutionen setzen, die wir heute
haben. Wer abgeschottete Teilmärkte schafft, tut letztlich allen weh, auch uns
in Deutschland.

Enders:

Natürlich wäre es wünschenswert, die Europäische Union in ihrer jetzigen Form


zusammenzuhalten. Da stimme ich Herrn Fitschen vollkommen zu. Aber man braucht
in einer solchen Situation, in der so viele Zentrifugalkräfte wirken, auch einen
Plan B. Ich leite ein stark deutsch-französisch geprägtes Unternehmen, für das
ein stabiles bilaterales Verhältnis unabdingbar ist. Beide Länder bilden den
Kern Europas. Wenn sich Paris und Berlin auseinanderdividieren lassen, steht
Deutschland wirklich weitgehend isoliert in Europa da.

Kaeser:

Aber wenn man Deutschland isoliert, isolieren sich umgekehrt auch die anderen.
Und dann fehlt dem Zug die Lokomotive. Deutschland kann eine gewisse
Führungsrolle für sich in Europa beanspruchen. Wir tun gut daran klarzumachen,
dass die Deutschen Verantwortung übernehmen wollen und können.

Enders:

Führung ja, aber bitte nicht unabgestimmt. Sowohl bei der Energiewende als auch
in der Flüchtlingskrise wirft uns der Rest Europas vor, ohne jegliche
Koordination vorangeprescht zu sein. Dann darf man sich natürlich auch nicht
wundern, wenn die Solidarität der anderen ausbleibt.

Fitschen:

Eine Dominanz Deutschlands wollten die Gründungsväter der Europäischen Union ja


gerade verhindern. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Umgekehrt können wir
nicht in allen Fragen auf das schwächste Glied in der Kette warten. Derzeit ist
diese Balance offensichtlich nicht gegeben, gerade beim Thema Flüchtlinge fühlt
man sich von Deutschland eher gedrängt. Und wir sind ganz überrascht über diese
Tonlage und fragen uns: Sind wir denn nicht auch solidarisch gewesen?

In Deutschland mag man den Eindruck haben, dass man in der Griechenland-Krise
solidarisch war. Im Ausland wird das eher umgekehrt wahrgenommen: Ist es für die
europäische Balance vielleicht förderlich, dass Deutschland nun einmal etwas von
den anderen will?

Fitschen:

Das ist zumindest ein Hinweis, etwas demütiger zu sein.

Enders:

Das Problem ist doch, dass die alten Krisen nicht gelöst sind. Die Häufung der
Probleme bereitet mir Sorgen. Wir haben jahrelang über die südliche Peripherie
gesprochen. Nun bildet sich im Osten eine Art informeller Block. Und das
Flüchtlingsthema birgt die Gefahr, dass sich die Fronten eher weiter verhärten
und am Ende die EU der 28 Staaten ganz zerfällt.

Mit Großbritannien könnte bereits dieses Jahr der erste Stein aus der Mauer
brechen. Könnte ein "Brexit" der Auslöser für weitere Desintegration sein?

Kaeser:

Jedenfalls sehen viele Briten Europa skeptisch. Und die vergangenen Jahre
scheinen ihnen oberflächlich betrachtet recht zu geben: Großbritannien hatte
seine Industrie komplett verloren und ganz auf Bereiche wie den Finanzsektor
gesetzt, die durch ihre eigenen Exzesse entzaubert wurden. Aber die darauf
folgende Konsolidierung war erfolgreich, der Dienstleistungssektor ist gestärkt
aus der Krise hervorgegangen, und sogar die Industrie kommt zurück. Da kann man
sich als Brite schon sagen: Geht doch - auch ohne mehr Europa.

Enders:

Wenn man all die Krisen in Europa sieht, könnte man schon zu dieser Ansicht
gelangen. Aber das wäre ein Trugschluss. Ich hoffe sehr, dass die Briten bei der
Stange bleiben. Und wenn es gut läuft, werden einige ihrer durchaus berechtigten
und sinnvollen Forderungen erfüllt. Das kann sogar den Weg für eine
wirtschaftliche Liberalisierung in Europa ebnen.

Fitschen:

Und das wäre sehr in unserem Interesse. Die Stellung Deutschlands in Europa
würde sich massiv verschlechtern, wenn Großbritannien nicht mehr dabei wäre. Bei
einem Austritt würde es nur Verlierer geben, das werden hoffentlich auch die
Briten einsehen. Glauben Sie denn, dass japanische Autohersteller Fabriken in
Großbritannien gebaut hätten, wenn sie nicht davon ausgegangen wären, dass
England Teil der EU bleibt? Mit Sicherheit nicht.

Kaeser:

Rational betrachtet ist klar: Ein EU-Austritt würde einerseits Großbritannien


schaden - und umgekehrt würde auch Europa ohne die Briten unter seinen
Möglichkeiten bleiben. Dennoch ist der Ausgang des Referendums aus meiner Sicht
offen.

Wenn die Probleme in Europa zu groß werden, könnte am Ende tatsächlich nur der
kleinste gemeinsame Nenner übrig bleiben - etwa die in Großbritannien durchaus
populäre Vorstellung einer Freihandelszone de luxe. Ketzerisch gefragt: Wäre das
für die Wirtschaft nicht ausreichend?

Enders:

In der Wirtschaft gibt es keinen Zweifel, dass der heutige gemeinsame Markt eine
weit überlegene Lösung ist. Wir können darüber diskutieren, warum es nicht
schneller vorangeht, zum Beispiel bei der Energieversorgung oder der digitalen
Infrastruktur. Aber wenn wir alles zurückdrehen und überall wieder Grenzen
einführen würden, wäre der wirtschaftliche Schaden enorm.

Kaeser:

Die globalen Unternehmen könnten einen Zerfall des Binnenmarktes noch


vergleichsweise gelassen sehen, weil sie ohnehin in verschiedenen Regionen
unterwegs sind und ihre Ressourcen schnell von Europa nach Asien oder Amerika
verschieben können. Für einen Mittelständler sieht das oft ganz anders aus. Im
weltweiten Maßstab kann selbst ein starkes Deutschland auf Dauer nicht alleine
auf Augenhöhe mitspielen. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die europäische
Gemeinschaft zu erhalten. Dazu gehört es auch, schwächere Staaten zu
unterstützen - deshalb führt in Europa auch kein Weg an einer Transformation
vorbei.

Aber sehen Sie den politischen Willen dafür? Nicht nur in Deutschland ist
derzeit die Begeisterung gering, für andere Länder zu zahlen.

Kaeser:

Es ist wichtig, dass man mal bestimmt, was rational notwendig ist - und dann die
Balance zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren findet.

Fitschen:

Warum sind die Menschen in Deutschland bereit, beispielsweise die Bremer über
den Länderfinanzausgleich zu unterstützen, nicht aber die Griechen oder
Slowenen? Es gibt nur eine plausible Erklärung: Weil sie Ausländer sind. Aber
das ist doch ein äußerst schwaches Argument mit Blick auf das weitere
Zusammenwachsen von Europa!

Es mag schwach sein, aber es zieht im Moment.

Fitschen:

Leider ja. Wenn wir diesen nationalen Egoismen den Raum lassen, kriegen wir
künftig große Probleme in Europa. Allerdings kann Solidarität nur funktionieren,
wenn die Empfängerländer auch sichtbare Anstrengungen unternehmen, sich selbst
zu helfen.

Enders:

Vielleicht müssen wir Europa aber auch einfach noch etwas mehr Zeit lassen, bis
nationale Unterschiede keine Rolle mehr spielen. Bisher ist es den Politik- und
Wirtschaftseliten offenbar nicht gelungen, dem sprichwörtlichen Mann auf der
Straße ein echtes Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Unsereiner argumentiert,
dass wir Europäer uns weltweit nur behaupten können, wenn wir uns
zusammenschließen. Aber vielen Menschen liegt nun einmal die Sorge um ihren
Arbeitsplatz oder ihren Wohnort viel näher, gerade angesichts der momentanen
Flüchtlingssituation. Deshalb kann man nur eines tun: Wir müssen weiter erklären
und aufklären.

Fehlt es tatsächlich an Aufklärung - haben nicht viele Menschen in Osteuropa und


selbst in Deutschland das Gefühl, ihnen bringt Europa nichts?

Kaeser:

Sicher ist das häufig die Wahrnehmung. Gerade hier in Deutschland geht es uns im
Moment ganz gut, die allermeisten können ganz zufrieden sein. Da ist es
verständlich, dass die Menschen wenig bereit sind, Einschnitte oder
Veränderungen hinzunehmen, nur um das Land noch wettbewerbsfähiger zu machen.
Das Risiko eines Abstiegs im globalen Wettbewerb wird dabei aber völlig
unterschätzt. Wir sollten einen ehrlicheren Dialog darüber führen, wie der
Wohlstand entstanden ist - und dass derjenige, der stehen bleibt, irgendwann
überholt wird.

Fitschen:
Wer nur am heutigen Zustand festhalten will, versündigt sich an der Zukunft.
Denn die nächste Generation wird dann nicht mehr denselben Wohlstand haben
können, auch mit Blick auf die demografische Entwicklung. Deshalb müssen wir uns
an eine sich verändernde Welt anpassen, auch wenn das für manche schmerzhaft
ist.

Enders:

Wir müssen allerdings auch aufpassen, dass die Veränderungen die Menschen nicht
überfordern. Das zeigt sich derzeit beim Flüchtlingsthema: Wenn dieses Jahr
wieder eine Million und mehr Menschen kommen sollten, wird das die politische
und soziale Stabilität in Deutschland gefährden. Das ist eine besorgniserregende
Entwicklung. Ich glaube, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, hier eine Lösung
zu finden.

Die Bundesregierung wirbt seit Monaten vergeblich für eine andere Verteilung der
Flüchtlinge in Europa. Glauben Sie, dass es je dazu kommt?

Enders:

Nein, ich glaube nicht an eine europäische Lösung. Jedenfalls nicht in dem
Sinne, dass man Flüchtlinge über nationale Kontingente verteilen wird. Das wird
nicht funktionieren.

Fitschen:

Man kann die mangelnde Bereitschaft anderer Länder kritisieren, aber man muss
auch die unterschiedliche Ausgangslage sehen. Für uns in Deutschland ist es
vielleicht möglich, zehn Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe
bereitzustellen, ohne anderswo spürbare Abstriche machen zu müssen. In anderen
Ländern sieht es anders aus. Deshalb sollten wir auch nicht darauf pochen, dass
jedes Land ähnlich viel beitragen muss.

Enders:

Ich würde sogar noch weiter gehen: Gerade weil wir in der Lage sind, einige
Milliarden Euro aufzubringen, sollten wir nicht unbedingt warten, bis überhaupt
ein europäischer Finanzierungsschlüssel gefunden ist. Deutschland sollte hier
notfalls auch allein vorangehen.

Fitschen:

Dabei geht es nicht nur um eine europäische Lösung, wir müssen uns auch mit den
Fluchtursachen im Nahen Osten beschäftigen. Aus meiner Sicht war es grundfalsch,
dass man die finanzielle Unterstützung für Flüchtlingslager in Jordanien und im
Libanon gekürzt hat.

Die Finanzen sind das eine, aber viel schwieriger erscheint die rein praktische
Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Viele Menschen werden es nicht akzeptieren,
wenn sie die Turnhalle nebenan für eineinhalb Jahre an Flüchtlinge abtreten
sollen.

Kaeser:

Ich stimme Ihnen zu, die Finanzfragen sind lösbar, beispielsweise über einen
europäischen Migrationsfonds, in den die Staaten je nach Wirtschaftskraft
einzahlen. Kritisch ist vor allem die soziale und gesellschaftliche Integration.
An den Reaktionen auf die Vorfälle in Köln können Sie sehen, wie angespannt die
Lage ist. Die Flüchtlingsfrage wird die Nagelprobe für Europa und besonders für
Deutschland.

Enders:

Diese Silvesternacht hat riesige Auswirkungen. "Cologne" ist ein Stichwort


überall in Europa und sogar in den USA. So etwas gibt extremistischen Kräften
Auftrieb. In Frankreich ist die politische Lage jetzt schon viel brisanter als
in Deutschland. Der Front National war im ersten Wahlgang der Regionalwahlen die
stärkste Partei. Der Spielraum der französischen Regierung, sich in der
Flüchtlingssituation stärker zu engagieren, ist deshalb sehr beschränkt.

Fitschen:

Wir können nur hoffen, dass Köln ein Einzelfall bleibt. Wenn sich solche Fälle
wiederholen, dann bekommen wir ein vielleicht unlösbares Problem in unserem
Land, weil die gesellschaftliche Akzeptanz für die Flüchtlingspolitik wegbricht.
Und wenn diese Bilder durch Europa gehen, könnte das auch der letzte Auslöser
für einen Brexit sein.

Noch vor wenigen Monaten hatten sich die meisten Wirtschaftsvertreter


optimistisch gezeigt. Auch Ihr Chefvolkswirt, Herr Fitschen, pries die
Einwanderung als große Chance für Deutschland. Ist man da inzwischen
desillusioniert?

Fitschen:

Wenn es gut geht mit der Integration, dann wird das natürlich positive Effekte
haben. Angesichts unserer demografischen Lage brauchen wir Einwanderung. Aber es
muss kontrolliert geschehen. Und wir sollten jetzt Geld in die Hand nehmen, um
diese jungen Leute möglichst schnell zu integrieren, etwa mit einem großen
Ausbildungsprogramm. Wenn diese Menschen erst ein, zwei Jahre ohne Perspektive
sind, dann ist es oft zu spät.

Enders:

Dafür brauchen wir auch einen flexibleren Arbeitsmarkt, als wir ihn heute haben.
Hier ist die Bundesregierung in den vergangenen Jahren in die falsche Richtung
marschiert.

Fitschen:

Völlig richtig. Wenn die Flüchtlinge zunächst nur relativ schlecht bezahlte Jobs
finden, sollten wir das nicht von vornherein als Umgehung des Mindestlohns
kritisieren. Wir müssen klarmachen, dass die Integration in den Arbeitsmarkt
einen hohen Stellenwert hat.

Und mit einem Ausbildungsprogramm und Ausnahmen beim Mindestlohn wird die
Flüchtlingswelle zum wirtschaftlichen Erfolg?

Enders:

Manche erste Stellungnahme aus der Wirtschaft war sicher zu euphorisch.


Mittlerweile dämmert es allen, dass der Facharbeitermangel kurz- und
mittelfristig nicht durch die Flüchtlinge ausgeglichen werden kann. Etwa 80
Prozent von ihnen haben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit keinen Berufs-
oder Studienabschluss. Das zeigt, wie gewaltig die Aufgabe ist. Und das ist ein
weiterer Grund, warum dieser Flüchtlingsstrom nicht einfach so weitergehen kann.
Wir werden alle Hände voll zu tun haben, die eine Million Menschen aus dem
vergangenen Jahr zu qualifizieren und sie in Lohn und Brot zu bringen.

Viele wollen die Zahl der Flüchtlinge senken. Aber wie soll das in der Praxis
geschehen?

Kaeser:

Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das sehr deutlich die Richtung vorgibt. Es
gibt zwei Arten von Migranten: Menschen aus Krisengebieten, die um ihr Leben
fürchten, müssen wir helfen und aufnehmen. Wirtschafts- und Wohlstandsmigranten
können dagegen erst kommen, wenn wir sie benachrichtigen, dass wir sie jetzt
brauchen. Das muss man deutlich machen.

Das alleine wird vielen Menschen in Deutschland nicht ihre Sorge nehmen. Sie
fragen sich: Was, wenn jemand zwar als Kriegsflüchtling kommt - sich dann aber
doch so verhält wie die Grapscher von Köln?

Kaeser:

Wer in unserem Land bleiben will, muss auch die Regeln hier befolgen, das gilt
auch für Kriegsflüchtlinge. Wer das nicht möchte, weil er andere moralische oder
religiöse Werte hat, für den ist unser Land vielleicht dann nicht das richtige.
Wenn wir das verständlich artikulieren, wird diese Botschaft in den
Herkunftsländern der Menschen auch ankommen. Mit einer klaren Regelung und deren
Umsetzung könnte die Regierung auch dem Eindruck entgegenwirken, sie habe die
Lage nicht mehr unter Kontrolle.

Im Bemühen um mehr Kontrolle könnten bald auch Schlagbäume in Europa


zurückkehren. Eine Horrorvision für die Wirtschaft?

Enders:

Sicher begrüßt jedes europäische Unternehmen offene Grenzen. Aber wir werden um
gewisse Grenzkontrollen nicht herumkommen. Dass eine Grenzsicherung im Moment
gar nicht möglich erscheint, hat viele Bürger tief schockiert, mich
eingeschlossen. Sie können den Menschen nicht vermitteln, warum die Türkei 8000
Kilometer maritime Grenzekontrollieren soll, wenn wir uns nicht mal in der Lage
sehen, die Grenze zu Österreich zu kontrollieren, wenn wir das wollten. Die
Menschen nehmen da einen Kontrollverlust wahr, das ist hoch gefährlich für die
Stimmungslage.

Fitschen:

Ich stimme zu, dass die Lage wieder kontrollierbar werden muss. Aber letztlich
wollen wir doch alle auch weiterhin die Freiheiten im Schengen-Raum genießen.
Das setzt voraus, dass wir die Außengrenzen sichern. Dafür haben wir bisher zu
wenig getan. Wir haben etwa die Griechen, die in diesem Bereich Hervorragendes
geleistet haben, viel zu wenig unterstützt.

Kaeser:

Auch ich bin für mehr Kontrolle in dieser Situation. Gleichzeitig ist es richtig
und wichtig, dass wir auch weiterhin Verantwortung übernehmen. Es gibt kein
Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg so sehr von der Globalisierung profitiert
hat und dadurch reich und wohlhabend wurde. Bisher ging diese Globalisierung nur
in eine Richtung: Deutschland exportierte in andere Länder, auch nach Syrien
oder in den Irak. Jetzt kommt diese Globalisierung in unsere Richtung. Deshalb
haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung, Migration zu adressieren.
Man kann nicht nur die Vorteile mitnehmen und die Begleitumstände ignorieren.
UPDATE: 23. Januar 2016

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Die Welt

Samstag 23. Januar 2016

"In jedem von uns steckt ein Pegidist";


Der Schweizer Milo Rau ist der Champion des Dokumentartheaters. Nach dem
Völkermord in Ruanda bringt er nun die Flüchtlingskrise auf die Bühne. Ein
Gespräch über den Kolonialismus der Helferindustrie

AUTOR: Florian Merkel

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 26 Ausg. 19

LÄNGE: 2067 Wörter

Milo Rau wirkt ein wenig erschöpft, als er das Café in der Berliner Schaubühne
betritt. Um sich dann doch noch einmal über 90 Minuten furios in Fahrt zu reden.
Der Schweizer Theaterregisseur und Autor ist ein gefragter Mann dieser Tage. In
seinen Werken und Schriften setzt er sich mit Globalisierungs- und
Flüchtlingsfragen auseinander. Rau kritisiert die eurozentrische
Betroffenheitskultur, prägte in diesem Zusammenhang den Begriff "zynischen
Humanismus" und fordert "globale Solidarität mit den Opfern der europäischen
Wirtschaftspolitik". Sein neues Stück "Mitleid. Die Geschichte des
Maschinengewehrs" basiert auf Interviews mit Flüchtlingshelfern und
NGO-Mitarbeitern, die der 38-Jährige begleitete - und als "oft rassistisch und
inkompetent" erlebt hat. Florian Merkel sprach mit dem Wahl-Kölner über
Gutmenschentum und Globalisierungsgewinner, den Auftrag des politischen Theaters
und die Hintergründe der Silvesternacht.

Die Welt:

Herr Rau, "Gutmensch" ist gerade zum Unwort des Jahres ernannt worden. Sie
sprechen in Zusammenhang mit der viel beschworenen Willkommenskultur von
"Wohlfühl-Ethik" und "zynischem Humanismus". Wie meinen Sie das?

Milo Rau:

Ich meine damit nicht, dass die Sache an sich schlecht ist - denn das ist sie
zweifellos nicht. Flüchtlinge kommen, Staat und Verwaltung versagen, Menschen
tun etwas. Meine Beobachtung jedoch ist: Dieses Engagement hört an den
Außengrenzen der EU auf. Alles, was innerhalb dieser Grenzen geschieht, ist
schrecklich - alles was jenseits passiert, interessiert kein Schwein. Das ist
insofern zynisch, als es eine globalisierte deutsche und europäische Wirtschaft
gibt, aber keine globalisierte Willkommenskultur.

Wie erklären Sie das dem ehrenamtlichen Helfer, der sich seit Monaten rund um
das Lageso aufreibt?

Wie gesagt: Der oben beschriebene Widerspruch ändert nichts daran, dass die
Arbeit der freiwilligen Helfer gut ist. Im Gegensatz zum Gutmensch geht deren
Einsatz über die Geste hinaus. Das Gute an sich, eine moralische Politik, da bin
ich der Letzte, der das ablehnt.

Die NGO-Mitarbeiter dagegen, die Sie für die Recherchen Ihres Stückes "Mitleid"
in Zentralafrika interviewt haben, beschreiben Sie als rassistisch.

Das ist kein persönlicher, sondern ein struktureller Rassismus: der


Kolonialismus der Helferindustrie. Den Leuten, die für NGOs in Schwarzafrika
arbeiten, wird gehuldigt, nur weil sie weiß sind. Kaum ausgebildete junge
Menschen planen sinnlose Projekte, verpulvern Spendengelder und lassen sich von
Einheimischen bedienen. Irgendwann denken die wirklich, dass sie etwas
Besonderes sind. Oft sind das Menschen, die psychisch unfertig oder in ihren
Heimtatländern gescheitert sind. Ihr Selbstbild bläht sich auf. Wenn diese Leute
dann pensioniert werden und nach Europa zurückkehren, bricht die Illusion
zusammen, bei Männern noch viel schlimmer als bei Frauen.

Flüchtlingshilfe als identitätsstiftender Selbstzweck mag moralisch fragwürdig


sein. Aber sind dem Bedürftigen Moral und Motivation des Helfers nicht egal,
solange ihm faktisch geholfen wird?

Auf jeden Fall. Deshalb lautet ja die Frage: Warum werden im Durchschnitt über
90 Prozent der Spendengelder in die Selbstreproduktion der westlichen NGOs
gesteckt? Was hier sichtbar wird, ist der himmelweite Unterschied zwischen dem
narzisstischen Erlebnis der Hilfe und echter Solidarität. Wir wollen etwas
geben, wollen Dankbarkeit dafür, wollen dem Hilfsbedürftigen aber nicht die
gleichen Chancen einräumen. Da ist dann diese Grenze in unseren Köpfen, bis
hierhin und nicht weiter. In jedem von uns steckt ein Pegidist, die meisten
haben nur mehr Stil. Wenn irakische, afghanische oder gar schwarzafrikanische
Theatermacher nach Deutschland kommen, können sie Flüchtlingstheater oder
Tanztheater machen. Aber bitte kein richtiges Sprechtheater, dann wird das
bürgerliche Feuilleton böse! Dann heißt es: gut gemeint, aber beschissene Kunst!

Kulturelle Besitzstandswahrung?

Genau. Der Flüchtling darf wild tanzen oder in einem Chörchen auf der Bühne
stehen und etwas aufsagen in rhythmischem Ton - die Hauptrolle wird anders
vergeben. Andersrum jedoch, wenn man als Weißer nach Afrika geht, dann ist das
nicht so. Dann hast du die Solorolle, dann bist du der Chef. So sind die
globalen Herrschaftsverhältnisse, und das wird in "Mitleid" auch szenisch
thematisiert.

Jede Change.org-Petition, jedes Facebook-Like, schrieben Sie kürzlich,


verschiebe eine realpolitische Debatte in den virtuellen Raum. Sie fordern ein
ganzheitliches Umdenken, einen "globalen Realismus", der über die Grenzen
Europas hinausgeht. Läuft eine abstrakte Großkritik, die die Spätfolgen des
Kolonialismus nachträglich ausbügeln will, nicht ebenso ins Leere?
Ich bin kein Utopist. Ich bin Pate von Genozidopfern, ich unterschreibe
Petitionen gegen das kongolesische Coltan-Business. Aber das ist den Firmen so
was von egal, weil das Ganze keine Rechtsfolge hat. Insofern war mein "Kongo
Tribunal" im vergangenen Jahr ein Anfang eines tatsächlichen globalen Realismus.
Wir haben über Jahre die Arbeit der Multis in Zentralafrika vor Ort beobachtet,
haben mit Anwälten aus Den Haag, Kinshasa und dem Ostkongo zusammengearbeitet
und auf dieser Grundlage ein zwar künstliches Tribunal errichtet, das aber
dennoch auf Augenhöhe der Konzerne operiert und genauso global organisiert war.
Da saßen sich dann Politiker, Militärs, Rebellen, Überlebende von und
Verantwortliche für Massaker, UN- und Weltbankfunktionäre gegenüber und haben
erstmals öffentlich und auf juristischer Grundlage über Schuld gesprochen.

Nach "Hate Radio" 2012 über den Völkermord in Ruanda und "Das Kongo Tribunal"
nun "Mitleid". Woher rührt diese obsessive Auseinandersetzung mit Massakern und
global wirtschaftlichen Verbrechen?

Ich bin in den letzten zehn Jahren Zeuge von Massakern geworden, von
Massenvertreibungen, unfassbaren Verbrechen. Das alles hat mich und mein Team
traumatisiert. Interessanterweise führt Traumatisierung aber zu nichts: Man wird
einfach abgestumpfter, pessimistischer. Meine Theaterprojekte sind für mich die
Rettung aus alledem, meine Form der Transformation von Fatalismus in etwas
Anderes - in etwas wie Solidarität, sogar Schönheit.

Ist es ein Dilemma, wenn das ja unbedingt notwendige zivile Engagement, wie es
derzeit vielerorts in Deutschland zu erleben ist, zugleich als Schmieröl eines
falschen Systems dient?

Was in der Dritten Welt falsch gemacht wird, eben etwa im Bereich der NGOs, ist,
dass westliche Organisationen staatliche Aufgaben wie die Wasserversorgung
übernehmen. So werden verwaltungstechnische Aufgaben komplett auf private
Akteure und die Zivilgesellschaft übertragen - was entsteht, ist ein
rechtsfreier Raum. Auch in Europa gibt der Staat nach einer, sagen wir,
hundertjährigen Zwischenzeit des Wohlfahrtsstaates aktuell immer mehr Aufgaben
an die Zivilgesellschaft ab. Deren Aufgabe ist es nun, diesen Zustand zu
politisieren und zu sagen: Okay, wir machen das jetzt einen Winter lang. Aber
wenn das nächstes Jahr nicht besser organisiert ist, dann gibt es einen Umsturz.

Wie kommen Sie damit klar, hier jetzt im beheizten Café eines subventionierten
Theaters zu sitzen? Anders gefragt: Wie hält man das aus, so ein Leben als
Globalisierungsgewinner?

Wenn man, metaphorisch gesprochen, als Aristokrat in eine königliche Familie


geboren wird, ist das als Auftrag zu verstehen. Gefährlich ist es, den Zufall
der Geburt als Selbstverständlichkeit oder gar Verdienst zu missdeuten. Es gibt
sehr viele Menschen, auch in der Helferindustrie, die denken, Europa und sie
selbst hätten gewisse Dinge richtig gemacht und deshalb hätten sie ein Recht auf
Wohlstand. Natürlich haben sie das nicht. Wir haben uns hier nur einen Raum
geschaffen, eine kapitalistische Käseglocke, in der die grausamen globalen
Gesetzmäßigkeiten nicht gelten.

Die Dramaturgin einer Inszenierung über Bürgerkriegsflüchtlinge am Theater


Bremen bekannte unlängst, es wäre einfacher gewesen, den Produktionsetat zu
spenden und ein Pappschild auf die leere Bühne zu stellen mit der Aufforderung,
sich Gedanken über das eigene Verhältnis zum Thema zu machen. Was kann
politisches Theater heute noch leisten?

Anfang der Nullerjahre gab es politisches Theater à la Pollesch, das einen


animiert hat, das Hirn anzuschalten. Fand ich toll. Mittlerweile gibt es sehr
viel pädagogischen Aktivismus im Theater, ein aggressives Helfertheater, das
keinen Kunstanspruch anstrebt, sondern an einer Art neuem Humanismus arbeitet.
Ist auch super. Was mich persönlich interessiert, ist ein utopisches Theater:
Das nicht im Rahmen des Bestehenden für Abhilfe sorgt oder es anklagt, sondern
reale politische Alternativen eröffnet. In diese Kategorie fällt "Das Kongo
Tribunal". Das Problem im deutschen Stadttheater besteht darin, dass das
narzisstische Rumgehampel des Wutbürgers irgendwie zum Stilmittel geworden ist.
Das nervt. Am Schluss muss immer noch ein Hassmonolog kommen - "Pegida ist
scheiße" oder so. Die Kunst soll aber nichts erklären, nichts lösen, sondern
Widersprüche verschärfen.

Ihr Kollege Michael Thalheimer ätzte unlängst, er habe häufig den Eindruck,
Amnesty International, die Obdachlosenhilfe und das Flüchtlingshilfswerk würden
die Programme an den Theatern gestalten. Können Sie seine Kunstkritik
nachvollziehen?

Ein Stück weit ja, aber die Kritik ist ein wenig unscharf. Es gibt ja kein
richtiges oder falsches Theater, am Ende ist alles eine Frage der Qualität. Auf
der Seite des bürgerlichen Schiller-Molière-Theaters gibt es Vollidioten und
clevere Typen wie Michael Thalheimer - und auf der Seite des politischen
Theaters gibt es Vollidioten und clevere Typen wie mich. (lacht). Tatsächlich
gibt es immer mehr Kunsthandwerk, das keinem ästhetischen Anspruch genügt. Man
merkt sofort: Wird hier eine wirkliche schwierige Psycho-Kiste probiert oder der
Tschechow einfach routiniert runtergespielt. Da bringt es dann auch nichts, ein
paar Flüchtlinge oder Tänzer ins Bühnenbild zu stellen.

Alle Terroristen seien Flüchtlinge, die Zeiten der Political Correctness vorbei,
sagte der lettische Regisseur Alvis Hermanis, als er sein Engagement am
Hamburger Thalia Theater aufgrund des humanitären Einsatzes des Hauses
aufkündigte. Die Empörung in der Szene war groß. Aber muss sich gutes Theater
nicht emanzipieren, auch von der guten Sache?

Was er da zum Ausdruck gebracht hat, ist seine private Paranoia. Jeder darf
seine Meinung haben, aber zu sagen, dass die Flüchtlinge den Terror bringen,
stimmt empirisch nicht. Das löst bei mir keinen Impuls zur Debatte aus, es ist
einfach faktisch falsch. Klar, man muss tolerant sein, gleichzeitig sollte man
nicht jeden Blödsinn als Political Incorrectness ernst nehmen. Ich diskutiere ja
auch nicht, ob Syrien auf dem Mond liegt oder der Kongo an die USA grenzt.
Hermanis irrt sich hier einfach, sein Problem!

Man sollte nicht aufhören, "auf eine tatsächlich humane Welt zu hoffen",
schrieben Sie jüngst in einem Essay. Gleichzeitig werden in Skandinavien die
Grenzen geschlossen, und die Kölner Silvesternacht befeuert bei nicht wenigen
Menschen die hysterische Angst vom Untergang des Abendlandes. Was lässt Sie
weiter hoffen?

Unter anderem meine Erfahrungen in Zentralafrika. Kaum eine Familie dort ist
nicht von den Folgen des Bürgerkriegs betroffen - Todesopfer, Vergewaltigungen,
Vertreibungen, von einem Alltag ohne Elektrizität, Straßen, irgendeiner Form von
Sicherheit sowieso zu schweigen. Aber die Menschen schreiten voran. Es gibt dort
einen Vitalismus, an den auch ich glaube. "Ich mache mir keine Illusionen",
heißt es in meinem Stück "The Civil Wars", "aber Hoffnungen schon." Dem schließe
ich mich als strategischer Pessimist an. "Mitleid" endet denn auch nicht mit dem
üblichen deutschen Hassmonolog, sondern mit der Einspielung von Kinderlachen.
Bei Filmaufnahmen über den Genozid werden die Kinder nämlich immer weggeschickt,
weil man diesen fröhlichen Sound nicht auf der Tonspur haben möchte.

Sie leben seit einigen Jahren in Köln. Können Sie sich die Ereignisse der
Silvesternacht erklären?
Ich sollte mich schon mehrfach dazu äußern, habe das aber immer abgelehnt. Es
ist ein rein juristisches Problem, zu der ganzen Debatte habe ich keine Haltung,
die wirklich weiterhilft. Sehr grundsätzlich gesagt, haben meine Beobachtungen
zur männlichen Sexualität etwas ergeben, was ich so zusammenfassen kann: Alkohol
in Gruppen genossen, führt zu Übergriffen bis zur Vergewaltigung. Religion
spielt dabei erst mal keine größere Rolle.

UPDATE: 23. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Daniel Seiffert; Thomas Dashuber/Residenztheater/dpa


Ursina Lardi in "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs", dem neuesten
Stück von Milo Rau in der Berliner Schaubühne
Thomas Dashuber/Residenztheater/
Daniel Seiffert

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Die Welt

Dienstag 26. Januar 2016

"Die sind doch nicht blöd, mitten im Krieg";


Die "Tagesthemen" berichteten von deutschen Waffenlieferungen an die Peschmerga
im Nordirak, die auf dem Schwarzmarkt gelandet sein sollen. Aber wichtige Fakten
fehlen, mehrere Behauptungen stimmen nicht

AUTOR: Alfred Hackensberger

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 21

LÄNGE: 1439 Wörter

Tanger

Der Vorwurf wiegt schwer und schlägt entsprechend hohe Wellen. Es ist der
Albtraum aller Regierungen, die Waffen an die Guten in Konfliktgebiete schicken
- welche am Ende aber bei den Bösen landen. Genau diese Gefahr soll in der
autonomen Kurdenregion (KRG) bestehen. Denn dort sind aus Deutschland gelieferte
Waffen auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht. Peschmerga-Kämpfer sollen sie aus Not
verkauft haben, da sie seit Monaten keinen Sold erhalten. Das zumindest wurde in
einem Beitrag der "Tagesthemen" behauptet, der auf Recherchen des NDR und WDR
basiert. Als Folge musste der Botschafter der KRG, Dilshad Barsani, im
Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt Stellung nehmen. Die
Bundesregierung verlangte "unmissverständlich" Aufklärung. Politiker der
Opposition fordern einen sofortigen Lieferstopp.

Für Botschafter Barani in Berlin schien im ersten Moment eine Welt


zusammenzubrechen. Die KRG steht mitten im Krieg mit der Terrormiliz Islamischer
Staat (IS). Deutsche Waffen leisten einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen
die Extremisten. Tausende von Menschenleben wurden durch sie gerettet. Mit dem
Verstoß gegen die Lieferbedingungen könnte es damit vorbei sein. Die für das
Quartalsende angesetzte nächste Waffentranche könnte storniert, verzögert oder
nur unter erschwerten Auflagen geliefert werden. "Wir werden alles in unserer
Macht Stehende tun, um vollständige Aufklärung zu liefern", sagte Barsani im
Gespräch mit der "Welt". "Es wurde bereits eine Kommission eingesetzt, die alles
genau untersuchen wird."

Aber wie sind eigentlich die Vorwürfe des NDR und WDR einzuschätzen? Es scheint
so, als sei eher oberflächlich recherchiert worden, einzelne Fakten wurden
ausgelassen. Denn in Wahrheit besteht in der KRG eine relativ geringe Gefahr,
dass deutsche Waffen in falsche Hände geraten. Und die große Not der Peschmerga?
Der Erlös aus dem Verkauf eines G3-Gewehres finanziert gerade mal den
Lebensunterhalt für einen Monat. Dafür stünde der Soldat dann ohne Waffe an der
Front. Um mit dem Verkaufserlös Flucht nach Europa zu finanzieren, wie der
TV-Beitrag nahegelegt, reicht es auch nicht - die Reise kostet ein Vielfaches
von dem, was ein Gewehr oder eine Pistole einbringt.

Die Bundesregierung hat die "Rechercheergebnisse" des NDR und WDR bereits
relativiert. Es gebe keine Hinweise für einen "systematischen Missbrauch", sagte
Jens Flosdorff, der Sprecher des Verteidigungsministeriums. Zwei der im
"Tagesthemen"-Beitrag gezeigten Waffen könnten aus den Lieferumfang stammen, den
die KRG 2014 erhalten habe. Bei insgesamt 20.000 gelieferten Sturmgewehren und
8000 Pistolen könne niemand vollständige Kontrolle garantieren.

Das Team des NDR und WDR entdeckte deutsche Waffen in Geschäften in Suleimania
und bei einem Besuch auf einem Waffenmarkt in Erbil. Der würde "versteckt" in
den Bergen liegen und sei nur "schwierig" zu erreichen, heißt es auf der
Webseite der "Tagesschau". Tatsächlich ist der Waffenmarkt stadtbekannt.
Taxifahrer kennen den Weg, und es ist nichts Geheimnisvolles damit verbunden,
wie suggeriert wird. Außerdem muss man nicht mit versteckter Kamera drehen, wie
behauptet wird. Man kann sich eine Genehmigung holen, wie das einige andere
internationale Fernsehteams in den vergangenen Monaten mehrfach taten, um über
den Waffenmarkt zu berichten.

Im Beitrag der "Tagesthemen" bleibt unerwähnt, dass dieser Markt gar kein
Schwarzmarkt ist. Er steht unter der Kontrolle der Regierung. Alle Händler
brauchen eine staatliche Zulassung und sind überwiegend Mitglieder des Militärs.
Araber haben hier keinen Zutritt, wie ein Peschmerga der "Welt" bei einem Besuch
noch im November bestätigte. "Da weiß man ja nie, ob die nicht vom IS sind",
erklärte der Soldat damals.

Auf dem Waffenmarkt war auch Peter einige Male. Er ist ein ehemaliger
Bundeswehrsoldat und lebt seit vielen Jahren im irakischen Kurdistan. Seinen
vollen Namen möchte er nicht nennen. "Ich arbeite hier bei einer der größten
Sicherheitsfirmen, trage Uniform und eine Waffe", erzählt er. "Auf dem Markt
wurde stets mein Ausweis kontrolliert und ich musste meine Pistole angeben."
Bewaffnete Regierungsbeamte sorgen dafür, dass keine Unbefugten Zutritt
erhalten. "Registrierte Militärwaffen können nur an Leute weitergegeben werden,
die eine Lizenz dafür besitzen", erklärt Peter. "Selbst für den Kauf von
nicht-militärischen Waffen muss der private Käufer einen Waffenschein haben."
Und es dauere sechs Monate, bis man ihn bekomme. "Geheimdienstcheck inklusive",
meint der deutsche Ex-Soldat.
Für ihn sind die Vorwürfe aus den "Tagesthemen" "völlig an den Haaren
herbeigezogen". In Kurdistan würde alles getan, um einen Waffenmissbrauch zu
verhindern. "Die sind doch nicht blöd, mitten im Krieg." Alle deutschen
Sturmgewehre, ob G3 oder das Nachfolgemodell G36, sowie die Walther-P1-Pistolen
seien bei der Ausgabe registriert worden. "Und die Gewehre wurden erst
ausgehändigt, nachdem jeder Soldat dafür ein Training erhalten hatte." Das
bestätigte auch Botschafter Barsani: "Die Waffen gingen an die 1. und 2.
Brigade. Jedes Gewehr wurde einer Person zugewiesen und registriert."

Im Bericht der "Tagesthemen" fehlt diese Information. Es gibt auch keinen


Hinweis, ob die Redaktion die Seriennummern der betreffenden Waffen überhaupt
überprüft hat. Gehören sie alle tatsächlich zur deutschen KRG-Lieferung oder
sind sie schon seit langen Jahren auf dem Schwarzmarkt erhältlich? Deutsche
Waffen, darunter auch Gewehre und Pistolen der Bundeswehr, sind in der Region
überall zu finden - von Afghanistan über den Irak und Syrien bis in die Türkei.
Das alte deutsche G3-Gewehr gehört zu einer der drei beliebtesten Schusswaffen
weltweit. Die türkische Armee wird seit über 30 Jahren mit deutschem
Militärgerät versorgt. Ganze Bataillone waren in den 90er-Jahren mit
Bundeswehrbeständen ausgerüstet worden. Vieles davon dürfte seitdem längst auf
dem Schwarzmarkt gelandet sein. Zumal das alte Kriegsgerät ausgemustert und
durch moderne Waffen ersetzt wurde.

Und dann sind da noch die Waffen der Bundeswehr, die auf unerklärliche Weise
verschwinden. In Afghanistan sollen das Hunderte von Walther-P1-Pistolen gewesen
sein. 2006 verschwand dort ein ganzer Container mit nagelneuen
MP7-Maschinenpistolen. Das jedenfalls sagt ein ehemaliger Soldat, der auf dem
deutschen Stützpunkt Masar-e-Scharif Dienst schob. "Offiziell gab es dazu keine
Stellungnahme", sagt der ehemalige deutsche Isaf-Soldat - genauso wenig, wie zu
den Verlusten beim Nachschub über den Landweg. "Da ist ständig etwas
verschwunden." Aber selbst beim Transport innerhalb Europa gab es Probleme. Nach
einer Übung der Nato-Eingreiftruppe (NRF) im Jahr 2005 auf Fuerteventura wurde
die Ausrüstung mit einer griechischen Rederei nach Holland verschifft. Am Ende
war den Deutschen einiges abhanden gekommen, wie der Ex-Afghanistan-Kämpfer
gegenüber der "Welt" bestätigt.

Ob nun die deutschen Gewehre auf dem Markt von Erbil und Sulaimania tatsächlich
alle aus den Lieferungen der Bundesrepublik stammen, müsste also erst geprüft
werden. Die "Tagesthemen" präsentieren als Kronzeugen für den Waffenmissbrauch
in der KRG einen desertierten Peschmerga-Kämpfer namens Mustafa. Nach 28
Dienstjahren verkaufte er seine Kalaschnikow, um die Flucht nach Deutschland zu
finanzieren. "Eine große Anzahl" seiner ehemaligen Kameraden hätten das Gleiche
vor, wie er dem Fernsehteam versicherte. Aber der Verkauf seiner Kalaschnikow
war sehr wahrscheinlich nicht illegal - und hat nichts mit den Waffenlieferungen
aus Deutschland zu tun. Gerade altgediente Peschmerga kauften ihre Gewehre
früher meist selbst - und mit ihrem Privateigentum können sie machen, was sie
wollen. Bei den jüngsten Waffenlieferungen aus Deutschland ist das anders. Da
gehören die Gewehre dem Staat, nicht dem Kämpfer.

In Erbil haben mittlerweile die versprochenen Untersuchungen begonnen. Bisher


habe man fünf Fälle von fehlenden Waffen entdeckt, gab Leutnant Salar Jabbari
vom Peschmerga-Ministerium für Munition bekannt. Die Ermittlungen liefen noch,
aber eins sei sicher: Alle Verstöße würden hart bestraft werden. Fünf
verschwundene Waffen sind nicht viel. Deshalb reagierte die Bundesregierung wohl
auch letztlich so gelassen auf die Vorwürfe - und das zurecht. 2007 erklärte das
Pentagon im Irak gleich 190.000 Gewehre und Pistolen für vermisst. Innerhalb nur
einer Woche waren 3000 Glock-Pistolen verschwunden. Aktuell können die USA im
Jemen Waffen im Wert von 500 Millionen Dollar nicht mehr lokalisieren. Im
Vergleich dazu ist die Zahl der verschwundenen Waffen in der KRG verkraftbar -
zumal sie wahrscheinlich von einem Peschmerga-Kämpfer zum anderen gegangen sein
dürften.

UPDATE: 26. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Maurizio Gambarini


Sind die deutschen Waffen für die Peschmerga noch in den richtigen Händen?
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor einem Jahr in Erbil im Nordirak

Maurizio Gambarini/dpa

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Die Welt

Freitag 29. Januar 2016

"Wir haben einen Fehler gemacht";


Der erfundene Todesfall eines Flüchtlings in Berlin hat freiwillige Helfer
schockiert. Sie befürchten, dass ihnen nicht mehr geglaubt wird. Das Motiv von
Dirk V. bleibt unklar

AUTOR: Thorsten Mumme; Freia Peters

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 24

LÄNGE: 1289 Wörter

Wir haben einen Fehler gemacht, wir geben es offen zu. Wir haben Mist gebaut."
Mit diesen Worten war Diana Henniges von "Moabit hilft" am Donnerstagmorgen vor
die Medien getreten. Einen Tag zuvor hatte das Helfer-Netzwerk offensiv die
Darstellung des ehemaligen Helfers Dirk V. verbreitet, ein Flüchtling, der
tagelang vor dem Lageso gewartet hatte, sei gestorben. Nachdem sich
herausgestellt hat, dass die Geschichte frei erfunden war, stellt sich die Frage
nach Konsequenzen.

"Wir haben den Ehrenamtlichen unser Vertrauen geschenkt. Das müssen wir künftig
überdenken", sagte Henniges. Doch auch weil Dirk V.s Darstellung so "perfide"
detailliert war, habe man ihm geglaubt. Gegenüber der "Welt" konkretisierte die
zweite Moabit-hilft-Sprecherin Christiane Beckmann: "Wir hätten die Geschichte
näher prüfen sollen." Ein Rücktritt der beiden Sprecherinnen komme jedoch trotz
des Kommunikationsdebakels nicht infrage. "Wir sind uns keiner weiteren Schuld
bewusst", sagte Beckmann. "Und wir haben eben keine professionelle
Öffentlichkeitsarbeit." Außerdem betonte sie, dass Dirk V. kein Mitglied im
Verein Moabit hilft sei. Eine bessere Prüfung der Ehrenamtlichen sei allerdings
schwierig. "Wir können kaum jeden Helfer prüfen, der so wie Dirk V. kommt und
sich engagieren will", sagt Beckmann. Wer und wie viele Helfer vor Ort seien,
entscheide sich täglich spontan. "Es gibt zwar eine Liste, in die sich Helfer
eintragen sollen, aber das funktioniert nicht", sagt Beckmann. "Hier kommen
täglich 40 bis 50 Menschen und wollen helfen."

Die Tat von Dirk V. hat den Hunderten Helfern einen Bärendienst erwiesen.
Monatelang hatte V. sich für die Flüchtlinge engagiert, die vor dem Berliner
Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gestrandet waren. Hatte sie mit
Suppe, Tee und Anoraks versorgt, viele von ihnen nach Hause mitgenommen und sein
Sofa angeboten - und gleichzeitig die unmenschlichen Zustände vor dem Lageso
angeprangert. Henniges fürchtet um die Glaubwürdigkeit von Moabit hilft: "Wenn
wir jetzt sagen, hier hungert jemand oder hier friert gerade jemandem der Fuß
ab, wird man uns das nicht mehr sofort glauben." Viele Helfer sehen das ähnlich.

In der Berliner Helferszene heißt es jetzt vor allem: Wir machen weiter. "Das
ist ein Einzelfall", sagt die Schauspielerin Tanya Neufeldt. "Daneben stehen
Heerscharen von loyalen Helfern, die alles geben, um zu helfen. Ich lasse mich
davon nicht beeindrucken." Neufeldt hat zusammen mit dem Autoren Andreas Tölke
die Initiative "Be an Angel" gegründet. Gemeinsam mit vielen Unterstützern
helfen sie den Flüchtlingen, das Lageso möglichst schnell hinter sich zu lassen
und im deutschen Alltag anzukommen: mit Wohnungen, Jobs, Tipps, Kontakten,
besonders für Familien. "Genau das werden wir weiter tun", sagt Neufeldt. "Ich
will mich gar nicht an Spekulationen über Dirks Geisteszustand beteiligen. Alle
haben die Nachricht vom Tod des Flüchtlings sofort geglaubt, das ist für mich
entlarvend und zeigt den Nerventanz, den alle Helfer hier veranstalten."

"Für uns ändert das nichts", bestätigt Tölke, der mit Moabit hilft
zusammenarbeitet und seit Monaten immer wieder Flüchtlinge aufnimmt, Sprachkurse
organisiert, Praktika vermittelt. Tölke betreut jetzt eine Familie, um die sich
eigentlich Dirk V. hätte kümmern sollen. "Wir werden weiter unsere Arbeit machen
und helfen. Besondere Zeiten erfordern besonderen Einsatz." Dennoch ist die
Aktion von Dirk V. für Tölke völlig inakzeptabel. "Ich bin stinksauer und kann
die Stimmen überhaupt nicht nachvollziehen, die jetzt sagen, der Arme, der war
wohl überfordert. Hier diskreditiert ein einzelner Mann eine ganze Bewegung."

Die Helferinitiativen am Lageso und der Senat liegen seit vielen Monaten im
Streit, wie dramatisch die Lage vor Ort wirklich ist. Doch zumindest in der
Bewertung der Tat von Dirk V. gleicht sich die Wortwahl beider Parteien. "Das
ist eine der miesesten und perfidesten Aktionen, die ich jemals erlebt habe",
sagte Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU). Berliner Behörden hätten "über
Stunden mit hohem Aufwand nach einem erfundenen ,Lageso-Toten'" suchen müssen,
sagte Henkel. Rechtliche Konsequenzen müssten geprüft werden.

Ob Dirk V. nun strafrechtliche Folgen zu erwarten hat, hängt von seinem Motiv
ab. "Es ist die Frage, ob man ihm den Willen nachweisen kann, jede Menge
Polizisten, Politiker, Helfer, Feuerwehrmänner in die Irre zu führen", sagte
Michael Böhl, Vorsitzender vom Landesverband Berlin des Bunds Deutscher
Kriminalbeamter, in der "Welt". "Was war sein Motiv? Hat er mit Vorsatz
gehandelt, war er grob fahrlässig oder hat er die Konsequenzen seiner Tat
billigend in Kauf genommen? Darüber schweigt der Mann bislang." Das hat
offensichtlich seinen Grund. V. habe möglicherweise mit einem Anwalt gesprochen
und weiß, dass sein Motiv darüber entscheidet, ob er belangt werden kann.

Klar ist aber: V. hat billigend in Kauf genommen, dass er viele Kräfte bindet,
die an anderer Stelle dringend gebraucht worden wären. Beamte, Mitarbeiter von
Krankenhäusern, Senat und Feuerwehr hatten stundenlang recherchiert, um die
Identität des Toten ausfindig zu machen. "Es erweckt den Anschein, dass er die
Behörden im Glauben gelassen hat, dass es einen Toten gibt", sagt Böhl. "Damit
hat er Kosten verursacht, die ihm in Rechnung gestellt werden könnten."

Zunächst gilt es auch die Frage zu klären, ob Dirk V. zurechnungsfähig war.


"Möglicherweise liegt eine Form der Persönlichkeitsstörung vor, von jemandem,
der sich zu sehr aufopfert", sagt Rechtspsychologin Dr. Anja Kannegießer der
"Welt". "Ob das ein überdauernder Charakterzug ist oder sich situativ so
entwickelt hat, lässt sich nicht beurteilen." Dirk V. sei offensichtlich
überengagiert gewesen und über das Ziel hinausgeschossen. Möglich seien
narzisstische Motive, der Wunsch nach Aufmerksamkeit. "Dass der Helfer seinen
Namen veröffentlicht hat, deutet darauf hin, dass er Anerkennung haben möchte
für das, was er Großes leistet", sagt Kannegießer.

Ganz offensichtlich sei Dirk V. überfordert gewesen. Dass er gegenüber der


Polizei schließlich zugab, den Tod seines Schützlings frei erfunden zu haben,
lasse vermuten, dass er das Vorgehen nicht geplant habe, sondern langsam in die
Sache hineingeraten sei. "Sicherlich ist der Helfer momentan psychisch labil",
sagt Kannegießer. "Er hat die Sache mit einem Geständnis aufgelöst, das sieht
nicht nach einer gezielten Provokation aus." Auch dass V. den Kontakt
abgebrochen habe zu anderen Helfern spreche für eine Überforderung. "Er wollte
offensichtlich so sehr für die gute Sache kämpfen, dass ihm die Relation für die
Mittel entglitten ist." Ob V. eine psychische Vorerkrankung gehabt habe, sei
letztlich nicht auszuschließen.

Aus Sicht der Caritas Berlin muss der Fall Anlass sein, die Organisation der
Lageso-Helfer zu verbessern. "Wir bei der Caritas legen großen Wert darauf, dass
von unseren Helfern Führungszeugnisse vorliegen", sagt Professor Ulrike Kostka,
Diözesandirektorin der Caritas Berlin. "Wir haben dem Lageso mehrmals empfohlen,
die Helfer zu akkreditieren, damit man weiß, wer gerade da ist", sagt Kostka
weiter. Die Helfer müssten namentlich registriert werden.

Unter den Flüchtlingen, die auch am Donnerstag wieder in langen Schlangen vor
dem Lageso warteten, hat sich der Vorfall herumgesprochen. "Das hätte mich nicht
überrascht", sagt Abdul, der vor vier Monaten aus Afghanistan nach Deutschland
gekommen ist. "Ich selbst bin dreimal krank geworden, als ich hier im Winter
täglich zehn Stunden anstand." Saeid, Flüchtling aus Syrien, hingegen hat dem
Gerücht keinen Glauben geschenkt. "Wir haben hier warmes Essen, warme Zelte.
Wenn ich krank bin, weiß ich, wo ich zum Arzt gehen kann", sagt er. "Ich denke
nicht, dass hier jemand sterben muss."

UPDATE: 29. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Getty Images/ Sean Gallup


Die Bestürzung bei den Helfern am Lageso ist groß. Erst über den toten
Flüchtling, dann über die erfundene Geschichte
Sean Gallup

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Die Welt

Freitag 29. Januar 2016

Der deutsche Islam braucht eine Margot Käßmann;


Trotz politischer Fehlurteile: Die Ex-Bischöfin spricht beim Thema Religion und
Frauen vieles aus, was Musliminnen nicht sagen dürfen

AUTOR: Matthias Kamann

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 24

LÄNGE: 812 Wörter

Sie ist geschickt darin, andere Leute schnippisch mit deren eigenen Forderungen
zu konfrontieren. So hält Margot Käßmann den Pegida-Parolen vom christlichen
Abendland entgegen, dass die Anhänger dieser Bewegung doch bei sich selbst
anfangen und öfter in einen christlichen Gottesdienst gehen sollten.

Und mit Blick auf die sexuelle Gewalt von Köln sagte die evangelische
Ex-Bischöfin am Mittwoch bei einer Podiumsdiskussion in Berlin: "Wer da heute
für Frauenrechte kämpft, den habe ich gestern bei dem Thema nicht gesehen."
Sollte heißen: Viele von denen, die sich über Frauenfeindlichkeit von
Flüchtlingen empören, blieben stumm, wenn es um Frauenrechte gegenüber deutschen
Männern gehe.

Käßmanns Spitzen haben natürlich etwas von einem Ablenkungsmanöver: Deutsche


Selbstkritik statt Kritik an Migranten. Hierbei ging sie so weit, dass sie
Deutschland eine Mitschuld an den Fluchtursachen im Nahen Osten gab und die
dortige Lage eine "Anfrage an unseren Lebensstil" nannte. Gekontert wurde dies
von dem jüdischen Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik: "Die Diskussion über
Fluchtursachen ist eine Ausflucht", sagte Brumlik auf dem Podium. Dort ließ das
Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, die jüdische Hochbegabtenstiftung, über "Die
Rolle von Religionen bei der Integration von Geflüchteten" diskutieren.

Doch wäre es zu platt, die zurückgetretene Ratsvorsitzende und heutige


Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) einfach
als Islambeschönigerin zu bezeichnen. Zum einen spart Käßmann nicht mit Kritik
am Islam. Sie beklagte, "dass in Ägypten Sexualität tabuisiert wird" und
tadelte, dass in Rom beim Besuch des iranischen Präsidenten Ruhani die
Nacktskulpturen verhüllt wurden. Man müsse nicht nur die abendländische
Christlichkeit gegen Pegida verteidigen, sagte Käßmann, sondern auch "die
tolerante Wahrheitssuche gegen islamischen Fundamentalismus".

Zum andern hat Käßmann gerade beim Thema Religion und Frauenbild eine Art, die
sich als Vorwurf gegen den Islam interpretieren lässt. Offen spricht sie aus,
was man bei offiziellen Muslimen kaum hört: "Religion ist so patriarchalisch
geprägt, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Da stellt sich auch die
Frage nach dem Glauben." Insofern kann man auf die Idee kommen, dass eine wie
sie den Muslimen in Deutschland guttun würde. Denn innerhalb des Christentum
jedenfalls ist Käßmann, als sie in kirchlichen Spitzenämtern war, keinem
Konflikt mit Frauenfeinden bei Russisch-Orthodoxen oder afrikanischen
Lutheranern ausgewichen. Daher ließe sich auf die schnippische Käßmann-Weise
formulieren: Ihr fordert, dass im Islam die Frauenfeindlichkeit überwunden wird?
Na, dann müsst ihr euch dem möglicherweise unangenehmen Gedanken stellen, dass
dazu die Förderung von Frauen wie ihr gehört. Die liberal sind und gläubig,
frech und theologisch freischärlernd. Zwar gibt es solche Frauen im Islam, aber
gefördert werden sie nicht, sondern müssen sich oft fürchten und haben keine
institutionelle Möglichkeit, nach Art der Pastorin Käßmann eine Gemeinde oder
Fangemeinde um sich zu scharen.

Dass es hierfür im deutschen Islam immerhin ein Potenzial geben könnte, zeigte
sich am Dienstag, am Abend vorher, als Käßmann in Berlin zu einem "Speisen für
Waisen" kam. Diese dezentrale muslimische Charity-Aktion, die auch von
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) unterstützt wird, besteht aus
privat organisierten Abendessen mit Freunden und Bekannten, wo zum Schluss Geld
gesammelt wird, das die Hilfsorganisation Islamic Relief in diesem Jahr für
Kinder in Syrien verwendet. In Käßmanns Fall kam die Einladung von der zum Islam
konvertierten, dabei liberal wirkenden Berlinerin Iman Andrea Reimann, Leiterin
einer interkulturellen Kita und Vorstandsvorsitzende des Deutschsprachigen
Muslimkreises (DMK) Berlin. Zu Gast waren neben Musliminnen eine evangelische
Superintendentin, Erzieherinnen beider Konfessionen sowie ein angehender
jüdischer Rabbiner.

In der weiblich dominierten Wohnzimmerrunde entspann sich alsbald ein Gespräch


darüber, dass diese Frauen sich bei der Diskussion über religiöse Unterschiede
lieber mit praktischen Kooperationsmöglichkeiten als mit Dogmen beschäftigen.
Eine "Theologie der Freundschaft" nannte Käßmann dieses Prinzip. Das klang
verheißungsvoll, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Christinnen
bessere Möglichkeiten zur Demonstration freundschaftlicher Offenheit haben als
die Musliminnen. Jedenfalls gibt es in katholischen und evangelischen Kitas der
Hauptstadt wesentlich mehr muslimische Kinder als christliche in islamisch
geprägten Kitas. Und was die institutionellen Möglichkeiten der christlichen
Frauen in ihren Kirchen betrifft, zumal in Käßmanns evangelischer, so sind die
ungleich besser als die der Musliminnen in ihrer Community. Da ist das
Netzwerken im Wohnzimmer höchstens ein kleiner Anfang.

UPDATE: 29. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Peter Himsel/Islamic Relief Deutschland


"Speisen für Waisen": Käßmann (M.) zu Gast bei Iman Andrea Reimann (4. v. l.)

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Die Welt

Samstag 30. Januar 2016

Angst vor der Wahrheit;


Der Osten Äthiopiens erlebt die größte Dürrekatastrophe seit 40 Jahren. Doch die
Regierung bittet zögerlich um Hilfe aus dem Ausland. Denn das Image wäre
gefährdet

AUTOR: Christian Putsch

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 25

LÄNGE: 1051 Wörter

Mekala

An den Viehpreisen merkte die Regierung, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie
sanken seit April 2015 im Osten Äthiopiens um die Hälfte. Sobald Ernte und Regen
ausbleiben, versuchen die Bauern ihre Rinder und Schafe zu verkaufen, bevor sie
verenden. Das Angebot steigt, die Nachfrage sinkt, entsprechend leiden die
Preise. Das Warnsystem funktioniert gut und soll dabei helfen, dass sich eine
Hungersnot wie die der Jahre 1984 und 1985 mit Hunderttausenden Toten nicht
wiederholen kann.

Mohammed Sheko spürt die Gefahr beim Blick auf seinen Hof in der besonders stark
betroffenen Mekala-Region. Er hat nur noch ein Rind, vor ein paar Monaten waren
es noch 13. Von 30 Schafen sind ihm fünf geblieben. "So schlimm wie im Moment
war es seit Jahrzehnten nicht", sagt der Kleinbauer, "ich habe Angst um das
Leben meiner Familie." Verzweifelt rupft der Muslim einen schrumpeligen Maishalm
aus seinem vertrockneten Feld und reckt ihn anklagend in die Höhe. Zehn Kinder
und zwei Ehefrauen muss er ernähren.

Ohne die Notrationen der Regierung und der deutschen Hilfsorganisation Menschen
für Menschen (MfM) wäre der Überlebenskampf für ihn vielleicht schon verloren.
"Es gab seit Mitte Juli keinen Regen und in der Folge keine Ernte", sagt der
MfM-Nothilfekoordinator Tewolde Kida, "in anderen Gegenden zerstörten heftige
Regenfälle zu den falschen Jahreszeiten die Ernte. Die Hilfe muss aufgestockt
werden." Äthiopien aber redet die Dürre seit Monaten klein, um sein Image als
Tigerstaat Afrikas nicht zu gefährden. Ende vergangenen Jahres vermeldete es
lediglich 8 Millionen Hilfsbedürftige, als die UN bereits von 15 Millionen
Menschen ausgingen.

Selten waren so viele Länder in Afrika im aktuellen Ausmaß von "El Niño"
gleichzeitig betroffen, es sind über ein Dutzend. Ähnlich schlimm wie in
Äthiopien ist die Situation im Süden Afrikas, wo insgesamt 14 Millionen von
einer Hungersnot bedroht sind - besonders in Malawi, Simbabwe und Madagaskar.
Die Lebensmittelpreise sind massiv gestiegen, in Malawi kostet Mais derzeit 73
Prozent mehr als im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre. Die Situation wird
dadurch verschärft, dass der wichtigste Lebensmittelexporteur der Region,
Südafrika, ebenfalls die schlimmste Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichnung im
Jahr 1904 erlebt und nicht liefern kann.

Eine Trockenperiode dieser Größenordnung kann auch das beste Krisenmanagement


nicht vollends auffangen. Tatsächlich scheinen die meisten Regierungen unter
anderem in Form von Risikoversicherungen deutlich besser vorbereitet als bei
vorangegangen derartigen Krisen, besonders wenn man das enorme
Bevölkerungswachstum bedenkt: Die Zahl der Einwohner hat sich in Äthiopien seit
der Dürre im Jahr 1973 von rund 26 Millionen auf rund 100 Millionen fast
vervierfacht, was die Situation massiv verschärft. Immerhin konnte bislang ein
Massensterben wie noch bei der Dürre im Jahr 2011 verhindert werden. Damals
starben besonders in Somalia und Kenia mindestens 50.000 Menschen.

Doch indirekt rächen sich nun Versäumnisse der Politik. Der Rand, Südafrikas
Währung, hat auch wegen der desaströsen Politik der Regierungspartei African
National Congress (ANC) im Laufe des vergangenen Jahres 30 Prozent an Wert im
Vergleich zum Dollar verloren, auch deshalb sind die nun nötigen zusätzlichen
Lebensmittelimporte eine besonders große Belastung für Staat und Bürger.
Präsident Jacob Zuma weigert sich angesichts knapper Staatskassen, den
nationalen Notstand auszurufen - nur so aber würden nennenswerte Staatshilfen an
die Bauern fließen. Viele fürchten um die Existenz, ohne externe Hilfe droht der
Verlust Tausender Arbeitsplätze.

In Äthiopien wirkt es problematisch, dass die Verkehrswege zum Nachbarland


Dschibuti nicht ausreichend entwickelt sind. Das Land hat selbst keinen eigenen
Seezugang und ist deshalb auf Dschibuti angewiesen. Der Hafen in Dschibuti
bewältigt im Normalfall aber nur 500.000 Tonnen im Monat, nötig sind wegen der
Krise zusätzliche zwei Millionen Tonnen. 400.000 Kinder sind allein in Äthiopien
nach Angaben der Vereinten Nationen unterernährt. "El Niño" bedrohe somit
ähnlich viele Minderjährige wie der Bürgerkrieg in Syrien. Erschwerend wirkt,
dass die Regierung nur zögerlich um Hilfe der internationalen Gemeinschaft bat.
Bilder vertrockneter Felder passen nicht in die PR eines Landes, das seinen
beachtlichen Aufschwung mit Prestigeobjekten wie dem Bau einer Straßenbahn in
der Hauptstadt Addis Abeba illustriert. Im offiziellen Sprachgebrauch ist das
Wort "Dürre" unerwünscht, vielmehr ist vom "El Niño"-Effekt die Rede. Das
weltweite Klimaphänomen ist natürlich einer der Hauptgründe für die aktuelle
Krise, die Rhetorik soll aber vor allem von dem Eindruck ablenken, Äthiopien
könne sein Volk nicht ernähren. Die Regierung beeilte sich zu betonen, dass die
Dürre am prognostizierten Wirtschaftswachstum von zehn Prozent im laufenden
Fiskaljahr nichts ändern werde. Erst vor einigen Tagen wurde die Zahl der von
der Dürre Betroffenen auf 18,2 Millionen korrigiert, das ist beinahe jeder
fünfte Bürger.

Äthiopien will bis zum Jahr 2025 den Status eines Schwellenlandes erreichen. Das
wäre selbst ohne die Dürre eine gewaltige Herausforderung. Die gewaltigen
Investitionen der vergangenen Jahre wurden zu zwei Dritteln aus Staatsmitteln
finanziert, die aktuelle Krise dürfte das hohe Handelsbilanzdefizit von 13
Prozent weiter verschlechtern. Es ist nicht davon auszugehen, dass
mittelfristiges Wachstum die von der Dürre verursachten Kosten auffangen kann.
Weil die Staudämme des Landes bislang nicht den projizierten Strom erzeugen
können, wurde bereits eine Vertragsstrafe an das Nachbarland Dschibuti fällig.
Wirtschaftsexperten zweifeln zudem an den Wachstumsraten. Sie basieren auf
Informationen der Zentralen Statistikagentur Äthiopiens.

Trotz erkennbarer Fortschritte klagen Investoren über Bürokratie und geringes


Ausbildungsniveau. Aus den USA, die jahrelang Äthiopiens Aufschwung lobten,
dürfte künftig weniger Unterstützung kommen. Anfang Januar musste das
US-Drohnenprogramm in Arba Minch, 450 Kilometer südlich von Addis Abeba, auf
Anweisung der äthiopischen Regierung eingestellt werden. Nach Angaben der
"Washington Post" geschah dies für das Pentagon "überraschend". Die USA flogen
von Äthiopien aus Einsätze gegen die Terrormiliz al-Schabab in Somalia.

UPDATE: 30. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Christian Putsch


Bauern leiden besonders unter den vertrockneten Feldern in Äthiopien
Christian Putsch

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Die Welt

Dienstag 2. Februar 2016

"Es ist immer noch Krieg in der Ukraine";


Als die Sowjetunion zusammenbrach, schlug sie sich als Model durch. Jetzt ist
Natalia Klitschko Sängerin. Und die Frau des Bürgermeisters von Kiew. Ein
Gespräch über Gewalt, Putin und die Lage des Landes

AUTOR: Barbara Möller

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 24 Ausg. 27

LÄNGE: 1087 Wörter

Natalia Klitschko ist Ukrainerin. Sie leidet mit ihrem Land. Sie war auf dem
Maidan und sorgt sich um ihren Vater in Luhansk. Aber die Lieder, die sie auf
Russisch und Ukrainisch für ihre erste Platte geschrieben hat - "Naked Soul"
erscheint am 12. Februar, die Tournee beginnt im Mai - , sind vollkommen
unpolitisch. Darin geht es um große Gefühle. Dabei bestimmt die Politik ihr
Leben. Denn Natalia Klitschko ist mit Vitali Klitschko verheiratet. Der war
dreifacher Schwergewichtsweltmeister im Boxen und ist jetzt Bürgermeister von
Kiew. Das bringt Natalia Klitschko mit auf die politische Bühne. Wir trafen die
41-Jährige in Berlin, bei einem ihrer Stopps zwischen den USA, Hamburg und Kiew.

Die Welt:

Ihr Mann galt 2012/2013 als eine Führungsfigur der Bürgerproteste auf dem Maidan
und ist seit 2014 Bürgermeister von Kiew. Gerade ist er für fünf weitere Jahre
im Amt bestätigt worden. Sein Entschluss, in die Politik zu gehen, reicht aber
schon in die Nullerjahre zurück. Was, würden Sie sagen, treibt ihn da an?

Natalia Klitschko:

Frieden. Demokratie. Vitali kämpft für einen besseren Lebensstandard für alle.
Die Ukraine liegt ja nicht in der Dritten Welt, sondern in der Mitte Europas.
Ein Flug von Berlin nach Kiew dauert nicht länger als ein Flug nach Paris oder
London.

Hat er sich mit Ihnen beraten, bevor er sich entschied, in die Politik zu gehen?

Nein, er hat es mir gesagt. Mitgeteilt. Vitali macht immer das, was er richtig
findet, und geht davon aus, dass die Familie einverstanden ist. Das kann er
auch. Ich würde ihn immer unterstützen und ihm immer folgen, und unsere Kinder
sind in das politische Leben ebenfalls einbezogen. Nicht so, wie das in der
amerikanischen Politik zuweilen passiert, aber wir haben sie zum Beispiel in der
Silvesternacht 2013/14 mit auf den Maidan genommen. Mein Schwager Wladimir war
mit seiner Familie auch da. Sehen Sie, unsere Kinder sind durch unsere vielen
Reisen sehr privilegiert, sie besuchen internationale Schulen und sind
Weltbürger. Wir wollten, dass sie sehen, was auf dem Maidan passierte, und sie
haben mitgelitten mit den Menschen, die da gestorben sind. Die drei sind mit
ihren zehn, 13 und 15 Jahren durchaus alt genug, um zu begreifen, was in der
Ukraine geschieht. Die sind übrigens auch nicht schüchtern, die sagen ihre
Meinung.

Wie sieht der Maidan heute aus?

Ganz sauber. Man hat alles abgeräumt. Die Zelte, die Barrikaden. Überhaupt spürt
man in der Stadt nichts von dem, was sechs-, siebenhundert Kilometer entfernt
passiert. Wenn Sie heute nach Kiew kommen, würden Sie nie auf die Idee kommen,
dass es in der Ostukraine einen blutigen Konflikt gibt. Kiew ist schön, die
Leute sind fröhlich. So ist der Mensch. Er passt sich an, er verdrängt. Wenn ich
in Hamburg bin, denke ich ja auch erst mal: "Wow, was für eine schöne,
wohlhabende Stadt." Aber ich sitze im Beirat der "Leon Heart"-Stiftung, und ich
weiß sehr gut, dass es drei Straßen weiter ganz anders aussehen kann und dass es
nicht nur in Russland, in der Ukraine, in Moldawien und Kirgisistan Kinder gibt,
denen es nicht gut geht und die unsere Hilfe brauchen, sondern durchaus auch im
reichen Hamburg.

Apropos Konflikt: Sind Sie Wladimir Putin schon persönlich begegnet?

Nein. Aber ich wüsste, was ich ihm sagen würde, wenn ich ihn treffen würde.

Das wäre was?

Ich würde ihm sagen, dass es auf diesem Planeten nicht nur Russland und die
Ukraine gibt, sondern dass wir alle gemeinsam auf einer ziemlich fragilen
kleinen Kugel leben.

Würden Sie ihm sagen, dass er die Krim und das, was er sich aus der Ukraine
herausgebissen hat, zurückgeben sollte?

Dazu bin ich nicht berufen. Es gibt Regierungen, die ihm sagen müssten: "Geh mal
da raus!" Aber das passiert nicht, denn Weltpolitik ist ein einziges großes
Schachspiel.

Schmerzt es Sie, wenn Sie auf die Ostukraine schauen?

Natürlich, ich bin Ukrainerin! Aber das, was in Syrien passiert, tut mir auch
weh.

Sie waren Model, als Sie Ihren Mann kennenlernten ...

Ja. Ich habe das zehn Jahre lang gemacht. Eigentlich wollte ich nach dem Abitur
Design studieren, aber leider hatte die Sowjetunion gerade aufgehört zu
existieren. Das war schon heftig: Wir kamen aus der Schule, und das Land
existierte nicht mehr. Es gab kein Geld - der Rubel war weg, die Hrywnja noch
nicht da - , statt dessen gab es Kupons, die einer Hyperinflation ausgesetzt
waren. Meine Eltern, die in einem Maschinenbau-Kombinat arbeiteten, bekamen
plötzlich keinen Lohn mehr. Da steht man dann da und denkt: "Wie kann ich hier
überleben?" Na ja, ich bin groß und schlank, und da war das Modeln eine
Möglichkeit sich durchzuschlagen. Aber die ersten fünf Jahre nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion waren in der Ukraine schon sehr, sehr schwierig.

Sie waren damals achtzehn?


Genau gesagt war ich siebzehn. Sehr jung. Heute nützen mir die Erfahrungen, die
ich damals beim Modeln gemacht habe. Alles, was ich damals gelernt habe, das
Schminken, das Haaremachen, das ganze Auftreten, kommt mir jetzt beim Singen
wieder zugute. Ich habe keine Angst, eine Bühne zu betreten. Lampenfieber kenne
ich nicht.

Ihre Eltern leben in Kiew?

Meine Eltern habe sich vor zwanzig Jahren getrennt. Meine Mutter lebt noch in
Kiew, mein Vater lebt in Luhansk. Also heute quasi in Russland.

Zum besseren Verständnis muss man hier einfügen, dass prorussische Separatisten
seit April 2014 in der Ostukraine zwei einzigartige staatliche Gebilde etabliert
haben, die sich selbst die "Volksrepubliken" von Donezk und Luhansk nennen und
die Russlands Präsident Wladimir Putin gern als "Noworossija", also als
"Neurussland" bezeichnet. Wie alt ist Ihr Vater? Und: Warum lebt er nicht in
Kiew, sondern in Luhansk?

Er ist jetzt 67, und er lebt dort, weil er ein zweites Mal geheiratet hat.

Das heißt, er hat Haus und Familie dort?

Genau. Und es ist schwer für ihn. Er hat die ganzen Bombardements mitgemacht.
Meine Schwester und ich waren in schrecklicher Sorge, als wir ihn einen Monat
lang nicht erreichen konnten.

Und wie ist die Lage jetzt in Luhansk?

Ich habe gerade heute mit meinem Vater telefoniert. Es ist alles ruhig -
jedenfalls im Moment. Es gibt eine Alltagsnormalität. Die Werke sind in Betrieb,
die Menschen gehen zur Arbeit.

Aus den Medien ist der Konflikt inzwischen fast verschwunden ...

Leider. Aber ist das nicht immer so? Irgendwo passiert etwas, eine Weile macht
man ein großes Tamtam, und dann schaut die Welt schon wieder woanders hin. Das
ist uns auch so ergangen. Aber natürlich existiert der Konflikt weiter. Im Osten
der Ukraine ist immer noch Krieg. Da sterben immer noch Menschen.

UPDATE: 2. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: REUTERS
Sie will, dass ihre Kinder wissen, was in der Ukraine passiert: Natalia
Klitschko
REUTERS / VASILY FEDOSENKO

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Die Welt

Donnerstag 4. Februar 2016

Aber das Essen steht rechtzeitig auf dem Tisch;


Sie ist Muslimin, Ehefrau, vierfache Mutter. Und Präsidentin eines Motorradklubs
mit ausschließlich weiblichen Mitgliedern. In Malaysia ist das kein Widerspruch

AUTOR: Sophie Mühlmann

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 29

LÄNGE: 1256 Wörter

Singapur

Liebevoll, als trage sie Lipgloss auf, tropft Nurul Alis Aidil Akhbar, genannt
Kiki, ein wenig Öl auf die blitzenden Radschrauben ihres schweren italienischen
Motorrads. Sie schiebt sich ihr grünes Kopftuch zurecht. Die Augen glitzern
unter den langen Wimpern, als sie ihren Schatz liebkost: eine Ducati Diavel,
Schwarz und Rot und ein bisschen Rotgold. "Total mädchenhaft", meint sie
verliebt und kichert. Mit einem Lappen wischt sie über den glänzenden Lack der
240-Kilo-Maschine. Kikis Motto: "Ride in style."

Stylish bleibt sie immer, auch wenn sie sich in die Lederkombi zwängt und das
Kopftuch gegen einen Helm austauscht. Aber wenn sie dann den Motor hochdreht,
rasant beschleunigt und um die nächste Ecke verschwindet, dann verwandelt sich
die zarte Dame in eine Bikerin. Kiki ist die Präsidentin von Desmodonna
Malaysia, einem Motorradklub nur für Frauen. Und das in einem überwiegend
muslimischen Land. Seit der Gründung des Klubs vor knapp zwei Jahren hat
Desmodonna 38 Mitglieder gewonnen. Die 41-jährige Kiki ist längst eine
Medienberühmtheit. Im Leben abseits der Ducati arbeitet sie als Moderatorin und
Sportreporterin - im Motorsportbereich natürlich. Geschwindigkeit ist ihr Ding -
das war es schon, als sie mit Anfang zwanzig Kart-Rennen fuhr.

Sie hat vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, der Älteste ist 21, der
Jüngste erst fünf Jahre alt. Eine viel beschäftigte Mutter. Und eine fromme
Muslimin. "Ich habe begonnen, ein Kopftuch zu tragen, nachdem mein letztes Kind
geboren wurde", erzählt sie. "Es fühlt sich richtig an. Und ich kann außerdem
ein Beispiel setzen. Eine wahre muslimische Frau zu sein heißt,das zu tun, was
man leidenschaftlich liebt. Es bedarf nur einiger Anpassungen hier und da." Sie
lächelt, während sie das sagt. Kiki kombiniert ihre beiden Rollen meisterhaft.
Jeden Sonntag, wenn die Tropensonne aufsteigt, geht sie mit ihren
Desmodonna-Freundinnen auf große Tour. "Wir starten um sieben Uhr, dann fahren
wir rund 400 Kilometer, mal hoch in die Cameron Highlands, ein andermal nach
Malakka, nur zum Frühstück. Aber wir sind immer rechtzeitig zurück, um fürunsere
Familien das Mittagessen zu kochen."

An manchen Wochenenden holen sie das Letzte aus ihren Maschinen heraus, rasen
mit hoher Geschwindigkeit über die Schnellstraßen. Auf anderen Fahrten trödeln
sie entspannt über das Land, umkurven Schlaglöcher, Hühner oder auch mal einen
Wasserbüffel. Doch die Frauen bleiben nicht nur unter sich: Immer wieder treten
sie auf der Rennstrecke auch gegen männliche Konkurrenten an. Ein wenig Trotz
ist allerdings auch dabei. In jüngeren Jahren musste Kiki einen herben
Rückschlag einstecken - weil sie eine Frau ist. Nach der Schule hatte sie ihren
Pilotenschein gemacht. Die ganz großen Flugzeuge zu steuern, davon hatte sie
schon als Mädchen geträumt. Doch als sie sich, den Abschluss stolz in der
Tasche, bei Malaysia Airlines bewarb, hieß es dort: "Keine Frauen im Cockpit."
Aus der Traum.

Seitdem hängt ihr Zertifikat nutzlos zu Hause an der Wand. Und Kiki beweist sich
und ihrer Welt, wie falsch die Manager von Malaysia Airlines lagen. Flugzeuge,
schnelle Autos, Motorräder: "Männer haben vielleicht damit angefangen, aber das
heißt nicht, dass Frauen es nicht auch können. Wie beim Kochen - nur da ist es
umgekehrt." Kiki sieht sich nicht als Rebellin. "Ich habe keine heilige Mission.
Ich liebe es einfach." Einen Widerspruch zwischen ihrem Alltag als
gottesfürchtige Frau und ihrer Freizeit mit einer 162-PS-Maschine sieht sie
nicht. Mit dem Islam sei ihre Leidenschaft vereinbar: "Aus Sicherheitsgründen
bedecken wir unsere Haut und unsere Köpfe. Im Alltag wie beim Motorradfahren.
Das passt doch gut!"

Malaysia ist eine säkulare Demokratie. Laut Verfassung ist der Islam zwar die
offizielle Religion in dem Vielvölkerstaat, und rund zwei Drittel der
Bevölkerung sind Muslime, doch die Verfassung garantiert auch Rede- und
Religionsfreiheit. "Malaysias Version des Islam war immer geprägt von unserer
eigenen lokalen Kultur", sagt der Islamwissenschaftler Farouk A. Peru, "und so
haben wir diesen wunderschönen Geist der Mäßigung und Akzeptanz wahren können."

Dennoch gibt es beunruhigende Hinweise auf eine Radikalisierung. Im Bundesstaat


Terengganu wurde Ende 2014 verfügt, dass sämtliche Geschäfte während der
Freitagsgebete zu schließen haben. Wer das Gebet ausfallen lässt und freitags
nicht in die Moschee geht, wird vielerorts öffentlich gerügt. Die erfolgreiche
Gymnastin Farah Ann Abdul Hadi, die jede Menge Medaillen für Malaysia holte,
wurde von Fanatikern allen Ernstesverdammt, weil man in ihrem knappen
Gymnastikanzug angeblich "die Form ihrer Vagina" habe erkennen können. Die
Sittenwächter haben wohl sehr genau hingeschaut.

Die Zahl der malaysischen jungen Männer, die sich im Nahen und Mittleren Osten
der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) anschließen, nimmt zu. Die Regierung hat
bisher mehr als 60 Personen verhaften lassen, die auf dem Weg nach Syrien oder
in den Irak waren - oder von dort zurückkehrten. Dies ist die offizielle Zahl.
Beobachter glauben, dass es weit mehr sind. In einer jüngsten Umfrage des Pew
Research Centers haben elf Prozent der befragten Malaysier eine positive Meinung
vom IS. Auch eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Merdeka vom
vergangenen Jahr zeigt, dass die malaysische Gesellschaft sich gerade wandelt.
Rund 60 Prozent der Befragten sehen sich zuerst als Muslime, erst dann als
Malaysier. Sogar 71 Prozent der Teilnehmer sprechen sich für die strengen
Hudud-Gesetze aus, und die entsprechend harten Strafen: Hände-Abhacken bei
Diebstahl und Steinigung bei Ehebruch. Was diese Trends noch brisanter macht: Es
sind mehr junge als ältere Malaysier, die der Studie nach zu einer
fundamentalistischeren Auslegung des Islam neigen.

Im Alltag aber sei das nicht zu spüren, sagt Kikis Freundin Sophia Ahmad. "Die
meisten von uns verurteilen die IS-Gewalt. Sie ist unmenschlich - und es ist
sicher nicht islamisch." Die Reporterin liebt ihre Heimat, gerade weil das Land
so bunt und vielschichtig ist. "Malaysia kann man nicht mit arabischen Ländern
vergleichen. Hier dürfen Frauen arbeiten, am Steuer sitzen - und eben Motorrad
fahren. Sie dürfen alles, solange sie nicht gegen irgendwelche Gesetze
verstoßen." Sophias Eltern hatten ihr früher verboten, ein Zweirad zu fahren.
"Du bist eine Frau, du sollst dich auch wie eine Frau verhalten", hatten sie
gesagt. Aber jetzt, mit 38 und als alleinerziehende Mutter, entscheidet sie
selbst. "Wenn ich fahre und der Wind mir ins Gesicht bläst, dann feiere ich
meine Freiheit!" Das Leben gehe weiter, wie gewohnt, meint Sophia entschieden.
"Wir schaffen es schon, so tolerant wie möglich zu bleiben. Das dürfen diese
radikalen Leute nicht kaputt machen!"

Kiki sieht das genauso: "Der Islam ist eine Lebenshaltung, und es geht darum,
gemäßigt zu bleiben. Für uns ist die Scharia genauso wenig islamisch wie die
Radikalen. Wir sollen nicht einmal Tiere töten, geschweige denn andere
Menschen!" Dui Redzwan ist da rigoroser: Die 43-jährige Autohändlerin trägt ihre
Haare unbedeckt. "Ich halte mich raus aus der Politik und dem religiösen
Gezeter", erklärt sie. "Wenn du Gott näher sein willst, findest du deinen
eigenen Weg. Die schreien nur. Es ist lächerlich. Die Fanatiker sind alle
gehirngewaschen." Wenn ein bärtiger Kerl sie irgendwo auf dem Land anquatscht
und sagt, so ein Motorrad sei nichts für eine Frau, dann lächele sie nur.
"Solange man nicht provoziert oder sich provozieren lässt, gibt es keine
Bedrohung. Ich ignoriere deren Dummheit einfach."

UPDATE: 4. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Kiki Nurul Alis bt. Aidil Akhbar


"Kiki" (o.) trägt mal Kopftuch und langes Gewand, mal Helm und Lederkombi
(o.r.). Sonntags ist sie mit ihren Freundinnen unterwegs
Kiki Nurul Alis bt. Aidil Akhbar
"Kiki" (o.) trägt mal Kopftuch und langes Gewand, mal Helm und Lederkombi
(o.r.). Sonntags ist sie mit ihren Freundinnen unterwegs
Kiki Nurul Alis bt. Aidil Akhbar
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Die Welt

Donnerstag 4. Februar 2016

Was ist bloß mit Schweden passiert?;


Ein Asylbewerber ersticht eine Flüchtlingshelferin, Hooligans jagen Ausländer
durch Stockholm. Und der Regierungschef wirkt hilflos

AUTOR: Helmut Steuer

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 29

LÄNGE: 848 Wörter

Stockholm
Wer dieser Tage Stefan Löfvén im Fernsehen oder bei öffentlichen Auftritte
beobachtet, sieht einen gestressten, stark verunsicherten Regierungschef. Der
Grund ist wie in vielen Ländern die Flüchtlingskrise.

In den vergangenen Tagen haben sich zum Teil dramatische Szenen in Schweden
abgespielt. Eine erst 22-jährige Flüchtlingshelferin wurde in einem Heim für
Asylbewerber nahe Göteborg von einem 15-jährigen Bewohner erstochen. Die genauen
Hintergründe der Tat sind weiterhin unklar. Regierungschef Löfvén eilte umgehend
an den Tatort und versprach hartes Durchgreifen.

Nur wenige Tage später spielten sich in der Stockholmer Innenstadt regelrechte
Jagdszenen ab. Vermummte Männer machten Jagd auf Asylbewerber. Rund 100
Hooligans bedrängten Ausländer, pöbelten sie an, drohten mit Prügel. Sie sollten
ihre "gerechte Strafe" bekommen - für angebliche Diebstähle und sexuelle
Übergriffe auf schwedische Frauen. Diese Straßenschlacht ging glimpflich aus, es
gab einige Festnahmen, einige Leichtverletzte. Gleichwohl: Schweden ist seitdem
ein Land im Schockzustand. "Wie kann so etwas bei uns passieren?", fragten
Kommentatoren, ohne eine Antwort zu geben. Rat- und Hilflosigkeit herrscht im
Land, das in den vergangenen Monaten anders geworden sei, sagen viele. Rauer,
kälter.

Und auch viele Flüchtlinge fühlen sich in Schweden nicht mehr sicher. "Ich hatte
die Hoffnung auf ein friedliches Leben. Aber jetzt muss ich auch hier Angst
haben", sagte ein junger Mann aus Nordafrika, der den Schlägern in der
Stockholmer Innenstadt unbeschadet entkommen konnte. Tatsächlich scheint
Schweden überfordert. Übervolle Unterkünfte und die fehlende Integration haben
zu Spannungen geführt. In den tristen Betonburgen der Vorstädte kommt es immer
wieder zu Auseinandersetzungen zwischen zumeist jugendlichen Einwanderern und
der Polizei. Es ist die Perspektivlosigkeit, die einige Einwanderer gewalttätig
werden lässt. Nach Angaben der OECD liegt die Arbeitslosenrate bei Einwanderern
dreimal so hoch wie bei Schweden.

Und der Regierungschef? Löfvén verspricht mehr Personal in


Flüchtlingseinrichtungen und Schulen. Bei Vergehen werde man hart durchgreifen,
kündigt er immer wieder an. Doch immer mehr Schweden trauen ihm das nicht mehr
zu. Die Zustimmung zur Politik seiner rot-grünen Minderheitsregierung ist wegen
der Flüchtlingskrise auf einem historischen Tiefpunkt gesunken. Nach den
jüngsten Meinungsumfragen haben seine Sozialdemokraten ihre Position als größte
Partei des Landes an die oppositionellen Konservativen verloren.

Die Sozialdemokraten kommen nur noch auf 23,2 Prozent der Stimmen, der
schlechteste Zustimmungswert seit 49 Jahren. Die rechtspopulistischen und
ausländerfeindlichen Schwedendemokraten sind mit rund 18 Prozent weiterhin
drittgrößte Partei im Land. Diese Partei ist es, die seit Monaten die Regierung,
aber auch die Opposition mit Forderungen nach einer 90-prozentigen Reduzierung
der Flüchtlingsaufnahmen vor sich hertreibt. Ihr stetiger Popularitätszuwachs
hat die Minderheitsregierung von Löfvén bewogen, seit Anfang des Jahres
Kontrollen an der Grenze zu Dänemark sowie an den Fährhäfen einzuführen.

Gleichzeitig wurde Innenminister Anders Ygeman vorgeschickt, um lautstark zu


verkünden, dass man den Flüchtlingen kein Dach über dem Kopf garantieren könne.
Mit der Ankündigung, bis zu 80.000 Flüchtlinge abzuschieben, sorgte er für
internationale Schlagzeilen. Die Flüchtlingszahlen sind zwar deutlich auf rund
100 pro Tag gesunken. Ende 2015 waren es noch über 1000. Doch trotz aller
Ankündigungen befinden sich die Sozialdemokraten weiter im Sinkflug.

Schweden hat gemessen an der Einwohnerzahl die mit Abstand meisten Flüchtlinge
aller EU-Länder: 163.000 Menschen, die vor Krieg und Chaos aus Afghanistan, Irak
und Syrien in den hohen Norden geflohen sind. "Wir sind am Limit", klagte Löfvén
bereits im vergangenen Herbst und rief die EU-Länder auf, eine gemeinsame Lösung
in der Flüchtlingsfrage zu finden. Vergeblich. Die von ihm eingeforderte
Solidarität blieb bis heute aus. Versagen und Naivität werden ihm und seiner
Regierung deshalb vorgeworfen. Und man möchte nicht in seiner Haut stecken: Die
Konservativen, Liberalen, Christdemokraten und die Zentrumspartei sind nach
allen Umfragen stärker als die Sozialdemokraten, Grünen und die Linkspartei. Mit
den Stimmen der Schwedendemokraten könnten die bürgerlichen Parteien die
Regierung stürzen.

Doch bislang verweigern die Vorsitzenden der bürgerlichen Parteien jegliche


Zusammenarbeit mit der ausländerfeindlichen Partei. Das könnte sich aber ändern,
denn der Druck von der Basis ist größer geworden. Nach einer Umfrage des
schwedischen Fernsehsenders SVT sind acht von zehn konservativen
Kommunalpolitikern für einen eigenen Haushalt, den die Oppositionsparteien
vorlegen sollten. Käme es dazu, müsste die Regierung zurücktreten. "Jeder Tag
ist jetzt für Löfvén eine Herausforderung", urteilt der Politologe Jonas
Hinnfors. "Er kann sich nicht mehr sicher sein, dass die Opposition nicht doch
das Ruder übernehmen will." Schweden befindet sich im Umbruch. Mit oder ohne
Löfvén.

UPDATE: 4. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: AFP/ODD ANDERSEN


Schwedens Premierminister Stefan Löfvén
ODD ANDERSEN

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Die Welt

Samstag 6. Februar 2016

"Afghanen sind noch nicht so gut, wie wir dachten";


Nato-General Domröse fordert bessere Ausbildung

AUTOR: Christoph B. Schiltz

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 31

LÄNGE: 668 Wörter

Brüssel
Der deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse hat gefordert, die
Ausbildungsmission des Verteidigungsbündnisses in Afghanistan auszubauen.
Domröse, der als Befehlshaber des Joint Force Command im niederländischen
Brunssum von Europa aus den Afghanistan-Einsatz "Resolute Support" führt, sagte
der Welt: "Die militärische Erfahrung in Afghanistan hat uns in den vergangenen
Monaten gezeigt, dass unser Training robuster werden muss." Das bedeute, dass
die Ausbilder der Nato die afghanischen Sicherheitskräfte nicht mehr länger nur
in den Kasernen ausbilden sollten, sondern sie auch draußen, also in laufenden
Operationen, begleiten und beraten. "Es wäre aus militärischer Sicht sinnvoll,
die bisherige Trainingsmission 'Resolute Support' um einen robusten Anteil zu
ergänzen. Das würde eine bessere und stabilere Ausbildung der afghanischen
Sicherheitskräfte ermöglichen und mehr Sicherheit im Land produzieren."

Klar sei aber auch, so Domröse, dass die Ausbilder ausreichend geschützt werden
müssen: "Ein robustes Mandat erfordert im extremen Fall natürlich auch
Luftunterstützung seitens der Nato. Wir müssen alles tun, um die Sicherheit der
Afghanen und der Nato-Ausbilder zu gewährleisten." Im Rahmen dieses "robusten
Mandats" würde die Nato auch Drohnen einsetzen und die Bilder den afghanischen
Sicherheitskräften zur Verfügung stellen. "Die Führung dabei muss natürlich bei
den Afghanen liegen", sagte der Viersternegeneral. Zugleich betonte Domröse,
dass die Nato-Ausbildungsmission möglicherweise schon im kommenden Jahr beendet
werden könnte: "Sollte die afghanische Luftwaffe, die wir gerade mit
Hubschraubern und Flugzeugen aufbauen, im nächsten Jahr ausreichend einsatzfähig
sein, so würde dies die Schlagkraft der Afghanen wesentlich erhöhen. Wir denken,
dass wir 'Resolute Support' dann 2017 beenden könnten." Dies müsse allerdings
die Politik entscheiden. "Die politische Führung hat zugestimmt, dass wir die
Dauer der Trainingsmission von den Erfolgen abhängig machen. Das ist eine gute
Sache."

Zur Sicherheitslage in Afghanistan sagte Domröse: "Wir haben rund 150 gefallene
afghanische Soldaten oder Polizisten pro Monat zu beklagen, das ist immer noch
eine riesige Anzahl. Solange in Afghanistan noch Distrikte unter der Herrschaft
der Taliban stehen und dort immer wieder gekämpft wird, kann man Afghanistan in
Gänze nicht als sicheres Land bezeichnen." Die Nato bemühe sich zusammen mit den
Afghanen, ein sicheres Umfeld im Land zu schaffen. "Die Menschen dort sollen
eine konkrete Perspektive finden können. Da sind sie auf einem guten Weg trotz
einiger Rückschläge. Ich bin daher vorsichtig optimistisch."

Der General verwies auch darauf, dass die afghanischen Sicherheitskräfte im


vergangenen Jahr "schwerste Verluste" hinnehmen mussten, beispielsweise in
Helmand und Kundus. "Die afghanischen Sicherheitskräfte sind noch nicht so gut,
wie wir gedacht hatten. Ihnen fehlt vor allem eine schlagkräftige Luftwaffe und
Leadership." Darum sei es wichtig, dass die Nato in diesem Jahr nicht nur in
Kabul, sondern auch an vier Stützpunkten in der Fläche ausbildet.

Mit seiner Forderung nach einem robusteren Mandat für die "Resolute
Support"-Mission setzt sich Domröse erneut in Widerspruch zur Haltung der
Bundesregierung, die an dem Auftrag der internationalen Soldaten nichts ändern
will. Bereits mit seinem Plädoyer für einen Einsatz von
Awacs-Aufklärungsflugzeugen über Syrien hatte der Nato-General in den
Regierungsfraktionen im Bundestag für Unmut gesorgt. SPD-Fraktionsvize Rolf
Mützenich warf dem deutschen Offizier danach vor, "mit seinem ,militärischen'
Ratschlag deutlich die Grenze zur politischen Stellungnahme" überschritten zu
haben. Nicht nur in Deutschland gelte das demokratisch begründete Primat der
Politik, das Domröse verletzt habe. "Die Frage ist, ob er das selbstherrlich
gemacht hat oder nur eine Auftragsarbeit erledigt hat. Beides kann nicht
hingenommen werden", sagte Mützenich und verlangte, "den Mann in seine Grenzen
zu verweisen".
UPDATE: 6. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1636 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Samstag 6. Februar 2016

Es ist wieder da;


Das Schwert ist tausend Jahre jünger als die Schrift und hat doch vergleichbar
prägend gewirkt. Glaubt man dem Historiker Armin Eich, hat erst diese Waffe den
Menschen zum Krieger gegen seine Art gemacht

AUTOR: Berthold Seewald

RUBRIK: LITERARISCHE-WELT; Literarische Welt; S. 6 Ausg. 31

LÄNGE: 1466 Wörter

Das Schwert scheidet die Guten von den Bösen. Millionen Besucher der jüngsten
Episode der "Star Wars"-Saga werden bezeugen, dass erst ein Laserschwert gemeine
Menschen zum ehrenhaften Jedi macht. In diesem Sinn greifen auch Kinder zum
Schwert, wenn sie als Legionär, Ritter oder Samurai in den Karneval oder auf die
Spielplätze ziehen. Auf der anderen Seite verschrecken Hinrichtungsvideos von
IS-Terroristen oder aus Saudi-Arabien popkulturell verklärte Europäer mit der
Botschaft, dass das Schwert vor allem einem blutigen, brutalen Zweck dient. Als
Ausweis des religiösen Fanatismus und Fundamentalismus ist das Schwert in die
Moderne zurückgekehrt.

Ein Symbol ist das Schwert gewesen, seit die Menschen gelernt hatten, diese hoch
komplizierte Waffe zu konstruieren. Nicht umsonst widmet der Althistoriker Armin
Eich der Schwertproduktion ein zentrales Kapitel seines neuen Buches "Die Söhne
des Mars". Was der Untertitel als "Eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit
bis zum Ende der Antike" beschreibt, hat mit herkömmlichen Kriegsgeschichten
wenig gemein. Vielmehr will der Professor der Universität Wuppertal die Umstände
und die Dynamik aufzeigen, "die im Laufe einiger Jahrtausende den Krieg zu einem
den Alltag der Menschen dominierenden Phänomen machten". Das aber impliziert die
aufregende These, dass der Mensch nicht von Natur ein Krieger gegen seine Art
ist, sondern erst im Lauf seiner kulturellen Evolution dazu wurde.

Die entscheidende Weichenstellung markiert nach Eich das Schwert. Im Gegensatz


zu allen anderen frühen Waffen, denen sich Homo sapiens und seine Ahnen
bedienten und die wie Axt, Speer, Pfeil und Bogen, Keule oder Steinklinge zum
alltäglichen Gebrauch erfunden wurden, ist das Schwert die erste reine
Kriegswaffe. Sie setzte bereits eine hoch entwickelte Technologie, Fernhandel
und arbeitsteilige Gesellschaften voraus. Erst im zweiten Jahrtausend vor
Christus, mehr als tausend Jahre nach Erfindung der Schrift, machten sich
Schmiede und andere Spezialisten an die Entwicklung des Schwertes. Sie mussten
viele Umwege und Sackgassen nehmen, bis sie ein Ergebnis präsentieren konnten,
das kriegerischen Ansprüchen genügte.

Entwicklungsgeschichtlich sind Schwerter verlängerte Dolche. Doch anders als


diese stellte ihre Konstruktion den Nutzen im Kampf lange infrage. Schwachpunkt
eines Schwertes ist die Verbindung zwischen Griff und Klinge. Nur eine stabile
Konstruktion ermöglicht harte Schläge gegen andere Waffen oder Schilde oder
Panzer. Zum einen experimentierte man mit Griffen aus organischem Material, die
mittels Stiften am flachen Ende der Klinge angebracht wurden. Das Ergebnis war
allerdings eine Waffe, die - wie Siegel etwa aus Mykene zeigen - vor allem zum
Stoßen und kaum zum Schlagen oder gar Fechten geeignet war. Zum anderen
versuchte man es mit Vollgriffschwertern, die aus einem Guss hergestellt wurden.
Ihr Gewicht erschwerte allerdings ihren Einsatz. Erst in der zweiten Hälfte des
2. Jahrtausends gelang die Lösung: sogenannte Griffzungenschwerter mit parallel
geführten Schneiden, deren Handgriff durch Randleisten stabilisiert wurde.

Eich mutet Lesern des digitalen Zeitalters eine Menge an handwerklichem


Verständnis zu, wenn er die technisch-innovativen Erkenntnisse der Bronzegießer
ausbreitet. Die hatten über Generationen gelernt, dass unterschiedliche
Abkühlungsgeschwindigkeiten in den Klingenzonen Auswirkungen auf die Festigkeit
hatten, dass sich durch Einlegen von Tonkernen in den Griffen Hohlräume erzeugen
ließen, die wiederum das Gewicht verringerten, oder dass wiederholtes
Durchglühen, Schmieden und Schärfen der Härtung der Klingen dient.

Das Wissen darum entstand vor allem im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, dem
Raum, der sich von Ägypten über Syrien und Kleinasien bis Mesopotamien und seine
Randländer erstreckte. Austausch durch intensive Handelsbeziehungen sowie die
Konkurrenz der etablierten Großmächte trieben die Waffentechnik voran. Doch sie
verlangte noch mehr. Das Zinn, dessen Beigabe aus dem weichen Kupfer erst die
harte Bronze machte, musste aus weit entfernten Gegenden wie Afghanistan oder
dem Mittelmeergebiet herangeschafft werden. Das galt auch für andere
strategische Güter wie Hölzer oder Wachs, die in der baumarmen Region für die
Herstellung von Schilden, Streitwagen, Bögen oder Lanzen benötigt wurden.

Neben dem Fernhandel wurde die Schwertproduktion auch durch Organisation


vorangetrieben. An den Residenzen der Herrscher entstanden zentrale
Verwaltungen, deren Spezialisten die Verteilung der Rohstoffe besorgten. Dazu
wurden umfangreiche Magazine angelegt. In ägyptischen Metropolen wie Amarna oder
Pi-Ramesse, der Kapitale Ramses II., haben Archäologen Kasernen und Manufakturen
freigelegt, in denen die Produktion von Waffen vermutlich schon nach seriellen
Standards erfolgte. Schrift und Archive dienten als Mittel präziser Steuerung.

Schwerter liefern auch Hinweise auf die gesellschaftliche Verfassung der


Bronzezeit. Die hohen Kosten für ihre Rohstoffe und ihre Herstellung, die oft
genug durch individuelle Schmuckaccessoires noch erhöht wurden, machten die
Waffen zum Symbol einer politischen und militärischen Elite, die von den
agrarischen Überschüssen ihrer Länder gut leben konnte.

Schon die wackligen Schwerter der Anfangszeit dienten nach Eich als
Machtinstrumente. Später, als man sie auch als wirkungsvolle Waffen einsetzen
konnte, lieferten sich adlige Einzelkämpfer mit ihnen regelrechte Duelle. Nicht
umsonst stellte das Schwert 500 Jahre später in den disziplinierten (und
gesellschaftlich nivellierenden) Schlachtreihen der Griechen, Makedonen oder
Römer nur eine unter mehreren Waffen dar. Den adeligen Panzerreitern des
europäischen Mittelalters wiederum galt das Schwert als zentrales Sinnbild ihres
ritterlichen Ranges, obwohl die Lanze die wichtigere Waffe war.

Es ist faszinierend zu sehen, wie Armin Eich die technischen, ökonomischen und
sozialen Trends miteinander verwebt, um schließlich ein beklemmendes Resümee zu
ziehen: dass nämlich "die Gesellschaften der Zeit fieberhaft daran arbeiteten,
die Bedingungen für ihren eigenen Untergang zu bereiten". Auf wenigen Seiten
gelingt es dem Historiker, den Kollaps der bronzezeitlichen Zivilisation zu
skizzieren, den der amerikanische Archäologe Eric H. Cline in seinem Bestseller
"1177" ausgebreitet hat.

Die Rückkehr des Schwertes in die kriegerische Realität des 21. Jahrhunderts und
der leidvolle Abschied vom friedlichen "Ende der Geschichte" wirft offenbar
Grundsatzfragen auf, die Antworten provozieren. Eich verwirft die Vorstellung,
dass der "Krieg aller gegen alle" zu den anthropologischen Konstanten der
Geschichte gehört. Für ihn sind die zahlreichen Massaker der Steinzeit, von
denen Archäologen Spuren ans Licht gebracht haben, Belege für eine der Situation
geschuldete Aggressivität. In Kriege, die Politik, Planung und Organisation
voraussetzen, zogen die Menschen erst, nachdem sie sich arbeitsteilige
Gesellschaften und Zivilisationen geschaffen hatten.

In dem alten Streit zwischen Thomas Hobbes, nach dem der Mensch des Menschen
Wolf sei, und Jean-Jacques Rousseau, der Homo sapiens in einem friedfertigen
Urzustand aufwachsen und erst mit dem kulturellen Fortschritt das Böse in die
Welt kommen sah, bezieht Eich eindeutig für den Franzosen Partei. Dafür arbeitet
er sich durch zahlreiche Studien von Anthropologen, die in den Urwäldern und
Savannen Afrikas offenbar friedfertige Steinzeitvölker studiert haben.

Genau dort, unweit des Turkana-Sees im Norden Kenias, haben Archäologen unlängst
eine grausige Entdeckung gemacht. Mindestens 27 Menschen wurden hier
niedergemetzelt, darunter eine Hochschwangere und mehrere Kinder. Zehn Opfer
wiesen klare Zeichen von heftiger, vermutlich sofort tödlicher Gewalt auf,
schreiben die Wissenschaftler in einem Beitrag für die Fachzeitschrift "Nature".
Das Entscheidende aber ist die Datierung. Vor 10.500 bis 9500 Jahren soll sich
das Gemetzel ereignet haben, zu einer Zeit also, als die Neolithische Revolution
im Osten Afrikas noch in weiter Ferne lag. Der Beginn der Viehzucht wird in
diesem Raum erst für das vierte Jahrtausend vor Christus angenommen, der
Übergang zum Ackerbau gar noch später. Demnach muss es sich bei Tätern und
Opfern um Jäger und Sammler gehandelt haben, also um Angehörige jener
Kulturstufe, in der Kriege noch unbekannt gewesen sein sollen.

Nun kann es sich in Kenia natürlich auch um eine Familienfehde, um einen Streit
um schwindende Ressourcen oder eine blutige kultische Aktion gehandelt haben.
Oder um eine fehlerhafte Deutung der Ausgräber. Sicher ist nur, dass Menschen
von Menschen gewaltsam ums Leben gebracht wurden. Zumindest diese Fähigkeit ist
der Gattung Homo wohl in die Wiege gelegt.

Armin Eich: Die Söhne des Mars. Eine Geschichte des Krieges. C.H. Beck, München.
281 S., 24,95 .

UPDATE: 6. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Der Griff aus Gold, die Klinge aus Bronze: Dieses Schwert wurde auf dem Friedhof
von Zafer bei Knossos gefunden
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Die Welt

Montag 8. Februar 2016

"Zeigen, dass Lernen Spaß machen kann";


In russischen Schulen gilt oft noch die alte Sowjet-Maxime: Schülern nicht zu
viel Freiheit geben. Zwei junge Frauen wollen das ändern

AUTOR: Julia Smirnova

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 32

LÄNGE: 1346 Wörter

Moskau

Anfangs sorgte seine Milde für Überraschung. "Warum schreien Sie uns nicht an?",
fragten die Schüler ihren neuen Lehrer für Mathe und Englisch. "Ich respektiere
euch, und ich respektiere mich selbst, deshalb werde ich euch nie anschreien",
antwortete Alexander Jadrin. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler hat im
September für die nächsten zwei Jahre eine Dozentenstelle an der Universität in
St. Petersburg gegen ein Leben in dem Ort Karinskoje bei Moskau eingetauscht.
Karinskoje hat rund anderthalbtausend Einwohner, auch Kinder aus umliegenden
Dörfern gehen hier zur Schule.

"Ich möchte Kindern zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann", sagt Jadrin. Für
ihn sind Spiele besser als Strenge - im Englischunterricht werfen seine Schüler
einander einen Ball zu, der wie eine Erdkugel aussieht, und erzählen, in welches
Land sie gerne reisen und was sie dort machen würden. Und damit ist es auch eine
kleine Lehrstunde in Weltoffenheit. Er spricht gutes Englisch ohne Akzent, was
bei russischen Lehrern nicht immer der Fall ist.

Jadrin ist einer von 42 Absolventen der besten Universitäten des Landes, die
dieses Jahr als Lehrer auf Zeit in Schulen arbeiten. Nach dem Vorbild von
Programmen wie "Teach First" in Deutschland und "Teach for All" in den USA gibt
es jetzt auch in Russland ein solches Programm. Der Lehrerberuf ist in Russland
unattraktiv. Die besten Schüler entscheiden sich selten für ein
Pädagogik-Studium, und die besten Absolventen arbeiten nach dem Studium schon
gar nicht in Schulen in der Provinz, wo Lehrer noch schlechter als in Moskau
bezahlt werden. Das Programm "Lehrer für Russland" soll das ändern und frischen
Wind ins steife russische Schulsystem bringen.

So wollen es die Gründerinnen - zwei junge Frauen aus St. Petersburg. Aljona
Markowitsch und Elena Jarmanowa, beide 27, studierten zusammen internationale
Beziehungen, machten Austauschsemester im Ausland und reisten um die Welt.
Jarmanowa war beeindruckt von einem Freund aus den USA, der statt der Karriere
beim Staat in einer Schule angefangen hat. Die Erinnerungen an die eigene
Schulzeit der beiden war noch frisch und wenig erfreulich. "Wir wurden für die
Abiturprüfungen gedrillt, aber die Schule war für mich nicht immer ein
angenehmer Ort. Bei einigen Lehrern konnte man keine eigene Meinung äußern, die
deren Meinung widersprach", sagt Markowitsch.

Auch zehn Jahre später hat sich in den Schulen nicht viel verändert. "Es fällt
auf, dass einige Lehrer rumschreien, Türen laut zuknallen, die Klasse
manipulieren und Kinder erniedrigen können", sagt Jarmanowa, die selbst in einer
Moskauer Schule Englisch unterrichtet. Es liege daran, dass Lehrer oft
überfordert seien, aber auch an den Erziehungstraditionen. Einige Eltern haben
sie gebeten, mit ihren Kindern streng zu sein. "Sie kennen es selbst auch nicht
anders", erklärt sie.

Es muss doch einen Weg geben, das zu ändern, dachten die beiden Frauen und
suchten nach Sponsoren und Partnern für ihre Idee. Anfangs arbeiteten sie mit
der Beratungsfirma Boston Consulting Group zusammen, inzwischen ist die
halbstaatliche Bank Sberbank der Hauptsponsor. Für den Sberbank-Chef Herman
Gref, einen Wirtschaftsliberalen, ist Bildung eine persönliche Leidenschaft. Die
Sberbank öffnete den Frauen Türen bei den regionalen Bildungsministerien und
ermöglichte so, dass junge Lehrer überhaupt an staatlichen Schulen zugelassen
werden.

So ein mächtiges Schutzschild wie die Sberbank braucht das Programm "Lehrer für
Russland" sehr wohl. Seit dem vergangenen Sommer beschimpfen Aktivisten der
nationalistischen Jugendorganisation NOD die Frauen als "amerikanische Agenten",
die "fremde Werte" in russische Schulen bringen. In der Tat wollen sie Kindern
kritisches und selbstständiges Denken beibringen. Das finden Nationalisten gar
nicht gut.

Warum macht das Bildungsministerium mit? Weil die jungen Leute gleich mehrere
Punkte umsetzten, die - in bürokratischem Russisch formuliert - im staatlichen
Bildungsprogramm geschrieben stehen: Schüler müssen in der Schule lernen,
selbstständig zu arbeiten und zu denken, und das Schulwissen auch im Leben
anwenden. Denn genau hier liegt das Problem: "Das russische Schulprogramm ist
darauf ausgerichtet, akademisches Wissen zu vermitteln. Lehrer geben dieses
Wissen weiter, aber sie machen sich keine Gedanken darüber, was die Kinder mit
diesem Wissen außerhalb der Schule anfangen sollen", sagt Wjatscheslaw Losing,
Bildungsexperte der Moskauer Higher School of Economics.

Für Losing ist das einer der wichtigsten Gründe, warum Russland so schlecht beim
Pisa-Test abschneidet, der kognitive Fähigkeiten der Schüler prüft. 2012 lag
Russland im Pisa-Test auf Platz 34, war aber unter den zehn besten Ländern beim
TIMSS-Test, einer Studie, die eher akademisches Wissen in den Grundschulen
prüft.

Das steife russische System gehört noch zum Erbe der untergegangenen Sowjetunion
und hat bisher allen Reformbemühungen widerstanden. Immerhin war die
ideologische Organisation der Jungen Pioniere abgeschafft worden, und in den
90er-Jahren experimentierten die Schulen mit alternativen Unterrichtsformen und
Methoden. "In den 90er-Jahren war der Staat faktisch nicht da, die Verwaltung
vom Bildungssystem lag in den Händen von Schuldirektoren", sagt Losing.

Er war selbst in den 90er-Jahren Schuldirektor in der sibirischen Stadt Kemerowo


und Verfechter neuer Lernmethoden. Seine Schule gehörte zu den besten der Stadt.
"In den 2000er-Jahren kehrte der Staat zurück und schrieb uns einheitliche
Bildungsnormen vor. Die unabhängigen Schuldirektoren wurden abgeräumt", sagt
Losing. Auch er musste gehen. Gleichzeitig forderte der Staat immer mehr
Erziehung im Geiste des Patriotismus. "Man geht gerade zum System zurück, das es
in den sowjetischen Schulen gab", sagt der Experte.

Heute haben russische Lehrer und Direktoren gewaltige Mengen bürokratischer


Arbeit zu erledigen. Sie müssen detaillierte Lehrpläne und Berichte schreiben
und bekommen von den Behörden Anweisungen, welche Veranstaltungen sie in den
Schulen organisieren müssen. In allen Schulen hängen inzwischen Putin-Porträts
an der Wand. Wenn es trotzdem keine russische Einheitsschule gibt, ist das
meistens Lehrern und Schuldirektoren zu verdanken. Wer eine eigene Meinung hat
und seine Schüler nicht indoktrinieren will, findet meistens einen Weg, das
nicht zu tun. Ganz so wie in der späten Sowjetunion war die Ideologie an den
Schulen oft nur eine Fassade, an die niemand ernsthaft glaubte.

Wie viel Freiheit Lehrer heute haben, hängt meistens mit der Person des
Schuldirektors zusammen. Die Leiterin der Schule in Karinskoje, Julia Melzewa,
ist Neuem gegenüber offen. "Sie wollen doch alle die Welt verändern", sagt sie
über die Teilnehmer des Programms "Lehrer für Russland". Und das findet sie gut
und lässt sie frei arbeiten. Sie findet es auch gut, dass junge Lehrer mit den
alten über Unterrichtsmethoden diskutieren. "Die Kinder haben doch keinen
einzigen Gedanken im Kopf", sagt etwa eine Biologielehrerin nach dem Unterricht
den jüngeren Kollegen. "Doch, sie haben nur nicht das im Kopf, was wir von ihnen
erwarten", erwidert Igor Rjabzew.

Der 24-jährige Absolvent der Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO unterrichtet in


Karinskoje Literatur. "Wenn wir ihnen die ganze Zeit das Gefühl geben, sie haben
keine richtigen Gedanken, werden sie sich immer minderwertig fühlen." Er sagt
den Schülern, dass es in der Literatur keine richtigen und falschen Antworten
gibt. Überhaupt liest er mit den Schülern nicht nur die russischen Klassiker aus
dem 19. Jahrhundert, mit denen sie oft wenig anfangen können, sondern auch
übersetzte Abenteuerbücher. Das soll ihnen zeigen, dass Lesen Spaß machen kann.

Es ist nicht immer leicht, selbstständiges und freies Denken zu vermitteln. In


einer Moskauer Schule bekam eine Lehrerin, die in einer Klasse für Kadetten
unterrichtet, einen Stapel Postkarten vom Verteidigungsministerium. Die Schüler
sollen sie unterschreiben und an russische Soldaten in Syrien schicken. "An
unsere Verteidiger", stand auf den Karten. Die Lehrerin hat noch nicht
entschieden, was sie damit macht.

UPDATE: 8. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Julia SmirnovA; Privat (2)


Die Schüler im russischen Karinskoje freuen sich über frischen Wind im
Englischunterricht - und darüber, dass sie nicht angeschrien werden
privat
Die Lehrerinnen Aljona Markowitsch (l.) und Elena Jarmanova (beide 27)
engagieren sich für neue Unterrichtsmethoden an russischen Schulen
privat
Die Lehrerinnen Aljona Markowitsch (l.) und Elena Jarmanova (beide 27)
engagieren sich für neue Unterrichtsmethoden an russischen Schulen
Julia Smirnova
privat
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Die Welt

Dienstag 9. Februar 2016

Alles hat mit allem zu tun

AUTOR: Ulf Poschardt

RUBRIK: TITEL; Kommentar; S. 1 Ausg. 33

LÄNGE: 576 Wörter

Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König", wusste Heraklit schon vor knapp
2500 Jahren: "Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen
zu Sklaven, die anderen zu Freien." Am Montag konnte wie in einem
Freiluftexperiment studiert werden, wie verstrickt die Akteure der
Weltinnenpolitik sind. Die Wurzel allen Übels ist die Grausamkeit des Krieges,
die Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Russlands Präsident Putin genießt
offensichtlich jene neue Rolle, die ihm ein geschwächter Westen und ein
außenpolitisch indisponierter US-Präsident zuspielen: als oberster
Dominosteinumwerfer, der die Erschütterungen seiner zynischen Vorhofaggressionen
bis in die Bundesrepublik aufmerksam verfolgt.

Die Folge der rüden Bombenangriffe auf die Umgebung von Aleppo ist ein neuer
Strom von Flüchtlingen, die sich aufmachen an die türkische Grenze, um von dort
weiter in den friedlichen Teil Europas aufzubrechen. Die Attacken kommen
pünktlich zu Merkels Besuch beim türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.
Beide wirkten bei der Pressekonferenz gleichermaßen wütend wie hilflos. Putin
rächt sich damit an den Türken, die im November ein russisches Flugzeug
abgeschossen hatten, und an den Deutschen, die sich schroff jede Einmischung in
innere Angelegenheiten verbeten haben nach dem vermeintlichen Verschwinden eines
russlanddeutschen Mädchens. Und der daraus gestrickten Desinformation aus dem
Kreml.

Einem Krieger wie Putin aus Schwäche eine Schlacht zu überlassen könnte schnell
zum Bumerang werden. Zudem scheint erneut auf, wie angreifbar, fragil und
sisyphosisch Merkels Versuch ist, der Flüchtlingskrise mit umfassenden
diplomatischen Aktivitäten zu begegnen. Putin zeigt ihr aufreizend, wie klein
und sinnlos das alles sein kann. Gleichzeitig verschärft sich die humanitäre
Krise, mit Dutzenden von Toten, die in der Ägäis ertrinken, und Zigtausenden,
die sich vor der ziemlich geschlossenen türkischen Grenze stauen. Innenpolitisch
hat die Union in Gestalt ihres Vize Thomas Strobl den Kampf um die
Beherrschbarkeit der Migration verschärft. Dafür wird sie rituell von der Linken
kritisiert, aber so, wie sich die Dinge entwickeln von Aleppo bis hin zum
Rosenmontagszug, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die nächsten
Asylrechtsverschärfungen kommen werden. Einfach, weil Deutschland kaum eine
andere Wahl hat angesichts der Dimension der Herausforderung.
Tage wie dieser Montag verdichten die sonst zeitlich und kausal gestreckte und
verstreute Komplexität des Konflikts auf eine anschauliche Form. Alles hängt mit
allem zusammen, und das ist eigentlich auch ein Hinweis darauf, dass einfache
Lösungen nicht greifen. Man mag Merkels hochmoralischen Flüchtlingspragmatismus
kritisieren, aber angesichts des durchsichtigen Treibens von autoritären Figuren
wie Erdogan und Putin, die das Durcheinander nutzen, um brutal ihr
Agenda-Setting durchzudrücken, wäre ein anderer Ton oft angebrachter. Auch in
Deutschland selbst werden die Faltungen von Krisen, Kriegen und Fluchtbewegungen
von denjenigen, links wie rechts, genutzt, um jenes freiheitliche System der
Mitte und des Ausgleichs zu perforieren. Und als ob das nicht schlimm genug
wäre, nutzen Türken wie Russen jede Chance, den Deutschen in ihr eh schon
schwieriges Projekt der Krisenbewältigung reinzufunken. Sie missbrauchen
Deutschtürken und -russen. 2016 begann mies auf der Domplatte, es wird gerade
noch mieser. Zeit, Haltung anzunehmen.

UPDATE: 9. Februar 2016

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Die Welt

Dienstag 9. Februar 2016

"Der Shitstorm wird auf die Straße verlegt";


Pöbelei und Hetze auf der einen Seite, Angeberei und Gefühlsduselei auf der
anderen: Was viele im wahren Leben nicht täten, tun sie im Internet.
Cyberpsychologin Catarina Katzer erklärt warum

AUTOR: Heike Vowinkel

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 33

LÄNGE: 1475 Wörter

Nicht erst seit der Flüchtlingskrise ist der Ton im Netz rauer geworden. Es wird
gepöbelt, gehetzt und beschimpft - oft unter Klarnamen. Warum so viele Menschen
im Netz enthemmter agieren als im wahren Leben, hat die Sozialpsychologin und
Medienethikerin Catarina Katzer untersucht. Die Leiterin des Instituts für
Cyberpsychologie und Medienethik in Köln berät Politiker und Unternehmen und
engagiert sich gegen Cybermobbing. Sie sagt, nur wer sich bewusst ist, wie die
Digitalisierung unser Leben beeinflusst, kann sie sinnvoll nutzen.

Die Welt:
So viele Menschen kommentieren im Netz offenbar völlig enthemmt. Wie ist das zu
erklären?

Catarina Katzer:

Das hat verschiedene Gründe - bis hin zur einseitigen Fokussierung auch der
Medien auf Internethetze. Aber Sie haben recht, es gibt diese Exzesse, und will
man verstehen, warum sich selbst Menschen, die im wahren Leben niemals so
agieren würden, zu solchen Attacken im Netz hinreißen lassen, muss man sich die
psychologische Grundsituation anschauen. Im Netz agieren wir entkörperlicht, wie
in einer Art Parallelwelt. Wir tippen zwar mit unseren Fingern, bleiben aber mit
unserem Körper im geschützten Raum, er ist nicht Teil der Aktion. Deswegen
nehmen wir uns anders wahr. Schubse ich im realen Leben jemanden, muss ich dafür
meinen Körper einsetzen, und ich sehe unmittelbar die Reaktion des Gegenüber.
Das kostet viel mehr Überwindung.

Im Netz sieht man die Reaktion des Attackierten nicht und deshalb verliert man
gleich jeden Anstand?

So in der Art. Eine große Rolle spielt auch, dass wir im Netz Teil einer
anonymen Masse sind, dadurch fühlt sich die Einzelperson weniger verantwortlich.
Es lässt sich gut beobachten, wie sich im Laufe solcher Diskussionen der Ton
ändert. Er wird rauer, Fäkalausdrücke nehmen zu und je mehr da mitmachen, desto
enthemmender scheint das auf den Einzelnen zu wirken.

Im wahren Leben bleiben dieselben Menschen zivilisierter?

Das kann man nicht pauschal so sagen. Auf viele trifft es zu. Allerdings
beobachten wir zunehmend, dass sich Verhaltensweisen aus dem Netz ins reale
Leben übertragen - vor allem dann, wenn sich Hetzer durch Likes und Kommentare
der anderen in ihrer Aggressivität, ihrer Fäkalsprache bestätigt fühlen.

Können Sie Beispiele nennen?

Für mich sind schon die Pegida-Demonstranten ein gutes Beispiel. Aber auch der
Fall zweier Polizeibeamter in Süddeutschland, die einen Staffordshire Terrier
erschießen mussten, weil er Menschen angefallen hatte. Im Netz entspann sich
daraufhin eine Diskussion, bei der nicht nur Tierschützer die Polizisten wegen
der Erschießung angriffen. Das Schockierende war, dass sich dieser Shitstorm auf
die Straße verlegte. Plötzlich standen normale Bürger vor den Häusern der
Beamten und haben sie und ihre Familien attackiert.

Das Netz wird zum Testfeld für reales Verhalten?

Ja, für manche scheint es so zu sein. Kommen sie im Netz damit an, bestärkt es
sie auch in der realen Welt diese Ansichten kundzutun und sich so zu verhalten.
Aber die Digitalisierung beeinflusst unser Leben ohnehin in viel mehr Bereichen,
als wir wahrhaben wollen.

Was meinen Sie? Das ständige Online-Sein?

Ja. Schauen Sie doch mal auf die Straße, da gucken ständig alle in ihre Geräte.
Der Alltag vieler wird vom Internetrhythmus bestimmt. Je jünger, umso mehr gilt
das. Überall, sogar abends im Bett werden E-Mails gelesen, Timelines gecheckt.
Wir werden ungeduldiger, unkonzentrierter, oberflächlicher, weil wir so viele
Informationen gleichzeitig nicht mehr verarbeiten können. Texte werden nur noch
gescannt, Beziehungen via Tinder und sonstiger Portale angebahnt und via SMS
beendet. Auch die Gefühlsebene wird dadurch oberflächlicher.
Die Hirnforschung spricht schon länger von neuronalen Auswirkungen der
Digitalisierung.

Ja, die Neurowissenschaften haben nachgewiesen, dass wir zum Beispiel unser
Langzeitgedächtnis brauchen, um komplexe Aufgaben zu lösen, die auch für
wichtige Entscheidungen notwendig sind. Wenn wir aber nur noch bei Dr. Google
nachschauen, statt in unserem Gedächtnis zu kramen, trainieren wir das
Langzeitgedächtnis nicht mehr. Wir wissen dann zwar, wo wir was finden, behalten
es aber nicht mehr.

Es gibt aber auch Studien, die zeigen, dass die sogenannten "Digital Natives"
älteren Generationen in vielem wie Auffassungsgabe, Reaktionsvermögen überlegen
sind.

Ja, das wird so propagiert. Es ist zwar so, dass die Hirne von "Digital Natives"
tatsächlich visuelle Informationen besser verarbeiten können. Die Behauptung,
dass sie aber die tollsten Multitasker sind, die viele Informationen zur
gleichen Zeit besser verarbeiten und kreativer damit umgehen können, würde ich
so nicht unterschreiben. Gerade einmal zwei Prozent der Menschheit besitzen die
Fähigkeiten, die zum Multitasking benötigt werden - unabhängig ob sie "Digital
Natives" sind oder nicht. Gleichzeitig zeigt sich, dass online gelesene
Dokumente von den meisten Menschen schlechter verstanden werden, die
Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden.

Das klingt alles sehr pessimistisch.

Nein, und so möchte ich das auch nicht verstanden wissen. Ich wünsche mir nur
einen bewussteren Umgang. Das Internet bietet viele positive Chancen. Nicht nur
als Wissensfundus. Nehmen Sie die Möglichkeiten, die Menschen in Kriegsgebieten
haben, auf ihre Situation aufmerksam zu machen, Gebiete, wie die krassen
Kampfregionen etwa in Syrien, in die Journalisten sich gar nicht mehr
hineintrauen.

Solche Berichte sind nur von Nichtjournalisten nicht überprüfbar - können also
auch gefälscht oder propagandistisch sein.

Ja, das ist die Kehrseite. Alles was im Netz authentisch daherkommt, muss nicht
wirklich authentisch sein. Vieles, was gepostet wird, wird zu oft für bare Münze
genommen.

So wie im Fall des 13-jährigen russlanddeutschen Mädchens aus Berlin, das


angeblich vergewaltigt wurde, offenbar aber nur bei einem Freund übernachtet
hatte und sich nicht traute, das zu Hause zu erzählen. Das hat sogar zu
politischen Verstimmungen zwischen Deutschland und Russland geführt.

Daran sieht man, wie leicht Menschen durch das Netz auch manipulierbar sind. Die
Informationsverbreitung ist durch das Internet unglaublich viel schneller
geworden, Nachrichten verselbstständigen sich schneller. Die Menschen scheinen
im Netz ihr natürliches Misstrauen eher zu verlieren.

Woran liegt das?

Sie sind mit jemandem befreundet, der etwas von jemandem weiterverbreitet, mit
dem er befreundet ist, und schon gilt das als vertrauenswürdig. Es entsteht eine
Nähe, die gar nicht da ist. Da wird Menschen vertraut, die man noch nie gesehen
hat und von denen man nur ihre Fotos, Posts und Selbstauskünfte kennt. Da sind
wir wieder bei der eingangs beschriebenen Parallelwelt. Wir chatten mit Fremden
zu Hause und dabei entsteht eine Intimität, die es in echt nicht gibt.
Aber im Grunde wissen wir doch, wie in Profilen gelogen und geschönt wird.

Wir wissen es und lassen uns doch davon beeinflussen. Schauen Sie sich die
Profile vieler User mal genauer an. Das ist oft eine sehr geschönte Version des
eigenen Ichs. Glücklich, schön, erfolgreich. Grautöne gibt es kaum. Das hat auch
mit unserer Realität zu tun, die oft nicht so strahlend schön und simpel ist.
Wir wünschen sie uns aber so. Im Netz haben wir die Möglichkeit, sie uns so zu
schaffen, da haben wir anders als im wahren Leben Kontrolle über unsere
Selbstdarstellung.

Erklärt das auch den großen Erfolg von Gefühlsduselei und Kitsch im Netz?

Auf jeden Fall. Diese ganzen Sonnenuntergänge, Herz-Schmerz-Geschichten,


rührenden Kindervideos, Gutmenschengeschichten, das alles bedient unsere
Sehnsucht nach der heilen Welt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr gerade
für Jugendliche, dass sich ihr Selbstbild durch die vielen geschönten Profile
verzerrt. Sie spüren den Druck, viele Likes, Freundschaftsanfragen, Follower zu
haben, und glauben, dies nur dann zu erreichen, wenn sie ein Bild von sich
schaffen, das in diese geschönte Welt passt.

Was lässt sich gegen diese Auswüchse tun? Offline gehen kann ja nicht die Lösung
sein.

Nein, zumindest nicht dauerhaft, aber ab und zu täte es schon ganz gut. Was wir
vor allem brauchen, ist eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Wir alle sind das
Netz und müssen uns fragen, wie wir damit umgehen. Sogar der ehemalige
Google-Chef Eric Schmidt hat kürzlich zu einem Filter gegen Hass aufgerufen. Ob
das die Lösung ist - auch vor dem Hintergrund der Zensurgefahr - weiß ich nicht.
Aber wir brauchen mehr Zivilcourage im Netz. Jeder Einzelne müsste sich mehr
gegen Hetze engagieren. Und wir müssen mehr Bewusstsein dafür schaffen, wie die
Digitalisierung unser Leben beeinflusst - im positiven wie im negativen Sinne.
Das müsste mit einer besseren Netzerziehung in den Schulen beginnen, bei der
auch Wissen über Netzverhalten und psychologische Mechanismen vermittelt wird.

Catarina Katzer: Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns


verändert. dtv, 16,90 Euro

UPDATE: 9. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Catarina Katzer/Catarina Katzer


Cyberpsychologin Catarina Katzer
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Samstag 13. Februar 2016

"Integration ist ein lebenslanger Lernprozess";


Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) wirft Angela Merkel
vor, falsche Signale in der Flüchtlingskrise zu setzen. Und sie bringt einen
Vorschlag des türkischen Präsidenten ins Gespräch

AUTOR: Thorsten Mumme; Ulf Poschardt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 37

LÄNGE: 2790 Wörter

Ich bin wie Chuck Norris - nur als Mädchen". Diesen Schriftzug hatte
Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney kurz vor dem Gespräch
getwittert. Eine SPD-Ministerin als unbezwingbarer Actionheld? Kraftvolle Worte
findet sie jedenfalls auch an diesem Nachmittag.

Die Welt:

Der Wahlkampf in Baden-Württemberg nimmt Fahrt auf. Ihr Ministerpräsident,


Winfried Kretschmann (Grüne), betet für Angela Merkel (CDU). Betet er auch ein
bisschen für die Sozialdemokraten?

(lacht) Das müssen Sie ihn fragen. Im Moment betet jeder für sich.

Wie ist die Stimmungslage in der SPD angesichts der Gefahr, vielleicht nur
viertstärkste Kraft zu werden?

(überlegt) Gemessen daran, dass die SPD Schlüsselressorts besetzt und gute
Regierungsarbeit leistet, sind die Umfragewerte nicht erfreulich. Die
Erwartungen an die SPD sind allerdings besonders hoch. Denn die SPD steht mit
einem Teil ihrer klassischen Wählerklientel für eine Gruppe sozial
benachteiligter Menschen, die nun in gefühlte Konkurrenz zu Flüchtlingen gerät.
Schon seit zwei Jahren fragen mich die Bürger: "Frau Öney, alle kümmern sich um
die Flüchtlinge, wer kümmert sich um mich?" Da ist eine große Sorge, zu kurz zu
kommen.

Wo verorten Sie den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in der Flüchtlingsfrage?

Ich glaube, dass er mit Frank-Walter Steinmeier frühzeitig deutlich gemacht hat,
dass man die Sorgen der Bürger ernst nehmen muss.

Wo steht die SPD denn im Moment? Und wo stehen Sie innerhalb der Partei?

In Volksparteien gibt es immer unterschiedliche Meinungen, die im Volk


vorkommen. Von linksliberal bis konservativ. Es gibt auch große regionale
Unterschiede zwischen den Landesverbänden. Die SPD muss es schaffen, die Stimme
der Vernunft zu sein.

Wie würde sich diese Stimme anhören?

Sie sollte Abstand nehmen von gewohnten Ritualen und Sprechhülsen,


Formulierungen. Die bringen uns nicht weiter. Man muss sagen, wie wir mit den
1,1 Millionen Flüchtlingen umgehen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland
gekommen sind. Dazu sind ja noch 500.000 EU-Ausländer gekommen. Die werden im
Moment nicht beachtet, aber vor zwei, drei Jahren hatten wir noch eine
Diskussion um Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Das ist in den
Hintergrund gerückt.

Aber das Problem besteht weiterhin.

Natürlich. Auch EU-Ausländer, die nach Deutschland kommen, sind nicht sofort
perfekt in Arbeit und gesellschaftliches Leben integriert. Auch die sind
teilweise auf Unterstützung angewiesen. In der politischen Auseinandersetzung
rückt das derzeit zwar in den Hintergrund, aber den Bürgern fällt das auf. Die
SPD muss versuchen, zwischen Rechtskonservativen

AfD

und den ganz Linken

Merkel

(lächelt) zu vermitteln. Wir haben innerhalb kurzer Zeit so viele Menschen


aufgenommen. Aus integrationspolitischer Sicht ist das kein erstrebenswerter
Zustand. Denn Integration in diesem Tempo kann so kaum gelingen. Die staatlichen
Institutionen sind nicht darauf eingestellt. Das betrifft die Bundespolizei
genauso wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Dabei ist es wichtig klarzustellen, wann Flüchtlinge arbeiten dürfen.

Richtig, eine EU-Richtlinie spricht von neun Monaten. In Deutschland haben wir
das auf drei Monate gesenkt, damit das Ganze den Steuerzahler nicht zu viel
kostet - und auch, um Integration zu fördern. Damit wurde aber auch eine
Einwanderung in das Asylsystem attraktiver und möglicherweise ausgelöst. Wir
müssen aufpassen, dass das Asylrecht nicht ad absurdum geführt wird.

Sie sprechen von Asylmissbrauch?

Nein, von Zweckentfremdung. Ich würde es vermutlich auch so machen. Sie auch!
Wir brauchen mehr Informationen über legale Wege der Einwanderung. Wenn jemand
qualifiziert ist, ein Arzt oder ein Ingenieur, muss er nicht in das Asylsystem.
Dann muss er nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft mit 20 Männern in einem
Zimmer schlafen. Wenn unsere Gesellschaft seine Qualifikationen braucht, soll er
über einen anderen Kanal einreisen können. Aber im Moment erscheint Asyl
offenbar als der schnellste Weg, nach Deutschland zu kommen.

Glauben Sie also nicht an Merkels Satz "Wir schaffen das"?

Wir schaffen das nicht in diesem Tempo. Das BAMF will seit zwei Jahren Leute
einstellen. Aber die Personalstellen wurden erst spät bewilligt. Dazu gibt es
arbeitsrechtliche Vorgaben und Verfahren, du musst jeden beteiligen: den
Personalrat, den Betriebsrat, die Gleichstellungsbeauftragte. Es ist ja gut,
dass es das alles gibt. Aber das dauert, und es sind langwierige Prozesse.

Ist das wirklich gut? Kann man in so einer Lage nicht auf bürokratische Hürden
verzichten?

Na ja, wir können jetzt nicht den Rechtsstaat aussetzen. Aber wir sollten
flexibler sein und im Krisenmodus arbeiten. Und das gelingt nicht überall.

Dann ist es doch praktisch, dass Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für
Arbeit, seit Herbst 2015 auch das BAMF leitet, oder?

Nein, ich fand, das war keine gute Entscheidung. Denn es wird teilweise
missverstanden als das Signal: Wir sehen in der Asylpolitik nicht nur eine
humanitäre Aufgabe, sondern vor allem ein Instrument zur Bewältigung des
Fachkräftemangels. Und das passt nicht!

Was für Fehler gab es noch im Krisenmanagement des Herbstes?

Ich glaube, es war nicht gut, dass nach der Woche, in der die in Ungarn
gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland kommen durften, alle
Entscheidungskraft zu Peter Altmaier ins Kanzleramt gezogen wurde. Dadurch wurde
das von vielen Flüchtlingen so verstandene Signal, die Kanzlerin wolle
Flüchtlinge, also können sie alle hingehen, verstärkt. Sie hätte außerdem
deutlicher klarmachen sollen, dass niemand wegen der Flüchtlinge zu kurz kommt.

Im April 2015 haben Sie im Interview der "Welt" gesagt, unsere Grenzen seien zu
durchlässig. Wie ist Ihre Wahrnehmung jetzt?

Ja, das habe ich gesagt, als der Hype noch ein ganz anderer war. Inzwischen gibt
es teilweise Grenzkontrollen, aber im Grunde hat sich nichts geändert. Zudem ist
die Finanzkrise zwar in den Hintergrund gerückt, aber sie ist in vollem Gang.
Wenn es anderen EU-Ländern schlechter geht, die Jugendarbeitslosigkeit etwa in
Italien, Spanien und Griechenland weiter wächst, könnte das zu noch mehr
Zuwanderung führen. Und an der EU-Niederlassungsfreiheit will wohl keiner
rütteln, auch ich nicht. Also selbst wenn die Flüchtlingsdebatte aufhören würde,
werden wir vermutlich andere Zuwanderungsdebatten führen.

Und wir haben noch gar nicht über Integration gesprochen.

Das kommt nach der Zuwanderung. Integration ist ein lebenslanger Lernprozess.
Das betrifft nicht nur Flüchtlinge, sondern jeden. Wenn ich als Berlinerin nach
Stuttgart gehe, muss ich mich anpassen. Wenn ich als Ausländer nach Deutschland
komme, muss ich mich auch anpassen, nur dass dann die Unterschiede viel größer
sind. Das kann innerhalb kurzer Zeit nicht ganz gelingen. Vor allem nicht, wenn
es keinen Druck zur Integration gibt.

Wie erzeugt man Anpassungsdruck?

Man versucht es über aufenthaltsrechtliche Regularien wie: Wer kein geregeltes


Einkommen hat, bekommt vielfach nicht den angestrebten Aufenthaltstitel. Das
greift allerdings nicht bei EU-Ausländern, denn die haben
Niederlassungsfreiheit. Welche Regelungen für Flüchtlinge gelten sollen,
diskutieren wir gerade.

Warum ist Deutschland so attraktiv für Flüchtlinge?

Es gab Entscheidungen, die höhere Flüchtlingszahlen zur Folge hatten. Die


Leistungsanpassungen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
2012 etwa. Daraufhin stiegen die Flüchtlingszahlen, vor allem aus dem Balkan,
rasant an. Und damit die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten
können, kam es 2014 zum Asylrechtskompromiss, auch mit der Stimme von
Baden-Württemberg im Bundesrat. Das Arbeitsverbot wurde auf drei Monate gesenkt.
Auch das hat etwas ausgelöst. Denn sofort ging die Information raus: Wenn man
als Flüchtling nach Deutschland kommt, kann man arbeiten. Und dann vielleicht
auch bleiben.

Hat es Sie überrascht, wie gut die Flüchtlinge informiert sind? Der
Durchschnittsdeutsche weiß wohl kaum, was genau im Asylgesetz steht.

Das Asylrecht ist kompliziert und bislang ein Randthema gewesen. Teilweise
kennen sich die Flüchtlinge im Asylrecht wirklich besser aus als manch deutscher
Politiker. Und so etwas spricht sich sofort herum. Zudem gibt es Gerüchte. Wir
leben in einem Technologiezeitalter. Wenn Sie hier eine Nachricht absetzen, wird
die via Twitter, Facebook und Co. auf der ganzen Welt sofort gelesen. Aber das
braucht es noch nicht einmal: Es reicht schon, wenn jemand aus der Familie, aus
dem Dorf schon in Deutschland ist und sagt: "Wenn ihr kommt, gibt es hier eine
Wohnung, Arbeit, einen Integrationskurs; kommt!" Es spricht sich alles schnell
rum. Die Bilder vom September sind um die Welt gegangen.

Sie meinen das Selfie der Kanzlerin?

Nicht nur das Selfie, sondern auch Informationen über Asylpakete, die hier
geschnürt wurden. Nach einem Flüchtlingsgipfel kursierte das Gerücht, dass jeder
Flüchtling 670 Euro bekommt, wenn er nach Deutschland kommt. Das war aber nur
die Pauschale, die der Bund pro Flüchtling in der Erstaufnahme an die Länder
zahlen will.

Denken Sie, dass Maßnahmen, die den Zustrom reduzieren sollen, wie etwas das
Asylpaket II, sich genauso schnell herumsprechen wie die Selfies der Kanzlerin?

Das kann sein. Vielleicht kommen auch deshalb gerade jetzt so viele. In
Griechenland sind über 70.000 Menschen aufgelaufen, im türkischen Grenzgebiet
über 30.000. Vielleicht eine Art Torschlusspanik.

Schnell nach Deutschland, bevor der Familiennachzug begrenzt wird.

Ja, diese Information ging auch umher. Aber genau das, was gerade läuft, ist
Familienzusammenführung. Denn es kommen nicht nur junge Männer, sondern viele
Frauen und Kinder.

Unterstützt der Bund die Länder ausreichend?

Ich habe schon vor zwei Jahren gefordert, der Bund soll die Erstaufnahme in
Eigenregie übernehmen. Denn dann hätte er endlich mehr Druck, die Zahlen zu
begrenzen. Das können die Länder nicht leisten. Sie können auch nicht ohne Ende
Kapazitäten schaffen. Es gibt sie nicht, und es gibt sie nicht so schnell. Es
gibt Grenzen des Machbaren, und wir stoßen natürlich auch an die Grenzen der
Toleranz.

Können Sie nachvollziehen, dass es diese Grenzen gibt?

Natürlich, weil manche Entwicklungen einfach zu schnell passieren. Es ist


falsch, den skeptischen Bürgern pauschal Rassismus zu unterstellen. Ängste sind
vorhanden. Und Vorfälle wie an Silvester in Köln erhöhen die Toleranz der Bürger
nicht gerade. Seit Jahren sagen etwa 50 Prozent der Bürger, es gebe zu viele
Ausländer in Deutschland. Das muss ja gar nicht ausländerfeindlich sein, sondern
ist zunächst nur eine Wahrnehmung.

Sind die Deutschen denn tolerant?

Gemessen daran, dass hier viele Migranten aus aller Herren Länder schon seit
Generationen leben, sind die meisten Deutschen sehr tolerant. Aber es gibt eben
auch Ängste. Und gerade jetzt wollen die Bürger wissen: Wie lange geht diese
Entwicklung noch? Diese Überfremdungsangst gab es immer schon. Aber sie hat
zugenommen, seit die Zahlen angestiegen sind. Deswegen muss man Mechanismen
finden, um die Zuwanderung zu regeln und zu begrenzen.

Also der Julia-Klöckner-Plan?

Nein. Ich habe schon vor zwei Jahren Migrationsberatungszentren in Nordafrika


und auf dem Balkan gefordert. Nicht in der EU! Seit zwei Jahren diskutiert die
EU darüber, elf Migrationsberatungszentren einzurichten. Bislang gibt es eines
in Griechenland, drei in Italien. Nur: Es hilft ja gar nichts, diese Hotspots in
Europa zu installieren. Denn wenn die Menschen erst einmal hier sind, werden sie
nicht mehr gehen wollen.

Eine andere Art der Sicherung der EU-Außengrenzen?

Gewissermaßen, denn auch da hat die EU Fehler gemacht. Frontex wurde mit
Milliarden unterstützt. Aber im Moment arbeitet Frontex hauptsächlich als
Seenotrettungsprogramm. Theoretisch bräuchte es auch einen Brüsseler Schlüssel,
eine Art Königsteiner Schlüssel für Europa. Aber ich habe zunehmend den
Eindruck, dass das vergebene Liebesmüh ist. Es bräuchte ein einheitliches
europäisches Flüchtlingsrecht.

Sind Sie enttäuscht von Europa?

Ich bin ein bisschen verärgert, was das Tempo angeht. Und oft trifft man auf die
Einstellung: "Was habe ich damit zu tun?" Viele Länder haben überhaupt kein
Interesse daran, einen Flüchtlingsschlüssel für Europa zu entwickeln, weil sie
dann auch Flüchtlinge aufnehmen müssten. Im Moment kommen etwa 80 Prozent der
Flüchtlinge nach Deutschland. Ein langfristiges Ziel der EU müsste daher ein
umfassendes europäisches Flüchtlingsrecht sein. Dafür müsste man vielleicht auch
in Deutschland bestimmte Standards für Flüchtlinge senken. Denn im Moment sind
unsere Standards so hoch, dass viele andere Länder sie nicht erreichen. Generell
sind die Standards zwischen den Ländern zu unterschiedlich.

Ein gemeinsames europäisches Flüchtlingsrecht wäre also ein Mittel zwischen


portugiesischen und deutschen Sozialleistungen?

Es fängt an mit den rechtlichen Vorgaben der Aufnahme. In einigen Ländern


campieren Flüchtlinge auf der grünen Wiese. Und dann kommen sie nach Deutschland
und finden ein nahezu perfektes Aufnahmesystem - wenn sie in das richtige
Bundesland kommen. Auch was die Anerkennungsquoten angeht, gibt es keine festen
Regeln. Es gibt keine einheitliche Liste der sicheren Herkunftsländer. Es geht
also nicht nur in erster Linie um Leistungen, sondern vor allem auch um die
Umsetzung von rechtlichen Vorgaben.

Wie sehen Sie die Rolle der Türkei in der Flüchtlingsfrage?

Dort leben seit Jahren über zwei Millionen Flüchtlinge. Die Türkei hat offen
gesagt, dass sie das allein nicht schaffen kann. Die türkische Regierung hat
zudem eine Pufferzone vorgeschlagen. Das sollte man zumindest diskutieren.

Auf türkischem Territorium?

Das müsste man in Absprache mit den Ländern vereinbaren. In Krisengebieten


müsste es in jedem Fall eine Sicherheitszone geben. Sehen Sie, die EU-Kommission
geht davon aus, dass etwa 60 Prozent der Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge
sind. Die Menschen wollen alle nach Europa beziehungsweise in dieses Leben. Wenn
es gelänge, eine Pufferzone zu schaffen, in der auch ein bisschen was produziert
wird, wohin möglicherweise auch deutsche Firmen einen kleinen Teil risikoarmer
Produktion verlagern, könnte man einen Teil der Menschen in so einer
Sicherheitszone unterbringen. Die Menschen wollen ja alle Sicherheit und sie
wollen Arbeit.

Aber irgendwann wird auch eine Pufferzone zu voll.

Perspektivisch wird man auch dort nicht alle Menschen unterbringen können. Und
die Ursachen liegen ja woanders. Bei einer Bürgerversammlung wurde ich einmal
gefragt: "Wer trägt denn eigentlich Verantwortung für diese Flüchtlingskrise?"
Im Grunde trägt jedes Land Verantwortung für sich und seine Bürger. Jedes Land
muss dafür sorgen, dass seine Bürger in Sicherheit sind. Egal ob Syrien,
Ägypten, Eritrea, Jemen - jedes Land muss dafür sorgen, dass es keinen
Massenexodus gibt.

Doch viele arabische Länder kommen dieser Verantwortung nicht nach.

Genau, dabei hat die Region so viele Bodenschätze, viele arabische Länder sind
ja reich! Warum stecken sie dieses Geld nicht in Forschung, in Wissenschaft, in
Industrie? Einige Länder könnten ja praktisch Europa aufkaufen. Niemand müsste
auf Schlauchbooten nach Europa kommen, wenn diese Länder ihren Reichtum anders
verteilen und sinnvoll nutzen würden. Aber stattdessen gibt es da Konflikte, die
aus dem Islamismus oder dem politischem Islam resultieren.

Dabei ist die vom Islam geprägte Weltregion eine der Wiegen unserer Kultur und
Kulturtechniken. Das ist doch eine wahre Tragödie!

Ja, aber wer nicht mit der Zeit geht, ist nicht konkurrenzfähig! Das gilt für
jede Organisation, für jede Firma, für jede Partei und auch für jede Religion.

Aber was ist das strukturelle Problem in diesem muslimisch geprägten Kulturraum?

Ich kann nicht sagen, dass der Islam integrationshemmend ist. Denn es gibt ja
viele Muslime, bei denen Integration gelungen ist. Es gibt aber auch einige
wenige, die Religion und Tradition für so wichtig halten, dass alles andere in
den Hintergrund rückt. Aber so kann man in Deutschland, im Herzen von Europa,
eben nicht leben. Man wird so nicht erfolgreich sein, weil man sich auf diese
Art praktisch selbst ausgrenzt.

Wenn die historische Dialektik recht behält, müsste es zu diesem


Neotraditionalismus im Islam ja irgendwann eine Gegenbewegung geben.

Ja, aber solche fortschrittlichen Botschaften müssen von Leuten kommen, die als
Vorbilder oder Ikonen gelten.

Von wem denn?

Aus den eigenen Reihen. Ich glaube, dass ein Imam für eine geistliche Gruppe
mehr Autorität hat als andere Personen. Die Menschen müssen von Bezugspersonen
angeleitet werden. Experten sagen: Der politische Islam hat viel Unheil
angerichtet, zum Nachteil dieser Länder. Sie haben sich abgekapselt. Im
internationalen Wettbewerb kann man nur bestehen, wenn man mit der Zeit geht.
Und nicht, wenn man in das vorvorvorletzte Jahrhundert zurückgeht.

UPDATE: 13. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Martin U. K . Lengemann
Bilkay Öney kann die Ängste der Bürger verstehen und warnt davor, ihnen pauschal
Rassismus zu unterstellen
Martin U. K. Lengemann,Martin U.

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Die Welt

Montag 15. Februar 2016

Schweden beherbergt nur noch menschliche Trümmer;


Migranten müssen sich nicht mehr nach Europas Norden sehnen: Die neue Staffel
der Fernsehserie "Die Brücke" zeigt, was dort so los ist

AUTOR: Elmar Krekeler

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 22 Ausg. 38

LÄNGE: 715 Wörter

Eine Brücke ist ja im Moment eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Weil das
Herstellen von Verbindungen, das Überbrücken von Abgründen nicht gerade das ist,
was einem auf der Suche nach herausstechenden Tugenden der unmittelbaren
Gegenwart sofort durch den Kopf schießt.

Insofern wird man bei dem Anblick der Öresundbrücke natürlich schon ein bisschen
melancholisch, wie sie sich da fast zehn Kilometer lang durchs Dunkel zwischen
dem Lichtermeer namens Kopenhagen und dem namens Malmö schlängelt. Und ein
Klavier hämmert in die Dunkelheit, ein trauriger Mann singt was von Echos, und
eine neue Folge der meistkopierten Fernsehserie der Welt fängt an. "Die Brücke"
heißt sie.

Die Serie, deren dritte Staffel nun im koproduzierenden ZDF läuft, heißt nicht
nur nach der längsten Schrägseilbrücke der Welt. Sie ist ihr eingeschrieben, sie
ist Handlungsort, dramaturgische Zäsur. Sie ist Hauptfigur. Und noch dazu die
einzige, die sich nicht verdächtig macht. Die ihrer Tätigkeit unbeirrt und mit
großer Würde nachgeht, selbst wenn sie, wie zu Beginn von Staffel 2, von einem
Totenschiff gerammt wird. Die stoisch und elegant aus einer überaus finsteren
menschlichen und sozialen Trümmerlandschaft herausragt.

Nach bester skandinavischer Tradition lassen die Drehbuchautoren um das


schwedische Thrillerseriensuperbrain Hans Rosenfeldt nämlich nun schon dreißig
Stunden lang nichts unversucht, die vermeintliche Zivilgesellschaft, in der sie
ihre überwiegend unfassbar brutalen Mordserien platzieren, genauso brüchig zu
zeigen, wie sie sich in Zeiten der Flüchtlingskrise real offenbart.
Die Melancholie, die einen gerade in der dritten Staffel überfällt, entspringt
natürlich vor allem der Tatsache, dass es mit der Reibungslosigkeit längst ein
Ende hat, mit der die schwedische Kommissarin Saga Norén in ihrem popelgrünen
Porsche 911 mit einer derartigen Permanenz zwischen Malmö und Kopenhagen
unterwegs ist, dass man Räume und Länder gar nicht mehr unterscheiden kann. Im
November, da war die neue "Brücke"-Staffel längst gelaufen, hatte Schweden an
der Öresundbrücke Grenzkontrollen eingeführt.

Melancholieverschärfend kommt hinzu, dass das Gesellschaftsbild, das Rosenfeldt


und Co. da im unpolitischsten der bisherigen drei Zehnteiler an die Wände der
Polizeireviere zeichnen, sich bloß als Aquarellversion der tatsächlichen
Zustände in Skandinavien herausstellt. Andererseits denkt man ja auch außerhalb
von Bayern gegenwärtig intensiv darüber nach, wie man die Attraktivität vor
allem der nordeuropäischen Länder für Flüchtlinge senken kann. Dafür ist trotz
allem auch die neue Staffel der "Brücke" ein vorzügliches Instrument. Und das
kommt so.

Da geht es zum Beispiel um die Unterbringung von unbegleiteten Kindern in


Pflegefamilien. Das wiederum möchte man selbst als skrupellosestes
Asylerschleichungselternpaar seinen aus Aleppo zum Zwecke des eigenen Nachzugs
vorausgeschickten Kindern wohl nicht zumuten. Es geht um geschlechtsneutrale
Kindergärten, Schwulenehe, Leihmutterschaft, künstlerisch ausgestalteten
Serienmord. Frauen schlafen mit den Kindern ihrer besten Freundinnen,
Bloggerinnen rufen zum Mord an Menschen auf, die ihnen nicht schmecken. Menschen
werden Herzen herausgeschnitten, Augäpfel entfernt, die dann in einem
Weihnachtsbaum gefunden werden, Geschlechtsteile werden ausgerissen, halbe
Schädel abgesägt. Leichen liegen herum, Äpfel im Mund.

Auch die Sicherheitslage ist bedenklich. Selten sind Polizisten geistig intakt,
Sara leidet an Asperger, ihr neuer Kollege wirft Pillen ein wie schokolierte
Nüsse, weil er die Geister seiner Familie sieht, die sechs Jahre vorher
verschunden war. Ja, das ist alles furchtbar. Und könnte Blut sein auf die
Mühlen der Kriminalfilmhasser. Leider kann man sich gerade dieses Mal des Sogs
kaum erwehren, der um die Pfeiler der Öresundbrücke entsteht.

Das wirklich Einzige übrigens, das einen nach Ansicht der dritten "Brücke" als
Migrant dazu verleiten könnte, ausgerechnet in diese Gegend der vollkommen
verirrten Soziopathen flüchten zu wollen, ist die Abwesenheit von
Rechtsradikalen und Ausländerfeinden. Aber das ist Quatsch. Das ist natürlich
gerade nicht die Realität Skandinaviens. Das wissen wir ja aus den Nachrichten.

Die Brücke - Transit in den Tod. ZDF, 21., 28. Februar, 6., 7. März. 22.15 Uhr

UPDATE: 15. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Caroline Romare/ZDF/


Der Schein trügt: Familienleben ist in der Fernsehserie "Die Brücke" keine
Idylle
Caroline Romare/ZDF

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Die Welt

Freitag 19. Februar 2016

Fump!;
Das Reinheitsgebot wird 500 Jahre alt: Zeit, endlich über das Bier nachzudenken.
Wer es als Treibstoff für historische Prozesse begreift, geht mit anderen Augen
in den Getränkemarkt

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 21 Ausg. 42

LÄNGE: 1185 Wörter

Als die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. im April 1516 eine
gemeinsame Landesordnung erließen, die auch strenge Regeln für die Herstellung
von Bier enthielt, hatten sie kaum die Volksgesundheit im Sinn. "Wir wollen",
heißt es da, "dass forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem
Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gerste, Hopfen und Wasser verwendet
und gebraucht werden sollen".

Die ersten beiden Rohstoffe waren knapp, teuer und mit Steuern belegt. Wer Bier
braute, und das tat damals jeder Haushalt, versuchte sie so sparsam wie möglich
zu verwenden. Verdarb ein Sud einmal, war das eine kleine Katastrophe. Man
versuchte das eigentlich ungenießbare Gebräu mit allen möglichen Hausmitteln von
der Ochsengalle bis zum Gips geschmacklich zu retten. Bilsenkraut erhöhte die
berauschende Wirkung. Mit solchen Hexenkünsten sollte nun Schluss sein. Sauberes
Bier brachte auch stetige Steuereinnahmen.

Die historischen Folgen dieses Erlasses allerdings gehen weit über die
Konsolidierung der Staatlichkeit Bayerns hinaus. Das "Reinheitsgebot" beim Bier
hat als alltagskultureller Nationalmythos alle Brüche und Erschütterungen
deutscher Identität überstanden. Dieser Mythos ist unantastbar. Mit Bier fängt
in Deutschland der Spaß an, beim Bier hört er aber auch auf. Über Weinpanscher
gibt es nette Witze. Für Bierpanscher gibt es in der Humorzone keinen Platz.

Der 500. Geburtstag des Reinheitsgebotes ist natürlich Pflichtprogramm für das
kulturgeschichtliche Ausstellungswesen. Bayern widmet sich dem Thema von April
an mit einer Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte im Kloster
Aldersbach. Im Mannheimer Technoseum, dem Landesmuseum für Arbeit und Technik,
kann man jetzt schon tief in die Biergeschichte eintauchen.

Unter dem schlichten Titel "Bier" öffnet das Museum ein äußerst weites Panorama
der Kultur-, Technik- und Sozialgeschichte rund um ein sehr besonderes Getränk,
das als allgegenwärtiges Nahrungs- und Genussmittel fast so etwas wie eine
Nährlösung ist, in der sich historische Prozesse darstellen lassen. Diese Chance
lässt sich das Mannheimer Haus in gewohnter Professionalität nicht entgehen.

Obwohl Kinder und Jugendliche eine wichtige Zielgruppe sind, malen die
Mannheimer keineswegs den Bierteufel an die Wand. Sucht und Gesundheitsgefahren
des Alkoholmissbrauchs werden zwar ausführlich behandelt, doch insgesamt
durchzieht der Grundgedanke die Schau, dass ein Leben ohne Bier nicht denkbar
und auch nicht wünschbar sei. Und das ist, wie sich jeder überzeugen kann, nicht
der Tatsache geschuldet, dass der baden-württembergische Brauerbund hier, man
möchte fast sagen: natürlich, als Sponsor auftritt.

Bier ist zivilisatorischer Treibstoff. Die Menschen begannen im Fruchtbaren


Halbmond, also dort, wo heute im Irak und in Syrien zivilisatorische Strukturen
zusammenbrechen, mit der Züchtung von Getreide, weil sie alkoholische Getränke
für Kulthandlungen brauen wollten. Im sumerischen Gilgameschepos aus dem frühen
zweiten Jahrtausend v. Chr. gibt es eine wunderbare Szene, die an diese
Bierkultur der Frühzeit erinnert.

Der grasfressende, zottelige Tiermensch Enkidu fordert den halbgöttlichen


Herrscher Gilgamesch heraus. Der schickt ihm eine Dirne, die ihm Brot zu essen
und Bier zu trinken gibt. Nach sieben Krügen Bier war Enkidu "entspannt und
heiter" und gab sein Wüten auf. Fast 4000 Jahre später, im Jahr 1960, streikten
beim Mannheimer Landmaschinenhersteller Lanz zehn Tage lang die Arbeiter für ihr
Bier. Lanz war gerade von der amerikanischen Firma John Deere übernommen worden.
In der neuen Betriebsphilosophie war kein Platz für die bisher übliche
Frühstückspause mit Bier und Wurstbrot. Die Arbeiter sollten sich am Firmenkiosk
verköstigen. Bier hatte der nicht im Sortiment. Der Streik war erfolgreich. Ein
spätes Echo dieses klassenkämpferischen Bierdurstes war Gerhard Schröders
legendärer Spruch "Hol mir mal 'ne Flasche Bier, sonst streik ich hier".

Das schrittweise Verschwinden des Bieres aus der Arbeitswelt begann erst vor
etwa 20 Jahren. Ein generelles Alkoholverbot am Arbeitsplatz gibt es in
Deutschland bis heute nicht. Die gleichwohl so selbstverständliche Verknüpfung
von Arbeit und Abstinenz gehört zu den jüngsten Errungenschaften unserer
Kulturgeschichte, und man muss sich fragen, ob wir darauf besonders stolz sein
sollen. Man kann sich schon darüber Gedanken machen, warum wir in dem Gefühl
einer immer größer werdenden individuellen Freiheit leben und uns gleichzeitig
immer strengerer Disziplin unterwerfen.

Manche Bierreklame, die gerade dreißig oder vierzig Jahre alt ist, wirkt heute
wie ein Tabubruch. Kinder holen Bier für Papa. Die Frau bringt dem hoch auf dem
Traktor sitzenden Landmann das Bier auf den Acker. Weiß bekittelte Ärzte mit
grauer Schläfe empfehlen das Bier wegen seines Nährwertes und seiner vielen
Mineralstoffe. Dass Bier "flüssiges Brot" sei, ist keine zynische Parole der
Brauereiindustrie, die von den Gefahren des Alkoholkonsums ablenken will,
sondern eine ziemlich präzise Formel für die Funktion, die das Getränk bis ins
frühe 20. Jahrhundert hatte.

Es war Grundnahrungsmittel für alle vom Kleinkind bis zum Greis. Solange der
Zugang zu sauberem Trinkwasser schwierig bis unmöglich war, gehörte das
Bierbrauen zu den wichtigsten seuchenprophylaktischen Hygienemaßnahmen. Das Bier
deckte einen guten Teil des Kalorienbedarfs in den unteren
Gesellschaftsschichten. Ohne Bier kann man sich die Industrialisierung schwer
vorstellen.

Das Brauhaus Essen warb 1920 mit einem bemerkenswerten Plakat für sein
"Kraftbier". Eine erschöpfte Arbeiterfamilie - Vater, Mutter, Kind - sitzt
völlig erschöpft an einem groben Holztisch. Doch der Mann hat das rettende Glas
Bier schon in der Hand und hält es hoch wie einen Abendmahlskelch. Auf dem
Plakat steht: "Kraftbier. Nahrhaft und haltbar. Alkoholarm. Hervorragendes
Familiengetränk". In der Schwerindustrie und im Bergbau wurde das Biertrinken
gefördert. Es galt auch als probates Mittel, den "Branntweinteufel" zu
vertreiben. Auf Kalorienzufuhr in Form von Alkohol konnte und wollte der
Proletarier nicht verzichten. War das Bier zu teuer, griff er zum billigen
Schnaps.

In vorindustriellen Zeiten war das Bierbrauen übrigens Frauensache. Ein


Gärbottich gehörte oft zur Aussteuer. Das Bier wurde dort getrunken, wo es
gebraut wurde. Die Industrialisierung erfasste im 19. Jahrhundert sowohl die
Produktion wie die Distribution des Bieres. Die Bierkutsche mit den schweren
Brauereipferden gehört heute unverzichtbar zur Bierfolklore.

Die normierte Bierflasche, der Kronenkorken, der Bierkasten - das alles sind
Alltagsgegenstände, die jeder tagtäglich im Auge oder in der Hand hat. Wenn man
allerdings über das kulturelle Elementarphänomen Bier nachdenkt, geht man mit
anderen Augen in den Getränkemarkt. Jedenfalls taten das die Mannheimer
Ausstellungsmacher. Ihnen kam im Getränkemarkt, wo Kistenstapel die Räume
definieren, die entscheidende Gestaltungsidee. Deswegen steht man in Mannheim
zwischen lauter Bierkisten.

Bier. Braukunst und 500 Jahre deutsches Reinheitsgebot. Technoseum, Mannheim,


bis 24. Juli.

UPDATE: 19. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Hol mir mal 'ne Flasche Bier: Alkoholverpackung aus dem 19. Jahrhundert
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Die Welt

Montag 22. Februar 2016

"Man sollte den Mindestlohn senken";


Aber nicht nur für Flüchtlinge, sagt Top-Ökonom Clemens Fuest. Denn das würde
heimische Arbeitnehmer aus dem Markt drängen

AUTOR: Jan Dams

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft; S. 10 Ausg. 44

LÄNGE: 1443 Wörter

Der Ökonom Clemens Fuest soll in diesem Jahr Hans-Werner Sinn als Ifo-Chef
ablösen. Mit der "Welt" sprach Fuest über zwei Probleme der deutschen
Wirtschaft: den schier unaufholbaren Rückstand bei der Digitalisierung - und den
ungezügelten Zuzug von Flüchtlingen.

Die Welt:

Clemens Fuest:

Das sind zwei sehr unterschiedliche Gebiete. Aber eines ist klar: Für unseren
Wohlstand ist das Thema Digitalisierung in den nächsten 10, 20 Jahren sehr
wichtig. Wir reden da über Technologien, die disruptiv sein können, die
Geschäftsmodelle von Unternehmen zerstören können, ganze Industrien grundlegend
verändern. Deshalb ist das Thema von zentraler Bedeutung für uns.

Sie sagten kürzlich, in der Digitalisierung steht es zwischen den USA und
Deutschland 1:0. Hand aufs Herz, mit Google, Apple, Facebook steht es doch
längst 10:0.

Bei den Internetunternehmen sind wir sicherlich ganz hinten dran und Länder wie
die USA oder auch Südkorea sind uns längst enteilt. Allerdings hat Deutschland
seine Stärken in der Industrie. Es bringt uns wenig, in Sektoren
hinterherzulaufen, in denen wir chancenlos sind. Wir müssen sehr aufpassen, dass
die Bereiche, in denen wir stark sind, wie die Industrie, ihre Wertschöpfung
behalten.

Unsere Vorzeigeindustrie ist der Autobau. Macht nicht gerade die VW-Krise
deutlich, dass wir auf diesem Feld zu stark traditionellen Technologien
verhaftet sind und daher bei Themen wie Elektromobilität oder autonomen Fahren
abgehängt werden?

Das ist übertrieben. Trotzdem gibt es Gefahren, zum Beispiel mit dem möglichen
Ende der Motoren mit fossilen Brennstoffen. In dieser Technologie haben wir
heute große Wettbewerbsvorteile. Aber ich glaube, die großen Automobilhersteller
haben verstanden, dass sie da etwas unternehmen müssen. Aus meiner Sicht ist
eher gefährlich, dass wir im Bereich Autobau ein Klumpenrisiko für den Standort
haben. Was passiert denn, wenn die Leute keine teuren Autos mehr haben wollen?

Dann hat Deutschland ein Problem.

Eben. Bislang lebt unsere Industrie davon, dass sie Fahrzeuge für das höhere
Qualitätssegment herstellt. Die Frage ist, wie groß da die Wachstumschancen im
Vergleich zu anderen Formen der Mobilität sind. Also zu kleineren Elektroautos
oder Mobilitätssystemen wie Drive Now oder Car to go. Für die Menschen geht es
zunehmend darum, mobil zu sein. Die Frage, welches Auto man besitzt, wird
dagegen unwichtiger.

Was muss sich in Deutschland ändern, damit wir in neuen Industrien nach vorn
kommen oder zumindest nicht abgehängt werden?

Kaufprämien für Elektroautos halte ich für eine Schnapsidee. Das bringt nichts.
Das führt nur dazu, dass eher kleine ausländische Autos gekauft werden. Das ist
sehr teuer und man erreicht wenig damit. Wir würden den gleichen Fehler
wiederholen, den wir bei den erneuerbaren Energien gemacht haben. Es wäre
vielversprechender, das Geld in die Förderung von Forschung zu Elektromobilität
fließen zu lassen.

Die Deutschen halten die Flüchtlingskrise für bedrohlicher als die


Wettbewerbsnachteile in der Digitalisierung. Die meisten Ökonomen - Sie auch -
sahen Ende 2015 durch die Flüchtlingswelle vor allem extrem hohe Kosten auf die
Gesellschaft zukommen. Anders auch als die Industrie anfangs. Woher rührt die
große Skepsis?

Zum Beginn der Debatte herrschte bei vielen Euphorie. Die ökonomischen Probleme,
die die Zuwanderung hat, wurden ausgeblendet. Ich habe das von Anfang an gesagt
und geschrieben und fühle mich heute bestätigt. Man hat sich in der Diskussion
nicht wirklich gefragt, was bedeutet das Ganze ökonomisch, sondern was für ein
Gefühl habe ich, wenn da Menschen, denen es nicht gut geht, über die Grenze
kommen. Das ist eine sympathische Haltung, und ich bin sehr dafür, zu helfen.
Aber da kommen Leute, die nicht mehr in die öffentlichen Kassen einzahlen
werden, als sie herausbekommen. Daraus folgt, dass die Inländer von diesem
Zustrom nicht profitieren.

Also sind Sie dafür, die Grenzen dicht zu machen?

Die Bundesregierung sollte versuchen, eine Gruppe von Ländern zusammenzubringen,


die bereit ist, die Grenzen nach außen stärker zu kontrollieren, die bereit ist,
stärker zusammenzuarbeiten. Ich halte es für schwierig, wenn Deutschland
national vorgeht. Das ist nicht die ultima ratio, aber so weit sind wir noch
nicht. Deutschland sollte versuchen, nicht nur mit Österreich, sondern auch mit
Frankreich, den Benelux-Ländern und Italien zu einer besseren Kontrolle der
Außengrenzen zu kommen. Ich finde es hochproblematisch, wenn behauptet wird,
dass über Immigration nach Europa in Ankara entschieden wird. Wir werden die
Zuwanderung kontrollieren müssen. Auf Dauer kann man entweder einen Sozialstaat
haben oder ungesteuerte Zuwanderung, mit Sicherheit aber nicht beides.

Politisch wird darüber diskutiert, ob man die Flüchtlinge möglichst schnell


integrieren soll, oder ob man das besser nicht tut, damit sie nach Ende des
Krieges in Syrien möglichst schnell nach Hause gehen. Was ist ökonomisch besser?

Jeder, der qualifiziert ist, jeder, der einen Ausbildungsplatz annimmt und
behält, jeder, der in der Schule Fortschritte macht, sollte das Angebot
erhalten, hier zu bleiben, selbst wenn er kein Asylrecht bekommt. Wir brauchen
ja qualifizierte Zuwanderung.

Herr Sinn ist eher dafür, die Neuankömmlinge im Niedriglohnsektor zu


integrieren, als sie auszubilden. Ihr Weg ist das nicht?

Es ist richtig, dass nicht jeder Zuwanderer gleich ausbildungsfähig ist. Man
kann den Leuten im Übrigen ohnehin nichts befehlen. Wir sollten möglichst gute
Ausbildungsangebote machen. Dort, wo das Potenzial da ist, sollten wir es
nutzen. Wir dürfen uns nur keine Illusionen machen, dass daraus massenhaft
hochqualifizierte Leute entstehen. Wir müssen gleichzeitig aufpassen, dass wir
unsere bewährten Ausbildungssysteme nicht mit einer Ausbildung Light
unterminieren.

Würden Sie unsere Sozialstandards für Flüchtlinge auf ein allgemeines


europäisches Niveau absenken, um die Zuwanderung weniger attraktiv zu machen?

Der Umfang, in dem wir Sozialleistungen senken können, ist begrenzt. Einige
Länder tun ja gar nichts, dort entsteht Not und Elend für die Menschen. Das
wollen wir nicht. Aber wir sollten noch stärker zu Sachleistungen übergehen. Das
aktuelle Niveau der Sozialleistungen in Deutschland lässt sich mit
unkontrollierter Zuwanderung nicht halten.

Die Union diskutiert über die Abschaffung des Mindestlohns. Ist das sinnvoll
oder politisch gefährlich?

Manches, was ökonomisch sinnvoll ist, sorgt politisch für Ärger. Man muss
vorsichtig sein, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge zu senken. Es wird ja auch
darüber diskutiert, sie wie Langzeitarbeitslose zu behandeln. Wir sollten die
Instrumente nutzen, die es gibt. Allgemein ist es richtig, darüber zu
diskutieren, ob wir den Mindestlohn so halten können. Derzeit wird ja sogar
darüber diskutiert, den Mindestlohn wie die anderen Tariflöhne zu steigern.
Darüber muss man noch einmal nachdenken. Man sollte ihn mindestens einfrieren,
besser sogar senken, denn die Lage hat sich geändert.

Welche Höhe angemessen?

Ich möchte da keine Zahl in die Runde werfen. Aber der Mindestlohn muss für alle
gelten, sonst werden die heimischen Arbeitskräfte aus dem Markt gedrängt. Das
würde zu einer bösen Debatte führen, die wir nicht haben wollen.

Jahrelang hat man den Bürgern erklärt, dass wegen der hohen Schulden viele
Schulen geschlossen werden müssen, warum die Polizei verkleinert wird, warum es
weniger Schwimmbäder gibt. Jetzt, wo die Flüchtlinge kommen, will man
investieren, in Schulen, Kitas und so weiter. War die Sparpolitik falsch?

In den vergangenen 15 Jahren hat es einen Trend gegeben, Ressourcen in den


Ausbau von Sozialleistungen wie Renten oder Pflegeleistungen zu leiten, während
man im Kernbereich der öffentlichen Aufgaben abgebaut hat. Das betrifft nicht
nur die Investitionen. Das betrifft zum Beispiel Polizei und Verteidigung. Der
Staat hat seine Kernaufgaben vernachlässigt zugunsten einer Expansion des
Sozialstaats. Diese Strukturen muss man überdenken.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat die Flüchtlingskrise als Rendezvous


mit der Globalisierung bezeichnet. Sind die Verlierer der Globalisierung in
Deutschland nicht auch jene Bevölkerungsgruppe, die die Kosten dieses Rendezvous
trägt?

Wir erleben schon länger, dass die Globalisierung die hoch Ausgebildeten
begünstigt, die weniger gut Ausgebildeten benachteiligt. Es wird eine gewisse
Konkurrenz dieser Gruppe mit den Flüchtlingen geben - um Jobs, um Wohnungen, um
Sozialleistungen. Wie gravierend diese Konkurrenz ist, wird von der Flexibilität
des Arbeits- und Wohnungsmarktes abhängen. Wenn wir hier Überregulierungen wie
die Mietpreisbremse oder das Zurückdrängen der Leiharbeit abbauen, sind die
Probleme lösbar.

UPDATE: 22. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: pa/Sven Simon/FrankHoermann


FrankHoermann/SVEN SIMON

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Die Welt

Dienstag 23. Februar 2016

Schuld sind immer die anderen;


Ein Theatermann fährt nach Clausnitz, um zu sehen, wie es den Flüchtlingen nach
dem hasserfüllten Empfang geht. Politiker suchen derweil nach Erklärungen für
Fremdenfeindlichkeit in Sachsen

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 45

LÄNGE: 1222 Wörter

Es sind diese Bilder aus Clausnitz. Der verängstigte Flüchtlingsjunge im Bus,


der von einem Polizisten gepackt und herausgezerrt wird. Drumherum eine grölende
Menge. Robert Koall, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, hat sich das
Video angeschaut, mehrfach. Bis er dachte: "Ich halte das einfach nicht mehr
aus", sagt er der "Welt". In der Hoffnung, "vielleicht irgendetwas beitragen zu
können", steigt er ins Auto und fährt von Dresden nach Clausnitz. Er will sich
selbst ein Bild machen, will sehen, wie es den Flüchtlingen aus dem Bus geht -
und dem Jungen, Luai, eine Schokolade schenken.

Am vergangenen Donnerstag hatten gut 100 Menschen den Bus vor der Unterkunft in
dem Erzgebirgsort blockiert und die Insassen angepöbelt. Der Leiter des
Flüchtlingsheims räumt nach den Ausschreitungen nach der Kritik an den
Ereignissen seinen Posten. Der Clausnitzer Bürgermeister Michael Funke
(parteilos) macht für die Feindseligkeiten gegen Flüchtlinge in seiner Gemeinde
Auswärtige verantwortlich.

Von seinem Ausflug in die sächsische Provinz schreibt Chefdramaturg Koall auf
Facebook. Rund 18.000 Likes bekam der Post, mehr als 7000 Menschen haben ihn
geteilt. "Es sollte ein Mutmach-Post sein", sagt Koall, "ich bin ganz berührt,
wie viele Menschen sich angesprochen gefühlt haben." Nur ein einziger Kommentar
ist bis jetzt negativ. "Das macht schon ein bisschen Mut." Koall beschreibt die
Landschaft auf dem Weg von Dresden nach Clausnitz. "Die Gegend ist einsam,
autoleer, menschenleer an diesem verhangenen Sonntag. Der Weg führt vorbei an
Erdstoffdeponien, KFZ-Barankaufstellen, einem alten Sägewerk, Baustoffhöfen und
Baumaschinendepots. Und immer wieder an Leerstand. Dies sei offensichtlich eine
Gegend mit zweifelhafter Zukunft, "ein Landstrich, der von den Menschen
verlassen wird. Sächsische Wirtschaftsflüchtlinge. Dazwischen der krasse
Gegensatz der Einfamilienhäuser, deren frisch gestrichene Fassaden vom festen
Willen künden, es sich schön zu machen hier im feuchten Tal."

In Clausnitz angekommen steht er vor dem blassgelben Mehrfamilienhaus, das seit


dem Wochenende traurige Berühmtheit erlangt hat und in dem jetzt Flüchtlinge
leben. "Ich rechnete damit, dass sofort ein Wachdienst kommen würde und mich
fragen, was ich denn hier will", sagt Koall dieser Zeitung. Doch nichts
geschieht, alles ist vollkommen still, die Jalousien heruntergelassen. "Ich
klingelte dann einfach unten rechts, wie man das so macht", erzählt Koall. Der
Türsummer geht, und er betritt ein enges Treppenhaus. Auf dem ersten Absatz
steht ein Junge und schaut neugierig. "Ich bin so perplex, dass ich ihm als
erstes Schokolade anbiete", schreibt Koall. "Ob er nicht der Junge aus dem Bus
sei? Bist Du Luai Khatum?" Der Dramaturg schildert, wie der Junge strahlt, wie
er seine Mutter dazu holt und noch andere Verwandte. "Auf seine Prominenz ist
Luai auf verlegene Weise stolz." Die Verständigung ist schwierig, Luai spricht
ein paar Brocken Deutsch. Was sie denn bräuchten, habe er die Menschen im Haus
gefragt, wie man ihnen am besten helfen könne. Und da sagt Frau Khatum
tatsächlich: "Wir haben alles, was wir brauchen: Frieden und Sicherheit. Wir
sind sehr dankbar."

Es sind ein paar Dutzend Menschen, die dort in Clausnitz nun leben sollen. Sie
kommen aus dem Iran, dem Libanon, Syrien und anderen Ländern. Koall wundert
sich: "Keiner weiß, was sie hier sollen. Und ich weiß es auch nicht. Diese
Gegend ist schön, aber verödet, sogar Fuchs und Hase sind hier nicht mehr. In
was für eine Gesellschaft soll man sich hier integrieren? Selbst mir ist das
alles völlig fremd. Wie kann man hier ankommen? Wie soll man hier Anschluss an
ein Land finden? Dazu ganz praktische Probleme. Wo ist hier der nächste Arzt?
Der nächste Edeka ist kilometerweit weg, der nächste Discounter 10 Kilometer.
Busse fahren selten." Es ist ein trostloses Szenario, das der Dresdner
Theatermann dort beschreibt. Kein Ort, an dem man gern ein neues Leben anfangen
möchte. Und dennoch: "Das alles wäre ein lösbares Problem. Wenn man willkommen
wäre."

Nach den ausländerfeindlichen Zwischenfällen in Clausnitz bekommt das


Flüchtlingsheim in der mittelsächsischen Gemeinde einen neuen Leiter. "Wir haben
die Entscheidung zum Schutz seiner Person und durch die bundesweite Diskussion
über ihn getroffen", erklärte Landrat Matthias Damm. Nach Medienberichten
gehörte der Leiter der AfD an. Die fremdenfeindlichen Proteste in Clausnitz
hatte nach MDR-Recherchen der Bruder des Einrichtungsleiters mitorganisiert. In
einem Interview des TV-Magazins "Exakt" begründete der die Aktion: Er und seine
Mitstreiter aus dem Dorf hätten zeigen wollen, dass man nicht mit der
Asylpolitik in Deutschland einverstanden sei. Dass die Situation eskaliert sei,
habe man nicht gewollt - aber nicht verhindern können, behauptete er.

Der Landrat verurteilte die Art des Protestes: "Eine ablehnende Minderheit
vermittelt ein Menschenbild, welches unserer Region überhaupt nicht entspricht."
In der Vorwoche waren hier erstmalig Wohnungen mit 20 Asylsuchenden belegt
worden. Bürgermeister Funke sagte beim Besuch der sächsischen
Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) im Ort, er habe die Krakeeler nicht
gekannt. Funke sprach von "Krawalltouristen" und "Demotouristen". Zugleich
beteuerte er, dass er sich für die Anfeindungen schäme. Integrationsministerin
Köpping verurteilte Frust und Hass in Bezug auf Flüchtlinge. Dies sei der
absolut falsche Weg. Zugleich appellierte sie daran, bei allen Diskussionen um
Ausländerfeindlichkeit in Sachsen auch die vielen Helfer nicht zu vergessen, die
sich um Flüchtlinge kümmerten. Klare Töne fand die Bundeskanzlerin: Was im
sächsischen Clausnitz geschehen sei, "ist zutiefst beschämend, kaltherzig und
feige", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert im Namen von Angela Merkel
(CDU).

Die Polizei hat indes eine Ermittlungsgruppe zu den Anfeindungen gegen


Flüchtlinge und dem umstrittenen Einsatz von Beamten eingesetzt. Elf Ermittler
sollen die Geschehnisse komplex bewerten, teilte die Polizeidirektion Chemnitz
mit. Videos von dem Geschehen belegen auch ein hartes Vorgehen der Polizei. Drei
Flüchtlinge wurden unter Zwang aus dem Bus gezerrt.

Die Polizei verteidigte ihr Vorgehen als "absolut notwendig" und


"verhältnismäßig". Sie habe die Menschen aus dem Bus in das Gebäude in
Sicherheit bringen wollen. Rückendeckung gab es vom sächsischen Innenminister
Markus Ulbig und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (beide CDU). "Es war
richtig, alle Asylbewerber schnell aus dem Bus zu bringen", sagte de Maizière in
der ARD. Dennoch hielt die Kritik an dem Polizeieinsatz auch am Montag an.

Im Fall des Brandanschlags auf eine Asylunterkunft in Bautzen sorgt ein


Strafbefehl des Amtsgerichts gegen den Chef einer örtlichen Sicherheitsfirma
wegen ausländerfeindlicher Hetze auf Facebook für neues Aufsehen. Der Mann hatte
geschrieben, seiner Meinung nach würden noch zu wenige Asylunterkünfte brennen,
wie das Gericht mitteilte. Die Staatsanwaltschaft sah den Tatbestand der
Volksverhetzung erfüllt und beantragte eine Geldstrafe von 6000 Euro. Der Antrag
auf Strafbefehl in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 150 Euro war nach Angaben des
Gerichts jedoch noch vor dem jüngsten Anschlag auf eine geplante
Flüchtlingsunterkunft in Bautzen gestellt worden. Die Äußerungen des Firmenchefs
hatten zu mehreren Strafanzeigen geführt.

UPDATE: 23. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Jan Woitas


Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) besucht mit dem
Bürgermeister Michael Funke (parteilos) die Flüchtlingsunterkunft in Clausnitz
Jan Woitas

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Die Welt

Dienstag 1. März 2016

Mit Hegel lernen, das Bomben zu lieben;


In Wirklichkeit ein Linksradikaler? Ein Historiker beschreibt, wie Henry
Kissinger die USA auf den Kriegspfad führte - und wie oft er dabei log

AUTOR: Hannes Stein

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 21 Ausg. 51

LÄNGE: 1152 Wörter

Natürlich ist Henry Kissinger, der in diesem Jahr 93 wird, längst eine Popfigur.
Mit seinem Gesicht, das geradezu danach schreit, karikiert zu werden -
Hornbrille, hohe Stirn, Schmollmund - hat er Künstler des Underground
inspiriert. Sein orgelnder Bass, sein fränkischer Akzent, wenn er Englisch
spricht (er ist im Alter eher noch breiter geworden) machen ihn in Amerika
vollends unverwechselbar. Auch Leute, die in jungen Jahren wütend gegen seine
Politik demonstriert haben, bezeichnen ihn mittlerweile als Freund und fragen
ihn um Rat, wenn es um Außenpolitik geht. Hillary Clinton ist das berühmteste
Beispiel.

Dem linken Historiker Greg Grandin, der sich sehr gut in Lateinamerika auskennt,
lässt all dies keine Ruhe. Er hat jetzt ein essayistisches Pamphlet vorgelegt
("Kissinger's Shadow", Metropolitan Books, New York 2016, 270 S.), in dem er
noch einmal die Untaten des Henry Kissinger vor uns Revue passieren lässt.
Kissinger, schreibt Grandin, habe sich 1969 ins Amt des Nationalen
Sicherheitsberaters gemogelt, indem er Richard Nixon, als der sich noch im
Wahlkampf befand, geheime Informationen über die Friedensverhandlungen mit
Nordvietnam steckte - dies habe zur Folge gehabt, dass der Vietnamkrieg, der
eigentlich schon verloren war, sich noch ein paar Jahre länger hinzog. Er habe
lateinamerikanische Regimes wie jenes von Augusto Pinochet in Chile unterstützt
und sei tief in die "Operation Condor" verstrickt gewesen, bei der Geheimdienste
von sechs lateinamerikanischen Militärdiktaturen zusammenarbeiteten, um Linke zu
verfolgen und zu ermorden. Kissinger habe den indonesischen Diktator Suharto
ermutigt, in Osttimor einzumarschieren, er habe Pakistan unterstützt, als es
einen genozidalen Krieg gegen die Bengalen führte, die sich gerade ihren
unabhängigen Staat Bangladesch erkämpften.

Doch all diese Verbrechen verblassen laut Greg Grandin im Vergleich mit dem
eigentlichen Skandal: dem amerikanischen Bombardement des neutralen Kambodscha,
einem kriegerischen Akt, über den der amerikanische Kongress vorsätzlich hinters
Licht geführt wurde. Hier könne man nicht mehr beschönigend sagen, Kissinger
habe ja nur diplomatische Kontakte mit Ungeheuern im Ausland gepflegt; man könne
auch nicht behaupten, diese Ungeheuerlichkeit wäre - wie im Falle von
Bangladesch - wahrscheinlich auch ohne Kissingers Mitwirken passiert. Hier waren
die Vereinigten Staaten der unmittelbare Akteur, und 100.000 Menschen kamen ums
Leben. Und das Prinzip, dass Nationalstaaten (neutrale zumal) unverletzlich
seien, wurde brutal verletzt.

Henry Kissinger gilt seinen vielen Gegnern wie seinen Bewunderern als Realist.
Hier macht Greg Grandin eine interessante Entdeckung: Dieser Realist schert sich
nicht viel um die Realität. Wenn die Tatsachen seinem Weltbild im Wege stehen,
hält er es mit Hegel und sagt: "Umso schlimmer für die Tatsachen!" Laut
Kissinger ist die Wirklichkeit, wie man sie vorfindet, nicht bedeutsam - viel
wichtiger sei die Wirklichkeit, die man durch sein Handeln schafft. Hier darf
man an Karl Marx und seine elfte These zu Feuerbach denken: "Die Philosophen
haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu
verändern."

Henry Kissinger, schreibt Greg Grandin, sei eigentlich ein radikaler Linker.
Allerdings habe dieser hegel-marxistische Kopf seinen revolutionären
Enthusiasmus für rechte Ziele eingesetzt. Und das Mittel zur Weltveränderung sei
für Kissinger immer der Krieg gewesen. Deswegen lässt Greg Grandin die üblichen
Argumente, die zugunsten Kissingers vorgebracht werden, nicht gelten: Er habe
durch den von ihm eingefädelten Überraschungsbesuch bei Mao Tse-tung die
Entspannungspolitik mit der Sowjetunion möglich gemacht, er habe die
Verhältnisse im großen Ganzen mit machiavellistischen Methoden befriedet. Nein,
schreibt Grandin: Kissinger habe Amerika auf den Pfad des ewigen Krieges
geführt, und auf diesem Kriegspfad wandle es mit Obamas Flugzeugdrohnen heute
noch.

Es gab schon einmal ein wütendes Anti-Kissinger-Buch: "The Trial of Henry


Kissinger" des britischen Journalisten Christopher Hitchens, das seinerzeit zum
Bestseller wurde. Dort stand, Kissinger sei ein Kriegsverbrecher und gehöre
hinter Gitter.

Grandin geht es eher um die Folgen von Kissingers Politik, um den


"Kissingerismus". Auch Kissingers Gegner betreiben laut Grandin längst
Kissingers Politik - Grandin hat hier vor allem die "neocons" im Auge.

Und nun darf der aufmerksame Leser zum ersten Mal eine skeptische Augenbraue
lüpfen: Macht es denn wirklich keinen Unterschied, ob man, wie Henry Kissinger,
viele autoritäre Regime gut findet (und sogar noch ein Monster wie Mao
bewundert) oder ob man, wie der "neocon" Reuel Marc Gerecht, die Demokratie der
Diktatur allemal vorzieht, auch wenn sie die Muslimbrüder an die Macht spült?
Ist es unerheblich, ob man, wie Kissinger, zum großen Heer der Putin-Versteher
gehört oder ob man, wie die "neocons", Putin für einen Feind hält, der bekämpft
werden muss?

Die andere skeptische Augenbraue hebt der Leser, wenn er sich klar macht, dass
Amerikas Feinde in Greg Grandins Buch entweder keine Rolle spielen oder schlicht
nicht vorkommen. Eigentlich beschreibt er nur die Verbrechen der Roten Khmer
halbwegs detailliert - denn er hält es für die Schuld Kissingers, dass sie an
die Macht kamen. Das nordvietnamesische Regime dagegen firmiert als "Einiger
Vietnams" und Kämpfer gegen den Kolonialismus. Halten zu Gnaden: Ho Chi Minh und
Genossen haben die Südvietnamesen nach ihrem Sieg über Amerika der üblichen
kommunistischen Behandlung unterzogen - künstliche Hungersnot,
Konzentrationslager, Terror. 800.000 Vietnamesen haben ihr Leben damals lieber
dem Südchinesischen Meer anvertraut, als sich von den Kommunisten ermorden zu
lassen; viele sind ertrunken.

Vollends grotesk wird Greg Grandins Geschichtsklitterung aber, wenn man den
Nahen Osten betrachtet: Solche Kleinigkeiten wie das Regime der Ajatollahs im
Iran werden von diesem Historiker mit keinem Wort erwähnt. Der gesamte
nahöstliche Schlamassel ist laut Grandin einzig und allein die Schuld von
Kissinger und Konsorten.

Vor allem aber stellt sich die Frage: Was lernen wir daraus? Ja, Amerika hat im
kalten Krieg - den die Sowjetunion eine Zeitlang zu gewinnen schien -
entsetzliche und brutale Regimes unterstützt. Ja, amerikanische Soldaten haben
oft und mit Lust Kriegsverbrechen begangen. Das ist vielfach dokumentiert und
erforscht. Und weiter? Amerika hat seine Truppen aus dem Irak und Afghanistan
weitgehend zurückgezogen. Es hat einen Deal mit einem erklärten Feind, der
"Islamischen Republik Iran", abgeschlossen. Es hat den von ihm unterstützten
Diktator - Ägyptens Präsidenten Mubarak - bei der ersten Gelegenheit im Stich
gelassen und den von ihm nicht unterstützten Diktator - Syriens Präsidenten
Baschar al-Assad - gewähren lassen. Als Resultat sind rund um den Globus
bekanntlich blühende Landschaften entstanden. Nicht wahr?

UPDATE: 1. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Keystone/Getty Images; Hans Jörg Michel


Wie er sich selbst am liebsten sieht: Kissinger, der Jet-Set-Diplomat und
Politik-Star
Keystone/Getty Images

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Die Welt
Dienstag 1. März 2016

Kampf um die Besten;


Klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien suchen sich
genau aus, wen sie brauchen. In die EU kommen zu viele Menschen mit geringer
Qualifikation

AUTOR: Gunnar Heinsohn

RUBRIK: FORUM; Essay; S. 2 Ausg. 51

LÄNGE: 1223 Wörter

Für den ökonomischen Spitzenplatz eines Landes braucht es die Garantie von
Sicherheit, Eigentum und Freiheit, eine Geldschöpfung durch eigenkapitalstarke
Zentralbanken sowie die stetige Höherqualifizierung der Bevölkerung. Die ersten
drei Pfeiler bröseln derzeit. An gutes Geld wird fast überall die Axt gelegt,
und selbst wer von eins bis vier vieles richtig macht, schwankt beim Personal.
Denn die Anforderungen wachsen, während die Geburtenraten fallen. Und selbst in
Ländern wie Dänemark und Norwegen mit optimalen und kostenlosen Bildungssystemen
schrumpfen die IQs.

Deshalb verläuft die Rivalität der Nationen nirgendwo erbarmungsloser als im


Kampf um die klügsten Köpfe. Am härtesten wird er naturgemäß an der Spitze
ausgetragen: 1,25 Milliarden Menschen europäischen Ursprungs von Alaska über
Israel bis Neuseeland ächzen gegen 1,6 Milliarden Ehrgeizige aus dem Sino-Block
sowie Japan und Korea. Die übrigen 4,5 Milliarden aus rund 150 Staaten hoffen
auf Monopolgewinne, lokale Spezialitäten oder Brosamen von den Siegertischen.
Allein aus Afrika und dem Islambogen wollen bis 2050 Hunderte Millionen nach
Europa, wohl auch, um in die verlockenden Sozialsysteme einzuwandern.

Kompetenzfestungen wie Amerika, Kanada und Australien - Grenzen weit offen, aber
nur für Asse - verschließen diesem Ansinnen die Tore. Sie sind einem einfachen
Kalkül unterworfen: Wenn Transferempfänger so viele Steuern verschlingen, dass
die zahlenden Firmen und Talente den Mut verlieren, bricht das System. So bleibt
vor allem der Brüsseler Bund das Mekka der Hoffnungslosen. Was bringen sie mit?
Bei der letzten Schüler-Mathematik-Olympiade (TIMSS 2011), die Südkorea mit 613
Punkten gewann, schafften die besten Araber 456 und die Besten aus dem
Subsahara-Raum 331 Punkte. Nur ihre Klassenbesten würden hier das Niveau nicht
noch weiter absenken. Doch die sind auch daheim heiß umworben und steigen nicht
in die Boote.

Beim Befestigen des alles entscheidenden Talentpfeilers führt Singapur. Dort


wurde das Klügermachen der Bürger zuerst Regierungsauftrag, weil nur permanente
Überqualifizierung den Dampf für Innovationen liefert. Bei der "Brainpower" -
sie misst den Anteil der Schüler an der anspruchsvollsten Mathegruppe - steht
man mit 91 Assen unter 1000 Kindern global auf Platz eins (Pisa 2012). Weil
Deutschland mit 26 auf Rang zwölf landet, konnte Singapur zwischen 1980 und 2015
von 80 auf 180 Prozent der hiesigen Pro-Kopf-Leistung zulegen. Taiwan (mit 59
Assen Dritter) und Hongkong (mit 60 Zweiter) gehen von 36 auf 100
beziehungsweise von 62 auf 120 Prozent. Südkorea zieht von 20 auf 76 Prozent
heran. Am steilsten jedoch wächst China. Obwohl das Wirtschaften dort erst 1978
erlaubt wird, springt man um den Faktor zehn von 2,8 auf 28 Prozent.

Die allzeit stärkste Generation chinesischer Macher (25 bis 29 Jahre) geht mit
130 Millionen Köpfen ins Rennen. Rund 30 Prozent der Universitätsabsolventen
haben MINT-Fächer studiert (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften,
Technik) gegen nur 17 Prozent im Westen, wo Theaterwissenschaftler und
Kommunikationsberater immer stärker nach vorne kommen. In Deutschland stemmen
sich fünf Millionen dagegen, von denen ein Drittel nicht rechnen kann. Geht es
nach der Kanzlerin, sollen sie zudem die "Lebensbedingungen" in einem Raum von
jetzt zwei Milliarden und bald 3,5 Milliarden Einwohnern zwischen Marokko und
Indonesien so weit "verbessern", dass deren Verzweifelte nicht mehr ans
Auswandern denken.

Gleichwohl bleibt das rasante Einholen und Überholen der Ostasiaten fragil, weil
sie bei Kindern pro Frauenleben weltweit ganz unten stehen: Singapur (0,81),
Macau (0,94), Taiwan (1,12), Hongkong (1,18) und Südkorea (1,25). Deutschland
sieht mit 1,44 besser aus, gewinnt die Zusatzzehntel aber vorrangig von
Bildungsfernen. China mit 1,6 sinkt in die Richtung der ethnischen Nachbarn. Das
siegessichere Lächeln darüber verfliegt allerdings schnell beim Blick auf das
Durchschnittsalter der 81 Millionen Deutschen von 47 Jahren - gegenüber "nur" 37
Jahren der 1,37 Milliarden Chinesen. Letztere stehen zu 74 Prozent zwischen 15
und 64 Jahren, während wir zwischen Rhein und Oder auf 66 Prozent kommen.

In Peking, Tokio und Canberra freut man sich darüber, dass die EU jetzt vor
allem Bevölkerungen aufnimmt, die ökonomisch niemals irgendeine Topindustrie
aufgebaut haben. Umgehend wirbt man mit neuen Standortvorteilen: Japans Premier
Shinzo Abe versprach jüngst, sein Land zum sichersten der Erde zu machen. Wer zu
uns kommt - so lautet die Botschaft - , ist frei von islamistischem Terror,
mörderischem Antisemitismus und sexuellen Massenattacken. In Europa hingegen
dürfte nach einem Sieg der Alliierten über das IS-Kalifat das Töten durch
Salafisten erst richtig losgehen, weil sie Ruhm oder Heldentod nicht mehr in
Syrien suchen können. Kombiniert mit einem Steuersatz von lediglich 25 Prozent
statt hierzulande 50 Prozent, was den Aufbau einer akzeptablen Altersversorgung
ermöglicht, haben die Konkurrenten aus der OECD ihre Standortvorteile für
schutzsuchende Könner ohne eigenes Zutun massiv vermehrt.

Auf Senioren allerdings freut man sich in den Kompetenzfestungen nicht. Gerade
den Alten aber hatte man in Berlin, Paris oder Rom durch junge Einwanderer ein
gepolstertes Alter versprochen. In Wirklichkeit müssen sie aus ihren Renten
lebenslang rentnerähnlich existierende, weil kaum vermittelbare Fremde
menschenwürdig bezahlen. Die Enttäuschung der Deutschen über 65 ist
verständlich. Denn der Migrationsbericht für 2014 zählt 13 Prozent Analphabeten
unter den 1,5 Millionen Neuankömmlingen sowie 77 Prozent Niedrig- bis
Mittelqualifizierte. Nach hohen Ausbildungskosten könnten sie Dieselmotoren
reparieren, die dem Land längst wie ein Mühlstein um den Hals hängen. Lediglich
jeder Zehnte - Oberschule, gelegentlich ein wenig Hochschule - könnte wirklich
etwas beitragen. Das wird auch bei den nächsten Flüchtlingen nicht besser; denn
- so eine aktuelle IWF-Studie - Immigranten sind auch nach 20 Jahren öfter
arbeitslos als der Rest in den Ländern ihres Willkommens.

Natürlich vergessen die Senioren auch die übrigen Ausgaben zu ihren Lasten
nicht. Wenn in Deutschland die Vermögen im europäischen Vergleich niedrig sind
und die Steuern hoch bleiben, damit es etwa für Griechen weiter stattliche
Renten gibt, dann hebt das nur bei Deutschlands Wettbewerbern die gute Laune. Es
steigert aber auch die Bereitschaft junger Altdeutscher, lieber in einem anderen
Land alt zu werden. Allein die ehemaligen Kronkolonien Australien, Kanada und
Neuseeland werben bis 2050 um 20 Millionen junge Könner. Dort locken neun der
zehn lebenswertesten Metropolen weltweit.

Überraschen kann all das nur Träumer oder Verdränger. Wer dagegen halb
alphabetisierte Menschen aus dem arabischen Halbmond holt und dann an die arme
Verwandtschaft in Europa umverteilen will, spürt dort nur unangenehme
historische Erinnerungen, aber keine Nächstenliebe. Die ostasiatische Konkurrenz
lernt aus alldem, dass die Deutschen ihre verlorenen Industrien - Telefone,
Computer, Kameras, Tonträger, Schiffe etc. - niemals zurückholen und
Zukunftsbranchen kaum aufbauen werden. Wer nicht verstehen will, dass die Besten
ihre Länder längst wie gute Arbeitgeber aussuchen, den bestraft das Leben.

Der Autor ist Publizist und emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der
Universität Bremen.

UPDATE: 1. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 3. März 2016

Arabien wieder aufbauen;


Als sich die arabische Welt durch Toleranz auszeichnete, war sie eine
Führungsmacht. Von jener Zeit sollten wir uns inspirieren lassen

AUTOR: Mohammed Bin Rashid Al-maktum

RUBRIK: FORUM; Essay; S. 2 Ausg. 53

LÄNGE: 1064 Wörter

In den letzten Wochen habe ich viele Fragen und Kommentare zu den jüngsten
Änderungen in der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gehört.
Warum, so scheint man sich allseits zu fragen, haben wir ein Ministerium für
Glück, Toleranz und Zukunft eingerichtet und warum haben wir eine 22 Jahre alte
Jugendministerin ernannt? Diese Änderungen sind Ausdruck der Lehren, die wir aus
den jüngsten Ereignissen in unserer Region gezogen haben. Insbesondere die
Nichtbeachtung der Ambitionen junger Menschen, die in den arabischen Ländern
über die Hälfte der Bevölkerung bilden, bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen.
Ohne die Energie und den Optimismus der Jugend können sich Gesellschaften nicht
weiterentwickeln; sie sind vielmehr dem Untergang geweiht.

Die Ursachen der Spannungen in unserer Region - die als "arabischer Frühling"
bekannten Ereignisse - liegen in den fehlenden Chancen junger Menschen, ihre
Träume und Ambitionen zu verwirklichen. Wir investieren in die jungen Menschen
und statten sie mit Fähigkeiten aus, eben weil sie unsere Zukunft sind. Wir sind
der Ansicht, dass sie sich Wissen rascher aneignen und verarbeiten, weil sie mit
technischen Werkzeugen und Möglichkeiten aufgewachsen sind, die wir in diesem
Alter nicht kannten. Wir vertrauen ihnen unser Land an, damit sie in neue
Bereiche des Wachstums und der Entwicklung vorstoßen.
Überdies haben wir aufgrund Hunderttausender Toter und Millionen von
Flüchtlingen in unserer Region gelernt, dass konfessioneller, ideologischer,
kultureller und religiöser Fanatismus das Feuer der Wut nur noch weiter schürt.
Das können und wollen wir in unserem Land nicht zulassen. Wir müssen Toleranz
lernen, weitergeben und praktizieren - und diesen Gedanken sowohl durch Bildung
als auch durch unser Vorbild unseren Kindern einpflanzen. Aus diesem Grund haben
wir auch eine Staatsministerin für Toleranz ernannt.

Als sich die arabische Welt durch Toleranz und Akzeptanz anderer auszeichnete,
war sie eine Führungsmacht: Von Bagdad über Damaskus bis Andalusien und noch
weit darüber hinaus waren wir die Leuchtfeuer der Wissenschaft, des Wissens und
der Zivilisation, weil menschliche Werte die Grundlage unserer Beziehungen zu
allen Zivilisationen, Kulturen und Religionen bildeten. Als unsere Vorfahren
Andalusien verließen, folgten ihnen sogar Menschen anderer Glaubensrichtungen.
Toleranz ist kein Schlagwort, sondern ein Wert, den wir hochhalten und
praktizieren müssen. Sie muss mit der Struktur unserer Gesellschaft verwoben
sein, um unsere Zukunft zu sichern und den erzielten Fortschritt zu erhalten.
Ohne einen intellektuellen Wiederaufbau, ohne ideologische Offenheit, Vielfalt
und die Anerkennung abweichender Standpunkte kann es im Nahen Osten keine
hoffnungsvolle Zukunft geben.

Jede Lektion, die wir lernen, ist von einer Entscheidung begleitet, die unsere
Zukunft gestaltet. Wir müssen daran denken, wie sich das Leben in einer Ökonomie
nach der Zeit des Öls gestalten wird. Aus diesem Grund haben wir massiv in
Schwerpunktprogramme im Hinblick auf die Zukunft der VAE investiert -
umgerechnet 74,6 Milliarden Euro - mit dem Ziel, uns auf eine diversifizierte
Ökonomie vorzubereiten, die künftige Generationen aus der Abhängigkeit von einem
ständig fluktuierenden Ölmarkt befreit. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es
erforderlich, unsere Systeme der Gesetzgebung, Verwaltung und Wirtschaft einer
vollständigen Überprüfung zu unterziehen, um die Abhängigkeit vom Öl hinter uns
zu lassen. Wir brauchen eine starke und angemessene Regulierungsinfrastruktur,
um für unsere Kinder und Kindeskinder eine nachhaltige und vielfältige nationale
Ökonomie aufzubauen.

Mit diesem Kommentar möchte ich anderen in der Region die deutliche Botschaft
übermitteln, dass der Wandel allein durch unser Handeln passiert. Unsere Region
braucht keine superstarke externe Macht, um vor dem Untergang bewahrt zu werden;
wir benötigen Stärke von innen, um jenen Hass und jene Intoleranz zu überwinden,
die das Leben in so vielen Nachbarländern zerstören. Ich möchte die Botschaft
aussenden, dass die Regierungen in unserer Region und anderswo ihre Rollen
überdenken müssen. Diese Rolle der Regierung besteht nicht darin, ein Umfeld zu
schaffen, das sie kontrollieren kann, sondern eines, in dem die Menschen ihre
Träume und Ambitionen verwirklichen können. Es geht darum, die Menschen zu
ermächtigen, nicht darum, Macht über sie auszuüben. Eine Regierung sollte ein
Umfeld fördern, in dem Menschen ihr Glück schaffen und genießen können.

Wir sind nicht die Ersten, die von der Rolle der Regierungen bei der Förderung
des Glücks ihrer Bürger sprechen. Seit den Anfängen der Geschichte befindet sich
die Menschheit auf der Suche nach Glück. Aristoteles bezeichnete den Staat als
lebendiges Gebilde, das danach strebt, moralische Vollkommenheit und Glück für
das Individuum zu erreichen. Ibn Khaldun war der gleichen Ansicht. Und auch in
der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ist das Streben nach Glück
als das Recht jeder Person festgehalten.

Heute fordern die Vereinten Nationen Änderungen der Kriterien zur Messung des
Regierungserfolgs. Dies reicht von wirtschaftlichen Indikatoren bis hin zu
Maßzahlen im Zusammenhang mit menschlichem Glück und Wohlbefinden. Man hat den
Internationalen Tag des Glücks ausgerufen, um die Bedeutung dieses Wandels zu
unterstreichen. Dieser Schwerpunkt auf Glück ist machbar und auch vollkommen
gerechtfertigt. Glück ist messbar, und seine Bewertung ist bereits Gegenstand
zahlreicher Programme. Aus Studien geht hervor, dass glückliche Menschen
produktiver sind, länger leben und in ihren Gemeinden und Ländern für eine
bessere wirtschaftliche Entwicklung sorgen.

Das Glück des Einzelnen, der Familien und Mitarbeiter sowie deren Zufriedenheit
mit ihrem Leben und ihr Optimismus im Hinblick auf die Zukunft sind von
entscheidender Bedeutung für unsere Arbeit, die sich über sämtliche Bereiche der
Regierung erstreckt. Und wir hoffen, dass auch andere in der Region von unserer
einfachen Formel profitieren. Sie lautet: nationale Entwicklung auf Grundlage
zentraler Werte, angeführt von jungen Menschen und mit Schwerpunkt auf einer
Zukunft, in der alle Glück finden können.

Der Autor ist Vizepräsident und Premier der Vereinigten Arabischen Emirate und
Herrscher des Emirats Dubai. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate 2016

UPDATE: 3. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 3. März 2016

Flüchtlingskrise, zweiter Akt;


Die Balkanroute ist zu. Die katastrophalen Bilder sind da. Jetzt zeigt sich, ob
die Kritiker der Kanzlerin recht hatten und die Menschen nur von ihrer Politik
der offenen Grenze angelockt wurden. Was, wenn nicht?

AUTOR: Robin Alexander

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 53

LÄNGE: 824 Wörter

Es ist so weit. Die Balkanroute ist weitgehend dicht. Die Flüchtlinge und
Migranten, die nach Deutschland wollen, sitzen in Griechenland fest. Aufgehalten
werden sie an Europas neuer Außengrenze, die Mazedonien mit ungarischem Material
und österreichischer Inspiration hochgezogen hat. Noch halten Stacheldraht,
Polizisten und Tränengas die Menschen zurück. Bald könnten Gewehre und Panzer
hinzukommen. Auf dem Balkan spricht man schon vom Einsatz der Armeen.
Und Angela Merkel? Die Kanzlerin wird diese Menschen nicht nach Deutschland
holen. Auch wenn die Verzweifelten den Polizisten Merkels Namen entgegenschreien
und sich augenscheinlich doch eingeladen fühlen. Die Kanzlerin war fast auf den
Tag genau vor einem halben Jahr zwar bereit, Busse nach Ungarn zu schicken, aber
sie wird keine Flugzeuge nach Athen senden. Weil sie dies Anfang der Woche
klarstellte, beginnen Kritiker wie Anhänger ihrer Flüchtlingspolitik von einer
"Wende" zu sprechen.

Ist das so? Erleben wir jetzt den nächsten Fukushima-Moment bei Merkel, den
einige schon nach dem Terroranschlag von Paris und spätestens nach den
Übergriffen auf der Kölner Domplatte erhofft oder befürchtet hatten? Warum hat
Merkel nicht am Sonntag bei Anne Will gesagt, dass die Flüchtlinge und Migranten
in Griechenland nicht mit ihrer Hilfe rechnen können?

Einmal, weil das journalistisch Naheliegende wieder einmal nicht gefragt wurde.
Auch dieses Gespräch legte, dabei typisch für unsere Flüchtlingsdebatte, den
Schwerpunkt nicht auf politische Argumente, sondern auf das weltanschaulich
Grundsätzliche: Deutschland ringt ja immer gleich um Idealismus oder Realismus
statt um politische Konzepte. Merkel hat diese Diskursschwäche unserer
politischen Öffentlichkeit nicht zu verantworten, wohl aber bedient, indem sie
ihre Ad-hoc-Entscheidung vom September später zum "humanitären Imperativ"
überhöhte. Medien haben daraus sogar eine späte protestantische
Erweckungsgeschichte gestrickt. Wer daran glaubte, muss jetzt tatsächlich
irritiert sein: Denn der Flüchtling, der jetzt auf Athens Straßen hungert, ist
dem Christen genauso der Nächste wie der Flüchtling, der im September auf einer
ungarischen Autobahn zusammenzubrechen drohte. Oder: Kein Mensch ist illegal.

Merkel handelte aber gar nicht rein idealistisch, wie ihre neuen Fans von den
Grünen glauben, oder gesinnungsethisch, wie ihr verstörte Parteifreunde
vorwerfen. Gemeinsam mit Wolfgang Schäuble entwickelte sie im September vielmehr
eine Strategie. Deutschland sollte gemeinsam mit Schweden, Österreich und noch
zu überzeugenden weiteren "Willigen" so lange Flüchtlinge und Migranten allein
aufnehmen, bis ganz Europa so weit sei, dies zu tun. Die Kanzlerin investierte
enormes Kapital - im Wortsinn und politisch - , um Zeit zu kaufen. Ein
hochriskantes, in seiner Dimension fast einmaliges Investment, aber kein
irrationales, wenn man die Alternativen bedenkt, die Merkel in nicht weniger als
einem instabilen Balkan und einem Zusammenbruch des Schengen-Systems sah.
Verkürzt gesagt: Deutschland sollte den Verfolgten und vermeintlich Verfolgten
Platz bieten, bis Europa die Kraft dazu gefunden hätte.

Diese Politik kann man verwegen nennen, aber sie hat nichts mit
"Bevölkerungsaustausch" oder "Islamisierung" zu tun, wie Großdenker seit Monaten
einem verängstigten Bürgertum zuraunen. Vielmehr ist der Tausch Raum gegen Zeit
"ein Grundelement strategischen Denkens" wie der Politikwissenschaftler Herfried
Münkler richtig feststellte.

Allein, Strategien können scheitern. Und Merkels Strategie ist gescheitert. Die
Kanzlerin hat erst die europäischen Verbündeten überfahren und dann deren Kraft
überschätzt. Und deren Einsicht: Von Paris über London bis Warschau glaubt man,
was auch München in einem fort behauptete: Deutschlands offen gebliebene Grenze
habe die vielen Flüchtlinge erst angelockt. Es brauche ein Signal der Kanzlerin,
wurde offen gefordert. Es brauche abschreckende Bilder, hieß es hinter
vorgehaltener Hand.

Nun gibt es diese Bilder. Denn Merkel konnte zwar den EU-Rat noch einmal
überzeugen, ihre europäisch-türkische Lösung "prioritär" zu versuchen, doch
Österreich und die Balkanländer hielten sich einfach nicht mehr daran. Kommen
jetzt wirklich weniger Menschen aus dem unsicheren Afghanistan und dem
perspektivlosen Nordafrika, aus dem Bürgerkriegsland Irak und dem Schlachthaus
Syrien? Hoffen wir es. Ja, sogar die Kanzlerin muss jetzt hoffen, dass ihre
Kritiker recht behalten. Denn wenn der Strom trotz geschlossener Grenze anhält,
wird Griechenland bald um seine Staatlichkeit ringen und mit ihm Europa um seine
Zukunft als politische Gemeinschaft.

Deutschland wird man dafür nicht verantwortlich machen können. Vielleicht folgt
die Kanzlerin, die stur an ihrer gescheiterten Strategie festhält, ja doch einem
christlichen Impuls. "'S ist leider Krieg" dichtete der Pastorensohn Matthias
Claudius vor über 200 Jahren: "und ich begehre: nicht schuld daran zu sein!"
Seite 4

UPDATE: 3. März 2016

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Die Welt

Samstag 5. März 2016

Bundesregierung schreckt Flüchtlinge schon vor Ort ab;


Umstrittene Kampagne in den Herkunftsländern. Grüne wollen Geld lieber in
Entwicklungshilfe stecken

AUTOR: Daniel Friedrich Sturm

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 55

LÄNGE: 1233 Wörter

Kommen Sie nicht nach Europa!", appelliert Donald Tusk, der EU-Ratspräsident.
Angela Merkel (CDU) weigert sich, die elend in Griechenland lebenden Flüchtlinge
aufzunehmen. Nun will das Auswärtige Amt seine bisher regierungsintern teilweise
belächelte "Aufklärungskampagne" im Ausland verstärken.

Am Mittwoch hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Kabinett über


die "Kommunikation in den Herkunfts- und Transitländern zur deutschen
Migrationspolitik" berichtet. Arbeitstitel der Aktion: "#RumoursAboutGermany"
(Gerüchte über Deutschland).

In Afghanistan hat bereits eine neue "Aufklärungsaktion" mit Plakaten begonnen,


zunächst in Kabul, später in Masar-i-Scharif und Herat. "Diese Plakataktion
flankieren wir im Internet und in den sozialen Medien", sagte ein Sprecher des
Auswärtigen Amtes: "Dort widerlegen wir die gängigsten Gerüchte und verklärten
Darstellungen über die Aufnahmebedingungen in Deutschland."

Die Deutsche Welle flankiert die Bemühungen des Auswärtigen Amts bereits seit
Ende September 2015 durch "interaktive Social-Media-Aktivitäten in Afghanistan
und Pakistan". Von einer "Aufklärungskampagne" spricht das Auswärtige Amt, denn
es gehe "nicht um Abschreckung, sondern um Aufklärung". Das aber ist allenfalls
die halbe Wahrheit. Natürlich will die Bundesregierung die Zahl der Flüchtlinge
drosseln. Da der Anteil der afghanischen Migranten in den vergangenen Monaten
deutlich gestiegen ist, setzt man genau dort an - wie zuvor schon auf dem
Balkan. Der absehbare Durchmarsch der rechtspopulistischen AfD bei den
Landtagswahlen am 13. März dürfte den Druck auf Bundesregierung und Kanzlerin
Angela Merkel erhöhen, die Zahl der Flüchtlinge zu beschränken.

Schon jetzt warnt die Bundesregierung in Afghanistan auf Plakaten: "Glauben Sie
nicht an Gerüchte und bewusst gestreute Falschinformationen über das angeblich
so einfache Leben in Deutschland."

Berlin appelliert: "Denken Sie nach, ob Sie Hab und Gut verkaufen wollen, um
kriminelle Schleuser zu bezahlen und Ihr Leben auf der Flucht zu riskieren." Für
den Wiederaufbau des Landes sei es wichtig, "dass die Afghanen selbst ihrer
Heimat nicht den Rücken kehren", heißt es im Auswärtigen Amt.

Seit dem vergangenen Wochenende bis Mitte April sollen in diversen afghanischen
Fernsehsendern und sozialen Medien zehn Videoclips gezeigt werden. Unter dem
Motto "Afghanistan, my home" schildern darin Afghanen, warum sie sich trotz der
desolaten Lage in Afghanistan bleiben wollen.

Es gehe darum "Falschmeldungen, die Schlepper bewusst in Umlauf bringen, um ihr


Geschäft anzukurbeln, zu entkräften", sagt Regierungssprecher Steffen Seibert.
Dies tue man "natürlich in den Landessprachen der Betroffenen, schnell und
prägnant". Jeder Afghane, der versuche, nach Deutschland auszuwandern, gehe
"hohe wirtschaftliche und hohe gesundheitliche Risiken ein". Außerdem würden
viele von ihnen "in Deutschland keine realistische Bleibeperspektive vorfinden".

Bereits seit mehreren Monaten informieren die Deutsche Botschaft Kabul und das
Generalkonsulat Masar-i-Scharif über klassische und soziale Medien über
Fluchtgefahren und die Sach- und Rechtslage in Deutschland.

So wurden seit Mitte November 2015 insgesamt 19 großflächige Plakate an Orten


mit hoher Sichtbarkeit montiert, in Kabul, Masar-i-Scharif und Herat. Auf ihnen
wird in den Landessprachen Dari und Paschtu über die tatsächlichen
Aufnahmebedingungen in der Bundesrepublik informiert. Etwa: "Deutschland
garantiert unverzügliche Staatsbürgerschaft und unbegrenzte
Aufenthaltserlaubnis? Falsch! Wer einen Asylantrag stellt und abgelehnt wird,
muss das Land wieder verlassen und wird notfalls auch abgeschoben."

Mit sozialen Medien sollen die Informationen möglichst breit gestreut werden.
Allein die Facebook-Seite der Botschaft Kabul hat so über 100.000 Follower. Das
Generalkonsulat Masar-i-Scharif führt zudem Gespräche mit Mullahs und
islamischen Geistlichen, die in Afghanistan Einfluss auf Jugendliche und
Erwachsene haben. Diese Geistlichen haben dem Vernehmen nach zugesagt, die
Kampagne www.rumoursaboutgermany.info in Schulen und Moscheen bekannt zu machen.

Weitere Kampagnen laufen im Westbalkan, in Syrien, im Irak und in Afrika. Auch


hier will die Bundesregierung "den Menschen Bleibeperspektiven aufzeigen", sie
von einer Überfahrt nach Europa abhalten. Auf Projekte der Deutschen Welle
(Africa on the Move) und des Entwicklungsministeriums (Initiative Digitales
Afrika) verweist die Bundesregierung. Doch angesichts der (wieder zu
erwartenden) hohen Flüchtlingszahlen fallen die Projekte eher unter die
Kategorie: gut gemeint.

Innerhalb der Bundesregierung wird der Sinn der Kampagnen durchaus bezweifelt.
Man solle sie "nicht überbewerten", heißt es. Es lasse sich überhaupt nicht
nachweisen, wie sich diese Maßnahmen auswirkten. So sinnvoll es sei, gegen
aktuelle Desinformationskampagnen etwa von Schleppern punktuell vorzugehen, so
wenig nachvollziehbar sei der Erfolg der allgemeinen Plakat- und Videoaktionen.
"Ob wir damit den Zustrom reduzieren, weiß niemand", heißt es in der Regierung.

Während die neuen Vorhaben des Auswärtigen Amtes in der Koalition Zuspruch
finden, stoßen sie in der Opposition auf Kritik. "Die Informationskampagnen des
Auswärtigen Amtes sind gut und sinnvoll", sagt Roderich Kiesewetter, der
außenpolitische Obmann der CDU/CSU-Fraktion.

Auf dem Balkan habe sich dies bereits gezeigt, der Rückgang der Flüchtlinge von
dort habe "auch mit den Plakaten und Radiospots zu tun". Deutschland müsse "mit
diesen Mitteln gegen Gerüchte und hybride Informationskampagnen angehen".

Es sei richtig, in Afghanistan die Menschen zu warnen, denn: "Die meisten von
ihnen haben keine Aussicht, in Deutschland bleiben zu können. Sie sollten sich
die vielen Tausend Euro für Schlepper und den mühsamen Weg nach Europa sparen."
Es sei, sagt der CDU-Politiker, "geradezu Pflicht der Bundesregierung, sie
darauf hinzuweisen". Ganz anders sehen das die Grünen. "Die sogenannten
Aufklärungskampagnen der Bundesregierung sind ein falsches Instrument", sagt
deren außenpolitischer Sprecher Omid Nouripour. "Besser wäre es, das viele Geld
einzusetzen für die Stabilisierung, die Sicherheit und Maßnahmen der
ökonomischen Entwicklung in den betreffenden Ländern. Damit lässt sich Flucht
verändern, nicht mit merkwürdigen Filmen."

Nouripour stößt sich vor allem daran, dass die Bundesregierung die Videos in
Afghanistan von der Firma Moby Group habe drehen lassen. "Geradezu bizarr ist,
dass das Auswärtige Amt für Afghanistan eine Firma mit Spots beauftragt hat,
deren Mitarbeiter von den Taliban mit dem Tod bedroht werden und von denen schon
einige frühere Mitarbeiter von den Taliban ermordet worden sind."

Es sei ja schön und gut, wenn Afghanen ihre Landsleute mit von Deutschland
bezahlten Videoclips vor der Flucht warnten, heißt es selbstkritisch in der
Bundesregierung. Man müsse aber bezweifeln, ob sich Menschen, die Hab, Gut und
Heimat verlassen wollen, von solchen Stimmen oder Appellen eines deutschen
Botschafters beeinflussen ließen.

Das ganz deutliche Zeichen, dass Menschen aus Afghanistan, Pakistan von ihren
Plänen abhalte, nach Deutschland zu kommen, könne eigentlich nur eine Person
setzen: die Kanzlerin. Ein solcher Appell, wird in der Bundesregierung vermutet,
würde sich via WhatsApp und Facebook geradezu in Echtzeit verbreiten. Das
Problem indes: Bisher will Angela Merkel genau dieses deutliche Zeichen nicht
setzen.

UPDATE: 5. März 2016

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Die Bundesregierung warnt in Afghanistan auf Bussen vor bewusst gestreuten
Falschinformationen
Sayara

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Die Welt

Montag 7. März 2016

Muslimische Gräber in Nîmes entdeckt;


Gehörten die Toten zu den islamischen Heeren, die im 8. Jahrhundert Mitteleuropa
angriffen?

AUTOR: Florian Stark

RUBRIK: WISSENSCHAFT; WISSENSCHAFT; S. 20 Ausg. 56

LÄNGE: 726 Wörter

Im Jahr 718 n. Chr. schien der Untergang des christlichen Europa nur noch eine
Frage der Zeit. Unter dem Befehl des Kalifenbruders Maslama hatte ein Heer von
vielleicht 200.000 Muslimen die byzantinische Kaiserstadt Konstantinopel
eingeschlossen. 1800 Schiffe sorgten dafür, dass die Metropole auch zur See
abgeschnitten war. Zur gleichen Zeit bereitete sich 2200 Kilometer weiter
westlich ein Heer aus Arabern und Berbern auf die Invasion Frankreichs vor. Als
erste christliche Bastion fiel 719 die Stadt Narbonne.

Aus dieser Zeit stammt eine Entdeckung, die Archäologen jetzt unweit der Stadt
Nîmes in der Provence gelang. Es handelt sich um drei Gräber samt den
sterblichen Überresten ihrer Inhaber. Radiometrische Untersuchungen datieren die
Knochen auf das Ende des 7. oder Anfang des 8. Jahrhunderts. Die Toten wurden
offenbar ganz bewusst so beerdigt, dass ihre Gesichter in Richtung Mekka zeigen.
Eine Genanalyse schließlich legt verwandtschaftliche Beziehungen nach Nordafrika
nahe. Bei Nîmes, so die Schlussfolgerung des Forscherteams im Online-Journal
"Plos One", wurden im frühen 8. Jahrhundert offenbar Berber begraben, Angehörige
der Armeen, mit denen die Umayyaden-Kalifen von Damaskus den Maghreb und
anschließend die Iberische Halbinsel erobert hatten.

Dass die Toten keine Anzeichen von Gewalteinwirkung aufweisen, muss dieser
Deutung nicht widersprechen. Bis zur Erfindung des Maschinenkrieges starben die
meisten Menschen auf Feldzügen an Krankheiten. Zweifel bestehen, ob sich die
drei toten Berber einem konkreten historischen Ereignis zuordnen lassen. Im Jahr
710 hatte ein erstes muslimisches Kommando von Marokko aus über die Straße von
Gibraltar gesetzt. Im Jahr darauf folgte der Feldherr Tariq ibn Ziyad, ein zum
Islam übergetretener Berber, mit einem Heer. Am Fluss Guadalete zwischen Cádiz
und Sevilla stellte sich ihm der Westgotenkönig Rodrigo entgegen. Er verlor
Schlacht und Leben. In wenigen Jahren nahmen die Muslime weite Teile der
Halbinsel für den Kalifen in Damaskus in Besitz. Nur der äußerste Norden und das
Baskenland blieben frei.

Noch während die Statthalter der Umayyaden dabei waren, al-Andalus, wie sie es
nannten, zu organisieren, überschritten muslimische Truppen die Pyrenäen und
fielen in Südfrankreich ein. Zwar erlitten sie 721 vor Toulouse einen
Rückschlag, eroberten aber kurz darauf Carcassonne und Nîmes, Bordeaux wurde
geplündert, selbst bis Burgund drangen die arabisch-berberischen Truppen vor.
732 rückte schließlich der fähige Feldherr Abd ar-Rahman mit einem großen Heer
nach Norden vor. Der fränkische Hausmeier Karl Martell, der eigentliche
Herrscher der Franken, verstellte den Arabern zwischen Tours und Poitiers
zusammen mit Langobarden und Sachsen den Weg. Ihre Verluste, darunter ihr
Anführer, waren so groß, dass das Treffen als "Schlacht an der Straße der
Märtyrer" in die muslimische Erinnerung eingegangen ist. Auf den großen
britischen Historiker Edward Gibbon (1737 - 1794) geht das Bonmot zurück, dass
ohne den Sieg Karls in Oxford statt der Bibel der Koran gelehrt worden wäre.

Moderne Historiker halten den Feldzug Abd ar-Rahmans für einen groß angelegten
Beutezug ohne strategische Bedeutung. Ganz anders dagegen ist der Abwehrerfolg
zu bewerten, den die Byzantiner 718 vor Konstantinopel errangen. Er sicherte die
Ostflanke Europas über Jahrhunderte hinweg.

Der Fund von Nîmes wirft hier Fragen auf. Da die Analyse der Knochen auch eine
Datierung in die Mitte des 8. Jahrhunderts zulässt, könnte es durchaus sein,
dass noch nach der Katastrophe von Tours/Poitiers Muslime in der Provence
lebten. Zwar berichten die Quellen, dass die Statthalter von al-Andalus das Gros
ihrer Truppen 738 hinter die Pyrenäen zurückzogen. Aber Narbonne und Umgebung
blieben weiterhin unter ihrer Kontrolle. Könnte es also sein, dass von dort aus
Kontakte bis in die Provence weiterbestanden?

Aus der Lage der muslimischen Gräber von Nîmes wollen die Ausgräber keineswegs
auf eine scharfe Trennung der Glaubensgemeinschaften schließen. Zwar wurden die
toten Berber offenbar bewusst außerhalb eines christlichen Friedhofs bestattet.
Das muss aber nicht als Akt der Feindschaft interpretiert werden, schreiben die
Wissenschaftler. Vielmehr könnte es auch ein Beleg für die Achtung sein, die die
Menschen des 8. Jahrhunderts den religiösen Gefühlen Andersgläubiger
entgegenbrachten.

UPDATE: 7. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Montag 7. März 2016

Erst Tränengas, dann kommt die Gleichschaltung;


In der Türkei wird eine Oppositionszeitung mit Macht auf regierungsfreundlich
getrimmt
RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 56

LÄNGE: 906 Wörter

Die unter Zwangsverwaltung gestellte türkische Oppositionszeitung "Zaman" hat


einen radikalen Kurswechsel vollzogen: Auf der Titelseite der ersten Ausgabe
unter Kontrolle eines Treuhänders erschienen am Sonntag ausschließlich
regierungsfreundliche Artikel. Noch am Vortag hatte die Redaktion von einem der
"schwärzesten Tage" in der türkischen Pressegeschichte gesprochen.
Regierungschef Ahmet Davutoglu verteidigte die Entscheidung auch vor
internationaler Kritik.

Die Behörden hatten die mit 650.000 Exemplaren auflagenstärkste Zeitung des
Landes Ende der Woche unter Zwangsverwaltung gestellt. Nach Protesten vor dem
Verlag verschaffte sich die Polizei um Mitternacht gewaltsam Zugang zu dem
Gebäude und drang in die Redaktion ein. Anschließend übernahmen die vom Gericht
ernannten Verwalter die Leitung von "Zaman".

Der bisherige Chefredakteur Abdülhamit Bilici wurde entlassen, die restlichen


Mitarbeiter mussten sich am Eingang strikten Kontrollen unterwerfen. Vor dem
Gebäude ging die Polizei erneut mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen
gegen 500 Demonstranten vor, die sich zu einer Solidaritätskundgebung vor dem
Redaktionsgebäude eingefunden hatten.

Die Sonntagsausgabe von "Zaman" unterschied sich dann kaum noch von den Ausgaben
der regierungsfreundlichen Presse. Unter anderem zeigte sie ein Foto von
Staatschef Recep Tayyip Erdogan, wie er die Hand einer älteren Frau festhält.
Ein "Zaman"-Journalist sagte, die Ausgabe stamme nicht von der alten Redaktion.
In der Redaktion herrsche eine "Mischung aus Wut und Niedergeschlagenheit",
erzählte eine Journalistin. "Alle fragen sich, wie es für sie weitergeht. Denn
einen Job als Journalist werden wir nicht mehr finden, und auch sonst wird es
schwierig. Viele fragen sich, ob sie ins Ausland sollen."

Ihre letzte unabhängig produzierte Ausgabe hatte "Zaman" noch mit der
Schlagzeile aufgemacht, "Die Verfassung ist ausgesetzt". "Die auflagenstärkste
Zeitung der Türkei ist beschlagnahmt worden, trotz der Zusicherung von
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, dass ,die freie Presse unsere rote Linie'
sei", beklagte die Zeitung. Unter der Schlagzeile wird der Artikel 30 der
Verfassung zitiert, der es verbietet, dass Medienverlage mit der Begründung, sie
würden für Straftaten eingesetzt, beschlagnahmt werden.

Die Redaktion konnte diese "Abschiedsausgabe" gerade noch drucken, obwohl die
Justiz bereits die Zwangsverwaltung angeordnet hatte. Was diese Vorgänge für die
Europa-Ausgabe der "Zaman" bedeuteten, sei noch nicht abzusehen, sagte deren
Chefredakteur Dursun Celik der "Welt". Eigentümer der Europa-Ausgabe sei eine
GmbH nach deutschem Recht. Jedoch werde das weitere Erscheinen schwierig werden,
wenn Beiträge aus der Türkei ausblieben.

"Zaman" gehört zur Hikmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen,


der seit 1999 im Exil in den USA lebt. Präsident Erdogan wirft seinem einstigen
Verbündeten vor, die Regierung stürzen zu wollen, seine Hikmet-Bewegung wurde zu
einer "terroristischen Vereinigung" erklärt. Vor diesem Hintergrund ist wohl
auch das Vorgehen gegen "Zaman" zu verstehen.

Bei der EU und in Washington sorgten die jüngsten Entwicklungen für Kritik.
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn erklärte, als EU-Beitrittskandidat müsse
die Türkei auch die Pressefreiheit respektieren. Das Vorgehen der Behörden
gefährde auch "die Fortschritte der Türkei auf weiteren Gebieten". Auch die
US-Regierung sprach von einer "beunruhigenden Serie" von Entscheidungen gegen
Medien und Regierungskritiker in der Türkei und erinnerte daran, dass Meinungs-
und Pressefreiheit in der Verfassung festgeschrieben seien. Die Organisation
Reporter ohne Grenzen bemängelte ein "dröhnendes Schweigen" der Bundesregierung.
Sie warnte, von dem EU-Türkei-Gipfel dürfe "nicht das verheerende Signal
ausgehen, dass die EU über jede Menschenrechtsverletzung hinwegsieht, wenn es um
Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik geht".

Der türkische Regierungschef Davutoglu betonte, bei den Maßnahmen gegen "Zaman"
handle es sich um eine unabhängige Entscheidung der Justiz. Die Türkei sei ein
Rechtsstaat, sagte Davutoglu dem türkischen Fernsehen während eines
Iran-Besuchs. Es komme daher "nicht infrage für mich oder irgendeinen meiner
Kollegen, sich in diesen Prozess einzumischen".

Zugleich warnte er vor einer Unterwanderung der Türkei durch die


Hikmet-Bewegung. "Wir sollten nicht unsere Augen verschließen vor einer
parallelen Struktur innerhalb des Staates, die die Presse und andere Werkzeuge
benutzt", um ihre Ziele durchzusetzen.

Regierung und Justiz sind in den vergangenen Monaten gegen mehrere kritische
Medien vorgegangen, von denen nicht alle der Gülen-Bewegung nahestehen. Die
Gülen-nahe Zeitung "Bugün" wurde im vergangenen Jahr unter Treuhandverwaltung
gestellt und auf Regierungskurs gebracht.

Der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, und der
Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül waren im November verhaftet worden. Ihnen wird
unter anderem Spionage und Geheimnisverrat vorgeworfen. Hintergrund ist ein
Artikel der beiden über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten
in Syrien. Zwar ordnete das Verfassungsgericht vergangene Woche die Freilassung
der beiden an, ihnen droht aber weiterhin lebenslange Haft. Erdogan hatte den
Gerichtsbeschluss mit den Worten kommentiert: "Ich sage es offen und klar, ich
akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie
auch nicht."

UPDATE: 7. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Mehmet Yaman,Zaman Daily News; Getty Images/AFP/Ozan Kose; Zaman


Die Polizei vertreibt mit Wasserwerfern die Demonstranten vor dem
Redaktionsgebäude
Chefredakteur Abdülhamit Bilici (stehend) spricht zu den Mitarbeitern, kurz
darauf ist er gefeuert. Am Sonntag erschien die Zeitung bereits mit
regierungsfreundlichen Themen auf der Titelseite - Präsident Erdogan hält die
Hand einer alten Frau.
Chefredakteur Abdülhamit Bilici (stehend) spricht zu den Mitarbeitern, kurz
darauf ist er gefeuert. Am Sonntag erschien die Zeitung bereits mit
regierungsfreundlichen Themen auf der Titelseite - Präsident Erdogan hält die
Hand einer alten Frau.
Mehmet Yaman,Zaman Daily News
Getty Images
ZAMAN

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Die Welt

Dienstag 8. März 2016

Einwanderung nach Europa weckt auch in Israel Ängste;


Deutschland genießt nach wie vor hohes Ansehen. Doch haben die guten Beziehungen
Bestand angesichts der vielen neuen Muslime?

AUTOR: Ansgar Graw

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 57

LÄNGE: 862 Wörter

Washington

Deutschland steht in den USA und in Israel in hohem Ansehen. Auch


Bundeskanzlerin Angela Merkel und die deutsche Außenpolitik genießen große
Popularität. Allerdings befürchtet eine Mehrheit der Israelis, dass die Aufnahme
von rund einer Million vornehmlich muslimischer Migranten in Deutschland
negative Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen haben könnte.

Das sind Erkenntnisse einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf


umfangreichen repräsentativen Erhebungen aus dem Februar beruht und am Montag in
Berlin vorgestellt wurde.

Unter dem Titel "Ein schwieriges Beziehungsgeflecht?" arbeitet die Studie als
wichtigste Konstante den anhaltenden hohen Beliebtheitsgrad Deutschlands in den
untersuchten Ländern und Gebieten heraus. So haben jeweils knapp über zwei
Drittel der Israelis (67 Prozent) und der Menschen in den palästinensischen
Gebieten (70 Prozent) sowie drei Viertel der Amerikaner (75 Prozent) ein
positives Deutschlandbild. Auch bei einer Mehrheit der amerikanischen Juden ist
Deutschland beliebt. Allerdings fällt ihr Urteil mit 55 Prozent gedämpfter aus.
Zum Vergleich: Von der Europäischen Union (EU) haben lediglich 41 Prozent der
Israelis ein positives Bild. In den USA sehen 60 Prozent der Befragten die EU
als positiv und 24 Prozent als negativ an.

Deutschland gilt den Israelis als zweitwichtigster Verbündeter nach den USA. Die
Amerikaner wiederum sehen das Vereinigte Königreich (41 Prozent) als wichtigsten
Alliierten, gefolgt von Israel und der EU. Deutschland wird von den Amerikanern
als sechstwichtigster Verbündeter eingestuft. Interessant dabei: Die deutsche
Außenpolitik wird von 60 Prozent der Israelis und 56 Prozent der Amerikaner als
positiv bewertet und erhält damit bessere Noten als die jeweils eigene
Regierung. So befürworten 48 Prozent der befragten Israelis das Agieren ihrer
eigenen Regierung auf internationaler Bühne und 45 Prozent das außenpolitische
Handeln der USA. In den USA hält immerhin ungefähr jeder zweite Befragte die
Außenpolitik der eigenen Regierung sowie die Außenpolitik Israels für positiv.

Auch Kanzlerin Merkel, die von 66 Prozent der Israelis und von 43 Prozent der
Amerikaner namentlich benannt werden kann, wird sehr geschätzt. In Israel wird
sie von 66 Prozent der hebräischsprachigen, von 44 Prozent der
russischsprachigen und von 53 Prozent der arabischsprachigen Einwohner positiv
bewertet.

In einer weiteren, noch unveröffentlichten Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung


wurden die Israelis gefragt, welcher europäische Regierungschef zu einer
nachhaltigen Friedenslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt beitragen
könne. Das trauen 42 Prozent der Befragten Merkel zu, während der britische
Premier David Cameron auf zehn und Frankreichs Präsident auf sechs Prozent
kommen. "Unter dem Strich wird nur noch Angela Merkel in Israel zugetraut, einen
echten Akzent im Friedensprozess setzen zu können", schreiben die Autoren.

44 Prozent der Amerikaner haben einen positiven Eindruck von Merkel. Was auf den
ersten Blick nach gedämpfter Zustimmung klingt, leuchtet heller, wenn man es in
Relation setzt zu den Urteilen über die eigenen Präsidentschaftsbewerber.
Hillary Clinton wird von 40 Prozent der befragten US-Bürger als positiv
bewertet, Ted Cruz von 36 Prozent, Marco Rubio von 41 Prozent und Donald Trump
von 27 Prozent.

Während die Einschätzung zu Präsident Barack Obama nicht abgefragt wurde, kommt
in dieser Untersuchung lediglich Bernie Sanders mit 45 Prozent auf einen leicht
besseren Wert als die Bundeskanzlerin.

Bei jüdischen Amerikanern ist Angela Merkel mit 59 Prozent übrigens


überdurchschnittlich beliebt, und bei den älteren Juden (ab 55 Jahren) steigt
der Wert gar auf 63 Prozent. Das ist interessant, weil die Bewertung
Deutschlands bei den amerikanischen Juden etwas nüchterner ausfällt als die der
Durchschnittsbevölkerung. Bei arabischen Amerikanern steigt die Zustimmung zu
Merkel auf 72 Prozent.

Beunruhigend ist gleichwohl die israelische Wahrnehmung der aktuellen


muslimischen Zuwanderungswelle nach Deutschland: Nur 17 Prozent der Israelis
sagen, dass die Aufnahme der Flüchtlinge aus Syrien positive Auswirkungen auf
die bilateralen Beziehungen haben werde. 59 Prozent rechnen mit negativen
Folgen.

Diese pessimistische Einschätzung wird vor allem von hebräischsprachigen (60


Prozent) und russischsprachigen (76 Prozent) Israelis geäußert. Aber selbst in
der arabischsprachigen Minderheit rechnet eine relative Mehrheit von 35 Prozent
mit einer Eintrübung des deutsch-israelischen Verhältnisses, während lediglich
32 Prozent positive Folgen der muslimischen Zuwanderung nach Deutschland
erwarten.

Gleichwohl geben Amerikaner (61 Prozent) und Israelis (56 Prozent) mehrheitlich
an, die Aufnahme der Flüchtlinge habe ihr Deutschlandbild positiv beeinflusst.
Fast zwei Drittel der US-Bürger (64 Prozent) befürworten zudem die Entscheidung
der Bundesregierung, die Flüchtlinge aufzunehmen. 29 Prozent kritisieren sie. In
Israel ist das Verhältnis mit 46 Prozent Unterstützern und 43 Prozent Gegnern
der deutschen Flüchtlingspolitik nahezu ausgeglichen.

Nur Merkel wird zugetraut, einen Friedensakzent zu setzen


Konrad-Adenauer-Stiftung

UPDATE: 8. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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Die Welt

Freitag 11. März 2016

"Endlich wird es realistisch in Europa";


Der EU droht viel Ungemach. Vielleicht scheitert sie sogar. Und doch begrüßt der
Historiker Timothy Garton Ash das Ende der Phrasendrescherei

AUTOR: Andrea Seibel

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 7 Ausg. 60

LÄNGE: 1974 Wörter

Timothy Garton Ash sitzt ganz hinten im "Café Einstein" Unter den Linden. Wir
würden einen ruhigen Platz finden, hatte er gemeint. Da hatte er sich mächtig
geirrt. Unser Gespräch fand im Getöse klappernder Kaffeetassen und anregender
Debatten an Nachbartischen statt. Und obwohl der britische Intellektuelle,
dessen Blässe ihn fast ätherisch erscheinen lässt, leise sprach, entfaltete sich
ein ganz eigener Zauber am Tisch, der zur Insel wurde inmitten des
großstädtischen Trubels.

Die Welt:

Angela Merkel hat sich in Brüssel dagegen gewehrt, die Balkanroute für
geschlossen zu erklären, genauso wie sie vehement eine Obergrenze für
Flüchtlinge verweigert. Sie nimmt damit in Kauf, dass sich die Europäer von ihr
abwenden und auch ihre eigene Bevölkerung. Und sie schadet ihrer Partei, die
wohl drei Landtagswahlen verlieren wird. Warum tut sie das?

Timothy Garton Ash:

Ich weiß nicht, was sie im tiefsten Inneren bewegt, aber ich würde das positiv
deuten, weil sie an einer Vision von Europa festhalten will, an einem Europa,
das im Prinzip offen ist und im Prinzip solidarisch. Wobei alle wissen, dass die
Mühen der Ebene schon jetzt anders aussehen müssen, damit wir diese unglaubliche
Völkerwanderung einigermaßen in den Griff bekommen. Ich würde noch weitergehen
und sagen, man kann eine Sicherung der Außengrenzen Europas grundliberal
begründen. Denn die Sicherung der Außengrenzen ist eine Vorbedingung für das
Fortbestehen liberaler Gesellschaften.

Angela Merkel ist es jedenfalls bisher nicht gelungen, diese Motive der
Öffentlichkeit wie von Ihnen skizziert zu vermitteln.

Davon bin ich aus der Perspektive eines englischen Europäers, der viel in Europa
herumkommt, nicht ganz überzeugt. Denn ich treffe bei aller Kritik auch auf viel
Bewunderung für Merkel: als Person, als Politikerin, als die Einzige in Europa,
die derart handelt. Auch wenn man weiß, dass die Konsequenzen letztendlich
verheerend sein könnten.

Als Merkel die Grenze öffnete und die Flüchtlinge zu Hunderttausenden


hereinließ, war das neue deutsche Politik oder bekannte deutsche Hybris?

Das war durchaus auch emotional und moralisch begründet. Sie ist zum ersten Mal
bereit zum Risiko, vielleicht auch zum letzten Mal (lacht). Eigentlich
verkörpert Angela Merkel aber gerade in ihrer harmonisierenden,
kompromissbereiten, vielleicht etwas langatmigen, uninspirierenden Rhetorik das,
was viele von uns an Europa schätzen. Nun hat die Kanzlerin es mit unabsehbaren
Folgen zu tun. Denn das Smartphone verändert unsere Wirklichkeit dramatisch.
Abermillionen Menschen machen sich auf den gefährlichen Weg über Land und Meer,
einfach, weil sie ein Bild gesehen haben von der Bundeskanzlerin und eine
Fluchtroute im Smartphone finden. Das ist eine völlig neue Art politischer
Kommunikation. Mit der Flüchtlingskrise ist das erste Kapitel der Geopolitik in
einer Smartphone-Welt aufgeschlagen.

Merkel als Pionierin der transnationalen, digitalen, auch säkularen Welt?

Gerade habe ich mein neues Buch über die Redefreiheit fertiggestellt. Und es
fängt an mit einem Kapitel über eine neue Welt, in der wir alle Nachbarn sind.
Ohne es zu wissen, sind wir alle Nachbarn geworden. Virtuell und dann auch
physisch. Das auszuhalten oder damit umzugehen, will gelernt sein.

Die Grenzöffnung, die Angela Merkel anordnete, ist historisch ohne Beispiel.
Darauf verwies, in sarkastischer Volte, ja schon Henry Kissinger, der sagte, so
etwas habe es noch nicht gegeben.

Wenn man den Flüchtlingsstrom in den Griff bekommt mit all den beschlossenen
Maßnahmen, hat das mindestens zwei sehr positive Effekte: zum einen, dass allen
Europäern, zumal den Deutschen, bewusst wird, in welch gefährlicher Region sie
leben. Das heißt, die Außen- und Sicherheitspolitik muss endlich ernst genommen
werden. Und zum zweiten geht es natürlich um die Integration von einer Million
Einwanderern. Wenn die gelingt, ist das langfristig ein Gewinn für Deutschland.
Und damit natürlich für Europa. Denn ein verjüngtes Deutschland tut auch Europa
gut.

Ein Brexit ist angesichts der volatilen Situation in Europa immer


wahrscheinlicher. Verlässt das Schiff die Ratten?

Ich glaube, dass es keinen Brexit gibt. Natürlich ist ein Referendum immer ein
Risiko, weil die Wähler nicht die Frage, die auf dem Papier steht, beantworten,
sondern andere Fragen stellen: Lieben wir diesen Premier oder nicht? Und sollte
es eine neue Flüchtlingswelle bis Juni geben, die dann auch vor Calais lagert,
dann wird es gefährlich. Passiert das nicht, werden die meisten Briten
pragmatisch genug sein, für das Nichtausscheiden zu stimmen. Da bin ich relativ
optimistisch.

Die Briten wären so souverän wie die in Referenden geübten Schweizer?

Zum ersten Mal seit den siebziger Jahren bekommen wir endlich eine
europapolitische Debatte, die um das Wirkliche, das Tatsächliche geht. Das täte
auch Deutschland sehr gut. Diese Dauer-Phrasen der Befürworter müssen aufhören.
Endlich wird es realistisch in Europa.

Hat die Demokratie denn völlig an Glanz verloren? Oder ist dies die Krise des
politischen Establishment, das den Bezug zur Bevölkerung verloren hat?

Dass wir alle skeptischer geworden sind und auch pragmatischer, zumal die
Deutschen, finde ich gar nicht schlecht. Man kann in Europa ganz gut darauf
bauen, dass alle Staaten national andere Interessen haben, diese gut vertreten
und dann passable Kompromisse finden. Die existenzielle Krise des europäischen
Projektes rührt daher, dass wir zugleich die Kosten bezahlen für unsere Erfolge
und für unser Versagen. Erfolg, dass viele, gerade junge Europäer sich nicht
mehr vorstellen können, wie schnell der Weg zurück zu Krieg, Diktatur, zu all
den schrecklichen Dingen, die wir in der europäischen Geschichte erlebt haben,
gehen könnte. Obwohl doch gleich nebenan, vor unseren Augen, in der Ukraine,
genau dies stattfindet. Diese tragische Dimension, die im persönlichen
Gedächtnis aller älteren europäischen Bürger und Politiker bestand, schwindet.
Auf der anderen Seite erleben wir die Folgen unserer Misserfolge, etwa die
schlecht entworfene Wirtschafts- und Währungsunion. Wer würde ernsthaft
behaupten, wir stünden heute nicht besser da, wenn wir als Antwort auf die
Deutsche Einheit nicht den Euro, sondern eine gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik betrieben hätten. Wir stünden viel besser da. Dann hätten wir
eine Antwort auf den Arabischen Frühling, auf Syrien und das, was in der Ukraine
geschieht!

Woher kommt dieses Ressentiment, das sich jetzt Bahn bricht in Amerika und
Europa?

Ausbrechen ist das richtige Wort. Vorhanden war das zu Hause und am Stammtisch.
Bei Sarrazin sagte man doch schon: "Endlich sagt das einer mal." Im Sinne von
Antonio Gramsci und dessen Theorie der ideologischen Hegemonie kann man sagen,
dass das Ressentiment sich gegen die abgehobene, unwirkliche Sprache der Eliten
richtet. Sei es von rechts oder links. Früher sagte man, so was sagt man nicht.
Heute sagt man alles. Eine Radikalisierung der freien Rede. Und für manche junge
Europäer ist es das Gefühl: Endlich mal was anderes, ist ja spannend, ist ja
geil. Man schrieb mal über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, nur in dieser
Hinsicht vergleiche ich das mit heute: "Grand ennui." Große Langeweile. Davon
war etwas in Europa in den letzten Jahren zu spüren.

Sie haben den Fall der Mauer erlebt, jenen Ruf "Wir sind das Volk". Das war als
res publica gemeint. Heute meint das Volk wieder nur das nationale Eigene. Ist
das nicht eine große, große Enttäuschung für jemanden wie Sie, der sich so stark
mit der Transformation der Ostmitteleuropäer beschäftigt hat?

Am Ende meines Buches "Ein Jahrhundert wird abgewählt" stellte ich ähnliche
Gedanken an. Wir wussten ja nicht, was kommen würde. Vielleicht ein autoritärer
Schlamassel, ein Zustand wie zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Wir
wussten 1989 doch gar nicht, wie gut es gehen würde in all den folgenden Jahren.
Wer hätte damals gedacht, dass Ostmitteleuropa einschließlich der baltischen
Staaten mehr oder weniger liberale Demokratien würden, Mitglieder der Nato und
der EU? Das ist schon ein Wunder, ein politisches Wunder. Da wundert es aber
auch nicht, dass es Rückfälle gibt. Marine Le Pen würde sich durchaus zu Hause
fühlen in Osteuropa. Und Kaczynski im Front National.

Das ist auch ein Kampf gegen die Zumutungen unserer Gesellschaften.

Wir erleben mehrere Aufstände gegen die liberale Demokratie, ja gegen den
Liberalismus. Was man beispielsweise in Polen sieht, kann man ja nicht einfach
als antidemokratisch abtun. Da waren freie Wahlen im Spiel. Aber die Partei
Kaczynskis will die "Diktatur der Mehrheit". Ohne checks und balances, wie man
sie in einer liberalen Demokratie hat. Das kommt von links, wie in Griechenland
oder Spanien, aber auch von rechts bei Le Pen, den Ungarn und Polen. Der
Liberalismus hatte ein Vierteljahrhundert lang ein Quasi-Monopol. Monopole sind
aber immer gefährlich. Und so könnten wir in Polen und andernorts illiberale
Demokratien bekommen.

Dan Diner meinte jüngst, die deutsche Frage stelle sich wieder neu.

Vor einigen Jahren schrieb ich einen Essay gleichen Titels. Meine These war: Die
deutsche Frage stellt sich tatsächlich neu. In dem Sinne neu, dass sie nicht
eine Frage der anderen ist, sondern vor allem eine Frage an die Deutschen
selbst. Was also die Deutschen selber machen wollen, vor allem in Europa in
einer Führungsrolle, in die sie nolens volens hineingerutscht sind. Durch eigene
Stärke. Ich würde sagen: Chapeau zu dem, was Deutschland in den letzten drei,
vier Jahren gemacht und auch gedacht hat. Die Führung in der Euro-Krise, aber
besonders in der Ukraine-Krise hat mich beeindruckt.

Aber im eigentlichen Sinne führt doch Deutschland überhaupt nicht. Es ist


isolierter denn je.

Das ist Führung, auch wenn andere nicht folgen! Die Frage lautet daher, mit wem
und auf welchem Terrain arbeitet man zukünftig zusammen. Der Begriff der
Lastenverteilung muss viel breiter gefasst werden. Eben nicht, dass alle
paritätisch Flüchtlingskontingente aufnehmen. Großbritannien und Frankreich
sollten mehr in der Verteidigungs- und Sicherheitsfrage machen wegen all ihrer
diplomatischen und militärischen Erfahrungen, gerade im Nahen Osten. Spanien und
Italien wiederum sollten mehr hinsichtlich des Maghreb unternehmen. Auch
Entwicklungshilfe ist ein Beitrag zur Sicherheitspolitik.

Wann begann die Post-Post-Kalte-Kriegszeit? Mit Putins Griff nach der Krim? Mit
dem Irakkrieg?

Ich würde sagen, die Hochphase, das Goldene Zeitalter der Nach-Kalte-Kriegszeit
ging bis 2004. Bis dahin kam es zur großen Erweiterung der Europäischen Union,
was für mich immer noch eine der größten Errungenschaften unserer Zeit ist. Es
gibt kein Beispiel in der Geschichte, wo sich so viele Länder als Gleiche unter
Gleichen verbanden. Noch schien die Währungsunion zu funktionieren. Alle Welt
bewunderte Europa, ob China oder Russland oder die USA. Und dazu kam noch die
Orangene Revolution in der Ukraine. Europäische Fahnen, die auf dem Maidan
wehten. Das habe ich selber erlebt. Das war der Höhepunkt. Seit der Finanzkrise,
dann Eurokrise, dann Ukraine, dann der Bedrohung durch den Brexit, dann die
Flüchtlingskrise häuft sich das Ungemach.

Aber alle anderen Krisen erschütterten nicht so wie die Flüchtlingskrise. Sie
rührt an den Festen unseres Grundverständnisses. Flüchtlinge aus weit entfernten
Regionen lassen sich von Schleusern lotsen, sie wollen sich die Zielländer
selbst aussuchen. Europa ist nicht mehr Herr seines Hauses.

Das ganze beunruhigt sehr. Wenn die EU scheitert, dann wird sie nicht morgen
oder übermorgen aufhören zu existieren. Wenn es schlecht verläuft, wird sie
zersplittern, schwächer werden, so wie das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation. Wir könnten aber auch 2025 hier sitzen und uns sagen: Das war eine
riesengroße Krise, aber wir haben sie überwunden. Das ist meine Hoffnung. Dass
wir langsam, pragmatisch, Schritt für Schritt, vorankommen.

UPDATE: 11. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Martin U. K. Lengemann


Timothy Garton Ash ist ein britischer Historiker und Schriftsteller. Sein
Forschungsschwerpunkt ist die Gegenwartsgeschichte Europas seit 1945
Martin U. K. Lengemann,Martin U. K. Lengemann

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ZEITUNGS-CODE: WE

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Alle Rechte vorbehalten

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Die Welt

Mittwoch 16. März 2016

Was die Flüchtlinge wollen;


Neun von zehn Menschen, die an der Grenze bei Idomeni ausharren, streben nach
Deutschland. Eine merkwürdige Anspruchshaltung

AUTOR: Henryk M. Broder

RUBRIK: FORUM; Essay; S. 2 Ausg. 64

LÄNGE: 1543 Wörter

Nun, da die Schicksalswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und


Rheinland-Pfalz vorbei sind, wollen wir uns einen kurzen Blick zurück erlauben.
Letzten Samstag meldete die "Tagesschau", die österreichische Innenministerin
Johanna Mikl- Leitner habe in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" erklärt,
ihr Land plane "seine Grenze an zwölf weiteren Übergängen zu sichern". Derweil,
so der Nachrichtensprecher, würden Tausende Flüchtlinge "am
griechisch-mazedonischen Grenzort Idomeni verharren", einige "protestierten auch
heute wieder und forderten die Öffnung der Grenze nach Mazedonien".

In der darauffolgenden Reportage aus Idomeni sah man, unter welchen Bedingungen
die Flüchtlinge verharren. "Am Ende müssen sie selbst ihre Kleidung verbrennen,
weil sie frieren. Und der Gestank macht für viele das Überleben nur noch
schwieriger. Es fehlt auch weiterhin an allem, Gerangel regelmäßig bei der
Verteilung von Lebensmitteln und Schuhen. Bei den ungefähr 12.000 Menschen in
Idomeni liegen die Nerven blank." Ein Flüchtling, etwa 30 Jahr alt, sagte, er
komme aus Aleppo und er wolle in jedem Fall "bis zum EU-Gipfel am 17. März" in
dem Lager bleiben. Ein wesentlich älterer Mann klagte: "Wenn sie uns nicht
weiter nach Europa lassen, dann sollen sie uns zurückbringen, nach Hause, ich
will zurück nach Hause, es ist so schlimm hier." Dann ging es im Off weiter:
"Ein Bild vom Drama in Idomeni macht sich Norbert Blüm, er hält es für einen
Anschlag auf die Menschlichkeit." Die Kamera schwenkte über die kleinen
Campingzelte hinweg und blieb dann bei Norbert Blüm stehen, der seinerseits
mitten zwischen den Zelten stand, als würde er einen Platz suchen.

Auf dem Kopf eine "Batschkapp" oder auch "Schiebermütze", darunter eine
Windjacke, ein Pullover und Jeanshosen, denen der füllige Ex-Minister längst
entwachsen ist. Er sagte: "Man muss sich nur mal in die Lage versetzen. Ich
würde denen, die da große Töne spucken, mal empfehlen, drei Tage hier zu sein.
Dem österreichischen Bundeskanzler, dem slowakischen, der polnischen ... Eine
Schande für Europa." Dass Blüm in diesem Zusammenhang die deutsche Kanzlerin
verschonte, konnte mit den bevorstehenden Wahlen in drei Bundesländern zu tun
haben. Oder auch damit, dass die Kanzlerin erst vor Kurzem gesagt hat, es gebe
"genug Übernachtungsmöglichkeiten in Griechenland". Weil er diesen Worten
offenbar nicht ganz traute, hatte Blüm ein eigenes Zelt mitgebracht, in dem er
eine Nacht verbringen wollte - Seite an Seite mit den Flüchtlingen, die etwas
länger ausharren müssen, bis auf einem der kommenden EU-Gipfel über ihr weiteres
Schicksal entschieden wird.

Was mir in diesem Zusammenhang durch den Kopf ging, waren zwei Fragen. Erstens:
Wie ist Blüm von Bonn, wo er lebt, nach Idomeni gekommen? Hat er den Zug
genommen? Oder ist er geflogen? Wer hat ihm bei der Logistik geholfen, das Zelt
besorgt und den Proviant eingekauft? Hat er auch ein eigenes Dixie-Klo
mitgebracht oder musste er am Morgen mit den anderen Flüchtlingen Schlange
stehen? War rein zufällig ein Kamerateam vor Ort, als Blüm eintraf? Oder wurde
er schon erwartet? Und was wollte er mit seiner Aktion erreichen, außer dass man
seit dem 13. März auf Wikipedia lesen kann: "Norbert Blüm übernachtete in der
Nacht vom 12. auf den 13. März 2016 im Flüchtlingslager Idomeni, um seine
Solidarität mit den Flüchtlingen im Lager zu bekundigen. (sic!)" Bravo,
Blümchen!

Das zweite Frage ist etwas komplexer: Was wollen die Flüchtlinge? Etwa das, was
auf einem Stück Pappe zu lesen war, das ein kleines Mädchen in die Kamera hielt:
"Merkel - help, help!" Selbst wenn Mazedonien seine Grenzen öffnen und die auf
der griechischen Seite verharrenden Flüchtlinge ins Land lassen würde, wären
diese noch lange nicht am Ziel ihrer Träume. Zwischen Idomeni an der
griechisch-mazedonischen und Freilassing an der deutsch-österreichischen Grenze
liegen etwa 1500 Kilometer und etliche Grenzen, die inzwischen ziemlich
undurchlässig sind. Die Flüchtlinge müssten Mazedonien und Serbien durchqueren,
dann Kroatien und Slowenien passieren, um schließlich an der Grenze zu
Österreich anzukommen, das sich, wie man überall hören kann, ebenfalls
"abschottet". Die mehrfache Fortsetzung des "Dramas von Idomeni" ließe sich nur
vermeiden, wenn "Mama Merkel" jeden einzelnen Flüchtling persönlich abholen oder
Hunderte von Bussen schicken würde, um sie unterwegs einzusammeln. Mit beidem
ist derzeit nicht zu rechnen. Das könnten, müssten die Flüchtlinge eigentlich
wissen. Sie haben Smartphones, sind untereinander vernetzt und informieren sich
gegenseitig über Fluchtrouten und die Zustände beim Lageso in Berlin und anderen
"Erstaufnahmeeinrichtungen" entlang des Weges. Entgegen anderslautenden
Berichten wird auch kein Flüchtling gezwungen, in Idomeni zu verharren. Aber nur
wenige nehmen das Angebot der griechischen Stellen an, in anderen Lagern
untergebracht zu werden, wo wenigstens eine Grundversorgung mit Lebensmitteln
und Medikamenten gesichert ist. Die meisten wollen in Idomeni bleiben, ganz nah
an der Grenze, um den Moment der Öffnung nicht zu verpassen. Ein Teil allerdings
versucht, zu Fuß die Grenzanlagen zu umgehen, wohl wissend, dass sie nicht weit
kommen werden. Mazedonien wird sie nach Griechenland zurückschicken, in das
Lager von Idomeni, die Hölle auf Erden.

Gibt es für diese Art der Beharrlichkeit eine halbwegs vernünftige Erklärung?
Ja. Anders als im hedonistischen Europa, wo Jugendliche, denen der Einlass in
eine Disko verweigert wurde, wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung
behandelt werden müssen, gilt in der arabisch-islamischen Kultur das Leiden als
ein Wert an sich. Das festzuhalten grenzt in Zeiten der Political Correctness an
"kulturellen Rassismus", macht die Feststellung aber nicht weniger wahr.
Märtyrer zu werden, sich zu opfern ist in der arabisch-islamischen Welt als
Lebensziel ebenso weitverbreitet wie unter deutschen Jugendlichen der Wunsch,
Eventmanager zu werden. Familien von Märtyrern genießen großes Ansehen. Der
Stolz auf ihre Kinder - vor allem Söhne, aber auch immer öfter Töchter - lässt
weder Trauer noch Scham aufkommen. Dazu kommt noch etwas. Das Gefühl, für das
eigene Schicksal verantwortlich oder wenigstens mitverantwortlich zu sein, ist,
freundlich formuliert, extrem schwach entwickelt. Geht etwas schief, sind immer
andere schuld: der Kolonialismus, der Kapitalismus, der Imperialismus, der
Zionismus, der Westen an sich und die Unmoral, die er überall verbreitet. Wenn
es allerdings darum geht, Klimaanlagen zu bauen oder sich den Blinddarm
rausnehmen zu lassen, begibt man sich gerne in die Hände westlicher Experten,
deren Lebensstil man ansonsten verachtet.

Auch die Eltern der Kinder, die uns jeden Tag aus großen traurigen Augen
hilfesuchend ansehen, fühlen sich für die Leiden ihrer Kinder nicht
verantwortlich. Schuld sind diejenigen, welche die Grenzen dichtgemacht haben,
die Grenzen zwischen Griechenland und Mazedonien, Mazedonien und Serbien,
Serbien und Kroatien, Kroatien und Slowenien, Slowenien und Österreich,
Österreich und Deutschland. Offenbar gehen die meisten Flüchtlinge davon aus,
dass das Recht, nach Deutschland kommen zu können, sich in Deutschland
niederlassen zu dürfen, ein unverhandelbares Grundrecht ist. Und das hat nicht
nur mit den Selfies der Kanzlerin zu tun. Es ist eine Frage der Ehre, die ebenso
wie der Märtyrerkult zu den Säulen der arabisch-islamischen Kultur gehört, dass
man sich von Ungläubigen nicht vorschreiben lässt, wie und wo man leben soll.
Eine Berlinerin, die sich seit Monaten in der Flüchtlingshilfe engagiert, bringt
es auf den Punkt: "Sie finden, dass wir ihnen dankbar sein sollten, dass sie zu
uns kommen."

Solche Kundgebungen der Dankbarkeit sind inzwischen Teil der verbalen


Willkommenskultur. Ins Demo-Deutsch übersetzt lauten sie: "Kein Mensch ist
illegal!" und "Bleiberecht für alle!" Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im
Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, jubelte kürzlich bei einer Synode der EKD:
"Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt", mit deren Hilfe werde
Deutschland "religiöser, bunter, vielfältiger und jünger". Und auch ein wenig
gewaltaffiner, wie man spätestens seit der Silvesternacht in Köln und andernorts
weiß, ohne dass dies einen Generalverdacht rechtfertigen würde.

Das Verhalten der Flüchtlinge ist aus ihrer Sicht logisch und nachvollziehbar,
stellt aber einen Fall von moralischer Erpressung dar. "Geschieht euch recht,
wenn uns die Finger abfrieren, warum kauft ihr uns keine Handschuhe?!" Noch nie
waren Menschen, die sich auf der Flucht befinden, dermaßen auf eine Option
fixiert. Es ist, als würden Schiffbrüchige, die in einem Rettungsboot auf hoher
See dahintreiben, darauf warten, dass ein Schiff ihrer Wahl vorbeikommt und sie
aufnimmt. Es sollte schon ein großer Dampfer mit gutem Service sein, keine
schlichte Barkasse. Dafür, dass sie am Ende enttäuscht werden, weil sie sich das
Leben in Deutschland ganz anders vorgestellt haben, werden sie nicht sich,
sondern den überforderten Gastgebern die Schuld geben. Die sind es, die sich
nicht genug Mühe gegeben haben, sie zu verstehen.

Abgesehen natürlich von Norbert Blüm, der inzwischen wieder in Bonn eingetroffen
ist und überlegt, wohin er demnächst reisen wird, um in die "Tagesschau" zu
kommen.

UPDATE: 16. März 2016

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Die Welt

Donnerstag 17. März 2016

Gegendarstellung;
Zu: "Putins Glamourgirl" in der Welt vom 6. Januar 2016

RUBRIK: FORUM; Forum; S. 3 Ausg. 65

LÄNGE: 150 Wörter

Sie schreiben: "Richteten sich die Anwürfe der Linke-Politikerin doch


ausschließlich gegen die von den USA geführte Anti-IS-Koalition, der vorgeworfen
wird, bei ihren Angriffen auf Stellungen der Dschihadisten auch Zivilisten
getötet zu haben... Dass jedoch seit dem Beginn der russischen
Militärintervention aufseiten des Assad-Regimes in Syrien eine noch weit höhere
Anzahl ziviler Opfer zu beklagen ist, verschweigt die ... Antimilitaristin."

Das ist falsch: Im Deutschen Bundestag habe ich am 4.12. 2015 zu den russischen
Bombardements und den dadurch verursachten zivilen Opfern gesagt:
"Selbstverständlich sind diese Opfer genauso tragisch wie die Opfer der Bomben
der Franzosen, wie die Opfer der Bomben der Amerikaner, wie die Opfer aller
anderen Bomben."

Berlin, den 6.1. 2016

Rechtsanwalt Johannes Eisenberg für Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht hat Recht. Die Red.

UPDATE: 17. März 2016

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Die Welt
Mittwoch 23. März 2016

Anschlagsgefahr in Deutschland "sehr, sehr hoch";


Nach dem Blutbad in Brüssel werden die Sicherheitsvorkehrungen auch hierzulande
verschärft. Innenminister de Maizière sieht allerdings keinen direkten
Deutschland-Bezug

AUTOR: Marcel Leubecher; Hannelore Crolly

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 70

LÄNGE: 1359 Wörter

Nach den Anschlägen in Brüssel werden auch in Deutschland die


Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Täglich erhalten die Sicherheitsbehörden
zwei bis vier ernst zu nehmende Hinweise auf mögliche Anschlagsversuche. Das
hatte Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nach Teilnehmerangaben bei der
Sicherheitslage im Bundesinnenministerium im Januar gesagt. Sicherheitsbehörden
bestätigten der "Welt" am Dienstag diese Größenordnung.

Die allgemeine Anschlagsgefahr werde durch die Brüsseler Bluttaten in


Deutschland allerdings nicht steigen, hieß es am Dienstag nach Auskunft der
Sicherheitsbehörden. Sie sei ohnehin "bereits heute sehr, sehr hoch".

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte mit Blick auf die Anschläge
in Belgien: "Wir haben derzeit keinerlei Hinweise über einen Deutschlandbezug.
Aber wir wollen natürlich sichergehen, und deswegen werden entsprechende
Maßnahmen lageabhängig durchgeführt."

Der Bundesinnenminister sieht die Anschläge in Brüssel nicht nur als Angriff auf
Belgien, sondern auf die gesamte EU. Das zeige die Auswahl eines internationalen
Flughafens und einer U-Bahn-Station im Brüsseler EU-Viertel als Anschlagsziele.
"Ein Zurückweichen darf es nicht geben", kündigte de Maizière einen harten und
entschlossenen Kampf "gegen den Terrorismus" an.

Informationen über deutsche Opfer der Anschläge gab es laut de Maizière zunächst
nicht, allerdings liege noch keine vollständige Lagebewertung vor.

Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) sagte, obwohl bisher


nichts dafür spreche, dass mögliche Täter oder Hintermänner in Richtung
Deutschland geflüchtet sind, seien mehrere Spezialeinheiten im Einsatz. Die
Polizeihubschrauberstaffel und die Streifenpolizei wurden in erhöhte
Bereitschaft versetzt. Alle Polizisten haben mittlerweile Maschinenpistolen im
Wagen.

Am Frankfurter Flughafen kontrollieren Bundespolizisten mit Sprengstoffhunden


die Terminals und jeden Abfallbehälter. Aus einsatztaktischen Gründen wollte die
Bundespolizei am Nachmittag keine Details zu konkreten Maßnahmen nennen, aber
die Präsenz wurde sichtbar verstärkt. Eine aktuelle Bedrohung für die
Sicherheitslage bestehe aber nicht, sagte Hessens Innenminister Peter Beuth
(CDU). Beamte aus mehreren Polizeipräsidien sowie Bereitschaftspolizisten
kontrollieren gemeinsam mit der Bundespolizei verstärkt die Grenzregion von
Rheinland-Pfalz zu Belgien und Luxemburg.

Durch die intensiven Anstrengungen von Polizei und Geheimdiensten konnten in


Deutschland bislang größere islamistische Terroranschläge verhindert werden.
Einzig dem Kosovo-Albaner Arid Uka gelang es vor fünf Jahren, am Frankfurter
Flughafen zwei US-Soldaten zu erschießen und zwei weitere zu verletzen. Der
Kosovo-Albaner hatte sich durch Internetforen und die salafistische Szene im
Rhein-Main-Gebiet zum Terroristen entwickelt.

Für viele in den Sicherheitsbehörden gilt schon vor dem Abschluss der
Ermittlungen die jüngste islamistische Gewalttat in Hannover als zweiter
geglückter Terroranschlag in Deutschland. Am 26. Februar stach eine 15-Jährige
in Hannover einem Bundespolizisten ein Messer in den Hals. Die
Deutsch-Marokkanerin verkehrte im vom Verfassungsschutz beobachteten
"Islam-Kreis". Schon als siebenjähriges Kind ließ ihre Mutter sie an der Seite
des Salafisten-Predigers Pierre Vogel Koranverse zitieren. Vogel erreicht
alleine über Facebook bis zu 156.000 Personen mit seiner gefährlichen
Interpretation des Islam. So viele Nutzer haben sein Profil mit "Gefällt mir"
markiert.

Insgesamt wurden durch die Bundesländer Ende Dezember 447 Personen als
islamistische Gefährder eingestuft. Ihnen wird die Umsetzung einer erheblichen
Straftat zugetraut. Vor allem in Bremen, Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen
sind überproportional viele gemeldet, wie Recherchen
(http://www.welt.de/politik/deutschland/article152972968/Die-deutschen-Hochburge
n-der-islamistischen-Gefaehrder.html) der "Welt am Sonntag" ergaben.

Wer sich in der Bundesrepublik aufhält, wird von den Sicherheitsbehörden im Auge
behalten. Der Aufenthaltsort dieser Personen wird regelmäßig festgestellt,
manchmal werden sie auch observiert. Was es allerdings fast nie gibt, ist eine
Rund-um-die-Uhr-Überwachung. Pro Gefährder wären dafür rund 30 Beamte
(http://www.welt.de/politik/deutschland/article136493969/Warum-sich-Terroristen-
so-schwer-ueberwachen-lassen.html) notwendig. Neben den Gefährdern gibt es die
Kategorie der sogenannten relevanten Personen. Auch sie gelten als stramm
islamistisch, stehen im Gegensatz zu den Gefährdern aber nicht im Verdacht,
irgendwann selbst einen Anschlag oder einen Mord auszuführen. Das gesamte
"islamistisch-terroristische" Personenpotenzial in Deutschland oder mit
deutscher Staatsangehörigkeit wird von der Regierung mit rund 1100 Personen
angegeben.

Große Sorge bereiten auch die mehr als 800 Personen, die aus Deutschland nach
Syrien oder den Irak ausreisten. Nach Auskunft der Sicherheitsbehörden ist ein
Drittel von ihnen bereits wieder zurückgekehrt. Nach geltender Gesetzeslage ist
die Ausreise aus Deutschland in ein Bürgerkriegsgebiet nicht strafbar, sie ist
auch kein Grund für eine Überwachung nach der Rückkehr. Selbst die
Telefonüberwachung eines Rückkehrers ist nur dann möglich, wenn es weitere
Hinweise gibt.

Der Verfassungsschutz weist darauf hin, dass die Terrorbekämpfung eine


gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Jeder Bürger solle sich beim dafür
eingerichteten "Hinweistelefon islamistischer Terrorismus" melden, wenn in der
Umgebung für Terror geworben wird oder sich Personen aus dem sozialen Umfeld
radikalisieren.

Politiker in Deutschland reagierten mit Solidaritätsadressen,


Mitleidsbekundungen und Sicherheitsversprechungen auf den Terrorakt in Brüssel.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich bestürzt über die
Terroranschläge. Sie sei entsetzt darüber, "was Terroristen den Menschen in
Brüssel heute angetan haben" und damit darüber, "was Terroristen uns allen
angetan haben", sagte sie am Dienstagnachmittag in Berlin. Das Entsetzen sei
ebenso grenzenlos wie die Entschlossenheit, den Terrorismus zu besiegen.

Die Täter nähmen keinerlei Rücksicht auf die Gebote der Menschlichkeit, sondern
seien "Feinde aller Werte, für die Europa heute steht", betonte die Kanzlerin.
Die freien Gesellschaften würden sich jedoch als stärker erweisen als der
Terror. Die Bundesregierung rief zu "Entschlossenheit gegen die Terroristen"
auf.

Bundespräsident Joachim Gauck sprach dem belgischen König Philippe am Dienstag


seine Anteilnahme aus und verurteilte die Anschläge. Deutschland stehe an der
Seite Belgiens. "Gemeinsam werden wir unsere europäischen Werte, Freiheit und
Demokratie, verteidigen", schrieb Gauck, der sich zu einem Staatsbesuch in China
aufhält.

Gauck hatte Belgien erst vor zwei Wochen besucht. Umso tiefer fühle er sich dem
Land und seinen Bürgern verbunden, erklärte er: "Wir sind von den Ereignissen
schockiert, teilen die Trauer des belgischen Volkes und fühlen den Schmerz der
Familien und Freunde der Opfer nach."

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verurteilte die Anschläge scharf.


Sie zielten "auf das Herz Europas und richten sich in ihrer verbrecherischen
Heimtücke auf wehrlose Menschen". Belgien könne sich auf die Unterstützung
Europas verlassen, sagte Steinmeier: "Wir stellen uns dem Terrorismus gemeinsam
und entschlossen entgegen." Steinmeier sprach den Opfern und ihren Angehörigen
sein Mitgefühl aus: "In Gedanken sind wir bei unseren belgischen Nachbarn." Im
Auswärtigen Amt trat ein Krisenstab zusammen, der in engem Kontakt mit den
belgischen Behörden steht.

Die Kirchen riefen zum Gebet für die Opfer auf. Der Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, erklärte:
"Solche feigen Anschläge sind durch keine Religion zu rechtfertigen: Terror ist
Gotteslästerung." Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz,
Kardinal Reinhard Marx, zeigte sich "traurig und bestürzt". Seine Gedanken seien
bei den Toten, den Verletzten und ihren Angehörigen, erklärte er. In dieser
Karwoche werde für sie gebetet.

Wir sind von den Ereignissen schockiert und teilen die Trauer der Belgier
Bundespräsident Joachim Gauck

UPDATE: 23. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 24. März 2016

"Krieg zwischen Humanität und Barbarei";


Manfred Weber, Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament, fordert eine
EU-Terrorwarndatei

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 71

LÄNGE: 1177 Wörter

Manfred Weber hatte Glück. Er war am Tag der Anschläge von Brüssel nicht in der
Stadt. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei und CSU-Vize sieht nach
der Attacke die EU und ihre Staaten in der Pflicht, endlich den Datenaustausch
zu intensivieren. Die europäische Antwort auf den Terror dürfe jedoch nicht so
ausfallen wie die amerikanische nach dem 11. September.

Die Welt:

Herr Weber, Sie sind Wahl-Brüsseler. Haben Sie erwartet, dass etwas passieren
wird?

Manfred Weber:

Brüssel war seit dem Pariser Anschlag im November im Alarmzustand. Vor dem
europäischen Parlament stehen bewaffnete Soldaten ebenso wie an vielen
öffentlichen Gebäuden. Die Terror-Bedrohung war also für alle deutlich spürbar.
Zum einen gibt einem das das Gefühl, dass der Staat da ist, für Sicherheit
sorgt. Andererseits darf es nicht normal werden, wenn überall Militär steht. Ich
war am Dienstag nicht in der Stadt, ich hatte aber Angst um Mitarbeiter und
Parlamentskollegen. Da kann ich Gott sei Dank Entwarnung geben.

Wo liegen die entscheidenden Schwachstellen der europäischen


Sicherheitsarchitektur?

Kein Staat alleine kann diese Herausforderung lösen. Deshalb muss Schluss sein
mit den nationalen Egoismen, mit Wegducken und Schuldzuweisungen. Wir müssen die
europäische Sicherheit neu organisieren. Nach jedem Anschlag der letzten Jahre
gab es Sondertreffen der europäischen Innenminister. Aber passiert ist nichts.
Weiterhin ist auf jedem nationalen Dokument ein Top-Secret-Schild, damit es
nicht an andere Staaten weitergegeben werden kann. Bei jedem Anschlag wurde aber
deutlich, dass eine bessere Vernetzung der Behörden mehr Sicherheit gebracht
hätte. Daraus müssen wir endlich Konsequenzen ziehen. Es geht um nichts
Geringeres als die Selbstbehauptung Europas: Da ist die gesamte EU gefordert.
Die Terroristen standen in ihren Ländern teils auf Fahndungslisten oder waren in
einer Warndatei geführt, aber der Austausch über die Landesgrenzen hinweg fand
nicht statt. Deshalb brauchen wir eine europäische Terrorwarndatei, eine Liste
von Menschen, die unter Terrorverdacht stehen. Wer kann sich noch vorstellen,
dass es in Deutschland lange keinen Austausch zwischen den Landeskriminalämtern
gab. Das ist heute selbstverständlich und das muss es auf europäischer Ebene
auch werden.

Der nationale Egoismus müsste doch dahin gehen, seine Bürger zu schützen. Das
wäre ein Argument für mehr Austausch. Mit welchem Argument wurde er bisher
eigentlich verhindert?

Es gibt noch immer den alten Trott. Schuld ist das mangelnde Vertrauen zwischen
den Behörden. Es liegt an den Innenministern Europas, dieses Vertrauen
aufzubauen und die Behörden anzumahnen, den Kontakt zu suchen. Darüber hinaus
fehlt noch immer ein wirkliches Bewusstsein dafür, welches Machtinstrument man
mit Personendaten in der Hand hat. Da lassen wir uns von Internetkonzernen wie
Google oder Facebook vormachen, wie das geht. Daten bedeuten Macht, keine Daten
bedeuten Machtlosigkeit. Wir brauchen auf europäischer Ebene zwei neue Dateien.
Die eine enthält die Fluggastdaten. In der letzten Sitzung des europäischen
Parlaments wollten wir als Europäische Volkspartei über die Einführung dieser
Datei abstimmen, doch Rot-Grün ließ das Ganze noch einmal vertagen. Wir
verlieren zu viel Zeit. Darüber hinaus sind wir bei Informationen darüber, wie
sich Terror finanziert, auf die Hilfe der USA angewiesen. Die Amerikaner haben
eine eigene Software, um über Abrechnungen von Kreditkarten herauszufinden, wie
die Geldströme gelenkt werden. Wir brauchen schnell ein europäisches
Auswertungssystem, um die Finanzierung von Terror trockenzulegen.

Welche Länder erweisen sich in der Zusammenarbeit als kompliziert?

Es bringt nichts, einzelne Staaten herauszugreifen. Wir müssen alle mehr machen.
Die zentrale Behörde ist Europol. Sie muss gestärkt werden. Bisher kann sie nur
Daten auswerten, die sie freiwillig bereitgestellt bekommt von den Staaten.
Zukünftig muss Europol das Recht bekommen, Daten anzufordern und automatisch auf
sie zuzugreifen.

Datenschutz ist mittlerweile Sache der EU-Ebene. Was muss sich ändern?

Wir Europäer müssen eine europäische Antwort auf den Terror geben. Aber wir
müssen auch eine europäische Art der Antwort formulieren. Die muss sich deutlich
unterscheiden von der, die die USA nach dem 11. September gegeben haben. Konkret
bedeutet das, dass hinter den gemeinsamen Dateien weiterhin ein starker
Datenschutz steht. Das Prinzip des Rechtstaats müssen wir hochhalten. Wir wollen
keinen gläsernen Bürger. Wenn Menschen keine Straftaten begangen haben, dürfen
sie nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Die Grundregel muss lauten,
dass etwa auf meine Fluggastdaten nur zugegriffen werden kann, wenn ein
Anfangstatverdacht vorliegt. Es darf keine Massenauswertung stattfinden.
Europäische Antwort heißt aber auch, dass wir in der Außenpolitik Friedensmacht
sein müssen. Die Amerikaner haben nach meinem Dafürhalten die falsche Antwort
gegeben, indem sie im Irak und Afghanistan interveniert haben. Wir müssen alles
daran setzen, dass das Gewicht der Europäischen Union dazu führt, in den
Krisenregionen Frieden zu schaffen. Die Friedensgespräche für Syrien in Genf
sind da ein hoffnungsvolles Zeichen, dass dies gelingen kann.

Sie sprechen von mehr Überwachung, aber was ist mit den Hasspredigern, mit
jenen, die erst für Radikalisierung sorgen?

Wer Hass predigt, den müssen wir als Staat mit aller Härte des Rechtstaates
unter Kontrolle bringen, bis hin zur Ausweisung. Wir müssen aber auch
klarstellen, dass im Internet Hasspropaganda verboten und kontrolliert wird.
Appelle allein an Facebook und Co. reichen da nicht. Diese Inhalte müssen
gelöscht, ihre Urheber zur Rechenschaft gezogen werden.

In wenigen Wochen startet die Fußball-EM in Frankreich. Wird diese EM anders als
andere davor?

Die Fußball-EM muss in jedem Fall stattfinden. Ein Zurückweichen würde den
Terroristen recht geben. Wir geben die beste Antwort, indem wir unsere Freiheit
weiter leben, auch in dem Bewusstsein, dass wir in Gefahr schweben. Die Behörden
werden das Notwendige tun. Das wird zu mehr Kontrollen führen. Europa muss sich
auf einen langen Kampf einstellen.

Die belgischen Moscheen wurden über Jahre durch Saudi-Arabien gefördert. In


Deutschland ist der türkische Staat zuständig. Können wir das hinnehmen?

Wir müssen genau hinschauen. Die Moscheen kontrollieren, Exzesse verbieten. Wir
dürfen uns von den Terroristen aber nicht einreden lassen, dass es sich um einen
Glaubenskrieg handelt. Beim Anschlag auf "Charlie Hebdo" haben die Terroristen
einen muslimischen Polizisten erschossen. Es kommen viele Muslime bei den
Anschlägen um. Es ist ein Krieg zwischen Humanität und Barbarei.

Ist das ehrlich? Diese Terroristen fühlen sich von ihrem Gott und ihrer Religion
gesendet, die Ungläubigen zu töten. Was ist das anderes als ein Glaubenskrieg?

Natürlich hat die Radikalität ihre Wurzeln in der politischen Ideologie des
Islamismus. Aber es gibt Millionen friedfertiger Muslime. Wenn wir jetzt von
Glaubenskrieg sprechen, betreiben wir das Geschäft der Hassprediger und
Terroristen.

UPDATE: 24. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Olivier Hoslet


Gemeinsames Gedenken: Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission
(3.vl.), mit dem belgischen König Philippe (2.v.l.), Königin Mathilde (4.v.l.)
und dem belgischen Premier Charles Michel (5.v.l.). Mitarbeiter der europäischen
Institution tragen eine Europaflagge und eine belgische Fahne
Olivier Hoslet

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Die Welt

Donnerstag 24. März 2016

Aus Sicht des IS waren sie die idealen Attentäter;


Ibrahim und Khalid El Bakraoui hatten gute Beziehungen zur Organisierten
Kriminalität - und so Erfahrungen mit Waffen und Sprengstoff

AUTOR: Alfred Hackensberger

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 71

LÄNGE: 931 Wörter

Auf dem Video der Überwachungskamera ist er einer der drei Männer, die ihren
Gepäckwagen durch die Abflughalle des Brüsseler Flughafen schieben. Mit einem
Handschuh an der linken Hand scheint er den Zünder der Bombe zu verbergen, die
in seinem Koffern versteckt ist und wenig später explodiert. Vierzehn Menschen
sterben und mehr als 90 werden verletzt. Der Attentäter ist Ibrahim El Bakraoui,
29, vermutlich Marokkaner, der in Belgien aufgewachsen ist. Fast zur gleichen
Zeit sprengt sich sein Bruder Khalid, 27, in der Metrostation in der Rue de la
Loi in die Luft, tötet dabei 14 Menschen und verletzt mehr als 130.

Für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verkörpern beide eine Kombination,
die besser nicht sein könnte. Kriminelle, die zu Dschihadisten mutierten. Da
braucht es wenig Schulung - die richtigen Kontakte zu Waffen, Munition und
gefälschten Dokumenten sind bereits vorhanden. Khalid und Ibrahim waren alte
Bekannte der belgischen Polizei und hatten langjährige Beziehungen zur
Organisierten Kriminalität. Ibrahim war zu neun Jahren Gefängnis verurteilt
worden, da er nach einem versuchten Überfall auf eine Geldwechselstube 2010 mit
einer Kalaschnikow auf Polizisten geschossen und dabei drei Beamte verletzt
hatte. Khalid, der zwei Jahre jüngere Bruder, war auf Autoklau spezialisiert,
hatte aber auch Beziehungen zum Waffengeschäft. Bei seiner ersten Verhaftung war
er im Besitz von Gewehren. Im Jahr 2011 verurteilte ihn ein Gericht zu fünf
Jahren Haft.

Die Ermittler haben nun einen Computer mit Ibrahim El Bakraouis Testament
sichergestellt. Der Rechner sei in einem Müllbehälter in der Brüsseler Gemeinde
Schaerbeek gefunden worden, wo es am Dienstagabend Razzien nach den Anschlägen
gegeben hatte. Nun fanden Ermittler dort auch eine Art Bombenfabrik.
Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw sagte, es seien unter anderem 15 Kilogramm
hochexplosives Azetonperoxid (TATP), ein Koffer mit Nägeln und Schrauben sowie
weiteres Material für den Bombenbau sichergestellt worden.

Es liegen offenbar zu beiden Brüdern Beweise vor, die sie direkt mit den
Attentaten von Paris im November in Verbindung bringen. Bei ihrer Vergangenheit
ist es kein Wunder: Khalid und Ibrahim sollen für die Attentäter in Frankreich
Waffen und Munition besorgt haben. Über ihre alten Beziehungen ins Milieu dürfte
das eine Kleinigkeit gewesen sein. Ebenso leicht könnten sie Sprengstoff oder
zum Bombenbau benötigte Utensilien beschafft haben. Das ist alles nur eine Frage
der Kontakte und des Geldes.

Seit dem 15. März waren sie zur Fahndung ausgeschrieben. An diesem Tag hatte es
im Brüsseler Stadtteil Forest ein Razzia in einer Wohnung gegeben, bei der
Mohammed Belkaid, einer der Paris-Attentäter, getötet wurde. Ibrahim und sein
Bruder Khalid, der die Wohnung angemietet haben soll, entwischten damals der
Spezialeinheit der Polizei. Seltsam ist, dass die belgischen Behörden nicht
sofort eine Großfahndung nach dem Bruderpaar einleiteten und ihre Fotos an die
Öffentlichkeiten gaben. Vielleicht wäre der Anschlag vom Montag so verhindert
worden.

Für den Islamischen Staat sind Khalid und Ibrahim als Selbstmordattentäter zu
Helden geworden. Denn eigentlich hätten sie sich nicht in die Luft sprengen
müssen. Die Gepäckwagen hätten sie stehen lassen und nach dem Verlassen der
Abflughalle über das Telefon zünden können. Die Frage ist, ob sie mit ihrem Tod
unbedingt ein Zeichen setzten wollten oder ob sie überhastet handeln mussten und
keine Zeit hatten, Fernzünder einzusetzen. Letzteres sollte nach einer
Ausbildung durch den IS eine Kleinigkeit für Terroristen sein. Auf dem
Überwachungsvideo des Flughafens von Brüssel ist noch ein anderer Mann zu sehen,
bei dessen Identität die belgischen Behörden noch im Dunkeln tappen. Er ist, wie
Ibrahim El Bakraoui, schwarz gekleidet und verbirgt ebenfalls mit einem
Handschuh an der linken Hand den Zünder seiner Bombe. Der dritte Mann, der ein
weißes Hemd und eine beige Jacke trägt, soll Nadschim Laachraoui sein, dessen
Festnahme am Mittwochmorgen bereits fälschlicherweise gemeldet worden war. Am
Abend berichtete ein belgischer TV-Sender, Laachraoui sei tot.

Der Mann ist wohl einer der Drahtzieher der Terrorzelle. Seine DNS wurde in
einem Haus in Auvelais im Süden Belgiens gefunden sowie in einer Wohnung im
Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. DNS-Spuren von ihm sollen auch an mindestens
zwei Sprengstoffgürteln der Paris-Attentate gefunden worden sein. Einer davon
explodierte vor dem Bataclan-Theater, der andere vor dem Stade de France.
Laachraoui hat Elektromechanik studiert und wird für den Sprengstoffbaumeister
des französisch-belgischen Netzwerks gehalten. Er war im Februar 2013 nach
Syrien ausgereist und lernte dort das Terrorhandwerk. Seit 2014 wird er mit
Haftbefehl gesucht. Unter dem falschen Namen Soufiane Kayal kam er wieder nach
Belgien zurück - offenbar, um Anschläge für den IS auszuführen. Nach Auswertung
der Kommunikation der Paris-Attentate mussten die französischen Behörden
feststellen, dass Laachraoui und der inzwischen getötete Mohammed Belkaid alias
Samir Bouzid von Brüssel aus ihre Männer in Frankreich gesteuert hatten.

Eine Verhaftung oder der Tod Laachraouis würde überraschend kommen. Als
IS-Sprengmeister hat er besonderen Wert für die Organisation und sollte
eigentlich unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen unterwegs sein. Er wird
mehrere Pässe haben, spezielle Kontaktpersonen und eigene sichere Unterkünfte.
Laachraoui hat eine Schlüsselfunktion, und sollte er nicht gestoppt werden, muss
man sich wohl auf weitere Bomben gegen Zivilisten an öffentlichen Orten
einstellen.

UPDATE: 24. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Belgium Federal Police/Handout; AFP; REUTERS/HANDOUT; REUTERS/


CHARLES PLATIAU
Diese drei Männer sollen hinter den Anschlägen stecken: die Brüder Khalid (l.o.)
und Ibrahim El Bakraoui (l.M.) sowie Nadschim Laachraoui (l.u.). In Anderlecht
stellt die Polizei Beweisstücke aus einer verdächtigen Wohnung sicher (o.)
dpa/Belgium Federal Police/Handout; AFP; REUTERS/HANDOUT; REUTERS/ CHARLES
PLATIAU
Diese drei Männer sollen hinter den Anschlägen stecken: die Brüder Khalid (l.o.)
und Ibrahim El Bakraoui (l.M.) sowie Nadschim Laachraoui (l.u.). In Anderlecht
stellt die Polizei Beweisstücke aus einer verdächtigen Wohnung sicher (o.)
dpa/Belgium Federal Police/Handout; AFP; REUTERS/HANDOUT; REUTERS/ CHARLES
PLATIAU
Diese drei Männer sollen hinter den Anschlägen stecken: die Brüder Khalid (l.o.)
und Ibrahim El Bakraoui (l.M.) sowie Nadschim Laachraoui (l.u.). In Anderlecht
stellt die Polizei Beweisstücke aus einer verdächtigen Wohnung sicher (o.)
dpa/Belgium Federal Police/Handout; AFP; REUTERS/HANDOUT; REUTERS/ CHARLES
PLATIAU
Diese drei Männer sollen hinter den Anschlägen stecken: die Brüder Khalid (l.o.)
und Ibrahim El Bakraoui (l.M.) sowie Nadschim Laachraoui (l.u.). In Anderlecht
stellt die Polizei Beweisstücke aus einer verdächtigen Wohnung sicher (o.)
CHARLES PLATIAU
HANDOUT
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Belgium Federal Police,Handout

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Die Welt

Samstag 26. März 2016

Osterspaziergang mit Goethe;


Was machen wir jetzt, da Orient und Okzident nicht mehr zu trennen sind? Viele
Flüchtlinge werden bleiben, viele werden zurückkehren. Für beider Zukunft ist
entscheidend, ob es gelingt, den Feind zu besiegen, der Okzident und Orient
gleichermaßen bedroht

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: FORUM; Leitartikel; S. 3 Ausg. 72

LÄNGE: 1111 Wörter

Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten sich zu wiegen, lass'
ich gelten; also zwischen Ost und Westen sich bewegen sei zum Besten." Man
findet diese Verse im "Westöstlichen Divan". In dem poetischen Selbstversuch
tritt Johann Wolfgang von Goethe in einen Dialog mit dem persischen Dichter
Hafis. Ja, er versucht eine Art Selbstorientalisierung, eine Anverwandlung an
die "andere" Kultur. Und siehe da, es stellt sich heraus, dass im menschlichen
Fühlen, Denken, Trachten und Glauben die Differenzen, die Gegensätze
verschwinden und der Blick frei wird auf einen gemeinsamen Reichtum, zu dem auch
die Erotik, der Wein und der Rausch gehören. Goethe hielt sich da eher an den
mystischen Islam.

Mit der Idee der Geschwisterlichkeit von Okzident und Orient zeichnete Goethe
ein Grundmuster, welches in der Selbst- und Weltwahrnehmung des deutschen
Bildungsbürgertums höchst wirksam war. In seiner popularisierten Form tritt es
uns noch in Karl Mays Gespann Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar entgegen,
wobei allerdings in diesem west-östlichen Geschwisterpaar der christlich-
deutsche Edelmensch unverkennbar und ziemlich penetrant als großer Bruder
auftritt. Sei's drum. Gemeinsam stehen sie den Jesiden bei. Und heute würden sie
all ihren Mut und all ihre List aufbieten, um den Islamischen Staat zu bekämpfen
und Prinzessinnen aus den Fängen von Schleusern zu befreien. Irgendwelche
kulturellen Berührungsängste hatten diese beiden Ausgeburten eines
superdeutschen Gehirns des späten 19. Jahrhunderts jedenfalls nicht. Was hilft
es, sich angesichts von Flüchtlingskrise und islamistischem Terror an Goethe und
Karl May zu erinnern? Ist das nicht reiner Eskapismus? Ist es jetzt nicht Zeit,
zu handeln und die Probleme zu lösen, damit endlich wieder Ruhe einkehrt und
"Normalität"? Darauf gibt es zwei Dinge zu sagen. Erstens: Es ist Ostern.
Zweitens: Es müssen keine Probleme gelöst werden, weil es keine lösbaren
Probleme gibt.

Mit Ostern sind wir erneut bei Goethe. Er hat den "Osterspaziergang" geschaffen
als Dichtung, in der sich ein weit verbreiteter Brauch verdichtet und
literarische Würde gewinnt. Der Frühling kommt von ganz allein. Er braucht
genauso wenig wie die Auferstehung menschliches Zutun. Deswegen geht man an
Ostern spazieren. Der Spaziergänger geht um des Gehens willen und genießt mit
allen Sinnen den neuerlichen Aufbruch der Natur. Er ist damit als Fußgänger das
genaue Gegenteil des Flüchtlings, bei dem das Irgendwo-Ankommen eine
Überlebensfrage ist. Im Gedicht ergießt sich ein "buntes Gewimmel" aus dem
Stadttor in die Flur. Die Menschen "feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie
sind selbst auferstanden". Sie lösen sich aus "Handwerks- und Gewerbebanden",
also aus dem ewigen Einerlei ihres Alltags genauso wie aus den Begrenzungen
ihrer gesellschaftlichen Stellung. Denn draußen, da ist "des Volkes wahrer
Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein; hier bin ich Mensch, hier darf ich's
sein". Jeder darf an Ostern raus. Deshalb gehören zu einem solchen österlichen
Volksgewimmel heute auch die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften - Familien aus
Syrien, aus dem Irak oder Afghanistan. Mit nichts könnte man ihnen deutlicher
zeigen, dass sie ihre Flucht hinter sich und eine höchst ungewisse, aber
immerhin überhaupt eine Zukunft vor sich haben, als mit einer Einladung zum
Osterspaziergang. Niemand weiß, ob das Jahr hält, was der Frühling verspricht.
Aber wenn man gemeinsam über die noch offene Flur geht, die morgen durch Flut
und übermorgen durch Dürre verdorben werden kann, dann macht man gleichwohl
Pläne, dann redet man darüber, was werden soll.

Was machen wir jetzt, da Orient und Okzident auf eine viel handgreiflichere
Weise nicht mehr zu trennen sind, als Goethe das meinte? Viele Flüchtlinge
werden bleiben, viele werden zurückkehren. Für beider Zukunft ist entscheidend,
ob es gelingt, den Feind zu besiegen, der Okzident und Orient gleichermaßen
bedroht. Wir stehen nicht in einem Krieg der Kulturen, sondern in einem Krieg
gegen einen "islamistischen" Terrorismus, der nicht nur die westliche Kultur,
sondern auch die islamische Kultur bis aufs Blut hasst und unter sogenannten
Glaubensbrüdern die weitaus meisten Opfer fordert. Ein Osterspaziergang mit
Flüchtlingen wäre ein Zeichen, dass sie an unsere Seite und nicht hinter
irgendwelche Absperrungen gehören.

Nun zu den Problemen. Die sind, wie gesagt, vorderhand unlösbar. Niemand weiß,
ob die Integration, was immer das sein soll, gelingt. Immerhin zeigt das
europäische Terrorgeschehen der letzten Monate, was keinesfalls passieren darf.
Die Täter sind in Europa groß geworden, nicht in Bagdad oder Aleppo. Es darf
also keine Parallelgesellschaften muslimischer Einwanderer geben. Muslimisches
Leben aber gehört wohl zum österlichen Volksgetümmel, auch mit Kopftuch. Aber,
wie gesagt, das ist eine Sichtweise, eine Haltung, die auf kulturelle
Traditionen verweisen, doch natürlich nicht garantieren kann, dass das Konzept
neugieriger Toleranz am Ende wirklich Frieden stiftet.

Denn das Böse zeugt sich selbst fort. Es ist nicht nur die Folge des auf dumme
Weise Gutgemeinten, etwa von zu viel Toleranz und Aufnahmebereitschaft. Nein,
Krieg, Gewalt und Grausamkeit entfalten aus sich heraus eine düstere und für
manche unwiderstehliche Faszination. Es wollen eben nicht alle Menschen ein
friedliches, ruhiges Leben. Es würden auch nicht alle Menschen ein westliches
Leben führen, wenn sie das könnten.

Es ist eine zivilisatorische Leistung, das humane Gewaltpotenzial staatlich


einzuhegen. In den reichen Gesellschaften des Westens ist das so weit gelungen,
dass die Menschen sich in der Illusion wiegen, Gewalt sei etwas Pathologisches,
das man therapieren könne und müsse. Wenn Staaten zusammenbrechen, formiert sich
aber die Gewalt neu und setzt sich, wie der Islamische Staat, Ziele, die der
moderaten Vernunft nur irrsinnig vorkommen können. Es ist dieser
wohlorganisierte, zielstrebige Irrsinn, gegen den wir einen Krieg führen, von
dem wir noch nicht wissen, wie wir ihn gewinnen sollen. Das gibt eine Menge
Anlass, beim Osterspaziergang darüber nachzudenken, mit welchen Gewohnheiten wir
brechen müssen. Vielleicht erst einmal mit unseren Erwartungen an die Politik:
Sie kann uns mit noch so martialischen Grenzregimen die Rückkehr zur
"Normalität" nicht bescheren. Hilfsbereitschaft, Gottvertrauen und Tapferkeit in
diesen gefährlichen Zeiten müssen wir selbst aufbringen.

Hilfsbereitschaft, Gottvertrauen und Tapferkeit in diesen gefährlichen Zeiten


müssen wir selbst aufbringen
eckhard.fuhr@weltn24.de (mailto:eckhard.fuhr@weltn24.de)

UPDATE: 26. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: M. Lengemann

PUBLICATION-TYPE: Zeitung

ZEITUNGS-CODE: WE

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Alle Rechte vorbehalten

1660 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Mittwoch 30. März 2016

Gebt den Frauen das Kommando;


In Saudi-Arabien entsteht eine riesige Industriestadt, zu der Männer keinen
Zutritt haben sollen. Ist das fortschrittlich oder ein weiterer Schritt in die
Apartheid zwischen den Geschlechtern?

AUTOR: Dietrich Alexander

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 74

LÄNGE: 1502 Wörter

Als Lubna Olayan 1983 in die Firma ihres Vaters Suliman eintrat, war sie die
einzige Frau unter 4000 Angestellten. Es sollte ganze 18 Jahre dauern, bis Lubna
eine Kollegin in dem multinationalen Firmenkonglomerat im Besitz ihrer Familie
begrüßen konnte - die sie selbst einstellte. Heute, noch einmal 15 Jahre später,
bestimmt sie als Vorstandsmitglied - neben ihren drei Geschwistern - der Olayan
Financing Co. (OFC) mit Hauptsitz in Riad selbst die Spielregeln - und
beschäftigt 12.000 Menschen, davon sind 400 Frauen.

Insgesamt 1000 weibliche Angestellte auf allen Ebenen im geschätzt zehn


Milliarden Dollar schweren Mischkonzern, der so unterschiedliche Branchen wie
Aluminium-, Stahl- und Plastikproduktion sowie die regionale Herstellung und den
Vertrieb von Kleenex, Coca-Cola und Huggies-Windeln vereint, sollen es in diesem
Jahr werden. Das hat Lubna Olayan als Ziel ausgegeben.

Die mit dem Anwalt John Xefos verheiratete, 60 Jahre alte Unternehmerin,
dreifache Mutter und inzwischen auch Großmutter, ist gewissermaßen die
Galionsfigur weiblicher saudischer Arbeitsemanzipation. 2005 schaffte sie es in
die Top 100 der einflussreichsten Menschen im Ranking des "Time"-Magazins. In
der 2015er "Forbes"-Liste der einflussreichsten Frauen, die Bundeskanzlerin
Angela Merkel anführt, rangiert sie auf Platz 67. Sie sitzt im Aufsichtsrat von
Rolls-Royce und der Citigroup. Eine außergewöhnliche Karriere, ganz besonders
für saudi-arabische Verhältnisse. Der Grundstein dafür wurde früh gelegt. Lubna
Olayan wuchs auf im kosmopolitischen und weltoffenen Beirut und lebte neun Jahre
in den USA - ein Umstand, den sie heute für ihr freiheitliches und liberales
Denken verantwortlich macht. Sie studierte an der Cornell University
(US-Bundesstaat New York) und an der Indiana University, wo sie mit einem MBA
abschloss. "Je mehr Herausforderungen man im Leben meistert, desto mehr
Lebenserfahrung sammelt man. Diese gelebte Erfahrung gibt einem die Kraft, das
Leben anderer Menschen zu beeinflussen", sagte Lubna dem Magazin "Fortune" vor
ein paar Monaten. Es könnte als ihr Lebensmotto gelten.

Erlebte Erfahrung auch im Firmensitz in Riad: 300 Menschen arbeiten in der Nah-
und Mittelostzentrale im engeren Umfeld der Chefin, aus 23 verschiedenen
Ländern. Frauen und Männer begegnen sich dort in Besprechungen, einige Frauen
tragen die landesübliche Abaya, die Ganzkörperverschleierung mit Sehschlitz,
andere ein Kopftuch, wieder andere ein konservatives westliches Businesskostüm.
Englisch ist Arbeitssprache, man redet sich mit den Initialen an, das spart
Zeit. Lubna Olayan ist LSO - Lubna Suliman Olayan.

Frauen wie Lubna Olayan sind es, die der Emanzipation saudischer Frauen zu
Erfolgen verhelfen können. Saudi-Arabiens Frauen sind sich indes noch nicht ganz
einig darüber, ob sie gerade einen Sieg oder eine Niederlage davontragen: Auf
einer Fläche von 500.000 Quadratmetern (etwa 70 Fußballfelder) wird in der Stadt
Janbu am Roten Meer, 160 Kilometer westlich von Medina, ein Industriekomplex
gebaut, zu dem Männer keinen Zutritt haben werden. Die einen sagen, in dem neu
entstehenden Teil der 180.000 Einwohner zählenden Stadt mit einem wichtigen
Ölhafen können sich die Frauen in der durch und durch patriarchalischen
saudischen Alltagswelt endlich beruflich ausleben, ihre Gedanken und Fähigkeiten
zur Geltung bringen. Moderate Kritiker meinen, es sei nur ein weiterer Auswuchs
fast schon paranoider Geschlechtertrennung in der sunnitischen Monarchie, in der
die äußerst konservative wahhabitische Interpretation des Islam Staatsreligion
ist. Scharfe Kritiker sprechen von Apartheid.

Die Zeitung "Arab News" berichtete, dass die Frauen in "ihrem" Industrieviertel
Schmuck, Spielsachen und medizinische Güter produzieren werden. Zunächst soll
eine Fabrik für 50 Arbeiterinnen entstehen. Später kommen hinzu: ein
medizinisches Zentrum, ein Sport- und Erholungspark, Gebäude kommunaler
Verwaltung, ein Einkaufszentrum und eine Tankstelle. Letztere ist eigentlich
unsinnig, denn Frauen dürfen in Saudi-Arabien ja nicht Auto fahren im Gegensatz
zu ihren Geschlechtsgenossinnen im Rest der Welt. Ein fragwürdiges saudisches
Alleinstellungsmerkmal. Der saudische Staat ist unermesslich reich, doch sein
Reichtum ist endlich: Mit dem Versiegen der Ölquellen könnte auch der
kometenhafte Aufstieg der vormals armen Wüstenmonarchie jäh gestoppt werden und
sich ins Gegenteil verkehren. In dem riesigen Land leben knapp 30 Millionen
Menschen, ein Drittel davon sind Gastarbeiter. Fast zwei Drittel der saudischen
Staatsbürger sind 25 Jahre oder jünger. Die meisten von ihnen müssen nicht
arbeiten und zahlen kaum Steuern - noch nicht. Sie können sich auf großzügige
Zuwendungen des Königshauses verlassen. Und die, die dennoch einer täglichen
Arbeit nachgehen, sind oft unmotiviert.

Saudi-Arabien hat sich lange auf den Import gut ausgebildeter Ausländer
verlassen: Ingenieure und Facharbeiter kamen aus Ägypten, Syrien, dem Libanon,
Indien oder Pakistan, gelockt von Petrodollars. Europäisches oder amerikanisches
Know-how wurde mitsamt Fachpersonal eingekauft.

Der im Januar 2015 verstorbene König Abdallah versuchte, diesen Trend zu stoppen
und vom Erdöl unabhängige Industrien zu schaffen. Diversifizierung ist das
Zauberwort aller ölreichen Golfstaaten, die Ausdehnung der Produktion auf
unterschiedliche Bereiche - für ein Leben nach dem Öl. Riad schafft
Eliteuniversitäten und setzt auf Ausbildung und gute berufliche Perspektiven der
Jugend im eigenen Land. König Salman führt diese politische Linie seines
Amtsvorgängers und Halbbruders fort. Janbu ist Teil dieser Initiative und
genießt in jeder Hinsicht königliche Unterstützung: Prinz Faisal, Gouverneur der
Provinz Dschidda und 45 Jahre alter, fünfter Sohn des Königs, zeichnet
höchstpersönlich für das "Frauenprojekt" in seiner Provinz verantwortlich. König
Salman versucht, das Potenzial zu heben, das in seinem Reich bisher nahezu
brachliegt. Nur 15 bis 20 Prozent der zum Teil bestens ausgebildeten Frauen
arbeiten. Seit Anfang 2012 dürfen sie in Lingerie- und Kosmetikgeschäften
arbeiten. Doch das ist ihnen bei Weitem nicht genug. Heute studieren an den
saudischen Universitäten fast genauso viele junge Frauen wie Männer, aber noch
immer sind ihnen viele Berufszweige verwehrt. Auch weil es die dafür
erforderlichen doppelten Strukturen in vielen Betrieben nicht gibt:
Extra-Arbeitsräume für Frauen, Shuttleservice, eigene sanitäre Anlagen und
Kantinen, Gebetsräume nur für Frauen.

Viele Unternehmen stellt es vor unlösbare und unbezahlbare infrastrukturelle


Herausforderungen, dass Frauen und Männer nicht zusammenarbeiten dürfen. Zwar
wird auch dieses Axiom saudischer Sittenwächter langsam aufgebrochen, aber
vielen Reformern, allen voran dem König, dauert das zu lange.

Janbu oder Einrichtungen wie die Prinzessin-Nora-Universität bei Riad


ausschließlich für Frauen sollen die Integration der Saudi-Araberinnen in die
Arbeitswelt befördern. Die für die Entwicklung von Industriestädten zuständige
saudi-arabische Behörde Mudun (Plural von Madina, Stadt) hat sich die
Entwicklung und Förderung von "Frauenstädten" auf die Fahnen geschrieben.
Weitere entstehen: in Dschidda oder in Qassim. In der 700.000 Einwohner
zählenden Stadt Hofuf im Osten des Königreichs steht der Oasen-Industriekomplex
al-Ahsa bereits unter der Herrschaft der Frauen: "80 Fabriken produzieren dort
unter der Leitung und in der Organisation von Frauen", sagt Mudun-Direktor Saleh
al-Raschid.

Nawal Hadi, Chefin der Handelskammer von Janbu, hat noch ambitioniertere Ziele.
94 Wirtschaftsunternehmen seien im Namen von Frauen bei ihr registriert. "Das
sind etwa zwei Prozent aller in der Region registrierten Firmen und Betriebe",
sagt Hadi, spiegele aber eben den Landesdurchschnitt wider: Nur 2,9 Prozent
aller Unternehmer seien Frauen. Hadi will das in ihrem Einflussbereich ändern
und optimale Bedingungen für Frauen in Janbu schaffen: gute Anbindung an
öffentliche Verkehrsmittel, Schulen und Kindergärten in fußläufiger Entfernung,
Shuttleservice in die Wohnbereiche. Viele Jungunternehmerinnen nehmen diese
Angebote an, sie drängen in den privaten Sektor. Ihre Vorbilder heißen Sarah
al-Suhaimi, die die Investitionsbank NCB Capital mit einem verwalteten Vermögen
von rund zwölf Milliarden Dollar (8,7 Milliarden Euro) führt. Oder Somayya
Dschabarti, 45 Jahre alte Chefredakteurin der Zeitung "Saudi Gazette" und erste
saudische Frau in dieser Position, deren Mutter übrigens als erste Frau
Saudi-Arabiens in Mathematik promovierte. Oder eben - Lubna Olayan. "Ich bin
weder eine radikale Feministin noch befürworte ich es, Frauen künstlich in
Positionen zu heben", sagte Lubna Obayan 2004 bei einer Rede vor dem arabischen
Bankenverband Nordamerikas in New York. "Ich befürworte allerdings ein System,
in dem die persönlichen Möglichkeiten ,geschlechtsneutral' eröffnet werden und
einer wahren Meritokratie entsprechen, bei der die richtige Person die richtige
Position aus den richtigen Beweggründen heraus einnimmt - ungeachtet des
Geschlechts."

UPDATE: 30. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: mauritius images/Alamy


Janbu heißt die Retortenstadt für Frauen am Roten Meer
Thomas Koehler/photothek.net
Aber bitte mit Schleier: Frauen bei der Arbeit
REUTERS/REUTERS / FAHAD SHADEED
Lubna Olayan beschäftigt Tausende Frauen in Saudi-Arabien. Die 60-Jährige gilt
als Galionsfigur weiblicher Selbstbestimmung im Gottesstaat
Alamy
Thomas Koehler/photothek.net
REUTERS / FAHAD SHADEED

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Die Welt

Samstag 2. April 2016

1974;
Für immer Achtundsechzig;
Eher eine Geschichte der linken Bundesrepublik:Stefan Reineckes Biografie
"Ströbele"

AUTOR: Barbara Möller

RUBRIK: LITERARISCHE-WELT; Literarische Welt; S. 5 Ausg. 77

LÄNGE: 1142 Wörter

Er ist das Relikt aus der grünen Urzeit. Eine Art zahnloser Velociraptor mit
akuten Magenproblemen. "Beim Gedanken an Schwarz-Grün", sagt Hans-Christian
Ströbele mit Blick auf die anstehende Regierungsbildung in Baden-Württemberg,
"wird mir schon anders." So was hätten die Grünen früher nicht gemacht:
politische Inhalte für eine Machtoption zu "verdealen". In der guten alten Zeit
sozusagen. Was auf retrograde Amnesie schließen lässt. Hat er nicht selbst
kräftig mitgedealt? 1989, als sich die Alternative Liste in Berlin zum Bündnis
mit der SPD durchrang? Keiner hatte die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik
vorher vehementer gegeißelt als Ströbele, keiner das staatliche Gewaltmonopol
erbitterter bekämpft. Bis die SPD ihre Bedingungen stellte. Da waren die
Prinzipien plötzlich keine mehr. "Das kostet uns nicht viel", hat Ströbele nur
lax gesagt, bevor er seine Unterschrift schwungvoll unter den Koalitionsvertrag
setzte. Für seine Partei war es politische Selbstverleugnung, für Ströbele war
es der Start in die politische Karriere.

Bei der Lektüre von Stefan Reineckes "Ströbele"-Biografie kann man durchaus auf
die Idee kommen, dass der vermeintliche grüne Revoluzzer über weite Strecken ein
Opportunist gewesen ist. Dieser Sohn aus fast schon großbürgerlichem Haus, der
seinem Vater, der immerhin leitender Chemiker in den Schkopauer Buna-Werken war,
die Fragen nach Zwangsarbeitern und Selektionen im Auschwitz-nahen Zweigwerk
Monowitz ersparte. Der gar nicht auf die Idee kam, den Wehrdienst zu verweigern.
Im Gegenteil, der auch zu Hause - das war nach 1945 das westfälische Marl - gern
in Uniform herumlief. Der sein Referendariat in der Kanzlei von Horst Mahler
machte, aber selbst nach dem Tod von Benno Ohnesorg nicht zur APO-Gesellschaft
gehören wollte, sondern lieber in die SPD eintrat, die von der APO wegen der von
ihr in Bonn mitbeschlossenen Notstandsgesetze verachtet wurde. Reinecke,
Politikredakteur bei der von Ströbele 1979 mitgegründeten linken "taz", nimmt
das Wort Opportunismus nicht in den Mund, bei ihm arbeitet Ströbele nur "mit
doppeltem Netz". So läuft das unter Genossen. Reinecke hat auch schnell den
Vorhang vor Monowitz fallen lassen.

Eine Biografie - nimmt man die ersten siebzig Seiten aus - ist sein Buch nicht.
Eher eine Geschichte der linken Bundesrepublik. Vor 2003 hat Reinecke schon
einmal so ein Buch über Otto Schily gemacht, das andere anthroposophisch
geprägte Bürgerkind, das sich zum Anwalt der RAF aufschwang. Wie Schily damals
wird auch Ströbele auf die Rolle des RAF-Anwalts reduziert und wie Schily
verschwindet auch Ströbele hinter dieser Rolle. Er verblasst sogar noch ein
Stück hinter dem späteren Bundesinnenminister, der damals der unbestrittene
juristische Star der RAF-Prozesse war - arrogant, eloquent, immer etwas zu spät,
damit ihm die volle Aufmerksamkeit der Kollegen und Medien sicher war. Auch das
neue Buch lässt die von Ströbele offenbar als an- und aufregend empfundenen
RAF-Jahre, die andere eine bleierne Zeit nannten, gründlich und detailliert
Revue passieren.

Ströbele machte im April 1969 sein zweites Staatsexamen, am 1. Mai gründete er


mit Horst Mahler, Klaus Eschen und Ulrich K. Preuß das erste deutsche
"Rechtsanwaltskollektiv". Man ließ sich in einer feudalen
Achtzimmeraltbauwohnung an der West-Berliner Meierottostraße nieder und verstand
sich als "Dienstleister für die Politszene" (Reinecke). Die Kanzlei war einer
der Orte, an denen sich der gewalttätige Linksterrorismus formierte. Und es
dauerte nicht lange, bis der schillerndste Dienstleister die Seiten wechselte:
Im Juni 1970 reiste Mahler mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof
über den Libanon und Syrien nach Jordanien aus, um sich in einem Fatah-Camp von
der PLO militärisch ausbilden zu lassen. Kollege Ströbele hatte die Stirn, den
Terrortrip zur Bildungsreise umzudeklarieren: "Mahler hatte schon immer vor,
eine längere Reise in die Dritte Welt zu machen "

Ströbeles Bewunderung für den nur drei Jahre älteren Mentor und Mitbegründer der
RAF ist bis heute ungebrochen. Auch wenn es Reinecke nicht gelingt, die Ursachen
von Ströbeles Sturheit zu ergründen, so glaubt man am Ende des Buches doch, ein
Charakterbild gewonnen zu haben: Es war und ist diesem letzten aktiven
Achtundsechziger in der deutschen Politik unmöglich, seine Perspektive auf die
Geschehnisse von damals zu verändern, sich Irrtümer, Fehleinschätzungen, Fehler
einzugestehen. Die RAF tötete 34 Menschen, aber die Mörder blieben für
Hans-Christian Ströbele Mitglieder des mythisch überhöhten 68er-Kollektivs:
"Genossinnen und Genossen". Er hat sie vor dem Stammheim-Prozess hingebungsvoll
besucht: Baader in Schwalmstadt, Meins in Wittlich, Meinhof, Proll und Müller in
Köln, Ensslin in Essen. Ströbele war Baaders Verteidiger, aber er ließ sich
nicht nur von dem ("sozialdemokratische Ratte!"), sondern auch von den anderen
bepöbeln. "Stroe", schrieb ihm Meinhof, "Du Sau sitzt auf Deinem Arsch und tust
nichts", Ensslin versprach ihm "ein paar in die Fresse", Müller bezeichnete ihn
als "ganz übles bourgeoises Schwein". Warum macht einer das mit? Aus Idealismus?
Masochismus? Aus schlechtem Gewissen, weil er als Sympathisant nicht tat, was
sie taten? Und glaubte er wirklich, der "Psychotherapeut" der RAF-Häftlinge sein
zu können?

Die SPD hat Ströbele rausgeworfen, weil er die RAF-Leute mit "Liebe Genossen"
angeschrieben hat. Aus dem Stammheim-Prozess ist er wegen Missbrauchs seiner
Verteidigertätigkeit ausgeschlossen worden. Weil er sich maßgeblich am
Infosystem der RAF-Häftlinge beteiligt hatte, wurde er später wegen
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung
verurteilt. Henning Spangenberg, der damals sein Referendariat in der
Meierottostraße absolvierte, sagt rückblickend: "Wir haben uns von den
Gefangenen dazu bringen lassen, die Hungerstreiks und die Prozesserklärungen für
wesentlich zu halten - anstatt die Gefangenen zu überzeugen, sich gegen die
konkreten Tatvorwürfe zu verteidigen. Wir hatten den falschen Schwerpunkt." Zu
dieser Einsicht ist Hans-Christian Ströbele bis heute nicht bereit.

Wer Ströbele heute im Bundestag begegnet - 2013 hat er sich zum vierten Mal das
einzige grüne Direktmandat erkämpft - , erlebt einen im persönlichen Gespräch
sehr freundlichen, verbindlichen Mann, der so aussieht, als könnte er keiner
Fliege etwas zuleide tun. Nie mit Krawatte, gern in Sandalen, das gehört zur
Marke, genau wie das Fahrrad. Gezeigt zu haben, dass hinter dieser Harmlosigkeit
verströmenden Fassade der ungebeugte linke Antinationalist steckt, der seine in
Stein gemeißelten Ressentiments gegen die USA und Israel pflegt, ist das
Verdienst dieses Buches. Den Panzer um die Privatperson Hans-Christian Ströbele
hat Stefan Reinecke nicht knacken können.

Stefan Reinecke: Ströbele. Die Biografie. Berlin Verlag. 464 S., 24 .

UPDATE: 2. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: ullstein bild/


Nein, die Luft ist noch nicht rein: Hans-Christian Ströbele am 26. November
1974. An diesem Tag wurden im Rahmen der bundesweiten "Aktion Winterreise" auch
die Räume des Rechtsanwaltskollektivs in der Meierottostraße durchsucht. Zwei
Wochen zuvor war der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann
erschossen worden
Verlag
ullstein bild

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Die Welt

Mittwoch 6. April 2016

Er setzt alles auf Merkel;


CDU-Vize Armin Laschet steht kompromisslos zur Kanzlerin. Doch die strittige
Asylpolitik könnte ihn zu Fall bringen. 2017 muss er gegen
NRW-Ministerpräsidentin Kraft antreten

AUTOR: Kristian Frigelj


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 80

LÄNGE: 1235 Wörter

Düsseldorf

Armin Laschet ist fast täglich im Einsatz, um die Bundeskanzlerin zu


verteidigen. Der CDU-Parteivize ist auf allen Kanälen aktiv - im Fernsehen, im
Radio, auf Twitter, in den Zeitungen - und unterstützt demonstrativ die
Flüchtlingspolitik von Angela Merkel.

An diesem Mittwoch tritt Laschet vor die Bundespressekonferenz. Als Vorsitzender


der Robert-Bosch-Expertenkommission zur "Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik"
präsentiert er einen Bericht des hochkarätig besetzten Gremiums - und auch da
ist wieder ein lobender Hinweis auf den Regierungskurs zu erwarten. "Der Kurs
der Bundeskanzlerin ist richtig", betonte Laschet im WDR nach den drei
Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, die für
die Christdemokraten katastrophal ausgingen. Als die EU und Türkei sich Mitte
März beim Gipfel in Brüssel auf Maßnahmen zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen
verständigten, bekam Merkel prompt ein Kompliment von Laschet: "Die einstimmige
Entscheidung der 28 Regierungschefs ist endlich die europäische Lösung zur
Reduzierung der hohen Flüchtlingszahlen, die die Bundeskanzlerin auf dem
Karlsruher Parteitag angekündigt hat."

Man mag darüber staunen, denn der 55-jährige Landeschef der CDU
Nordrhein-Westfalen wird in seinem Heimatland mitunter als leichtfüßiger,
meinungswendiger "Filou" beschrieben. In der umstrittenen Flüchtlingspolitik
zeigt Laschet allerdings eine unmissverständliche Haltung und gebärdet sich
geradezu wie ein Prätorianer der CDU-Parteichefin. Unentwegt wirbt er für eine
"europäische Lösung", stellt klar, dass auch Merkel die Zahl der ankommenden
Flüchtlinge senken wolle, und mahnt die CSU, ihre Provokationen zu beenden. Wer
daher also meint, Laschets Karriere hinge an Merkels Erfolg, hat recht. Denn in
fast einem Jahr, am 14. Mai 2017, wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag
gewählt. Die gesamtpolitische Lage wird den Wahlausgang im bevölkerungsreichsten
Bundesland maßgeblich beeinflussen - wenn nicht sogar entscheiden. Es gilt als
kleine Bundestagswahl, ehe im September die große Abstimmung ansteht.

Laschet versucht mit seiner demonstrativen Nibelungentreue zu Merkel auch


heimliche Kritiker im eigenen CDU-Landesverband und in seiner Landtagsfraktion
zu beeindrucken. Viele Parteifreunde sehen die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge
kritisch und plädieren - auch mit Blick auf die erstarkende AfD - für ein
härteres Auftreten. Die Lage scheint recht günstig zu sein für Laschet, denn zum
wiederholten Male liegt die CDU mit 33 Prozent in einer Umfrage knapp vor der
SPD. 2012 begann er als wackeliger CDU-Landeschef, doch seitdem arbeitet er sich
als ernst zu nehmender Herausforderer für Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
(SPD) empor. Die Christdemokraten waren bei der Landtagswahl 2012 wegen ihres
ungeschickt agierenden Spitzenkandidaten Norbert Röttgen bei 26,3 Prozent
gelandet. Nun liegen sie wieder bei 33 Prozent - allerdings weit entfernt von
den historischen 44,8 Prozent, mit denen die CDU 2005 für fünf Jahre eine
schwarz-gelbe Landesregierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers bilden
konnte. Im Augenblick käme eine Mehrheit nur in einer großen Koalition oder in
einem Dreierbündnis zustande, weil die AfD auch in NRW derzeit auf zehn Prozent
in den Umfragen kommt. Laschet weiß längst, dass die beliebte, volksnahe
Ministerpräsidentin die SPD nicht zu neuer Stärke führen kann. Die
Sozialdemokraten zwischen Rhein und Weser leiden wieder an Schwindsucht,
wenngleich auf höherem Niveau als die Bundespartei.

Die hohen Popularitätswerte der NRW-Ministerpräsidentin bröckeln; die


Zufriedenheit mit der Arbeit der rot-grünen Landesregierung schwindet. Doch die
drei Landtagswahlen haben gezeigt, dass die Lichter der Demoskopen längst nicht
mehr so weit in die Zukunft reichen wie früher.

Laschets Wahlanalyse nach dem "Super Sunday" im März fiel schonungslos aus: "Für
die CDU war es ein Desaster. Kann man so nennen. Damit auch keiner sagt, der
redet schön. Aber die Wahlen haben Ministerpräsidenten gewonnen, die gesagt
haben, wir stehen eng bei der Kanzlerin, wir wollen diese Flüchtlingspolitik.
Herr Kretschmann, Frau Dreyer haben damit die Wahl gewonnen, letztlich", sage er
im WDR. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass sich die CDU-Spitzenkandidaten Julia
Klöckner (Rheinland-Pfalz) und Guido Wolf (Baden-Württemberg) nicht mit
Absetzmanövern von der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin profilieren konnten.
Klöckners CDU verlor sogar einen veritablen Vorsprung in den Umfragen. Laschet
bemerkte im rheinland-pfälzischen Wahlkampf, dass Landespolitik kaum den
Ausschlag gab. Als er eine Woche vor der Abstimmung die CDU Vulkaneifel besuchte
und eine Rede hielt, hörte er von den Anwesenden, dass die immense Verschuldung
des Bundeslandes kaum zur Mobilisierung tauge, so als hätten sich die Bürger
damit abgefunden. Die Forschungsgruppe Wahlen fand bei der Wahlanalyse heraus:
Als "wichtigstes Problem" wurde von fast 60 Prozent der Wähler die
"Flüchtlingsfrage" wahrgenommen, mit großem Abstand rangierten dahinter die
Themen Schule, Verkehr, Infrastruktur.

Ebenfalls 60 Prozent waren der Ansicht, Rheinland-Pfalz sei "eher gut" auf die
Zukunft vorbereitet. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für andere Wahlen
einiges ableiten. Landespolitik könnte auch bei der Landtagswahl NRW eine
untergeordnete Bedeutung haben, dabei sieht Laschet als designierter
Herausforderer von Kraft viele Schwächen von NRW, für die er die rot-grüne
Landesregierung verantwortlich macht. In einer "Schlusslicht"-Liste hat die
CDU-Landtagsfraktion jüngst pointiert zusammengefasst, dass NRW im
Bundesvergleich in vielen Bereichen am Ende steht: Wirtschaftswachstum,
Beschäftigungsquote, Haushaltsdefizit, U3-Betreuung, Vollzeitbeschäftigung von
Frauen, Aufklärungsquote von Straftaten. Zugleich beklagt die CDU, dass NRW die
größten Schulklassen, die höchsten kommunalen Steuersätze und die höchste
Kinderarmut aller westdeutschen Flächenländer habe. "Ich will einfach nicht,
dass wir immer hinten sind, dass wir immer Letzter sind", sagt Laschet in
Debatten und Interviews. Er setzt verstärkt auf das Thema innere Sicherheit,
nicht nur, weil es traditionell die konservativen Anhänger mobilisiert. Wegen
den massenhaften sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 am
Hauptbahnhof Köln und steigender Einbruchszahlen hat die rot-grüne
Landesregierung in diesem Bereich ein ernstes Kompetenzproblem. Die
landespolitischen Defizite allein dürften nicht genügen, deshalb müssen die
künftigen Wahlkämpfer auch die Bundesebene im Blick behalten. Laschet
beschäftigt sich intensiv mit Außenpolitik, äußert sich auch zu Konflikten im
Nahen Osten, erklärt, wie man mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin und
Syriens Machthaber Baschar al-Assad umgehen solle und den Vormarsch des IS
stoppen könne. Einige, auch in der CDU, spötteln darüber ebenso wie über seine
häufigen Auftritte in den politischen Talkshows.

Sogar Kraft ätzte jüngst indirekt darüber in ihrem eigenen Videotagebuch:


"Politik machen heißt eben nicht in Talkshows sitzen, sondern heißt hart
arbeiten, in den Themen sein und sich 'ne Meinung bilden." Allerdings sind die
TV-Runden und Berlin-Reisen für Laschet eine Gelegenheit, um bundesweit
bekannter zu werden. Denn mit Reden im Landtag lässt sich kaum Aufmerksamkeit
erzeugen. Für Laschet sind Dispute im TV-Studio eine Gelegenheit, Argumente zu
schärfen - und sich auf Wahlkämpfe vorzubereiten.

UPDATE: 6. April 2016


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: picture alliance/Geisler-Fotop/Oliver Hausen


Zwei Menschen, eine Meinung: CDU-Vize Armin Laschet (r.) unterstützt Angela
Merkel, wo er kann. Das könnte ihm in Nordrhein-Westfalen aber gefährlich werden

Oliver Hausen/Geisler-Fotopress

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Die Welt

Donnerstag 7. April 2016

Von der Leyen nennt es Friedensmission;


Die Verteidigungsministerin will von einem Anti-Terror-Einsatz in Mali nichts
wissen - wie einst ihr Vorgänger Scharping in Afghanistan

AUTOR: Thorsten Jungholt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 81

LÄNGE: 1115 Wörter

Zum dritten Mal in ihrer Amtszeit hat Ursula von der Leyen (CDU) in dieser Woche
Mali besucht. Die Verteidigungsministerin hat sich in dem westafrikanischen
Staat um zwei Missionen zu kümmern: Schon länger ist die Bundeswehr dort mit
rund 200 Soldaten an der europäischen Trainingsmission beteiligt, die sich im
relativ sicheren Süden des Landes um die Ausbildung der malischen Streitkräfte
kümmert.

Dieser Einsatz soll ausgeweitet werden, das Training künftig auch im Norden
stattfinden - also dort, wo die malischen Soldaten im Kampf gegen diverse
Rebellengruppierungen auch tatsächlich zum Einsatz kommen. Die zweite Mission
hat gerade erst begonnen: Seit einigen Wochen nimmt die Bundeswehr an der
UN-geführten Operation Minusma teil, die sich mit einem robusten Mandat um die
Wiederherstellung der staatlichen Strukturen Malis und die Sicherheit im Land
kümmern soll. Die im Wiederaufbau befindliche malische Armee ist damit noch
überfordert. Die Blauhelmtruppe umfasst rund 11.000 Soldaten, vor allem aus
afrikanischen Staaten, der in Gao im Norden stationierte deutsche Anteil ist auf
bis zu 650 Soldaten mandatiert, von denen rund 200 bereits vor Ort sind. Sie
stellen den UN Hochwertfähigkeiten wie Drohnen und Spähpanzer zur Aufklärung zur
Verfügung, über die die Afrikaner nicht verfügen.

Es werden künftig also nicht nur deutlich mehr deutsche Soldaten in Mali
stationiert sein, ihre Arbeit wird auch erheblich risikoreicher. Die
Militärausbilder rücken näher an das Kampfgeschehen in Norden. Und Minusma gilt
mit über 70 gefallenen Blauhelmsoldaten als gefährlichste UN-Mission weltweit.

Die Ministerreise bot nun die Gelegenheit, der heimischen Öffentlichkeit das
Engagement zu erklären: Warum eigentlich schicken Bundesregierung und Bundestag
Soldaten in die westafrikanische Wüste? Was ist das deutsche Interesse, das die
Gefahren für Leib und Leben der Soldaten rechtfertigt? Wissenschaftler nennen
diese notwendige Erklärung militärpolitischer Entscheidungen "strategisches
Narrativ".

Um es kurz zu machen: Von der Leyen fiel dazu wenig ein. Sie übermittelte aus
Mali das gleiche Erklärmuster, mit dem einst schon Verteidigungsminister Rudolf
Scharping (SPD) die Bundeswehr nach Afghanistan führte. Deutlich macht das ein
Blick in die wissenschaftliche Literatur. Im vorigen Jahr erschien ein
Sammelband ("Strategic Narratives, Public Opinion and War - Winning Support for
Foreign Military Missions"), in dem Autoren der am Afghanistaneinsatz
beteiligten Nationen die strategischen Narrative analysierten, mit denen die
Politiker ihre jeweilige Öffentlichkeit für die Einsätze gewinnen wollten.

Scharping habe 2002 zwei Argumentationslinien verfolgt, heißt es in dem Beitrag


der deutschen Wissenschaftler Robin Schroeder und Martin Zapfe. Die eine war von
Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgegeben und lautete "bedingungslose
Solidarität" mit den vom New Yorker Terroranschlag betroffenen USA. Die zweite
Linie, um die Präsenz der Bundeswehr am Hindukusch zu rechtfertigen, war die
Betonung der deutschen Beteiligung an der UN-mandatierten Friedensmission Isaf,
die den Staatsaufbau unterstützen und humanitäre Arbeit leisten sollte - in
"scharfer Abgrenzung", so die Autoren, zur US-geführten "Operation Enduring
Freedom" (OEF), die auf Terrorbekämpfung fokussiert war. Wir machen bei der
guten Isaf mit, so lautete die Botschaft, nicht bei der bösen OEF.

Ob bewusst oder nicht: Von der Leyen griff nun auf diese Scharping-Argumente
zurück. "Es gibt sicherlich gewisse Parallelen zwischen den strategischen
Narrativen, mit denen die Bundesregierung einst den Beginn des
Afghanistaneinsatzes und jetzt die Mission im Norden Malis zu erklären sucht",
sagt Schroeder, Leiter des Arbeitsbereichs Konfliktanalyse und Krisenmanagement
am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. "Wir hören wieder das
Argument der Solidarität, diesmal nicht mit den USA, sondern mit Frankreich."
Tatsächlich steht der Minusma-Einsatz in unmittelbarem Zusammenhang mit den
Terroranschlägen von Paris im vorigen Jahr. Nach den Attentaten sprach von der
Leyen davon, Frankreich durch ein stärkeres Engagement der Bundeswehr in Afrika
"entlasten" zu wollen. Praktischerweise ließ sich mit der Zusage, sich an
Minusma zu beteiligen, auch ein Wunsch der Niederländer befriedigen, die schon
länger in Gao im Einsatz sind und Deutschland um Unterstützung gebeten hatten.

Wie Scharping vor 15 Jahren betonte von der Leyen nun auch, dass sich die
Bundeswehr nicht am Antiterrorkampf in Mali beteiligen werde. Dafür seien
weiterhin die französischen Streitkräfte mit ihrer Operation "Barkhane"
zuständig. Die deutschen Soldaten bei Minusma hätten eine andere Aufgabe -
nämlich die, "den Friedensprozess zu begleiten". Schroeder stellt fest: "Es gibt
erneut die Betonung der Beteiligung an einem Friedensprozess zur Stabilisierung
des Landes."

Nun haben strategische Narrative nicht immer etwas mit den Fakten vor Ort zu
tun. Während Scharping 2002 von deutschen Friedenstruppen am Hindukusch sprach,
beteiligten sich Spezialkräfte der Bundeswehr längst am Antiterrorkampf der OEF.
Außerdem, so schreiben die Autoren Schroeder und Zapfe in ihrer
Afghanistan-Analyse, können Narrative sich ändern: Als sich die Erzählung von
den Brunnen bauenden Entwicklungshelfern 2009 angesichts der eskalierenden
militärischen Lage nicht mehr halten ließ, schwenkte der damalige
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg um: Plötzlich war die
Stabilisierungsmission ein Kampfeinsatz. An ein solches Szenario glaubt von der
Leyen nicht. "Die Ausgangslage ist eine vollkommen andere als in Afghanistan",
sagte sie in Mali, der Friedensprozess werde dort auf eine breitere Basis
gestellt. Das mag sein. Nur wird ihr Narrativ schon jetzt infrage gestellt, von
keinem Geringeren als dem französischen Präsidenten. In einem Interview mit der
"Bild"-Zeitung dankte François Hollande Deutschland zunächst "für die
militärische Unterstützung, die es uns in Mali und in Syrien gewährt". Im
gleichen Atemzug allerdings forderte er die Bundesregierung auf, die
Verteidigungsausgaben zu erhöhen - und sich stärker an Auslandseinsätzen
außerhalb Europas zu beteiligen.

Das ist ein unmissverständlicher Ruf Hollandes nach mehr deutscher Verantwortung
- und damit eine Erinnerung an von der Leyens gleichlautendes Versprechen. Denn
zu Beginn ihrer Amtszeit, kurz vor ihrer ersten Reise nach Mali, hatte die
Ministerin ihre Leitlinie so formuliert: "Wenn wir handeln können, müssen wir es
tun. Gleichgültigkeit ist keine Option". Das UN-Mandat für Minusma ließe
jedenfalls Spielraum für mehr Handlung. Es sei, sagt der Wissenschaftler
Schroeder, "nahezu deckungsgleich mit dem von Isaf" in Afghanistan.

UPDATE: 7. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Michael Kappeler


Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) begutachtet im legeren Dress
die Ausbildung malischer Soldaten
Michael Kappeler

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Die Welt

Samstag 9. April 2016

Wenn in Blankenese die Säge kreist;


In Hamburgs Nobelwohnort streiten Anwohner und Linke über ihre Vorstellungen
einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen

AUTOR: Jörn Lauterbach

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 83

LÄNGE: 1122 Wörter

Es ist ein denkbar kurzer Abstand zwischen Baumfrevel und


Flüchtlingsintegration, da sind Zentimeter entscheidend. Beinahe zärtlich setzt
deswegen der linke Aktivist mit der Schutzweste und der Wollmütze die
Qualitätskettensäge an die Borke, genau beobachtet von drei Polizisten. Am Ende
fallen nur ein paar Späne auf die Wiese, das reicht nicht für eine Anzeige, wohl
aber als Symbol: Auch dieser teure Grund und Boden, diese Fläche in Blankenese,
kann ein Ort für eine Flüchtlingsunterkunft sein. Das soll sie ohnehin, das
zuständige Bezirksamt hatte das längst beschlossen und auch die Fällarbeiten
vorbereitet - bis am vergangenen Dienstag Anwohner mit ihren Autos die Zufahrten
am Björnsonweg versperrten und Markierungsarbeiten an den Bäumen durch
Entwendung der Sprühutensilien verhinderten. Und so kam es, dass zwei Tage
später aufgebrachte Linke vermutlich erstmals in ihrem Leben für das Absägen der
Stämme sind und einige Anwohner im feinen Blankenese sich deswegen fast an Bäume
ketten. Verkehrte Welt in Hamburgs feinstem Stadtteil.

Mit dieser Umwertung aller Werte stehen die Blankeneser allerdings nicht allein,
auch in Eppendorf, Harvestehude, Eimsbüttel und eigentlich überall spielten und
spielen sich ähnliche Szenen ab, wenn es um den Bau von dauerhaften
Flüchtlingsunterkünften geht. Der Senat will möglichst schnell die Menschen aus
den Provisorien holen, rund 6300 Flüchtlinge leben derzeit in elf ehemaligen
Baumärkten, 32 Zelte werden noch bewohnt. Die rot-grüne Regierung wird nun
einerseits dafür kritisiert, dass diese prekären Lebenssituationen für so viele
Flüchtlinge noch immer nicht verbessert werden konnten, andererseits wird so gut
wie jede dauerhafte Lösung in den Stadtteilen abgelehnt. Die Zahl der
Bürgerinitiativen wächst von Woche zu Woche, einige haben sich sogar schon in
einem Dachverband versammelt, um über Bürgerbegehren und einem Volksentscheid
den Bau von Großsiedlungen für Flüchtlinge zu verhindern.

Allerdings gehen die Auslegungen des Wortes "groß" weit auseinander: Mal geht es
um 3000 Plätze, mal um 800, in Blankenese sogar nur um knapp 192. Und eben um 42
Bäume, aber das nur vordergründig. Dahinter steht immer die Angst vor
Kriminalität, seit Silvester auch vor Sexualdelikten und auch vor der Entwertung
des eigenen Umfelds, vor fallenden Grundstückspreisen, vor der Zerstörung der
Wohnidylle - was in Blankenese eine durchaus wichtigere Rolle spielt als in den
ärmeren östlichen Stadtteilen Billstedt oder Hamm, weswegen dort die Proteste
vergleichsweise klein sind.

Viel lauter erhebt sich das bürgerliche, akademische, gut organisierte, kurz:
das reiche Hamburg. Gegen jeden städtischen Plan wird hier vor Gericht gezogen,
und weil die Vorhaben in der Eile tatsächlich oft rechtlich unzureichend
vorbereitet sind, gewinnen die Anwohner eigentlich immer und können so den Bau
der Unterkünfte wenigstens hinauszögern. Im Blankenese wurde einem Eilantrag
eines Anwohners auf einen sofortigen Baustopp durch das Verwaltungsgericht
stattgegeben, eine genaue Prüfung der Rechtmäßigkeit soll folgen. Dagegen hat
die Stadt am Freitag Beschwerde eingelegt, weil die Kläger gar nicht in eigenen
Rechten verletzt werden würden. Und in der Mitteilung des Senats taucht es dann
wieder auf, das Wort, das in der Hansestadt derzeit so populär ist wie ein
Matjesbrötchen auf dem Fischmarkt: Verteilungsgerechtigkeit. In Blankenese mit
seinen weiten Flächen und Tausenden Einzelhäusern gibt es bisher noch keine
einzige Flüchtlingsunterkunft. Die Einwohner sagen, sie fahren "ins Dorf", wenn
sie die Boutiquen, Bäckereien, Restaurants und Supermärkte rund um den Bahnhof
meinen. Den Hang hinunter geht es zum Elbstrand, da tollen die Hunde herum, und
die Jugend sitzt um das Grillgut herum. So war es früher, so ist es heute. Das
Rathaus und die Sozialbehörde mit ihrem Flüchtlingskoordinator sind weit weg.
Und doch sind auch hier seit der Autoblockade am Dienstag viele eher peinlich
berührt über das Verhalten der zur plötzlichen Militanz neigenden Mitbürger.
"Wir schämen uns", titelte die "Hamburger Morgenpost" in dieser Woche und ließ
einige Blankeneser zu Wort kommen. Andere erzählen, dass doch sogar einer der
besten Kinderärzte des Stadtteils aus Syrien stammt. Und sogar die FDP-Frontfrau
Katja Suding, die hier ihre besten Wahlergebnisse einfährt, hält die Aktion für
"rechtsstaatlich bedenklich".
Der Rechtsstaat und die Gerechtigkeit, das sind in diesen Hamburger Wochen
jedenfalls keine engen Vertrauten. Bei der vergangenen Bürgerschaftswahl vor gut
einem Jahr, als der Flüchtlingszustrom noch vergleichsweise überschaubar war,
hatten sich SPD und Grüne das Maximalpaket an Bürgerbeteiligung in die
Wahlprogramme geschrieben. Nachdem in der vorherigen Legislatur ein umfassendes
Programm zur Bevorzugung des Bussystems gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern in
vielen Stadtteilen auf heftigen Widerstand gestoßen war, sollte bei ähnlichen
einschneidenden Maßnahmen die Bevölkerung frühzeitiger informiert und am besten
auch direkt an den Planungen beteiligt werden. Das Prinzip, das bei der Debatte
um Abbiegespuren noch halbwegs handhabbar war, stößt bei der Suche nach
geeigneten Flächen für Flüchtlingsexpressbauten allerdings schnell an die
Grenzen. Es drängt die Zeit und die Zahl der wartenden Menschen, es hat sich
aber - angefeuert durch die diversen Gerichtsurteile - auch eine neue
Selbstverständlichkeit breitgemacht: Bürgerbeteiligung besteht für viele
Anwohner in Blankenese und anderswo vor allem darin, dass exakt das gemacht
werden soll, was sie sich wünschen. Und das sind in aller Regel keine
Flüchtlingsbauten. Diese sollten über die Stadt verteilt werden, aber möglichst
nicht hierhin, und wenn doch, dann nur in kleinsten Einheiten.

Um den eigenen Anspruch der Beteiligung wenigstens nach außen


aufrechtzuerhalten, will die Stadtregierung nun modernste Technik einsetzen.
Gemeinsam mit der Hafencity Universität wurde ein Verfahren entwickelt, bei dem
vom kommenden Monat an auf sogenannten CityScope-Bildschirmen per Fingerdruck
geeignete Flächen für neue Wohnsiedlungen gefunden werden sollen. Für jedes
Areal wurden dazu in den vergangenen Wochen Informationen über Verfügbarkeit,
Eigentümer, bestehende Planungen und eventuelle Umwelteinschränkungen
eingespeist. Man sei hoffnungsvoll, so gemeinsam mit den Bürgern neue Lösungen
zu finden, sagt Bürgermeister Olaf Scholz, und meint doch auch: Dann können die
mal sehen, wie schwierig die Sache mit der Verteilung ist.

In einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage rutschte seine SPD übrigens


erstmals seit mehr als fünf Jahren unter die 40-Prozent-Marke, die
Regierungskoalition insgesamt blieb durch Zugewinne der Grünen aber stabil.

Noch setzt der Wähler erst die Laubsäge an.

UPDATE: 9. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Axel Heimken


Ein Demonstrant wirbt bei der symbolischen Aktion des "Blankenese Chainsaw
Massacre" für den Bau einer Flüchtlingsunterkunft in Blankenese
Axel Heimken

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Die Welt

Dienstag 19. April 2016

"Auch Leute ohne Geld müssen sich sicher fühlen";


Der Bund der Kriminalbeamten wirft der Politik vor, zu wenig gegen die steigende
Zahl der Einbrüche zu tun. Er fordert vor allem mehr Personal

AUTOR: Manuel Bewarder

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 91

LÄNGE: 1388 Wörter

Immer mehr Deutsche haben inzwischen Angst in den eigenen vier Wänden. Die Zahl
der Einbrüche ist erneut gestiegen. Warum bekommt der Staat das Problem nicht in
den Griff? Ein Gespräch mit André Schulz, dem Vorsitzenden des Bundes Deutscher
Kriminalbeamter.

Die Welt:

Herr Schulz, wurde bei Ihnen schon einmal eingebrochen?

André Schulz:

Nein, zum Glück noch nicht. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis wurde
bisher niemand Opfer eines Einbruchs.

Die Zahl der Wohnungseinbrüche und Einbruchsversuche ist im vergangenen Jahr


erneut gestiegen. Warum bekommt man das Problem nicht in den Griff?

Eine Vorbemerkung zur Einordnung: In den 90er-Jahren hatten wir deutlich höhere
Zahlen als heute. Ich will damit aber das Problem nicht kleinreden. In
Deutschland gibt es 41 Millionen Haushalte und damit 41 Millionen mögliche
Tatobjekte. Ein großes Problem ist, dass dieses Delikt schwer aufzuklären ist,
weil es am Tatort oft nur wenige Spuren und selten Zeugen gibt. Es passiert
zudem nur sehr selten, dass man Täter auf frischer Tat erwischt und festnehmen
kann.

Gibt es den einen Einbrechertyp?

Es gibt nicht den einen Täter. Es gibt Jugendliche, die einbrechen. Dann haben
wir Berufseinbrecher, die teilweise seit Jahrzehnten professionell einsteigen.
Groß ist auch das Feld bei der Beschaffungskriminalität. Hier gibt es nicht nur
Drogensüchtige, die Geld für Rauschgift brauchen, sondern interessanterweise
auch Spielsüchtige, die mit Einbrüchen ihre Sucht finanzieren. Dazu kommen dann
noch Täter, die aus dem Ausland zu uns kommen und dabei von der Freizügigkeit in
Europa profitieren.

Die Politik will das Problem angehen. Vor allem setzt man darauf, den Einbau von
Einbruchsschutz finanziell zu fördern. Was halten Sie davon?

Die Politik tut lediglich so, als ob sie das Problem aufgegriffen hat. Das ist
aber leider nicht so.

Einbruchsschutz bringt nichts?


Doch. Es ist natürlich ein erheblicher präventiver Faktor, ob Fenster und Türen
gut geschützt sind. Es ist für Täter verlockend, wenn sie voraussichtlich nur
wenige Sekunden brauchen, um einzudringen. Wenn sie dagegen für das Aufbrechen
zwei oder drei Minuten benötigen, dann lassen sie es. Viele Einbruchsversuche
werden nach ein paar Sekunden bereits wieder abgebrochen. Besserer Schutz der
Eigenheime ist übrigens auch ein Grund für die steigenden Zahlen, da viele Taten
bereits im Versuchsstadium enden.

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau fördert den besseren Schutz bereits mit 200
bis 1500 Euro - insgesamt müssen aber mindestens 2000 Euro investiert werden, um
eine Förderung zu erhalten. Was denken Sie darüber?

Weil die finanzielle Schwelle so hoch ist, kommt der normale Bürger, der
nachrüsten will, in der Regel nicht in den Vorzug dieser Förderung. Das Angebot
lohnt eher bei Neubauten oder Komplettsanierungen.

Viele Einbruchsopfer haben das Gefühl, dass die Polizei mehr unternehmen könnte,
um die Täter zu fassen.

Das könnte sie auch, wenn die personellen und materiellen Ressourcen vorhanden
wären. Gerade in Flächenländern passiert meist nicht viel mehr als der
sogenannte Beileidsbesuch. Der Streifenwagen kommt und bestätigt lediglich, dass
eingebrochen wurde. Ein oder zwei Wochen später bekommen viele Opfer dann ein
Schreiben von der Staatsanwaltschaft, dass kein Täter ermittelt werden konnte
und das Verfahren eingestellt wurde. Kriminalistisch hätte man davor viel mehr
unternehmen können, ja müssen. Polizei und Justiz unternehmen weniger als sie
sollten, da die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Arbeit nicht stimmen.
Selbstverständlich könnte man die Aufklärungsrate von nicht einmal 20 Prozent
deutlich in die Höhe schrauben. Dazu braucht man allerdings mehr Personal und
eine bessere Ausbildung.

SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt mit Blick auf die innere Sicherheit: Nur die
Reichen können sich einen armen Staat leisten. Er wolle nicht, dass sich in
Deutschland Gated Communitys etablierten, also hermetisch abgeschlossene
Viertel. Wie klingt das in Ihren Ohren?

Es gibt in Deutschland bereits Gated Communitys für Wohlhabende. Man verspricht


sich davon Prestige, aber auch einen Gewinn an Sicherheit. Wir beobachten diese
Entwicklung mit Sorge. Es darf nicht sein, dass sich nur Reiche Sicherheit
einkaufen können. Wer kein Geld hat, muss sich trotzdem sicher fühlen können.
Hier muss der Rechtsstaat aufpassen und zeigen, dass er handlungsfähig ist. Der
Staat darf sich nicht noch weiter aus dem Leben der Bürgerinnen und Bürger
herausziehen.

Die Regierung hat umfangreiche Maßnahmen beschlossen, um die Sicherheit zu


erhöhen und den Kampf gegen den Terror erfolgreich zu führen. Richtig so?

Trotz der hohen Terrorbedrohung dürfen wir nicht in Panik verfallen, auch wenn
sich Europa derzeit im Krisenmodus befindet. Bei Gesetzesverschärfungen müssen
wir ganz genau abwägen, was sinnvoll ist - und wo der Eingriff in die
Grundrechte der Bürger zu weit geht. Es ist wichtig, dass wir den Austausch von
Daten, die oftmals bereits vorhanden sind, in Europa verbessern. Wenn wir andere
Nationen aber kritisieren, sollten wir nicht vergessen, dass der Datenaustausch
derzeit selbst zwischen den deutschen Behörden nicht gut funktioniert:
Landesgrenzen sind für uns bislang auch Informationsgrenzen.

Was halten Sie davon, dass künftig gleich mehrere Namensvarianten von
Verdächtigen gespeichert werden. Etwa Schulz, Schultz oder Scholz. Geraten damit
nicht auch Unverdächtige ins Visier?
Ich sehe das gelassen. Bereits heute werden in einer Kriminalakte durchaus
Aliasnamen aufgeführt. Ich halte den Vorschlag, diese Informationen
auszutauschen, für sinnvoll. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Person
verschiedene Namen benutzt, dann sollten wir sie auch unter verschiedenen Namen
suchen.

Am Mittwoch entscheidet das Bundesverfassungsgericht über das BKA-Gesetz. Die


Beamten dürfen gegen mutmaßliche Terroristen derzeit Wohnungen verwanzen oder
mit Trojanern auf Computer zugreifen. Die Grünen sprechen von einem
Bürgerrechtskiller. Sie auch?

So weit gehe ich nicht. Der Bürger hat einen verfassungsrechtlichen Anspruch
darauf, dass der Staat in der Lage ist, Straftaten zu verfolgen und die
Bevölkerung zu schützen. Ich halte es für hysterisch, wenn immer gleich mit der
Keule "Überwachungsstaat" geschwungen wird. Die Polizei ist kein Ausspähorgan!
Wir unterscheiden derzeit vielmehr noch zu sehr zwischen analoger und digitaler
Welt, wo vieles nicht erlaubt ist. Wir machen uns hier künstlich blind. Ich bin
mir aber sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auch in der
digitalen Welt solche Maßnahmen ergreifen, die in der analogen Welt schon längst
erlaubt sind.

Sind einschneidende Gesetze zu rechtfertigen, wenn ein Bundestrojaner kaum etwas


kann, wie gerade herausgekommen ist?

Die Sicherheitsbehörden dürfen vieles in der analogen Welt, was sie in der
digitalen nicht dürfen. Wir dürfen bei entsprechender Verdachtslage
Telefonüberwachungen durchführen, das gesprochene Wort aufzeichnen,
Videoaufnahmen fertigen und sogar Post beschlagnahmen. Warum dürfen wir das in
der digitalen Welt nicht? Ich wundere mich immer, dass die Justiz dieses
Zwei-Klassen-Rechtssystem duldet, und warte auf den längst überfälligen
Aufschrei. Wir brauchen in Deutschland die längst überfällige
Grundsatzdiskussion in Sachen Datenschutz in einer digitalisierten Gesellschaft.
Ich möchte die notwendigen Daten und Informationen offen und transparent durch
die Vordertür und nicht mittels selbst gebasteltem Trojaner im Graubereich durch
die Hintertür erlangen.

Inwieweit steht die Flüchtlingskrise vor allem im vergangenen Jahr mit der
Terrorgefahr in Verbindung?

Man neigt dazu, alles zu vermengen. Aber: Grundsätzlich darf man beide Dinge
nicht vermischen. Wir haben es auf der einen Seite mit einer humanitären
Katastrophe zu tun, wenn Millionen vor dem Bürgerkrieg in Syrien, Irak und
Afghanistan flüchten. Dass sich auch Terroristen unter die große Masse von
Flüchtlingen gemischt haben, was nachweislich der Fall war, stellt die
Sicherheitsbehörden vor eine besondere Herausforderung. Wir sollten daraus aber
nicht schließen, dass sich die Terrorgefahr durch den Flüchtlingsstrom erhöht
hat.

Warum?

Täter radikalisieren sich oftmals in ihrer Heimat. Sie werden zu Terroristen,


ohne Europa jemals verlassen zu haben. Und spätestens mit Schaffung des
Schengenraumes haben wir die Kontrolle darüber verloren, wer sich bei uns wo
genau aufhält.

UPDATE: 19. April 2016


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Nicolas Armer/dpa/picture alliance/nar vfd fdt


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Samstag 2. Januar 2016 10:06 AM GMT+1

Israel;
Tötete IS-Sympathisant die Barbesucher in Tel Aviv?

AUTOR: Gil Yaron, Tel Aviv

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 971 Wörter

HIGHLIGHT: Sie saßen in einer Tel Aviver Bar und wollten das Wochenende
einläuten - dann kam ein Bewaffneter und eröffnete das Feuer auf die Gäste. Die
Bilanz: zwei Tote, acht Verletzte und ein flüchtiger Täter.

Erst Freitagvormittag veröffentlichte die "New York Times" eine Huldigung an den
Eskapismus von Israels gelassenster Metropole. Tel Aviv sei eine Stadt, die sich
zur "Sorglosigkeit bekennt" und in der "die Suche nach dem perfekten Cappuccino
wichtiger ist als Israels komplexe Politik". Doch ein Attentäter sorgte dafür,
dass Stunden, nachdem diese Zeilen erschienen waren, von der Sorglosigkeit
nichts mehr zu spüren war.

Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie ein "ganz in Schwarz gekleideter"


Mann mit "kurz geschorenem schwarzem Haar" in den Nachmittagsstunden plötzlich
das Feuer auf die Gäste der kleinen Bar "Hasimta" auf der Dizengoffstraße
eröffnet, die dort an den Tischen auf dem Bürgersteig saßen. Zuvor war der Mann
seelenruhig die Straße entlanggeschlendert, bis er vor der Auslage eines
Bioladens stehen blieb, der sich neben der Bar befindet.

Auf den Bildern der Kamera ist zu sehen, wie der Mann erst eine große Tasche
abstellt, daraus eine Maschinenpistole hervorkramt und dann wahllos beginnt, auf
die Menschen zu schießen. Die Kugeln trafen Gäste einer Geburtstagsfeier, die an
den Tischen der Bar auf dem Bürgersteig saßen. Dabei wurden zwei junge Israelis
getötet und acht zum Teil lebensgefährlich schwer verletzt.

Mehrere unbewaffnete Bürger schlossen sich daraufhin zusammen, um den


bewaffneten Attentäter zu überwältigen - doch der ergriff die Flucht Richtung
Norden. Sie verfolgten den Mann, bis er das Feuer auf sie eröffnete und in eine
Gasse verschwand. Seither durchkämmen Polizisten in voller Kampfmontur die
Häuser im Zentrum der Weißen Stadt, die wegen ihrer besonderen Architektur zum
Weltkulturerbe erklärt wurde. Ein Polizeihelikopter kreiste unablässig über der
Stadt, um den flüchtigen Attentäter zu fassen. Später wurde auf einem Parkplatz
im Norden der Stadt ein 40 Jahre alter Mann gefunden, der durch Schüsse
lebensgefährlich schwer verletzt worden war. Noch ist unklar, ob er auch ein
Opfer des flüchtigen Attentäters wurde.

Bei den Angreifer handelt es sich um den 30 Jahre alten Araber Muhammad Malham,
ein israelischer Staatsbürger aus dem Dorf Arara im Norden des Landes.
Identifiziert wurde er von seinem eigenen Vater. Der erkannte ihn auf den
Aufnahmen der Sicherheitskameras, die in den Medien veröffentlicht wurden, und
meldete sich bei der Polizei. Malham ist höchstwahrscheinlich ein Sympathisant
des IS. In der Tasche, die er im Bioladen zurückließ, wurde ein Koran gefunden.

Das Dorf, aus dem Malham stammt gilt als friedlich. Die Bewohner verurteilten
noch am Freitag einhellig den Anschlag und riefen Malham dazu auf, sich den
Behörden zu stellen. Manche sagten, dass der Mann geisteskrank sei. Andere indes
sehen die Motivation für den Massenmord in Malhams Biographie. Sein Cousin wurde
vor zehn Jahren bei einer Hausdurchsuchung von der Polizei erschossen. Seither
sinne Malham auf Rache. Er saß fünf Jahre lang in Haft, nachdem er versucht
hatte, einen Soldaten mit einem Schraubenzieher zu erstechen und dessen Gewehr
zu stehlen.

Damit ist beinahe sicher, dass es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat.
Die Behörden wollten zuvor auch einen kriminellen Hintergrund nicht
ausschließen. In den vergangenen Monaten ist der Krieg zwischen Banden
tatsächlich immer grausamer geworden. Doch im Gegensatz zu diesen Zwischenfällen
scheint es sich bei den Schüssen in der Bar um keine gezielte Tötung gehandelt
zu haben.

Die Bar ist weder als Treffpunkt von Verbrechern bekannt noch als Magnet für die
homosexuelle Szene der Stadt, die in der Vergangenheit immer wieder zum Ziel von
Gewalt geworden ist. Augenzeugenberichte weisen darauf hin, dass es sich um ein
Attentat mit terroristischem Hintergrund handelt. Was dafür spricht: Der
Hintergrund des Täters und sein Vorgehen. Er schoss wahllos mit seiner
automatischen Waffe auf die Gäste im Außenbereich, bevor er floh.

Sollte es sich tatsächlich um einen Anschlag handeln, dann haben es die Behörden
wohl mit einem weiteren Angriff eines Palästinensers auf die israelische
Zivilgesellschaft zu tun. Hamas-Sprecher Mushir al Masri begrüßte das Attentat
in Tel Aviv auch bereits als "Beweis dafür, dass Palästinenser Israelis überall
treffen können" und rief dazu auf, die "Al Aqsa Intifada" fortzuentwickeln.

Eine Welle der Gewalt erschüttert Israel seit Monaten. Bislang geht es noch um
unkoordinierte Handlungen untrainierter Einzelpersonen, viele von ihnen
Minderjährige. Obschon es nicht das erste Attentat mit Schusswaffen wäre,
nutzten die Terroristen bislang hauptsächlich kalte Waffen: Messer,
Schraubenzieher, in manchen Fällen ihr Fahrzeug, um damit jüdische Passanten zu
töten. Die meisten Terroristen wurden noch vor Ort neutralisiert oder getötet,
meist ohne viele Opfer zu fordern.

Terrororganisationen wie die Hamas sind mit diesem Ergebnis unzufrieden. Seit
Monaten versuchen sie, die Gewalt weiter anzufachen, den Aufruhr zu koordinieren
und zu organisieren, um die Zahl der Toten auf israelischer Seite in die Höhe zu
treiben. Bislang ist es den Israelis gelungen, das zu verhindern. Erst
vergangene Woche verhaftete die Polizei 25 Palästinenser, die einer Terrorzelle
der Hamas angehörten und Selbstmordattentate planten.

In den vergangenen Monaten nahmen israelische Araber zudem in mehreren Fällen


Kontakt zur Terrormiliz IS auf, mit der Absicht, der Organisation die Treue zu
schwören und entweder in ihren Reihen in Syrien zu kämpfen oder in ihrem Namen
Attentate in Israel zu begehen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass zwei
palästinensische Sympathisanten des IS verhaftet wurden, weil sie planten, ein
Hotel im Ferienort Eilat im Süden des Landes zu sprengen.

Falls die Morde in Tel Aviv sich als Attentat entpuppen, wäre dies ein Indiz
dafür, dass die Islamisten ihrem Ziel, aus der dilettantischen Attentatswelle
einen ausgewachsenen Terrorkrieg zu machen, einen Schritt näher gekommen sind.

UPDATE: 2. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Sonntag 3. Januar 2016 12:30 PM GMT+1

Thomas Oppermann;
"Merkel macht Millionen Bürger politisch heimatlos"

AUTOR: Claus Christian Malzahn und Daniel Friedrich Sturm

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1994 Wörter

HIGHLIGHT: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann will die Grenzen


kontrollieren, aber nicht schließen. Angela Merkel wirft er vor, "bodenständige
Konservative" in die Arme der AfD zu treiben.

Welt am Sonntag: In München war über Silvester Alarmzustand. Wird der zum
Normalzustand?

Thomas Oppermann: Nein. Gleichwohl ist höchste Wachsamkeit geboten. Deutschland


war und ist Ziel der islamistischen Terroristen. Deshalb brauchen wir eine gut
funktionierende Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden unserer Partner. Wenn
ernsthafte Hinweise wie in Hannover und München kommen, dann darf man darüber
nicht hinweggehen. Unsere freie Gesellschaft wird davon nicht bedroht.
Welt am Sonntag: Vor genau einem Jahr haben Sie bei uns gefordert: "Wir sollten
mehr Einwanderung wagen." Hat Deutschland im Jahr 2015 zu viel Einwanderung
gewagt?

Oppermann: Flüchtlings- und Einwanderungspolitik muss man voneinander trennen.


Es bleibt dabei: Kein Land in Europa ist so dringend auf qualifizierte
Einwanderer angewiesen wie Deutschland. Mein Plädoyer für ein
Einwanderungsgesetz stieß Anfang 2015 auf allerhand Kritik, vor allem bei der
Union. Inzwischen haben die Parteitage von SPD und CDU diese Forderung mit ganz
großen Mehrheiten beschlossen. Die Überzeugungsarbeit hat sich gelohnt. Jetzt
muss die Union zeigen, ob ihr Beschluss nur ein taktischer Bluff war oder ob sie
es ernst gemeint hat. Wir sind bereit, ein Einwanderungsgesetz noch in dieser
Legislaturperiode anzugehen.

Welt am Sonntag: Haben die vielen Flüchtlinge nicht ein Einwanderungsgesetz


eher in weitere Ferne gerückt?

Oppermann: Nein, im Gegenteil. Wir brauchen mehr Ordnung in den Verfahren. In


Deutschland verwechseln viele Einwanderung mit Asyl, bei den Flüchtlingen
verwechseln viele Asyl mit Einwanderung. Die beiden Dinge müssen zunächst
getrennt werden. Bei Asyl geht es um unsere humanitäre Verpflichtung und die
Frage: Wie viel Schutz braucht ein Flüchtling? Bei Einwanderung geht es um
wirtschaftliche Interessen und die Frage: Wen brauchen wir? Und damit sich
darauf jeder einstellen kann, brauchen wir klare Einwanderungsregeln, um den
Zuzug besser zu steuern.

Welt am Sonntag: Aber erst mal sind eine Million Menschen nach Deutschland
gekommen!

Oppermann: Ja, aber viele kommen mit falschen Erwartungen, weil die Regeln
nicht klar sind. Ohne Asylberechtigung werden viele wieder gehen müssen. Das
zeigt die ganze Absurdität des derzeitigen Systems. Mit einem
Einwanderungsgesetz können wir Klarheit schaffen und je nach Bedarfslage
flexibel reagieren. Das Grundrecht auf Asyl bleibt dabei unangetastet.

Welt am Sonntag: Bei allem Nach-Weihnachtsfrieden spaltet die faktische


Masseneinwanderung die Republik. Wie viele weitere Flüchtlinge kann Deutschland
2016 verkraften?

Oppermann: Wir können nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Es
geht ja darum, die Flüchtlinge nicht nur notdürftig unterzubringen und zu
versorgen. Wer ein Bleiberecht hat, muss integriert werden. Das ist ein
Marathon, bei dem wir jetzt vielleicht zwei Kilometer gelaufen sind. Für die
restlichen 40 Kilometer müssen wir unsere Kräfte und Möglichkeiten richtig
einschätzen. Die Integrationskraft unseres Landes müssen wir an vielen Stellen
erst aufbauen, zum Beispiel bei Kita- und Schulplätzen. Um das schaffen zu
können, brauchen wir sichere Außengrenzen und eine europäische Vereinbarung zu
Flüchtlingskontingenten.

Welt am Sonntag: Europa bewegt sich eher in die Gegenrichtung. In Polen und
Frankreich etwa reüssieren rechte und rechtsradikale Parteien. Was deutet auf
eine Einigung über Kontingente?

Oppermann: Leider sind es nicht nur die Nationalisten in Europa, die sich einer
fairen Verteilung der Flüchtlinge widersetzen. Aber wir können und müssen auf
ein Minimum an Solidarität bestehen. Europa beschränkt sich nicht darauf, Geld
aus Brüssel entgegenzunehmen. Übrigens: Der moralische Zeigefinger hilft uns
dabei nicht, denn als vor vier Jahren nicht wir, sondern hauptsächlich Lampedusa
und Griechenland belastet waren, hat die Bundesregierung eine Quote ausdrücklich
verweigert.

Welt am Sonntag: Die Bundesregierung setzt vor allem auf die Türkei. Aber
provoziert Präsident Erdogan mit Verhaftungen und Bomben innerhalb seines Landes
nicht die Flucht von Andersdenkenden und Kurden?

Oppermann: Das treibt mich um. Die Türkei ist derzeit das Schlüsselland der
Fluchtbewegung, und sie agiert paradox: Sie gewährt in vorbildlicher Weise
Menschen aus dem Irak und aus Syrien Zuflucht, und gleichzeitig treibt sie
Landsleute in die Flucht, spricht von "Säuberungen". Wir müssen mit unserem
Nato-Partner kooperieren, auch wenn es manchmal sehr schwerfällt, und auf eine
Lösung des Kurden-Konflikts dringen.

Welt am Sonntag: Ist Erdogan ein verlässlicher Partner des Westens?

Oppermann: Er ist ein Partner. Und: Deutschland wird verfolgten Kurden weiter
Schutz gewähren.

Welt am Sonntag: Berlins Ex-Innensenator Erhart Körting (SPD) wirft der


Kanzlerin in der Flüchtlingskrise Staatsversagen vor. Wer Probleme verschweige
wie Angela Merkel, produziere "Rechtsradikalismus und den Abbau des
Rechtsstaats". Was entgegnen Sie ihm?

Oppermann: Ich bin dagegen, die Probleme zu verschweigen. Wir müssen sie offen
ansprechen. Unsere Zivilgesellschaft hat die damit verbundenen Herausforderungen
bisher glänzend gemeistert. Da darf der Staat nicht hinter zurückfallen. Auch
nach sechs Monaten sind die Verfahren immer noch nicht schnell genug.

Welt am Sonntag: Warum mangelt es im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge


(BAMF) noch immer an Personal?

Oppermann: Der Bundestag hat für das BAMF genügend Stellen bereitgestellt. Herr
Weise tut sein Bestes. Aber das BAMF arbeitet mit 15 Jahre alten, analogen
Methoden. Es muss modernisiert werden. Hier zeigt sich ein Versagen der
deutschen Innenpolitik. Die Verantwortung liegt seit 2005 in den Händen der
Union.

Welt am Sonntag: Die Kanzlerin beschwört ein "freundliches Gesicht" und betont,
es gebe keine Obergrenze für Asyl. Wann sagt sie dem Volk, dass die Integration
sehr mühsam und sehr teuer wird?

Oppermann: Frau Merkel muss den Menschen die ungeschminkte Wahrheit über die
Integration und ihre Schwierigkeiten sagen. Leider hat die Union bisher kein
Konzept vorgelegt. Unsere SPD-Ministerinnen und Ministerpräsidentin Malu Dreyer
haben einen ambitionierten, durchdachten Integrationsplan präsentiert. Wenn wir
den umsetzen, sind die Flüchtlinge eine große Chance für unser Land. Ich erwarte
eine rasche Unterstützung dafür von der Union.

Welt am Sonntag: Tun die Länder bei der Bildung genug?

Oppermann: Die Länder schaffen Kita-Plätze und stellen in großer Zahl Lehrer
ein. Aber bei über 300.000 zusätzlichen schulpflichtigen Kindern pro Jahr stoßen
sie an objektive Grenzen. Schon jetzt ist der Lehrer-Markt leer gefegt.

Welt am Sonntag: Die SPD sympathisiert schon lange mit mehr Bildungskompetenz
des Bundes. Sind die Flüchtlinge nicht der beste Anlass für weniger
Kleinstaaterei und mehr Koordination in der Bildungspolitik?

Oppermann: Die Flüchtlingskrise legt manche Mängel in unserem Staatswesen


offen. Diese Chance zu Reformen müssen wir ergreifen. Die fehlende Kooperation
zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik ist ein Unding. In
Sonntagsreden wird die "Verantwortungsgemeinschaft" von Bund und Ländern
beschworen, von Montag bis Freitag herrscht dagegen das Kooperationsverbot. Das
muss endlich weg!

Welt am Sonntag: Was ist in der Arbeitsmarktpolitik zu tun?

Oppermann: Viele Unternehmen engagieren sich sehr direkt für Flüchtlinge - im


wohlverstandenen Eigennutz, sie wollen Arbeitskräfte gewinnen. Das sollten wir
fördern. Jungen Flüchtlingen und benachteiligten Deutschen, die keine
Berufsausbildung haben, sollten wir ein viertes Ausbildungsjahr ermöglichen. In
diesem vierten - vorgezogenen - Jahr werden die jungen Menschen fit gemacht für
die eigentliche Ausbildung. Solch ein Eins-plus-drei-Modell, das in einem
Tarifvertrag der Chemie-Branche schon praktiziert wird, könnte staatlich
gefördert werden.

Welt am Sonntag: Wort des Jahres 2015 war "Flüchtlingskrise". Aber wieso
verzichtet die Bundesregierung auf einen Krisenstab?

Oppermann: Bei Einreise und Unterbringung ist die Kooperation besser geworden.
Bei der Integration sind alle Ministerien gefragt.

Welt am Sonntag: Ist der Aufstieg der AfD der Preis für die Flüchtlingspolitik
der Bundesregierung?

Oppermann: Der Zulauf für die AfD liegt vor allem daran, dass der Staat in der
Flüchtlingskrise ein hilfloses und chaotisches Bild abgegeben hat. Die CDU lässt
außerdem eine Repräsentationslücke zu. Bodenständig Konservative haben in der
CDU keine politische Heimat mehr. Merkel macht Millionen Bürger politisch
heimatlos. Das ist ein schweres Versäumnis und ein Grund dafür, dass auch nicht
extreme Wähler zur AfD abwandern.

Welt am Sonntag: In diesen Monaten finden Reizgas und Schreckschuss-Pistolen


großen Absatz in Deutschland. Woran liegt das?

Oppermann: Mir gefällt das gar nicht. Es gibt in Deutschland eine zunehmende
Verunsicherung. Dazu trägt auch ein schwacher Staat bei. Jahrelang war der
Personalabbau bei Polizei und Sicherheitsbehörden ein Instrument für den
ideologisch motivierten Rückzug des Staates. Der Staat galt als pfui. Jetzt
zeigt sich, dass dieser Personalabbau ein Fehler war. In diesen Zeiten muss der
Staat erst recht zeigen, dass er seine Bürger schützt - vor Terror, aber auch im
Alltag, etwa vor Wohnungseinbrüchen.

Welt am Sonntag: Die Sicherheitspolitik war lange eine Domäne der Union. Das
hat sich geändert, nicht zuletzt wegen Merkels Flüchtlingspolitik. Warum zeigt
die SPD hier nicht mehr Profil?

Oppermann: Die SPD war schon immer eine Partei der inneren Sicherheit. Unsere
Anhänger haben nicht das Geld, sich Sicherheit privat zu verschaffen. Sie sind
auf einen starken Rechtsstaat, der die Schwachen schützt, angewiesen. Die SPD
hat deshalb unter anderem 3000 neue Stellen bei der Bundespolizei durchgesetzt.
Die Union hat die innere Sicherheit dagegen vernachlässigt. Ihr gefällt es, im
Wochentakt Gesetzesverschärfungen zu fordern, statt auf die Einhaltung des
geltenden Rechts zu drängen und das Vollzugsdefizit abzubauen.

Welt am Sonntag: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) würde am


liebsten die eigene Landesgrenze mit eigener Polizei absichern. Verstehen Sie
das?
Oppermann: Bayern sollte sich da mal nicht überheben. Die Grenzkontrolle ist
Sache des Bundes, im Rückraum der Grenze kann auch die Landespolizei agieren.
Das ist eine gute und bewährte Arbeitsteilung.

Welt am Sonntag: Wird 2016 das Jahr der geschlossenen deutschen Grenze?

Oppermann: Die Grenzen müssen effektiv kontrolliert, dürfen aber nicht


geschlossen werden. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Die jungen Leute erleben
Europa als einen Raum der Freiheit, die Wirtschaft ebenso. Dabei muss es
bleiben, Europa ist nicht zuletzt Garant des Friedens. Grenzzäune wären der
Anfang vom Ende Europas.

Welt am Sonntag: Aber kann es dazu kommen?

Oppermann: Wenn es gelingt, die Außengrenzen zu sichern, können wir eine


Renationalisierung der Binnengrenzen vermeiden.

Welt am Sonntag: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat nach seinem schlechten
Wahlergebnis klargestellt, nun werde er noch entschiedener für seine Position
eintreten. Was heißt das in der Flüchtlingspolitik?

Oppermann: Sigmar Gabriel hat der SPD sehr früh eine klare Orientierung
gegeben: Ordnung in den Verfahren, die Zahl der Flüchtlinge reduzieren, die
Herkunftsregionen stabilisieren - inzwischen sieht das die ganze Bundesregierung
so. Diese Krise darf die deutsche Gesellschaft nicht spalten.

Welt am Sonntag: Wie beschädigt ist Gabriel nach der 74-Prozent-Klatsche vom
Parteitag?

Oppermann: Das Wahlergebnis wirft Sigmar Gabriel nicht um. Er hat politische
Substanz wie wenig andere. Und er ist ein starker Vorsitzender.

Welt am Sonntag: Haben Ihre Funktionäre, die auf dem Parteitag sitzen, noch
einen Blick für die Lebensrealität in Deutschland?

Oppermann: Für die SPD ist es lebenswichtig, einen Kurs der Mitte zu fahren.
Zur Mitte zählen alle Menschen, die täglich zur Arbeit gehen und Verantwortung
übernehmen - für andere und sich selbst, für Kinder oder im Ehrenamt. Diese
Menschen und ihre Sorgen müssen im Mittelpunkt unserer Politik stehen.

UPDATE: 3. Januar 2016

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Sonntag 3. Januar 2016 11:55 PM GMT+1

A bis Z;
26 Dinge, die dieses Jahr die Deutschen verunsichern

AUTOR: Wolfgang Büscher, Martin Greive und Claus Christian Malzahn

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 2990 Wörter

HIGHLIGHT: Die Zukunftsangst wächst. Und tatsächlich stehen auch im neuen Jahr
die politischen Sorgen Spalier. Wir haben Deutschland für 2016 neu
durchbuchstabiert: Von A wie Abendland bis Z wie Zampano.

Abendland Wir diskutieren darüber, ob dieser Begriff überhaupt noch tragbar und
sagbar sei. Millionen Flüchtlinge im und aus dem Morgenland würden darüber nur
den Kopf schütteln. Sie wissen ganz gut, wohin es sie zieht - dorthin, wo das
Leben sicherer und freier, wo ein Staat ein Rechtsstaat und eine Zukunft möglich
ist. Das Abendland ist in weiten Teilen der Welt immer noch eine attraktive Idee
- dass es bei gewissen Aufmärschen auch schlimme Verteidiger findet, teilt das
Abendland mit allen schönen Ideen.

Babys Was haben wir nicht alles probiert: Kindergeld, Betreuungsgeld, viel
genützt hat es nicht. Wir Deutschen sind eine der kinderscheusten Nationen der
Welt. Vielleicht sollten wir es mal anders angehen. Der Staat hält sich ab
sofort da raus.

All die Sümmchen, die er Eltern zusteckt wie ein gönnerhafter Onkel, nimmt er
ihnen ja vorher als Steuern ab. Vor allem aber ist das Kinderkriegen ein höchst
privater Akt. Eine gewisse Heiterkeit der Lebenseinstellung (früher hieß das
Gottvertrauen) ist dafür unendlich viel wichtiger als die paar Kröten von Onkel
Staat.

CDU/CSU Die Schwesterparteien werden seit 1949 meist in einem Atemzug genannt.
Das fällt immer schwerer. Zum einen halten die Deutschen die CDU heute
mehrheitlich für eine Partei links von der Mitte, wie Umfragen zeigen. Die CSU
aber ist gern konservativ, wird genau darum gewählt und verhielt sich darum in
der Flüchtlingskrise gegenüber der Kanzlerin nicht mehr schwesterlich. Der
Schrägstrich, der beide Parteien trennt, ist zum Balken geworden.

Deutsche Bank Ihr Chef John Cryan liebt die Oper. Am meisten schätzt er die
Klassiker, bei denen Helden und Bösewichte genauso dazugehören wie der
dramatische Tod. 2016 hat Cryan Gelegenheit, sein eigenes Stück aufzuführen.
Dabei geht es um nicht weniger als die Zukunft des größten deutschen Geldhauses,
das einst alle anderen überstrahlte, doch irgendwann nur noch mit Skandalen
auffiel. Wird es dem Briten gelingen, der Bank eine neue Kultur und obendrein
auch noch ein erfolgreiches Geschäftsmodell zu verpassen? Schon jetzt ist klar:
Es wird blutig zugehen. Tausende Arbeitsplätze fallen weg.

Europa Wer vor 40 Jahren von Deutschland aus in jedwede Himmelsrichtung fuhr,
dem wurden an den Grenzen Stempel in den Reisepass gedrückt. Der Stempel machte
ein klickendes Geräusch, das manche nun herzlich vermissen, obwohl sein
Verschwinden euphorisch gefeiert wurde. Europa ist offen. So wird es nicht
bleiben. Stempel und Schlagbaum feiern Renaissance. Im alten Jahr warnte
Luxemburgs Superminister Jean Asselborn: "Die Europäische Union kann
auseinanderbrechen." EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sekundierte: "Die
Europäische Union ist in Gefahr."

Im neuen Jahr deutet nichts auf Linderung hin: Die Flüchtlingskrise hält an; die
Briten dürften ihr Referendum über den Verbleib in der EU vorantreiben;
Finnlands Parlament muss auf Volkswunsch hin über den Austritt aus der Euro-Zone
debattieren; die Niederländer stimmen über die Annäherung der EU an die Ukraine
ab; der Erfolg des Front National lähmt die französische Politik.

Die Lage ist dramatisch wie nie. Portugal und Griechenland nach links gedreht,
Spanien so gut wie unregierbar, osteuropäische EU-Staaten wenden sich nach
rechts. Die neue nationalkonservative Regierung in Warschau ließ die blauen
Europa-Flaggen aus Regierungsbauten entfernen - das ist nicht nur Symbolpolitik,
es ist eine reale Drohung. Ja, die Europäische Union könnte scheitern. Nicht an
dem einen Superproblem, sondern an zu vielen mittelschweren Erosionen.

Euro-Krise? Griechenland? Darüber redet keiner mehr. Doch 2016 kehrt die
Euro-Krise zurück. Im Frühjahr steht eine erste Überprüfung griechischer
Reformschritte an. Es geht um viel - um die Beteiligung des Internationalen
Währungsfonds am dritten griechischen Hilfsprogramm, um das Ja der
Unions-Bundestagsfraktion zu den Hilfen. Kurz, um die Zukunft Griechenlands.
Schließlich soll das Land Europa nicht ewig auf der Tasche liegen.

Dumm nur aus deutscher Sicht: Berlin kann nicht mehr so viel Druck auf die
Griechen ausüben, es braucht sie jetzt bei der Sicherung der EU-Außengrenzen.
Die Flüchtlingskrise hat die europäischen Gewichte verschoben, die Deutschen
können Europa nicht mehr so selbstbewusst wie früher zur finanzpolitischen
Ordnung rufen. Die Quittung bekommt am Ende der deutsche Steuerzahler.

Failed States Die islamische Welt brennt lichterloh, von Tripolis über Mossul
bis an die Tore Europas bei Aleppo. Und keiner reißt sich mehr darum, den Orient
zu ordnen - wie es einst "die Mächte" versuchten. Was tun? Ignorieren geht nicht
(zu heiß). Es allein richten auch nicht (zu schwach). Es Amerika überlassen? Zu
kriegsmüde. Koalition ist das Gebot der Stunde, mit allen, die wollen und
können. Wer was Besseres weiß, soll es sagen - oder schweigen. Es sind diese
Failed States, die Millionen Flüchtlinge produzieren. Wird es im neuen Jahr
gelingen, die Krise zu beherrschen? Die Flüchtlingszahl des Jahres 2016
entscheidet über die Zukunft der Republik und den Zusammenhalt Europas. Pardon,
eine Nummer kleiner geht es leider nicht.

Großprojekte Die Deutschen sind zu einem Protestvolk geworden. Und gegen nichts
kämpft der deutsche Wutbürger lieber als gegen Großprojekte. Das Große ist ihm
das Falsche. In Bayern werden auf Druck von unten neue Stromleitungen nun
unterirdisch verlegt. Das kostet zwar einige Milliarden mehr, und riesige Gräben
werden die grünen Wiesen Bayerns durchkreuzen und den Boden erhitzen, weshalb
nun Bauern Entschädigungen fordern.

Doch dem Druck der Bürgerinitiativen kann niemand trotzen - weder CSU-Chef Horst
Seehofer noch Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz. Der legte mit der Idee
einer Olympiabewerbung eine Bruchlandung hin, in einem Volksentscheid sprachen
sich seine Hamburger gegen Sommerspiele in der Hansestadt aus. Deutschland ist
keine direkte Demokratie, doch nie war die Macht der Neinsager größer als heute.

Hass Dass es ächzt im deutschen Gebälk und Gemüt, dass vielen mulmig wird, ist
in diesen dramatischen Zeiten kein Wunder: eine sich vervielfachende wilde
Einwanderung und massive Terroranschläge obendrein. Es gibt ein Recht, besorgt
zu sein - aber kein Recht, auf wilde Entwicklungen mit wilder Gewalt zu
antworten. Es gibt ein Recht auf Protest, aber kein Recht auf Hass. Wenn wir
diese Grenze nicht eisern ziehen, nach allen Seiten, geben wir auf, was unser
Land ausmacht. Die Hassbilanz 2015: Über 120 Brandanschläge auf
Flüchtlingsunterkünfte, Hunderte weitere Attacken. Und Facebook wird zur Kloake.

Islam Gehört er nun zu Deutschland oder nicht? Als Christian Wulff seinen Satz
sagte, hatte er gut reden - lange vor den Fluchtwellen unserer Tage, vor den
Anschlägen. Und nun? Deutschland ist islamischer nach dem Jahr 2015, was denn
sonst? Nicht um ein "ob" geht es, nur noch ums "wie". Nicht mehr um wohlmeinende
Reden, sondern um Regeln, die wir durchsetzen oder nicht.

Jobs Die deutsche Wirtschaft ist Europas Insel der Glückseligen. Weder
VW-Skandal noch China-Flaute noch IS-Terror brachten den Aufschwung ins
Stottern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 4,7 Prozent - halb so hoch wie in
Frankreich. Für die Jugend der Welt ist Deutschland attraktiv wie nie, es wirkt
wie ein Magnet. In den letzten Jahren suchten Hunderttausende junge Südeuropäer
ihr Glück bei uns. 2015 machten sich rund 1,1 Millionen aus Afghanistan, dem
Irak oder Syrien auf den Weg zu uns in der Hoffnung, hier Ruhe vor Krieg und
Terror und eine Arbeit zu finden.

Gelänge es, die meist jungen Neuankömmlinge schnell in den Arbeitsmarkt zu


integrieren, könnte Deutschland ein zweites Wirtschaftswunder ins Haus stehen.
Denn die in Rente gehende Generation der Baby-Boomer wird auf dem Arbeitsmarkt
in den nächsten Jahren große Lücken reißen, die Flüchtlinge füllen könnten.
Sollte die Integration aber nicht gelingen, drohte dies unsere Wirtschaft
zusätzlich zur Alterung der Gesellschaft stark zu belasten.

Konservativ Das Wort bezeichnet eine gespenstische Leerstelle deutscher


Politik. Gebraucht wird es heute meist abwertend: Jemand ist
"rechtskonservativ", "konservative Kräfte" sind übel zugange etc. Aber gute
Politik ist nie nur progressiv. Sie kann beides - sich was Neues trauen und
Bewährtes bewahren. Die Abschaffung des Konservatismus gebiert Monster. In
diesen Monaten sind sie auf Straßen und Plätzen zu besichtigen.

Landlust Die Deutschen lieben das Land (Wälder, Felder, Kühe, Fachwerk), wohnen
aber lieber in der Stadt (Bars, Malls, Jobs, Kitas). Darum sollen die Dörfer
jetzt schneller werden (WLAN) - und die Städte langsamer (Tempo 30). Am Ende
steht, wie stets in der Bundesrepublik, der Kompromiss: WLAN mit Tempo 30, dafür
flächendeckend.

Merkel Als Sonnenkanzlerin sieht sie das Ausland. Das "Time"-Magazin wählte sie
zur "Person des Jahres". Weltweit dient sie Frauen als Vorbild. Selbst ihr
Äußeres wird kopiert: Die Chefin der Scottish National Party, Nicola Sturgeon,
hat sich eine Frisur und bunte Blazer zugelegt, die stark an Angela Merkel
erinnern. Die Kanzlerin als Stilikone - wow! In ihrer zehnjährigen Amtszeit hat
sie uns immer wieder überrascht: Erst wollte sie die Laufzeiten von AKWs
verlängern, dann wurde die Kernenergie abgeschafft. Die Wehrpflicht war der CDU
stets eine heilige Kuh, auch die wurde geschlachtet. Und offene Grenzen
forderten nicht mal mehr die Grünen. Merkel hat die ganze Republik links
überholt.

Ist es das alte antizyklische Spiel? SPD-Kanzler übernehmen die nötigen rechten,
CDU-Kanzler nötige linke Reformen? Willy Brandt erfand die Berufsverbote, Helmut
Schmidt die Nato-Nachrüstung und Gerhard Schröder Hartz IV. Aber der
konservative Helmut Kohl erkannte die Oder-Neiße-Grenze an. Und eine rot-grüne
Regierung beschloss 1999 den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr. Die rot-grüne
Basis murrte - und nahm es hin. Läuft es jetzt wieder so?

Nun murrt die CDU-Basis übers "Wir schaffen das" ihrer Chefin, doch die
überstand den Bundesparteitag glänzend. Horst Seehofer und Sigmar Gabriel
dagegen wurden abgewatscht auf ihren Konventen. Die Kanzlerin geht also gestärkt
ins neue Jahr. Und doch war sie nie so gefährdet. Ihre Zukunft entscheidet sich
an den Grenzen. Eine Million Flüchtlinge sind schon da, wie viele 2016
dazukommen, wagt niemand vorauszusagen. Das politische Schicksal von Angela
Merkel hängt an der Frage, ob die Masseneinwanderung gestoppt werden kann. Die
Kanzlerin war einst dafür bekannt, politische Prozesse genau zu berechnen. Tut
sie das noch? Es scheint, sie hat 2015 einen ganzen politischen Werkzeugkasten
freiwillig aus der Hand gegeben.

Niedrigzinspolitik Die Deutschen sind die großen Sparfüchse unter den modernen
Nationen. Aber auch die größten Angsthasen bei der Geldanlage: Aktien sind für
viele Bundesbürger eine Spielerei hemmungsloser Zocker, von der man besser die
Finger lässt. Stattdessen bunkern die Sparer ihr Geld auf Tagesgeldkonten oder
parken es in Lebensversicherungen - auch wenn das quasi keinen Cent Rendite mehr
bringt.

Denn seit Ausbruch der Finanzkrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) die
Zinsen sukzessive runtergefahren. Schlecht für die Sparer, toll für die Staaten
- sie profitieren davon bei billiger Kreditaufnahme. Der Kleinanleger findet
kaum noch eine sichere Anlage, die eine vertretbare Rendite abwirft. Das wird so
weitergehen. Denn die EZB öffnet die Geldschleusen immer weiter, um der
schwächelnden Inflation im Euro-Raum Beine zu machen. Da hilft nur eines: Der
deutsche Sparer wird umdenken und mehr ins Risiko gehen müssen - oder er schaut
zu, wie sein Geld auf dem Bankkonto verrottet.

Obama Ein Zug ins Messianische gehört manchmal zu amerikanischer Politik. John
F. Kennedy hat davon profitiert, Barack Obama erst recht. "Hope" - erinnert sich
noch jemand? Wo sind sie hin, all die schönen Hoffnungen? Und wo wachsen neue?
Unter den Sorgen, die am Eingang des neuen Jahres Spalier stehen, ist die
beklommene Frage, wie es mit Amerika weitergeht, nicht die geringste.

Polen Die Polen blicken sehr genau auf Deutschland. Umgekehrt gilt das leider
nicht. Dabei könnten wir von den östlichen Nachbarn einiges lernen:
Freiheitswillen und Selbstbehauptung zum Beispiel. Die polnische Nation ist 25
Jahre nach dem Ende des Sowjetimperiums noch immer dabei, zu sich zu kommen: Wie
katholisch oder kosmopolitisch will Polen sein, wie europäisch oder eigensinnig
- das sind große Fragen, um sie zu ringen ist Demokratie.

Noch immer wandern zu viele Polen aus, zwei Millionen seit 2004. Generationen
werden ohne Eltern groß, weil die in der Fremde Geld verdienen müssen. Trotzdem
wird nicht gejammert. Es gilt das Sprichwort: "Polak potrofi" - der Pole kann's.
Das sollte wissen, wer über polnische Eskapaden urteilt.

Quatsch Nie war er so wertvoll wie heute. Aber bitte nicht der belehrende,
ledrige Humor des amtlichen deutschen Kabaretts. Dann lieber der herrlich
anarchische, valentineske!

Romantik Die Deutschen sind nicht ohne sie zu haben. Sinnlos, die Romantik
ideologiekritisch exorzieren zu wollen. Sie ist stärker als das. Aber wir
sollten aufhören, sie mit Politik zu vermengen. Nur einmal, im
antinapoleonischen Befreiungskrieg, ging die Romantik Hand in Hand mit der
Politik, und es war ein schönes Paar. Danach eher nicht. Jede Partei trägt ihr
Traditionspäckchen, bei den Grünen ist es die romantische Idee von Politik. Wenn
aber alte Romantiker zu Realpolitikern werden, kommt manchmal deutsche Qualität
heraus. Die Grünen gehen diesen Weg - eine Zeile von Heinrich Heine auf den
Lippen.

SPD Sie ist die älteste politische Formation Deutschlands. Sie repräsentiert
heute nur noch ein Viertel der Wählerschaft. Das beklagt sie allerorten. Warum
eigentlich? Die SPD regiert im Bund, in 14 von 16 Bundesländern und in den
meisten Großstädten. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sollte weniger
Selbstmitleid wagen.

Terror Nun also auch bei uns. Das neue Jahr beginnt mit einem offenbar
begründeten Anschlagalarm in München. Paris ist überall - der islamistische
Terror die größte Geißel unserer Zeit. Auch unsere Kinder werden mit ihm leben
müssen. Aber dieser Terror ist keine Naturgewalt, kein Strafgericht des Himmels.
Er ist von Menschen gemacht. Man kann ihn also besiegen.

Wie? "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" lautet der Schlachtruf wehrhafter
Demokratie. Das Problem: Der Satz stammt von Louis Antoine Léon Saint-Just,
einem Aktivisten der Französischen Revolution und engen Freund Robespierres.
Saint-Just begann seine Laufbahn mit hehren Vorsätzen. Zum Schluss war er selber
Terrorist und endete, wie viele seiner Opfer, auf dem Schafott.

Uni Lauter Superlative an Deutschlands Universitäten. Es gibt so viele


Studenten wie nie zuvor (2,76 Millionen). Darunter sind so viele Ausländer wie
nie zuvor (301.000). Und die Zuwanderung wird deren Anteil schnell weiter
steigen lassen. Immerhin erwarten sie mittlerweile auch über 1000
englischsprachige Studiengänge. Was in Anbetracht von insgesamt über 18.300
Fächern noch wenig ist.

Auch bei den Studienfächern ist ein Rekordwert erreicht worden, der allerdings
immer mehr Kritik hervorruft. Denn wer soll dieses Angebot noch überblicken?
Zudem sind viele Studiengänge superspezialisiert und bilden nur für ein kleines
Job-Segment aus. Die Uni wird immer mehr zur höheren Berufsschule.

Volkswagen Er läuft und läuft und - kommt dann gehörig ins Stottern. Ein Jahr
wie 2015 hat Volkswagen noch nie erlebt. Erst geht Patriarch Ferdinand Piëch auf
Distanz zu Vorstandschef Martin Winterkorn und gerät dabei selbst ins Abseits.
Dann jubelt man in Wolfsburg, endlich sei VW der größte Autobauer der Welt. Nur
um bald darauf von der US-Umweltbehörde unsanft auf den Boden der Tatsachen
geholt zu werden, indem diese aufdeckt, dass VW seine Kunden mit manipulierten
Abgaswerten betrogen hat.

Die vorläufige Bilanz: Aufsichtsratschef weg, Vorstandschef ausgetauscht, elf


Millionen Autos müssen zurück in die Werkstatt, und wie viele Milliarden das
Ganze kosten wird, steht noch gar nicht fest. Man sollte meinen, 2016 könne es
nur noch aufwärts gehen - aber das hat man bei VW zuletzt schon öfter gedacht.

Wehrpflicht Reden wir nicht drum herum: Bei ihrer Abschaffung sind wir übers
Ziel hinausgeschossen. So froh waren wir über das Ende des Kalten Krieges, dass
wir meinten, nun ende aller Krieg, und den blöden Rest erledige eine Resttruppe
von Profis. Die Wehrpflicht ist ein rares Band. Es bindet Bürger
allerunterschiedlichster Art, es bindet Generationen. Es kann sogar zuwandernde
junge Männer binden. Mal drüber nachdenken. Aber nicht zu lange.

Xenos In einer antiken Schrift klagt ein Mann, er werde verachtet, "weil ich ein
xenos bin" - ein Fremder. Xenophobie ist so alt wie der Fremde selbst. Sie zu
überwinden ist eine kulturelle Leistung, natürlich ist es nicht. Heute tritt der
Fremde meist im Plural auf, als xenoi, womit wir bei der Frage sind: Gibt es
eine Obergrenze unserer Fremdenfreundlichkeit? Die Kanzlerin sagt: Nein. Die
Erfahrung sagt: Mal sehen.

Ypsilon, das kleine Es steht in der Mathematik für eine unbekannte Größe. Das y
deutscher Politik heißt heute AfD. Nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt,
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz am 13. März wird der Schreck groß sein. Im
September folgen dann Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Berlin. Unsere
Prognose: y wird tendenziell zweistellig geraten, die große Koalition,
eigentlich die Ausnahme in einer Demokratie, wird der Normalfall. Dafür aber
weniger groß.

Zampano, der Große Er war etwas aus der Mode gekommen. Der letzte seiner Art,
Gerhard Schröder, hatte einen starken Lauf und einen holprigen Abgang. Seither
wird deutsche Politik auf eine so beruhigende Art gemacht, als gelte sie einem
hypernervösen Patientenkollektiv. Aber die Zeiten selbst sind nervös, und die
Zampanos schießen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen. Orbán, Kaczynski,
Tsipras, Trump, von Putin und Erdogan nicht zu reden. Auch Cameron gibt den
harten Hund. Und Hollande kann's auch. Wir wagen es, den Megatrend 2016
auszurufen: die Rückkehr des großen Zampano - demnächst in diesem Theater.

UPDATE: 4. Januar 2016

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Montag 4. Januar 2016 1:59 PM GMT+1

Skandinavien;
Nordeuropas Abschottung wird vor allem Deutschland treffen

AUTOR: Helmut Steuer, Stockholm

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 901 Wörter

HIGHLIGHT: Schweden und Dänemark sind mit den neuen Passkontrollen nicht allein.
Auch andere skandinavische Länder denken an Abschottung. Rechtspopulisten
treiben die Regierungen vor sich her.

Der dänische Regierungschef Lars Løkke Rasmussen war aufgebracht: "Wir wollen
nicht schon wieder Menschen auf unseren Autobahnen wandern sehen", erklärte er
sichtlich verärgert in seiner Neujahrsansprache. Und: "Bei uns muss Recht und
Ordnung herrschen." Das, was den rechtsliberalen Regierungschef so erzürnt, ist
der Beschluss im Nachbarland Schweden, von Montag an Passkontrollen an der
Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden sowie an den Fähren aus Deutschland
und Dänemark einzuführen, um den Flüchtlingsstrom bremsen zu können.

Es sei eine "sehr unglückliche Situation", die da entstanden sei, so Rasmussen.


Man werde die Lage genau beobachten und gegebenenfalls handeln. Inzwischen hat
auch Dänemark Fakten geschaffen und die Grenzkontrollen an der deutsch-dänischen
Grenze wieder eingeführt. Dabei nimmt der Nachbar Schweden acht Mal so viele
Menschen auf wie Dänemark mit seinen rund 20.000 Flüchtlingen.

Nordeuropa macht die Grenzen dicht, um den Flüchtlingsstrom in den Griff zu


bekommen. Finnland hat seit den Weihnachtstagen unbemerkt Pass- und
Visa-Kontrollen für Passagiere der Finnlines von Travemünde nach Helsinki
eingeführt. Die Maßnahmen wurden von Flüchtlingshilfsorganisationen scharf
kritisiert. "Diese Regelung schließt fast jeden Flüchtling, der nach Finnland
will, von der Fährfahrt aus", meint beispielsweise das Lübecker Flüchtlingsforum
zu dem Beschluss der finnischen Regierung, nur noch Passagiere mit gültigen
Dokumenten einreisen zu lassen. Auch Norwegen hat die Kontrollen an der Grenze
zu Russland im Polarkreis deutlich verschärft.

Rechte legen überall im Norden zu

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, beobachtet die


Entwicklungen in Nordeuropa mit Sorge. "Leider sieht es so aus, dass in Schweden
ein gültiger Ausweis das Kriterium für einen Asylantrag ist", beklagt Mattias
Axelsson vom UNHCR. Auch Dänemarks Entscheidung, wieder Passkontrollen an der
deutsch-dänischen Grenze einzuführen, macht dem UNHCR Sorgen. "Es besteht das
Risiko eines Dominoeffekts, der sich durch Europa ziehen kann", sagt Axelsson.
Vor allem Deutschland wird betroffen sein, wenn Menschen die Weiterreise in den
hohen Norden wegen fehlender Papiere verweigert wird.

In allen nordeuropäischen Ländern sind rechtspopulistische und teilweise


ausländerfeindliche Parteien in den Parlamenten. In Finnland und Norwegen sitzen
sie sogar in den Regierungen. In Dänemark ist die rechtspopulistische Dänische
Volkspartei ein Treiber einer immer restriktiveren Ausländerpolitik. Zwar stehen
sie außerhalb der Mitte-rechts-Regierung von Rasmussen, da diese jedoch keine
eigene Mehrheit im Parlament besitzt, hat die Dänische Volkspartei als
Stimmengeber einen großen Einfluss auf die Politik. Sie war es auch, die vor
einigen Wochen vorschlug, das Gepäck von Flüchtlingen auf Wertsachen zu
untersuchen und diese gegebenenfalls zu beschlagnahmen, um damit den Aufenthalt
der Flüchtlinge zu finanzieren.

In Finnland sitzt die rechtspopulistische Partei der Finnen (vormals Wahre


Finnen) in der Regierung und stellt sogar den Außenminister. Obwohl Finnland
vergleichsweise wenige Flüchtlinge aufnimmt, schürt die Partei die Angst vor
Überfremdung. Auch in Norwegen macht die rechte Fortschrittspartei als
Regierungsmitglied Stimmung gegen Ausländer.

Flüchtlinge lehnen Heime in der Ödnis ab

Dass Rechtspopulisten selbst in Ländern, in denen sie nicht Teil der Regierung
sind, die Politiker vor sich hertreiben, wird besonders deutlich in Schweden.
Dass das Land jetzt von seiner liberalen Asylpolitik abrückt und Flüchtlinge
direkt auffordert, nicht zu kommen, hat mit der veränderten Stimmungslage im
Land zu tun. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten kommen nach jüngsten
Umfragen auf mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen, sind damit drittgrößte
politische Kraft im Land und liegen nur noch knapp hinter den regierenden
Sozialdemokraten.

"Wir haben die Grenze des Machbaren erreicht", erklärte vor Kurzem der
sozialdemokratische Justiz- und Integrationsminister Morgan Johansson.
Tatsächlich hat das Land im vergangenen Jahr bis zu 160.000 Flüchtlinge
aufgenommen, genauere Zahlen liegen noch nicht vor. Das ist, gemessen an der
Bevölkerungszahl von rund 9,6 Millionen Einwohnern, deutlich mehr, als
Deutschland aufgenommen hat. In vielen Gemeinden gibt es keine Notunterkünfte
mehr, sodass Flüchtlinge trotz Schnee und Minusgraden in Zelten übernachten
müssen. Vor einigen Wochen mussten 50 Flüchtlinge in den Korridoren der
Einwanderungsbehörde in Norrköping übernachten. Und selbst wenn es Unterkünfte
gibt, ist nicht sicher, dass die Flüchtlinge in diese einziehen wollen. Vor
Kurzem weigerten sich 24 Migranten, in ein Wohnheim nahe der nordschwedischen
Stadt Sundsvall zu ziehen. Nach Angaben eines Behördensprechers wollen viele
nahe einer Großstadt wohnen und nicht in die dünn besiedelten Gebiete im Norden
des Landes geschickt werden.

Von den neuen Passkontrollen versprechen sich die schwedischen Behörden einen
deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen. Betroffen von den schärferen
Kontrollen sind neben den zumeist aus Syrien, Afghanistan und dem Irak
stammenden Flüchtlingen aber auch die Pendler. Mehr als 20.000 Dänen und
Schweden arbeiten im jeweils anderen Land und müssen täglich über die
Öresundbrücke reisen. Ab jetzt wird sich die Fahrtzeit um bis zu eine Stunde
erhöhen, da die Pendler am Kopenhagener Bahnhof Kastrup für die Passkontrolle
aussteigen müssen.

UPDATE: 4. Januar 2016

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Dienstag 5. Januar 2016 9:33 AM GMT+1

Handel ausgesetzt;
USA und Moskau vermitteln in Teheran-Riad-Krise

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 857 Wörter

HIGHLIGHT: Weil sich der Iran nicht "normal" verhalte, kappt Saudi-Arabien
Konsequenzen die Handelsbeziehungen. Russland will seine Partner wieder
versöhnen und auch die USA greifen in den Konflikt ein.

Saudi-Arabien kappt nach den Worten von Außenminister Adel al-Dschubeir alle
Handelsbeziehungen mit dem Iran. Außerdem werde der Flugverkehr zwischen beiden
Staaten eingestellt, sagte Dschubeir am Montag in einem Reuters-Interview.
Saudische Bürger dürften auch nicht mehr in den Iran reisen. Iranische Pilger
seien allerdings nach wie vor willkommen, die heiligen Stätten in Mekka und
Medina zu besuchen. Der Iran müsse sich wie ein normales Land verhalten und
internationale Normen respektieren, bevor die Beziehungen zu dem Land wieder
normalisiert werden könnten.

Den Angriff auf die saudische Botschaft in Teheran bezeichnete er als einen
"schwerwiegenden Bruch internationaler Konventionen" und warf Teheran vor, die
Führer des Terrornetzwerkes al-Qaida zu schützen.

Der iranische Vizepräsident Ishagh Dschahngiri kritisierte am Montag die


Entscheidung Saudi-Arabiens zum Abbruch der Beziehungen: "Die Politik der Saudis
hat in den letzten Jahren für die Region nur Negatives gebracht." Auch die
jüngste Entscheidung werde nur zu mehr Spannungen in der Region führen.

Moskau und USA wollen vermitteln

US-Außenminister John Kerry hat seine Kollegen aus beiden Ländern in Telefonaten
zu einer Beruhigung der Lage gedrängt. Aus Regierungskreisen in Washington hieß
es am Montag, dass Kerry den iranischen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif
und den saudiarabischen Außenminister Adel al-Dschubeir angerufen habe. "Wir
rufen zur Ruhe und zur Deeskalation auf", sagte ein US-Regierungsvertreter.

Die USA sind ein traditioneller Verbündeter Saudi-Arabiens. Zum Iran unterhalten
sie seit der Besetzung ihrer Botschaft in Teheran nach der iranischen Revolution
1979 keine diplomatischen Beziehungen. Mit dem Abkommen über das iranische
Atomprogramm näherten sich Washington und Teheran zuletzt aber vorsichtig an.
Eine weitere Eskalation im iranisch-saudiarabischen Verhältnis könnte die
Umsetzung der Atom-Vereinbarung gefährden.

Auch Russland startete eine Vermittlungsinitiative und bot an, Gespräche


zwischen den Außenministern aus Teheran und Riad auszurichten, sagte ein
russischer Diplomat am Montag der Nachrichtenagentur Tass. "Wenn unsere Partner
Saudi-Arabien und Iran ihren Willen und ihre Bereitschaft dazu zeigen, bleibt
unsere Initiative auf dem Tisch", zitierte Tass den Diplomaten.

In einer offiziellen Erklärung des Moskauer Außenministeriums wurden Teheran und


Riad aufgerufen, "den Weg des Dialogs" einzuschlagen. Die russische Regierung
sei bereit, derartige Bemühungen zu unterstützen, hieß es weiter. Moskau sei
"tief besorgt über die neue Eskalation der Situation im Nahen Osten, die von den
großen Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran verursacht worden ist".

Weitere Länder wenden sich vom Iran ab

Saudi-Arabien hatte nach der Erstürmung seiner Botschaft in der iranischen


Hauptstadt Teheran die Beziehungen zu dem rivalisierenden Golfstaat abgebrochen.
Die Proteste im Iran waren durch die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen
Nimr al-Nimr im sunnitischen Saudi-Arabien ausgelöst worden.

Vorausgegangen war die Stürmung der saudischen Botschaft in Teheran durch


wütende Bürger in der Nacht zum Sonntag, nachdem die Ölmonarchie am Samstag den
prominenten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr und 46 weitere Verurteilte
hingerichtet hatte. Der schiitische Iran, der mit dem sunnitisch geprägten
Königreich um die Vormachtstellung in der Region ringt, hatte darauf empört
reagiert.

Der eskalierende Konflikt erfasst weitere Länder der arabisch-islamischen Welt.


Nach Riad kündigten die Golfmonarchie Bahrain und die Regierung des Sudan am
Montag ein Ende der diplomatischen Verbindungen zu der schiitischen
Regionalmacht in Teheran an. Die Vereinigten Arabischen Emirate zogen ihren
Botschafter aus Teheran ab und wollen diesen durch einen Geschäftsträger
ersetzen.

Das Verhältnis zwischen dem Iran und Saudi-Arabien war jahrzehntelang schwierig,
die Eskalation vom Sonntag allerdings markiert einen lange nicht erreichten
Tiefpunkt. 1988 hatte Saudi-Arabien das letzte Mal die Beziehungen zum Iran
abgebrochen.

USA äußern sich zurückhaltend

Die Bundesregierung hielt beide Staaten zur Verständigung an. "Wir rufen beide
Staaten zum Dialog auf", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in
Berlin. Die Beziehungen beider Länder - "so konfliktreich sie sind" - seien von
grundlegender Bedeutung für die Lösung der Krisen in Syrien und im Jemen sowie
für die Stabilität in der gesamten Region. Saudis und Iraner sind in viele
Konflikte der Region verwickelt.

Regierungssprecher Seibert machte deutlich, dass derzeit keine Sanktionen ins


Auge gefasst werden. Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD)
will jedoch Rüstungsexporte an Saudi-Arabien künftig noch genauer unter die Lupe
nehmen. Die Grünen forderten einen sofortigen Stopp der Handelsbeziehungen mit
Saudi-Arabien. Den meisten der 46 neben al-Nimr exekutierten Männern wurde
Terrorismus vorgeworfen.

Die US-Regierung äußerte sich zurückhaltend zu den Spannungen zwischen Saudis


und Iranern. Die USA glaubten, dass "diplomatisches Engagement von grundlegender
Bedeutung" sei, zitierte der Sender CNN den Sprecher des Außenministeriums, John
Kirby.

UPDATE: 5. Januar 2016

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Dienstag 5. Januar 2016 1:34 PM GMT+1

Übergriffe in Köln;
Grüne lehnen "Bonus für Nationalität" ab

AUTOR: Claudia Kade

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 480 Wörter


HIGHLIGHT: Nach der sexuellen Gewalt in Köln und Hamburg fordert
Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt Aufklärung ohne Rücksicht auf Herkunft
oder Aufenthaltsstatus der Täter. "Das Gesetz gilt für jeden."

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt fordert nach den Übergriffen auf


Dutzende Frauen in Köln und Hamburg um den Jahreswechsel eine Strafverfolgung
ohne Ansehen der Herkunft der Täter. "Was in Köln und in St. Pauli passiert ist,
sind ungeheuerliche Straftaten, und die müssen konsequent verfolgt werden",
sagte Göring-Eckardt der "Welt". "Es gibt keinen Bonus für Nationalität oder
Aufenthaltsstatus. Das Gesetz gilt für jeden. Ob er aus Dresden oder Damaskus
stammt."

Laut Polizei hatten sich am Silvesterabend auf dem Vorplatz des Kölner
Hauptbahnhofs etwa 1000 Männer versammelt, die "dem Aussehen nach aus dem
arabischen oder nordafrikanischen Raum" stammten. Aus der Menge hätten sich
Gruppen von Männern gebildet, die Frauen umzingelt, bedrängt und ausgeraubt
hätten. In Hamburg wurden Frauen laut Zeugenaussagen von jungen Männern mit
südländischem oder arabischem Aussehen sexuell belästigt.

Eine gesetzliche Integrationspflicht lehnt die Vorsitzende der


Grünen-Bundestagsfraktion weiterhin ab. "Anders als die Union glaube ich nicht,
dass man auf diesen Gewaltausbruch ein Pflaster namens Integrationspflicht
klebt, und alles wird gut", sagte Göring-Eckardt.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) äußerte sich ähnlich: "Die


Täter, egal welcher Herkunft und Religion sie sind, müssen schnell ermittelt und
zur Rechenschaft gezogen werden. Mit aller Konsequenz." Frauen seien kein
"Freiwild", Übergriffe auf sie jedweder Art "nehmen wir nicht hin".

Als "völlig neue Dimension organisierter Kriminalität" bezeichnete


Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) die Vorfälle. "Wir dürfen nicht zulassen,
dass Menschen in unseren Städten blanker Gewalt schutzlos ausgeliefert sind."
Alle Täter müssten ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden.

CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach trat dafür ein, dass sich der Innenausschuss
des Bundestages mit den Kölner Vorfällen befasst. Der Bahnhof und das
Bahnhofsgelände lägen in der Verantwortung der Bundespolizei, sagte Bosbach der
"Rheinischen Post". Im Bahnhofsumfeld sei hingegen die Landespolizei zuständig.
Es stelle sich die Frage, ob genügend Kräfte im Einsatz gewesen seien und wie es
um die Kooperation zwischen Bundes- und Landespolizei stehe.

"Systematische Massenübergriffe" auf Frauen

Roland Schäfer, Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, zeigte mit
Blick auf die Kölner Vorfälle Unverständnis dafür, "warum weder Polizei noch
Sicherheitskräfte der Bahn in voller Einsatzstärke vor Ort waren. Etwas
Vergleichbares wie in Köln ist mir aus anderen Städten nicht bekannt." Es gebe
zwar immer mal wieder Schlägereien zwischen Bevölkerungsgruppen, aber
"systematische Massenübergriffe" auf deutsche Frauen nicht.

Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, forderte als


Konsequenz eine Umkehr vom Kurs, Polizeikräfte abzubauen. "Der Grundsatz ,null
Toleranz' muss immer gelten."

UPDATE: 5. Januar 2016

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Donnerstag 7. Januar 2016 12:10 PM GMT+1

FDP-Chef Lindner;
"Merkel hat unseren Kontinent ins Chaos gestürzt"

AUTOR: Thorsten Jungholt, Stuttgart

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1190 Wörter

HIGHLIGHT: In Zeiten von Asylkrise und Terror positioniert sich die FDP als
Rechtsstaatspartei. Lindner geht beim Dreikönigstreffen hart mit Merkel ins
Gericht: Er geißelt staatliches Organisationsversagen.

Es hat sich manches geändert bei der FDP, seit die Liberalen vor zweieinhalb
Jahren aus der Bundesregierung in die außerparlamentarische Opposition gestürzt
sind: Personen, Positionen, das um die Farbe Magenta ergänzte blau-gelbe
Parteilogo. Und jetzt ist auch noch die Hotelbar des Stuttgarter "Maritim"
Geschichte.

Das ist jene Lokalität, an der Guido Westerwelle einst Zigarre schmauchte und
über seine Steuersenkungspläne dozierte. An der Rainer Brüderle bei einem Glas
Wein Tanzkarten verteilte, über Dirndlausschnitte philosophierte und dafür
publizistisch an den Pranger gestellt wurde. Diese Hotelbar also ist
Vergangenheit.

Der Landesverband Baden-Württemberg, Gastgeber des jährlichen Dreikönigstreffens


der FDP, hatte das Stelldichein der Liberalen aus ganz Deutschland am Vorabend
der politischen Kundgebung sogar aus Stuttgart hinaus nach Fellbach verlegt, in
ein altes Kelterhaus. Der Kosten wegen, man muss aufs Budget achten. Schließlich
ist die Miete für das Staatstheater, dem eigentlichen Schauplatz von Dreikönig,
teuer genug.

Christian Lindner, dem Vorsitzenden der Liberalen, ist die Hotelbar herzlich
egal. Er raucht keine Zigarren, jedenfalls nicht öffentlich, mit Tanzkarten hat
er auch nichts am Hut. Wichtig ist ihm das Opernhaus, das den Fernsehkameras
eine prächtige Kulisse bietet. Denn die Kundgebung am 6. Januar ist eine der
wenigen verbliebenen Gelegenheiten, in denen er auch als Politiker der
außerparlamentarischen Opposition eine bundesweite Öffentlichkeit für seine
Botschaften findet.

In diesem Jahr ist das besonders wichtig, stehen doch fünf Landtagswahlen ins
Haus. Nach den Achtungserfolgen im Vorjahr, als die FDP in den Stadtstaaten
Hamburg und Bremen mit guten Ergebnissen in die Parlamente einzog, muss die
Partei nun den Nachweis erbringen, dass sie sich auch in Flächenländern wieder
zu stabilisieren vermag. Im März wird in Sachsen-Anhalt, vor allem aber in den
alten liberalen Hochburgen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt.
Gelingt dort der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde, davon ist Lindner
überzeugt, "dann ist auch deutschlandweit wieder mit uns zu rechnen" - bei der
Bundestagswahl 2017, soll das heißen.

Nur: Womit will die FDP die Bürger an der Wahlurne überzeugen, was sind die
Unterschiede zu den im Bundestag vertretenen Parteien und auch zur AfD? Diese
Fragen suchte Lindner vor den rund 1000 Zuhörern im Staatstheater zu
beantworten.

Langfristige Perspektiven nur für benötigte Fachkräfte

Zunächst ging er auf "Dringliches" ein, also auf die großen Krisen: den
Flüchtlingsstrom und die Terrorgefahr. Der Vorsitzende versuchte sich bei den
liberalen Antworten auf diese Herausforderungen an einem Spagat: Er übte deftige
Kritik an der Regierungspolitik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft, ohne sich
die einfachen Parolen der Populisten an den politischen Rändern zu eigen zu
machen und auf reaktionäre Abschottung zu setzen.

Natürlich, sagte er, es sei eine selbstverständliche humanitäre Pflicht


Deutschlands, den Flüchtlingen Schutz zu bieten. Und er finde den
Kanzlerinnen-Satz des "Wir schaffen das" auch sympathisch. Bloß habe Angela
Merkel (CDU) es bislang versäumt, zwei entscheidende Fragen zu beantworten: Was
genau schaffen wir? Und wie?

Deutschland habe in dieser Krise ein staatliches Organisationsversagen erlebt,


wie er es nie für möglich gehalten habe, sagte Lindner. Merkel habe mit ihrer
weder im Inland noch mit den europäischen Partnern abgestimmten Grenzöffnung
"unseren Kontinent ins Chaos gestürzt". Und zu Hause habe sich die Regierung
bislang allein auf die Kraft der Bürgergesellschaft verlassen. Nun sei es an der
Zeit, das von der unkontrollierten Zuwanderung geschaffene Chaos wieder durch
eine rechtsstaatliche Ordnung zu ersetzen.

Lindner wiederholte seinen Vorschlag, den Flüchtlingen keinen dauerhaften


Aufenthaltsstatus, sondern nur ein vorübergehendes Bleiberecht zu gewähren.
Parallel müsse ein Einwanderungsgesetz geschaffen werden, das auf dem
Arbeitsmarkt benötigten Fachkräften langfristige Perspektiven aufzeige - aber
auch nur denen, so lässt sich das verstehen.

Deutsche Rechtsordnung muss überall im Land gelten

Lindner suchte sich von politisch korrekter Empörungsrhetorik und dem


"verdrucksten Umgang mit Wahrheiten" zu distanzieren, wie sie nach den Vorfällen
am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht einmal mehr zu beobachten waren.
Überall sei nun zu hören, die Täter müssten unabhängig von ihrer Herkunft
verfolgt werden. Ja was denn sonst, fragte Lindner, warum müsse diese
Selbstverständlichkeit betont werden? "Die Bürger müssen sich in jedem Winkel
Deutschlands auf die Autorität der Rechtsordnung verlassen können."

Zur Wahrheit gehöre, dass dies nicht mehr überall der Fall sei. Es gebe
rechtsfreie Räume in diesem Land, No-go-Areas in den großen Städten, in denen
die Polizei keine Autorität mehr habe. Diesem Problem sei - ebenso wie der
Bedrohung durch den Terrorismus - nicht durch neue Gesetze zu begegnen, sondern
durch bestens ausgestattete Sicherheitsbehörden. Ob Polizei, Nachrichtendienste
oder Militär: Die deutschen Behörden hätten kein Defizit in dem, was sie dürfen,
sondern in dem "was sie können".

Das war zum einen ein Plädoyer für mehr Personal und bessere Ausrüstung. Aber es
war auch eine Kritik der Aufgabenerfüllung. Wenn die Analyse Versäumnisse zum
Beispiel des Polizeipräsidenten in Köln ergebe, dann brauche es eben einen
"personellen Neuanfang" in der Behörde.

FDP will ein Deutschland-"Update"

Sein Werben für einen starken Rechtsstaat verband Lindner mit einem Aufruf zum
Schutz der Bürgerrechte. In den nächsten Tagen werde die FDP Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht gegen die Vorratsdatenspeicherung erheben, kündigte er
an. Statt zu versuchen, 80 Millionen Bürger zu überwachen, solle sich die
Regierung lieber darum kümmern, jeden Einzelnen der Rückkehrer aus dem Syrien
-Krieg zu überwachen. Auch hier also das Motto: weniger neue Gesetze,
stattdessen mehr Personal für die Polizei.

Dass der FDP-Chef seine Redezeit in Stuttgart gehörig überzog, lag daran, dass
er es nicht bei seinen Antworten auf die dringlichen Krisen beließ. Er wollte
auch noch etwas zu den Zukunftsaufgaben jenseits des akuten Krisenmanagements
sagen. Der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zum Beispiel, die er durch die
Rente mit 63, steigende Energiekosten und die Erbschaftsteuerreform bedroht
sieht. Zu mangelnden Investitionen in analoge (Straßen) und digitale
Infrastruktur (Breitbandnetze). Kurz: Lindner warf die Frage auf, "wovon wir
eigentlich morgen leben" wollen. Seine Antwort hieß: Deutschland brauche ein
"Update", eine neue marktwirtschaftliche Offensive.

An diesen Stellen spendeten einige Neumitglieder der FDP, die in Stuttgart in


der ersten Reihe saßen, besonders eifrig Beifall: Jürgen Hambrecht zum Beispiel,
Aufsichtsratschef des Chemiekonzern BASF, oder Berthold Leibinger,
Gesellschafter des Maschinenbauers Trumpf. Die beklagen schon lange, dass die
große Koalition in Berlin den Krisen nur noch hinterherregiert. Diese Manager
haben sich deshalb entschieden, die FDP zu unterstützen. Ob die Bürger an der
Wahlurne ihrem Beispiel folgen werden, das freilich ist längst nicht ausgemacht.

UPDATE: 7. Januar 2016

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Donnerstag 7. Januar 2016 12:54 PM GMT+1


Türkischer Geheimdienst;
IS soll Attentate in sechs Ländern geplant haben

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 267 Wörter

HIGHLIGHT: Was ist zu Silvester in München passiert? Laut einem Zeitungsbericht


war die Stadt eines von sechs Anschlagszielen in Europa. Diese Erkenntnisse soll
der türkische Geheimdienst haben.

Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) plante zum Jahreswechsel laut


einem türkischen Zeitungsbericht zeitgleiche Attentate in sechs Ländern.

Die mutmaßlichen Vorbereitungen für Anschläge in München in der Silvesternacht


gehörten zu diesem Plan.

Es sei der türkische Geheimdienst gewesen, der die europäischen Länder


rechtzeitig gewarnt und die Gewalt damit verhindert habe, berichtete die
englischsprachige "Hürriyet Daily News" am Donnerstag unter Berufung auf
Regierungsvertreter.

Deutsche Stellen hätten sich bei der Türkei bedankt. Von der Regierung in Ankara
lag zunächst keine Stellungnahme vor.

Waren die Selbstmordattentäter schon auf dem Weg?

Dem Bericht zufolge stieß der türkische Geheimdienst MIT nach der Festnahme von
zwei mutmaßlichen IS-Mitgliedern in Ankara auf die Anschlagspläne, die von einem
führenden IS-Mitglied ausgearbeitet wurden. Die Pläne sollen sich auf Computern
befunden haben.

Die beiden Verdächtigen haben demnach zu Silvester Selbstmordanschläge in der


türkischen Hauptstadt Ankara geplant. Zeitgleich hätten andere IS-Aktivisten in
München sowie in Belgien, Großbritannien, Frankreich und Österreich zuschlagen
wollen.

Laut Email-Verkehr verließen bereits 13 Selbstmord-Attentäter die nordsyrische


Stadt Rakka.

In München waren am Silvesterabend wegen Hinweisen auf bevorstehende Anschläge


der Hauptbahnhof und der Bahnhof in Pasing für mehrere Stunden gesperrt worden.
In der belgischen Hauptstadt Brüssel wurden öffentliche Silvesterfeiern
abgesagt.

Zuvor hatte es geheißen, die Warnungen vor einem Anschlag seien vom
französischen und irakischen Geheimdienst gekommen.

UPDATE: 7. Januar 2016

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Donnerstag 7. Januar 2016 10:45 PM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Die Deutschen wollen einen härteren Kurs

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 718 Wörter

HIGHLIGHT: Ja zu Grenzkontrollen in der EU, einer Obergrenze für Flüchtlinge und


mehr Überwachung von gewaltbereiten Islamisten: Terrorangst und Unsicherheit
durch die Asylkrise verändern die Stimmung im Land.

Eine große Mehrheit der Bürger wünscht sich härte Maßnahmen gegen den
islamistischen Terrorismus. 87 Prozent der im Deutschlandtrend von Infratest
Dimap im Auftrag der ARD-"Tagesthemen" und der "Welt" Befragten würden deutschen
Staatsbürgern, die für Terrormilizen gekämpft haben, die deutsche
Staatsbürgerschaft entziehen, falls die Gefährder einen weiteren Pass besitzen.

Sieben von zehn Deutschen sind für eine grundsätzliche Verschärfung der
Überwachungsmaßnahmen. 88 Prozent der Befragten würde gewaltbereiten Islamisten
bei einem konkreten Anschlagsverdacht für eine bestimmte Zeit verbieten, sich in
der Nähe größerer Veranstaltungen aufzuhalten.

68 Prozent der Bürger fürchteten im Januar, dass in nächster Zeit


Terroranschläge in Deutschland verübt werden könnten; damit haben sich nach der
Münchner Bedrohungslage in der Silvesternacht die Sorgen merklich verstärkt
(plus sieben Prozentpunkte im Vergleich zum Dezember).

Grenzkontrollen in der EU werden beliebter

Auch in der Zuwanderungspolitik fordert die Mehrheit der Befragten einen


härteren Kurs. 61 Prozent sind für eine staatlich festgesetzte Obergrenze für
die Aufnahme von Flüchtlingen. 51 Prozent der Deutschen würde diesen - und
solchen, die vorgeben, es zu sein - die Einreise verweigern, wenn sie keine
gültigen Ausweispapiere besitzen.

57 Prozent sprechen sich für die Wiedereinführung von Kontrollen an den


deutschen und anderen EU-Binnengrenzen aus. Das ist ein Anstieg um zwölf
Prozentpunkte im Vergleich zum September. Drei von vier Befragten würden ein
Gesetz begrüßen, das regelt, wie man Zuwanderer auf deutsche Grundwerte
verpflichtet.
Nahles und Merkel legen im Politiker-Ranking zu

Obwohl die Bundesregierung keine dieser Maßnahmen plant, erfreut sie sich
wachsender Beliebtheit. Drei Prozent mehr (51 Prozent) als noch im Dezember sind
mit Schwarz-Rot zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Im Ranking der Politiker
legt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vier Punkte auf 58 Prozent zu.

Dieser Beliebtheitssprung wird nur noch von Bundesarbeitsministerin Andrea


Nahles (SPD) getoppt. Ihre Zustimmungswerte steigen im Monatsvergleich um
bemerkenswerte acht Punkte auf 47 Prozent. Und das, obwohl ihrer Ankündigung von
einer Million Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge bisher keine Taten gefolgt sind.
Zudem hatte sie kürzlich ein Bundessozialgerichtsurteil kritisiert, dem zufolge
Sozialleistungen für arbeitslose EU-Ausländer, die nach sechs Monaten Aufenthalt
in Deutschland Sozialhilfe beantragen, für rechtmäßig hält.

Was auch immer die Befragten an Nahles beeindruckt haben mag - ihre Partei
profitiert jedenfalls nicht von dem Beliebtheitssprung. Wäre am kommenden
Sonntag Bundestagswahl, bekämen die Sozialdemokraten nur 24 Prozent (minus ein
Punkt) der Stimmen. Die CDU/CSU legt leicht zu und könnte derzeit mit 39 Prozent
(plus zwei Punkte) der Stimmen rechnen. Die Grünen liegen konstant bei elf
Prozent, die Linke ebenfalls unverändert bei acht. Der FDP bliebe mit erneuten
vier Prozent der Wiedereinzug in den Bundestag verwehrt. Die AfD könnte dagegen
mit neun Prozent im Parlament Platz nehmen.

Zuwanderung mit Abstand wichtigstes Thema 2016

Der politische Umgang mit der drastisch gestiegen Zuwanderung ist aus Sicht der
Bürger das mit Abstand wichtigste Thema in diesem Jahr. Rund drei Viertel sind
der Meinung, dass sich die Bundesregierung vorrangig um diesen Komplex kümmern
sollte. Der Arbeitsmarkt (zehn Prozent) und die wirtschaftliche Situation (acht
Prozent) werden nur von rund jedem Zehnten genannt. Gerade einmal sechs Prozent
halten die Befriedung von Konflikten, etwa in Syrien, und damit die Bekämpfung
der Fluchtursachen für nachrangig.

Dass der Bundesrepublik mit der Zuwanderung eher Vorteile entstehen, glauben 38
Prozent, während eine geringfügig höhere Zahl von 41 Prozent davon ausgeht, dass
die Nachteile überwiegen werden. Eine kleine Gruppe von 15 Prozent ist der
Ansicht, dass sich beides die Waage halten wird.

Bei den Anhängern von Union, SPD, Linken und Grünen überwiegt die Zahl derer,
die in der Zuwanderung Vorteile sehen. Die AfD-Anhängerschaft betrachtet
Zuwanderung geschlossen negativ: Von ihnen sieht niemand eher Vorteile.

Für den Deutschlandtrend hat Infratest Dimap am 4. und 5. Januar 1004


wahlberechtigte Bürger befragt. Die Auswahl der Teilnehmer an der Telefonumfrage
ist repräsentativ.

UPDATE: 8. Januar 2016

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Samstag 9. Januar 2016 9:09 AM GMT+1

USA;
"Am meisten Geld geben chinesische Touristen aus"

AUTOR: Ansgar Graw

RUBRIK: REISE; Reise

LÄNGE: 1372 Wörter

HIGHLIGHT: Chris Thompson ist Amerikas oberster Touristiker. Er will mehr


Besucher locken - 2021 sollen es 100 Millionen werden. Doch die stören sich an
dem mitunter würdelosen Prozedere bei der Einreise.

Chris Thompson hat ambitionierte Ziele. Der Geschäftsführer von Brand USA peilt
für das Jahr 2021 immerhin 250 Milliarden Dollar Einnahmen aus dem Tourismus und
100 Millionen Besucher aus aller Welt an.

Die erste Tourismus-Marketing-Agentur der Vereinigten Staaten verfügt über ein


Jahresbudget von 175 Millionen Dollar und funktioniert nach dem Modell der
Private-Public-Partnership (PPP): Für jeden von privaten Geldgebern
eingeworbenen Dollar bekommt Brand USA einen weiteren Dollar aus der
Staatskasse.

13 Büros gibt es weltweit, unter anderem in Berlin sowie vier allein in China.
Die Deutschen zählt Thompson zu seinen wichtigsten Kunden. Daher will er auch in
Zeiten des Terrors das Visa-Waiver-Programm aufrechterhalten und sogar
ausweiten. Der hohe Dollarkurs stört ihn dabei gar nicht.

Die Welt: Mr. Thompson, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erlebte
der US-Tourismus große Einbrüche. Haben Sie inzwischen alle Besucher
zurückgewonnen?

Chris Thompson: In absoluten Zahlen sind wir wieder auf dem Niveau von vor 9/11.
Aber der weltweite Wettbewerb ist härter geworden, und das Angebot in anderen
Ländern ist seitdem stark gewachsen.

Die Welt: Weil China, Südafrika und Brasilien auf den Markt drängen?

Thompson: Exakt. Darum ist unser Anteil am Weltmarkt geringer geworden. Vor der
Jahrtausendwende betrug der Anteil der USA am weltweiten Tourismus ungefähr 17
Prozent. Danach ist er zwischendurch auf bis unter zwölf Prozent gefallen.
Aktuell nähern wir uns wieder einem Anteil von 14 Prozent an. Und wir sind
Nummer eins bei den Einnahmen aus dem Tourismus. Bei der Besucherzahl liegt
allerdings Frankreich vor uns.

Die Welt: Soll der Tourismus auf dem aktuellen Niveau bleiben?
Thompson: Wir setzen auf Wachstum, natürlich. 2014 war ein Rekordjahr mit 75
Millionen Besuchern und 220 Milliarden Dollar Einnahmen. Das Ziel unserer
Tourismusstrategie für 2021 lautet 100 Millionen Besucher und 250 Milliarden
Dollar Einnahmen. Dazu brauchen wir ein Wachstum von durchschnittlich 4,2
Prozent. Und da wir in den letzten drei, vier Jahren Wachstumsraten von 6,5 bis
7 Prozent hatten, ist das zu schaffen.

Die Welt: Wie wichtig sind deutsche Touristen für die Vereinigten Staaten?

Thompson: Sehr wichtig! 2014 waren die Deutschen auf Platz 7 in absoluten Zahlen
und auf Platz 9 bei den Ausgaben. Sie gehören also in beiden Kategorien in
unsere Top Ten.

Die Welt: Was sind die Lieblingsziele deutscher Touristen in den USA?

Thompson: Aufgrund der Geografie steuern sie vor allem Ziele an der Ostküste an.
Bei der Frage nach den Wunschzielen in den USA wird hingegen Kalifornien von 58
Prozent genannt, danach folgen Florida mit 51 Prozent sowie New York City,
Hawaii, Texas, Washington D.C. und Alaska.

Mehrfachnennungen waren bei dieser Befragung möglich. Deutsche Besucher haben


vor allem Interesse an kulturellen und historischen Stätten, Ökotourismus und
Natur, Dining, Shopping und Nachtleben in den Städten. Sie sind auch
verlässliche Besucher, weil sie im Durchschnitt drei bis fünf Monate im Voraus
buchen.

Die Welt: Wie viel gibt der deutsche Tourist aus?

Thompson: Nimmt man alle Touristen, geben sie im Durchschnitt 4400 Dollar pro
USA-Urlaub aus. Die Deutschen liegen leicht darüber, bei etwa 4500 Dollar. Am
meisten geben die Chinesen aus, 6000 bis 7000 Dollar.

Die Welt: Wie wollen Sie weitere Touristen anlocken?

Thompson: Seit drei Jahren setzen wir stark auf Kulinarik. Denn egal woher die
Besucher kommen, sie werden in jedem Fall bei uns essen, und darum fahren viele
unserer Städte Starköche auf, die den Touristen etwas zu bieten haben.

Im nächsten August werden die amerikanischen Nationalparks 100 Jahre alt.


Yellowstone, der erste von ihnen, wurde 1916 eingeweiht. Und wir stellen mehr
unsere Stärken auf dem Gebiet der Popkultur heraus: Kino, Musik, Musicals.

Die Welt: Graceland, Memphis, Times Square, das ist überzeugend. Aber
Kulinarik? Erwartet man nicht, dass es in den USA außer guten Steaks nur Burger
und Fastfood gibt?

Thompson: Wir haben beispielsweise eine Kampagne mit der BBC gestartet und die
Hörer über unsere hervorragende Küche und Spitzengastronomie in diversen Städten
informiert.

Die Welt: Großbritannien scheint in Sachen "gute Küche" keine harte


Herausforderung zu sein. Franzosen oder Italiener wären schwieriger zu
überzeugen.

Thompson: Wir vermitteln das weltweit, unter anderem in unseren Botschaften über
unseren nationalen Feiertag, den 4. Juli, an dem Chefköche die Besucher
empfangen.

Die Welt: Haben Sie Umfragen gemacht, ob mehr deutsche und sonstige Touristen
kämen, wenn das Sicherheitsprozedere entspannter wäre und die Reisenden
beispielsweise am Flughafen nicht die Schuhe ausziehen müssten?

Thompson: Das sind Einwände, auf die man unter Touristen immer wieder stößt. Der
Vorsitzende unseres Verwaltungsrats ist Arne Sorenson, der Direktor der
Marriott-Hotelgruppe, und er sagte mir bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren:
"Bislang vermitteln wir in die Welt hinein nicht die Botschaft, dass wir
Besucher grundsätzlich willkommen heißen, und solange das nicht der Fall ist,
nutzen alle unsere Marketingmaßnahmen nichts." Andererseits wächst in Zeiten von
Terroranschlägen das Verständnis für derartige Maßnahmen.

Die Welt: Also kein Handlungsbedarf?

Thompson: Doch, durchaus. Wir arbeiten daran, dass Sicherheit in einer Art und
Weise organisiert wird, dass sich Besucher trotzdem willkommen fühlen. Die
Entscheidung darüber liegt meist nicht bei uns, sondern bei den
Sicherheitsbehörden, und grundsätzlich gilt: Sicherheit geht vor.

Aber wir haben erreicht, dass auf immer mehr Flughäfen Terminals eingerichtet
werden, an denen die Passagiere weitgehend selbst einchecken können. Und eine
"executive order" von Präsident Obama weist alle Bundesbehörden an, ihre
Bemühungen um einen angenehmen Empfang für Touristen zu intensivieren, ohne
höchste Sicherheitsstandards aufzugeben - was ja übrigens auch im Interesse
dieser Touristen liegt.

Die Welt: Wie wichtig ist das Visa-Waiver-Programm, also der Verzicht auf
Visaanträge für Reisende aus Europa und einigen anderen Ländern, für den
US-Tourismus?

Thompson: Sehr wichtig! In diesem Programm haben wir aktuell 38 Länder. Zuletzt
kam voriges Jahr Chile dazu, als erstes südamerikanisches Land. Als 2008
Südkorea diesem Programm beitrat, stieg binnen eines Jahres die Zahl der
Touristen von dort um 40 Prozent.

Voraussetzung für die Aufnahme ins Visa-Waiver-Programm ist, dass die


Regierungen der jeweiligen Länder uns den höchsten denkbaren Sicherheitsstandard
garantieren können hinsichtlich enger Zusammenarbeit in Sachen Transparenz und
Weitergabe von sicherheitsrelevanten Informationen.

Die Welt: Nun soll das Visa-Waiver-Programm verschärft werden. Befürchten Sie,
dass es vielleicht sogar suspendiert wird, wie einige Kongressabgeordnete unter
Verweis auf Europäer fordern, die sich in Ausbildungslagern der Dschihadisten in
Nahost aufgehalten haben? Oder wegen der vielen unregistrierten Flüchtlinge in
Europa aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan?

Thompson: Ich sage niemals nie, aber aktuell befürchte ich das nicht. Auch
unsere Abgeordneten wissen ja, wie wichtig der Tourismus für uns ist, und dass
wir ihn mit peniblen Sicherheitsstandards in Einklang bringen.

Der Tourismus macht neun Prozent der gesamten Wirtschaft der USA aus, an ihm
hängen insgesamt 1,8 Millionen Arbeitsplätze. Darum wird das
Visa-Waiver-Programm in den kommenden Jahren wahrscheinlich eher ausgeweitet als
eingeschränkt.

Die Welt: Wer ein Visum benötigt, muss lange warten.

Thompson: In einigen unserer wichtigsten Tourismusmärkte, nämlich China, Indien


und Brasilien, hatten wir 100 Tage Wartezeit für einen Visums-Antragstermin - um
gar nicht erst von der Visa-Gewährung zu reden. Heute gibt es keinen Ort mehr
auf der Welt, an dem es länger als eine Woche dauert, um einen Termin für den
Visa-Antrag zu bekommen. In den meisten Fällen dauert es nur zwei Tage, in
vielen Fällen sogar nur noch einen Tag.

Bevor Christopher L. Thompson im November 2012 zur Vermarktungsagentur Brand USA


wechselte, war er Präsident und CEO von Visit Florida. Thompson kann auf 30
Jahre Erfahrung im Tourismus zurückblicken. Der verheiratete Vater zweier Söhne
verließ 1980 die University of Florida mit einem Bachelor of Science in Business
Administration.

UPDATE: 9. Januar 2016

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Samstag 9. Januar 2016 9:50 AM GMT+1

Markus Söder;
"Offenbar haben sich Parallelgesellschaften gebildet"

AUTOR: Peter Issig

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1294 Wörter

HIGHLIGHT: Bayerns Finanzminister Söder fordert mehr Rückhalt für Polizei und
Verfassungsschutz. Er warnt vor einer Destabilisierung der Gesellschaft und den
steigenden Kosten für Merkels Flüchtlingspolitik.

Die Welt: Was ist in Ihren Augen die Folge der Kölner Übergriffe?

Markus Söder: Die Bürger sind verunsichert, empört und geschockt. So etwas hat
es in diesem Ausmaß noch nie in Deutschland gegeben. Und so etwas darf auch nie
wieder passieren. Der Schutz der Bürger ist die wichtigste Aufgabe des Staates.
Wenn der Staat nicht in der Lage ist, den Schutz der Bürger zu gewährleisten,
verfehlt er seinen Auftrag. Deswegen müssen wir allen, die sich nicht an unsere
Regeln und Gesetze halten, zeigen, dass dieser Staat wehrhaft ist.

Die Welt: Nach allem was bekannt ist, haben sich tatsächlich viele Zuwanderer,
Flüchtlinge, Migranten an den Ausschreitungen beteiligt. Was für Konsequenzen
muss das haben?
Söder: Natürlich muss erst alles genau aufgeklärt werden. Klar ist aber: Wer
vor Gewalt flieht und hier Frieden findet und dennoch gewalttätig wird, hat bei
uns keine Zukunft. Dabei darf nicht nur darüber geredet werden, ob die Wortwahl
einer Oberbürgermeisterin unglücklich oder ob die Einsatzplanung der örtlichen
Polizei Schuld war. Man muss offen und ehrlich darüber sprechen, dass sich
offensichtlich Parallelgesellschaften gebildet haben und die Integration nicht
überall funktioniert.

Die Welt: Wie kann das geändert werden?

Söder: Der Staat muss wehrhaft bleiben. Deswegen ist es dringend notwendig,
dass mehr in die Polizei investiert wird. Bayern ist hier ein Vorbild. Wir haben
im vergangenen Jahr über 1000 neue Stellen geschaffen, die Ausrüstung verbessert
und die Bezahlung aufgestockt. Ein Polizeihauptmeister in Bayern verdient im
Jahr 2000 Euro mehr als sein Kollege in Nordrhein-Westfalen. Die Besoldung ist
immer auch Ausdruck von Wertschätzung.

Die Welt: Sind die Kölner Übergriffe ein Problem der Polizeiführung in
Nordrhein-Westfalen oder ist es ein strukturelles Problem? Viele
Bundespolizisten sind zur Grenzkontrolle in Bayern abgestellt.

Söder: In Bayern können wir uns Vorfälle in solchen Dimensionen nicht


vorstellen. Weil unsere Polizei besser aufgestellt ist und weil wir zu unserer
Polizei stehen. Diese Rückendeckung müssen wir allen Polizisten in Deutschland
geben. Debatten, ob Polizeibeamte etwas sagen dürfen, oder lieber nicht,
schwächen den Rückhalt für die Beamten.

Die Welt: Genügt es, die Polizei aufzurüsten?

Söder: Natürlich müssen auch der Verfassungsschutz und die Nachrichtendienste


gestärkt werden. Wir müssen realitätsbewusst diskutieren, was notwendig ist.
Gerade zur Terrorbekämpfung benötigen wir mehr eigene Quellen, um weniger auf
ausländische Partner angewiesen zu sein.

Die Welt: Sie kritisieren, dass nicht offen darüber gesprochen wird, wer die
Täter möglicherweise sind. An wen richtet sich dieser Vorwurf, an die Politik,
an die Medien?

Söder: Viele Bürger waren überrascht, dass man über die Terrorwarnung in der
Silvesternacht in München ausführlich diskutiert hat. Aber was in anderen
Städten tatsächlich passiert ist, wurde erst Tage später über das Internet
bekannt und hat in manchen Medien zunächst gar nicht stattgefunden.

Die Welt: Aus der CSU war schon der Vorwurf eines Schweigekartells zu hören.
Befördert die Partei Verschwörungstheorien?

Söder: Nein, aber es gab Versäumnisse. Der ein oder andere Fernsehsender hat
sich ja auch dafür entschuldigt. Weder Politik noch Medien dürfen aus falsch
verstandener politischer Correctness die Wahrheit ignorieren. Wir müssen ehrlich
miteinander umgehen.

Die Welt: Aber die öffentliche Debatte findet doch statt.

Söder: Jetzt ja. Aber erst nachdem einzelne Polizeibeamte Details


veröffentlicht haben. Fakt ist, dass die Bürger manchmal genauer Bescheid wissen
über das, was im Land geschieht, als es die öffentliche Debatte wahrhaben will.
Und wenn politische Kräfte jetzt immer noch sagen, man solle nicht darüber
reden, dass in Köln Personen mit Migrationshintergrund beteiligt waren, ist das
ein falscher Ansatz. Natürlich muss man besonnen reagieren, aber auch ehrlich.
Sonst entsteht der Eindruck, dass die Politik nicht in der Lage sei, ernsthafte
Probleme auch ernsthaft zu benennen. Dann verliert die Bevölkerung das
Vertrauen.

Die Welt: Zurück zu den Sicherheitsbehörden. Wer soll die bessere Ausstattung
eigentlich bezahlen?

Söder: In der Tat ist die finanzielle Lage der Länder wegen der
Flüchtlingssituation sehr angespannt. Bayern macht keine neuen Schulden und kann
sogar noch alte Schulden tilgen. Andere Länder müssen neue Schulden machen oder
wollen Steuern erhöhen. Wir sind da strikt dagegen.

Die Welt: Rechtfertigen Ausnahmesituationen nicht auch Ausnahmen bei der


Haushaltspolitik?

Söder: Wenn wir in Deutschland wieder Schulden machen wegen einer unbegrenzten
Zuwanderung, wenn wir Steuern deswegen erhöhen, oder gar Gesundheitsleistungen
oder Renten kürzen, wird das für die Integration keinen Vorteil bringen. Im
Gegenteil: Es entsteht sozialer Unfrieden vor allem in den unteren
Einkommensgruppen der Gesellschaft. Denn die sozial Schwächeren schultern in
Wahrheit die Integration.

Die Welt: Wie kann Stabilität erreicht werden?

Söder: Durch die Begrenzung der Zuwanderung. Dafür ist der Bund zuständig. Wenn
der Bund diese Begrenzung nicht leistet, muss er zumindest den Ländern das Geld
zur Verfügung stellen, das sie zur Bewältigung der Folgen benötigen.

Die Welt: Ist dann die schwarze Null im Bundeshaushalt noch zu halten?

Söder: Das hängt davon ab, wie sich die Flüchtlingszahlen entwickeln. Bayern
gibt in den Jahren 2015 und 2016 rund 4,5 Milliarden Euro für die Flüchtlinge
aus. Davon könnte man zwei Universitäten bauen oder mehrere Hunderttausend
Kita-Plätze einrichten. Eine Million Menschen mehr bedeuten natürlich auch bei
der sozialen Sicherung Veränderungen. Deswegen brauchen wir eine Reduktion der
Zuwanderung.

Die Welt: Die Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen, die die CSU fordert, könnte
schon Ende Februar, wenn Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
stattfinden, erreicht sein. Was geschieht dann?

Söder: Wir werden schauen, was in den kommenden Wochen und Monaten passiert.
Ohne eine Änderung der Flüchtlingspolitik werden wir aber noch ganz andere
Fragen als die Finanzpolitik diskutieren müssen.

Die Welt: Die Kanzlerin sagt, sie brauche Zeit. Die CSU sagt, wir haben es
eilig. Wie lange geht das noch gut?

Söder: Die Kanzlerin setzt auf eine internationale Lösung. Ob diese


internationale Lösung tatsächlich in absehbarer Zeit erreicht wird, ist aus
heutiger Sicht fraglich. Die Lage in Syrien und dem Nahen Osten wird täglich
unübersichtlicher. Denken Sie an die Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem
Iran oder der Türkei und Russland. Und auch in Europa steigen die
Schwierigkeiten. Es droht eine Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa. Wenn die
internationale Lösung nicht zeitgerecht funktioniert, brauchen wir einen Plan B.

Die Welt: Der lautet?


Söder: Deutschland muss dann national handeln. Wenn wir klare Signale setzen
wie Schweden und Dänemark, dann wird sich die Lage auch wieder in Deutschland
stabilisieren.

Die Welt: Die CDU ist gegen Grenzsperrungen?

Söder: Es geht nicht um Sperrungen, sondern um konsequentere Grenzkontrollen


und Abschiebungen. Manchmal überholt die Realität Parteitagsbeschlüsse.

Die Welt: Ist mit Köln die Stimmung in der Bevölkerung gekippt?

Söder: Im letzten Jahr konnten wir die Herausforderung mit großer Solidarität
und Barmherzigkeit leisten. In diesem Jahr wird es finanziell und
organisatorisch wesentlich schwieriger. Und ob wir es kulturell schultern, wird
sich erst in Jahren zeigen. Aus einer reinen Willkommenskultur ist auch eine
Besorgniskultur geworden.

Die Welt: Mit welchen politischen Konsequenzen rechnen Sie?

Söder: Es wäre falsch, nur ängstlich darauf zu starren, ob die AfD oder andere
Gruppen ein Prozent mehr oder weniger bekommen. Wir müssen Probleme lösen. Mein
Eindruck ist, dass nach Köln etwas in Bewegung kommt.

UPDATE: 9. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Sonntag 10. Januar 2016 11:53 AM GMT+1

Übergriffe in Köln;
Die Fakten am Tag 10 nach den Exzessen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 827 Wörter

HIGHLIGHT: 200 weitere Strafanzeigen sind bei der Kölner Polizei eingegangen,
die Pegida-Demo in der Domstadt erlebt großen Zulauf und muss vorzeitig beendet
werden. Eine Übersicht über die neuen Entwicklungen.

Zehn Tage sind seit den Übergriffen von Köln vergangen. Der Samstag war geprägt
von Demonstrationen in der Domstadt. Die CDU beschließt die "Mainzer Erklärung",
damit besser gegen Verbrechen von Asylbewerbern vorgegangen werden kann. Und: In
Köln kamen weitere 200 Strafanzeigen dazu.

Strafanzeigen und Festnahmen

Köln

Die Zahl der Strafanzeigen ist von bislang rund 170 auf 379 Anzeigen
hochgeschnellt, wie die Polizei am Samstagnachmittag mitteilte. Ein Sprecher der
Polizei erklärte den plötzlichen Anstieg mit den personellen Aufstockungen der
Ermittlungsgruppe "Neujahr".

In etwa 40 Prozent der Fälle wird unter anderem wegen Sexualstraftaten


ermittelt. Der Blick der Polizei richtet sich größtenteils auf Personen aus
nordafrikanischen Ländern, viele davon seien Asylsuchende und Personen, die sich
illegal in Deutschland aufhalten. Es müsse aber noch ermittelt werden, ob sie
mit konkreten Straftaten in Verbindung gebracht werden können.

Hamburg

Aus Hamburg wurden am Samstag keine neuen Anzeigen bekannt. Es sind also wie am
Freitag immer noch 108 Anzeigen. Allerdings erhöhte Hamburg die Polizeipräsenz
auf der Reeperbahn am Wochenende. In der Nacht zum Samstag wurden 275 Menschen
überprüft, es gab drei vorläufige Festnahmen. Augenzeugen beschrieben das
Geschehen aber als eher ruhig.

So lief die Pegida-Demonstration

Die Pegida-Demonstration am Samstag mit etwa 1700 Teilnehmern war von Pegida NRW
angemeldet worden und wurde unter anderem von der rechten Partei Pro Köln
unterstützt. Neben rund 1700 Beamten der Landespolizei waren nach Angaben einer
Sprecherin mehrere Hundertschaften der Bundespolizei im Einsatz.

Nachdem Flaschen, Steine und Böller auf die Polizei geworfen wurden, setzte die
Polizei Wasserwerfer ein und beendete die Veranstaltung. Nach vorläufigen
Angaben wurden mehrere Polizisten und ein Journalist verletzt. 15 Demonstranten
wurden in Gewahrsam genommen, um weitere Straftaten zu verhindern.

Ganz in der Nähe der Pegida-Demonstration protestierten auf der


Gegenveranstaltung mehr als 1300 Menschen überwiegend friedlich gegen Rassismus
und Sexismus. Mittags hatten bereits knapp 1000 Frauen am Flashmob "Gegen
Männergewalt" teilgenommen.

Das hat die CDU beschlossen

Der CDU-Parteivorstand beschloss bei seiner Klausurtagung in Mainz die "Mainzer


Erklärung". Asylberechtigte, Flüchtlinge und Asylbewerber soll demnach schon
dann die Aufenthaltsberechtigung entzogen werden, wenn sie "rechtskräftig wegen
einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe auch unter Bewährung verurteilt wurden".
Dass auch kriminelle Ausländer, die lediglich Bewährungsstrafen erhalten, mit
Ausweisung rechnen müssen, war zuvor im Entwurf nicht enthalten.

Ganz konkrete Vorschläge will Innenminister Thomas de Maizière schon bald


vorlegen. Der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ("FAS") sagte er: "Wir
müssen alles dafür tun, dass sich solche Vorfälle wie in Köln nicht wiederholen.
Dazu gehören vorbeugende Aufklärung, mehr Videoüberwachung auf Plätzen, wo sich
viele Menschen versammeln, Polizeipräsenz auf der Straße, eine schnelle Justiz
und harte Strafen."
Stimmen aus der Politik

Kanzlerin Angela Merkel bekräftigte nach der Klausurtagung ihre Position, dass
schärfere Gesetze notwendig seien. "Das, was in der Silvesternacht passiert ist,
das sind widerwärtige kriminelle Taten, die auch nach entschiedenen Antworten
verlangen." Die Änderungen seien "im Interesse der Bürger, aber genauso im
Interesse der großen Mehrheit der Flüchtlinge".

Auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sprach sich für eine schnellere
Abschiebung krimineller Flüchtlinge aus. "Mein Gerechtigkeitsgefühl sagt mir:
Wer in unserem Land zu Gast ist und Straftaten begeht, soll nicht hierbleiben."
Es sei richtig, noch mal zu prüfen, ob Abschiebungen weiter erleichtert werden
können.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) schloss solche


Änderungen nicht aus. "Sollte es Nachbesserungsbedarf geben, verweigern wir uns
nicht einer sachlichen Diskussion dazu." Es werde aber keine Schnellschüsse
geben.

Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner erwartet eine schnelle


Einigung mit dem Koalitionspartner SPD. "Ich bin mir sicher, dass nun notwendige
Gesetzesverschärfungen auch von der SPD mitgetragen werden."

In der Opposition werden die Pläne für Gesetzesverschärfungen größtenteils


abgelehnt. Die Parteivorsitzende der Grünen, Simone Peter, sprach in der "FAS"
von "unaufrichtigen Schnellschüssen", die weiter Ressentiments und rechte Hetze
gegen Flüchtlinge schüren würden. Die Bundestagsfraktionschefin Katrin
Göring-Eckardt hingegen deutete Zustimmung an. Der Funke-Mediengruppe sagte
sie, eine Verschärfung des Sexualstrafrechts sei dringend erforderlich.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch dagegen kritisierte im "Tagesspiegel": "Wenn


einige aus der großen Koalition reflexartig nach schärferen Gesetzen rufen,
hilft das keinem Opfer und beeindruckt auch keinen Täter." Eine Abschiebung von
Tätern etwa aus Syrien sei gar nicht möglich.

UPDATE: 10. Januar 2016

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Montag 11. Januar 2016 11:35 AM GMT+1

Saudi-Arabien;
Je dümmer die Regierung, desto näher der Bankrott
AUTOR: Stefan Beutelsbacher und Holger Zschäpitz

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1085 Wörter

HIGHLIGHT: Saudi-Arabiens Finanzstärke bröckelt. Grund ist neben dem niedrigen


Ölpreis auch das unkluge Handeln der Regierung. Zur Gruppe der "gefährlichen
Dummen" gehören auch zwei andere bekannte Staatschefs.

An den Finanzmärkten der Welt lässt sich alles messen. Sogar die Dummheit.
Wenigstens die politische. Herrscher, die unberechenbar sind, die sinnlos Gewalt
anwenden, die sich nicht von staatspolitischer Vernunft leiten lassen, sondern
von ihrem Ego, die also äußerst unklug handeln - solche Herrscher bestrafen die
Investoren. Wie das aussehen kann, ist gerade in Saudi-Arabien zu besichtigen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Saudi-Arabien pleitegeht, ist in den vergangenen


Tagen stark gestiegen. Vor dem Jahreswechsel betrug sie 9,5 Prozent - nun sehen
Analysten sie bei fast zwölf Prozent. Liegt es am niedrigen Ölpreis, der das
Land, den größten Förderer der Welt, zu ruinieren droht? Oder an den
Staatsschulden, die gerade explodieren?

Investoren verabscheuen erratische Politiker

Kaum. Der Ölpreis fiel vor dem Wochenende zwar wieder deutlich, doch die
Pleitewahrscheinlichkeit schnellte schon in den Tagen zuvor in die Höhe, als die
Notierungen nur unschlüssig hin und her schwankten. Und der neue Haushalt des
Königreiches enthält harte Sparmaßnahmen - ein Schritt, den Investoren durch die
Bank gutheißen.

Die Experten haben nur eine Erklärung für den plötzlichen Anstieg der
Pleitekurve: unberechenbares, gewalttätiges, vernunftfreies Staatshandeln. Die
Hinrichtung des prominenten schiitischen Predigers Nimr al-Nimr und weiterer 46
Menschen kann man wohl dazuzählen. Nimr al-Nimr war bereits im Oktober 2014 zum
Tode verurteilt worden. Der oberste Gerichtshof hielt die Todesstrafe ein Jahr
später aufrecht und gab dem König das letzte Wort. Und der sah den Zeitpunkt
offenbar für gekommen, das Urteil zu vollstrecken.

Ein fataler Politikfehler, wie sich jetzt zeigt. Saudi-Arabien hat sich offenbar
selbst geschadet - nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Darauf
lässt der "Dummheits-Chart" schließen. Er stieg genau dann an, als die
Hinrichtung bekannt wurde.

Kaum etwas verabscheuen Investoren so sehr wie erratische Politiker. Das


wahhabitische Saudi-Arabien hat mindestens einen davon: Mohammed Bin Salman,
Sohn des Königs und Verteidigungsminister. "Er will unbedingt den Thron. Das ist
ihm wichtiger als das Interesse seines Landes", sagt Ian Bremmer, der im Jahr
1998 die Eurasia Group gegründet hat, die eines der wichtigsten politischen
Analysehäuser Amerikas geworden ist. Nach Ansicht von Bremmer wolle Bin Salman
Härte zeigen, um zu beweisen, dass er reif sei für die Macht. Das bedeutet im
Umkehrschluss: Ohne den impulsiven Prinzen wäre Saudi-Arabien wohl
friedfertiger.

Von einem Ölpreis von 16 Dollar ist bereits die Rede


Die Hinrichtung - vermutlich eine Provokation des schiitischen Erzfeindes Iran -
hat eine gefährliche Spirale in Gang gesetzt. In Teheran griffen Demonstranten
die saudi-arabische Botschaft an, woraufhin Riad die diplomatischen Beziehungen
abbrach. Anleger macht die Eskalation nervös: Wie sehr können sie noch einer
politischen Elite trauen, die derart eruptiv agiert?

Wenn sich die ausländischen Investoren abwenden, wenn sie sich seltener an
Unternehmen beteiligen, weniger Aktien kaufen und zögerlicher Geld verleihen,
dann ist eine Entwicklung zu beobachten wie jetzt gerade: die
Wahrscheinlichkeit, dass das Land pleitegeht, steigt.

Dabei sieht es schon ohne die politischen Zerwürfnisse schlecht aus.


Saudi-Arabien befindet sich in einer tiefen Krise. Nachdem der Ölpreis über ein
Jahr gefallen ist, von einst 100 auf jetzt rund 33 Dollar je Fass, geht dem
Königshaus das Geld aus. Der Luxus der Prinzen, die Wohltaten für das Volk, die
kostspieligen militärischen Scharmützel in Syrien und im Jemen - all das kostet
Milliarden. Lange kann sich Saudi-Arabien diesen Lebensstil nicht mehr leisten.

Zumal der Ölpreis so schnell nicht wieder steigen dürfte. Schließlich bedeutet
der kalte Krieg mit dem Iran indirekt das Ende des Ölkartells Opec. Wenn sich
zwei der wichtigsten Mitglieder der einst mächtigen Organisation bekriegen, wird
die Überproduktion am Energiemarkt so schnell nicht schwinden. Die Analysten der
RBS erwarten einen Einbruch des Barrelpreises auf 26 Dollar. Öl könne sogar bis
auf 16 Dollar fallen, so RBS-Mann Andrew Roberts.

Auch Putin und Erdogan sind gefährlich

Viele Analysten sehen einen weiteren Vorstoß Bin Salmans für unklug. Der
stellvertretende Kronprinz will einen Teil des Staatskonzerns Saudi Aramco an
die Börse bringen. Es handelt sich um den größten Ölkonzern der Welt, der für
12,5 Prozent der weltweiten Produktion steht. Der bisherige börsennotierte
Ölprimus Exxon fördert lediglich ein Fünftel von Saudi Aramco.

Der Verkauf von Aktien würde zwar den größten Börsenkonzern der Welt schaffen,
doch bei den niedrigen Ölpreisen würde das Königshaus einen Teil seiner Juwelen
regelrecht verschleudern. Experten halten das Timing für unglücklich, und auch
die Manager von Saudi Aramco wurden überrascht vom Vorstoß des jungen Prinzen.

In der Unberechenbarkeit, wie sie das Regime gerade zeigt, sieht die Eurasia
Group eines der größten Risiken für die Welt. Staatslenker, die vor allem von
der Gier nach Anerkennung und Aufmerksamkeit getrieben werden, dürften für
politische Spannungen sorgen, sagt Ian Bremmer. Neben Bin Salman zählt er zwei
weitere Männer zu dieser gefährlichen Gruppe: Russlands Präsidenten Wladimir
Putin und den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

Napoleon und Hitler begingen Dummheiten aus Gier

Alle drei Männer beschäftigen die globalen Finanzmärkte in diesem Jahr.


Russlands Pleitekurve ist seit Ende Dezember kräftig in die Höhe geschnellt von
unter 19 auf weit über 20 Prozent. Für die Türkei beziffern die Akteure die
Wahrscheinlichkeit für einen Staatsbankrott in den kommenden fünf Jahren nun mit
18,7 Prozent und 2,2 Prozentpunkte höher.

Die Pleite-Charts an den Finanzmärkten könnten eine Frage beantworten, die


Horden von Historikern umtreiben. Wie lässt sich erklären, dass "große" Männer
durch fatale Fehler immer wieder ihre Länder ruiniert haben. Beispielsweise
ignorierte Napoleon bei seinem Ostfeldzug den Winter in Russland, und Hitler
wiederholte Napoleons Fehler.
Möglicherweise waren sie einfach getrieben von eigener Gier und haben die
katastrophalen Fehler aus Dummheit begangen. Zu Zeiten von Napoleon und Hitler
gab es noch keine Pleitekurven. Aber sie wären ganz sicher in die Höhe
geschnellt. Napoleon ritt Frankreich im Jahr 1812 in den Staatsbankrott, wie
Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in ihrem Buch "Dieses Mal ist alles anders.
Acht Jahrhunderte Finanzkrisen" (FinanzBuch Verlag 2011) geschrieben haben, 1939
stellte Hitler die Zahlungen an die Gläubiger ein.

UPDATE: 11. Januar 2016

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Mittwoch 13. Januar 2016 9:08 AM GMT+1

Verbraucherschützer;
"Flüchtlinge müssen unterschriebene Verträge erfüllen"

AUTOR: Claudia Ehrenstein

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1200 Wörter

HIGHLIGHT: Verbraucherschützer stehen vor neuen Aufgaben: Sie müssen verhindern,


dass sich Flüchtlinge, wie geschehen, teure Verträge aufhalsen lassen - und
ihnen zugleich selbstverständliche Regeln beibringen.

Am Freitag beginnt in Berlin die Internationale Grüne Woche, die weltweit größte
Leistungsschau der Landwirtschaft und Ernährungsindustrie, bei der auch der
Verbraucherschutz eine immer wichtigere Rolle spielt. Der Chef der
Verbraucherzentrale Bundesverband, Klaus Müller, fordert, dass Verbraucher für
ganz bestimmte Lebensmittel künftig mehr bezahlen. Ganz besonders aber will er
sich um Flüchtlinge kümmern.

Die Welt: Herr Müller, was erwarten Sie von der Grünen Woche?

Klaus Müller: Die Messe bietet die Chance zum Austausch. Wir wünschen uns, dass
die Messe stärker die Interessen und Bedürfnissen der Verbraucher in den Blick
nimmt und etwas weniger die Marketinginteressen der Anbieter. Alle Beteiligten
sollten viel intensiver diskutieren, wie wir uns unsere Lebensmittel der Zukunft
vorstellen.
Die Welt: Zum Beispiel?

Müller: Ein gutes Beispiel ist das Thema Nutztierhaltung. Umfragen zeigen, dass
eine wachsende Zahl von Verbrauchern will, dass Nutztiere artgerechter gehalten
werden. Die Bauern und auch die Politik merken, dass sie mehr für das Wohl der
Tiere im Stall tun müssen.

Die Welt: Was genau ist das Problem?

Müller: Die Mehrheit der Verbraucher will Fleisch genießen, ohne dabei ein
schlechtes Gewissen haben zu müssen. Sie wollen, dass es den Tieren gut geht,
und dafür sind sie auch durchaus bereit, an der Ladentheke mehr zu zahlen. Außer
bei Biolebensmitteln können sie im Supermarkt aber bislang nur schwer erkennen,
ob ein Steak, Schnitzel oder Filet von einem Tier stammt, das besonders
artgerecht gehalten wurde. Diese Lücke müssen wir schließen.

Die Welt: Was fordern Sie?

Müller: Wir brauchen zum einen ein verbindliches Tierschutz-Label, um Vertrauen


in Produkte aus tiergerechter Haltung zu schaffen und die Erkennbarkeit zu
verbessern. Da muss Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt die
Initiative ergreifen. Darüber hinaus schlagen wir eine Tierhaltungskennzeichnung
auf europäischer Ebene vor. Dafür gibt es ein Vorbild, das die Verbraucher sehr
gut angenommen haben: Das ist die Eierkennzeichnung mit 0, 1, 2 und 3 für die
unterschiedlichen Haltungsformen. Ein vergleichbares System mit klar definierten
Kriterien sowie strengen Kontrollen und Sanktionen brauchen wir auch für
Fleisch.

Die Welt: Und weiter?

Müller: Um mehr Tierschutz im Stall zu gewährleisten, müssen wir die


Vorschriften zur Haltung von landwirtschaftlichen Nutztieren verschärfen. Und
schließlich müssen die EU-Subventionen aus Brüssel, die deutsche Bauern ja nach
wie vor erhalten, noch stärker an Standards zum Tierschutz gekoppelt werden. Es
gibt nationalen Handlungsspielraum, auch wenn Agrarpolitik vor allem in Brüssel
bestimmt wird.

Die Welt: Es soll aber auch den Landwirten, die derzeit mit Milch und
Schweinefleisch kein Geld mehr verdienen, gut gehen?

Müller: Das Preisniveau für Lebensmittel wie Fleisch und Milch muss insgesamt
so hoch liegen, dass Bauern davon leben können. Landwirtschaft ist ein
angesehener Berufsstand. Landwirte sorgen für Landschaftspflege und Artenschutz,
sie pflegen regionale Traditionen und sorgen für vielfältige Lebensmittel. Das
muss der Gesellschaft etwas wert sein.

Die Welt: Gibt es so etwas wie einen blinden Fleck des Verbraucherschutzes?

Müller: Die Klassiker des Verbraucherschutzes sind Lebensmittel und Energie,


der Finanzmarkt und mittlerweile die Digitalisierung. Es entwickelt sich gerade
ein fünftes großes Thema: Das ist der Gesundheits- und Pflegebereich.
Verbraucher informieren sich hier noch stark über Werbung. Die
Verbraucherpolitik und auch wir Verbraucherschützer müssen diesen Bereich
stärker berücksichtigen und Verbrauchern mehr unabhängige Orientierung liefern.
Ein besonders kritisches Thema ist die Erhebung sensibler Daten über Apps und
Fitnessarmbänder und die Frage, wer diese Daten in welcher Weise nutzt.

Die Welt: Vor welche Herausforderungen steht der Verbraucherschutz durch die
wachsende Zahl von Flüchtlingen?

Müller: Geschäftemacher versuchen, die aktuelle Situation für sich zu nutzen.


Es war sicher kein Einzelfall, dass Flüchtlingen überteuerte 24-Monats-Verträge
für ihre Handys verkauft wurden oder Fernseher zusammen mit 24-Monats-Verträgen
für Pay-TV-Sender. Zum Teil konnten Verbraucherzentralen die Flüchtlinge aus
diesen Verträgen rauspauken. Sicher sind die Lebenswelt und der Konsumalltag in
Deutschland für viele neu und ungewohnt. Eine umso wichtigere Rolle spielt
Verbraucherbildung.

Die Welt: Zur Integration gehört also auch Verbraucherbildung?

Müller: Ja, unbedingt. Integration bedeutet verkürzt gesagt, seine Rechte und
Pflichten zu kennen. In vielen Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen, gibt es
nicht das Maß an Recht und Ordnung im Konsumalltag, das wir hier kennen. Aber zu
wissen, wie man sich nicht über den Tisch ziehen lässt, gibt ein Gefühl von
Sicherheit. Flüchtlinge müssen auch lernen, dass sie einen Vertrag, den sie
unterschrieben haben, erfüllen müssen.

Die Welt: Was bieten Sie Flüchtlingen an?

Müller: Momentan sind wir vor allem in Gesprächen mit Wohlfahrtsverbänden, die
ja die Notunterkünfte betreuen und damit direkten Kontakt zu den Flüchtlingen
haben. Manche Flüchtlinge haben zwar etwas Geld, aber sie haben noch keine
Arbeit und wissen noch nicht genau, wo genau sie auf Dauer leben werden. Es gibt
einen Vorlauf von etwa sechs bis neun Monaten, bis die Flüchtlinge zu
Verbrauchern werden.

Die Welt: Welche besonderen Bedürfnisse haben die Flüchtlinge?

Müller: Wir bereiten gerade ein "Kleines Einmaleins für den Verbraucheralltag"
vor. In kleinen YouTube-Video-Clips wollen wir möglichst einfach und ohne
erhobenen Zeigefinger in verschiedenen Sprachen erklären, was wichtig ist: Wie
funktioniert das mit den Telefonverträgen? Welche Versicherungen sind notwendig?
Wie kann ich mich hierzulande meiner Tradition und meinem Glauben entsprechend
ernähren? Wie falle ich nicht auf Tricks rein? Mit den Filmen wollen wir vor
allem auch die Jüngeren erreichen, die ja fast alle ein Smartphone besitzen und
im Internet surfen.

Die Welt: Werden sich Konsummuster ändern?

Müller: Natürlich, auf jeden Fall. In jeder großen Stadt gibt es heute einen
Telekommunikationsladen mit speziellen Angeboten für Telefonate in die Türkei
oder Russland. Das wird es auch für Nordafrika, Syrien und andere Länder geben.
Auch für Überweisungen ins Ausland wird es neue Angebote geben müssen. Da
erheben Anbieter bislang noch horrende Gebühren. Das muss sich ändern.

Die Welt: Gibt es weitere Veränderungen?

Müller: Menschen aus einem anderen Kulturkreis haben andere


Ernährungsgewohnheiten. Für Muslime ist etwa wichtig zu wissen, wo es
Halal-Lebensmittel gibt. Darauf werden sich bald auch die großen Handelsketten
einstellen müssen.

Die Welt: Wird die Nachfrage nach bestimmten Nahrungsmitteln steigen?

Müller: Ob sich das tatsächlich quantitativ messen lässt, halte ich eher für
unwahrscheinlich. Aber vielleicht wird sich der eine oder andere künftig von der
arabischen Küche inspirieren lassen.
Die Welt: Italienische Kost war einmal fremd ...

Müller: ... Pizza und Pasta wurden anfangs auch kritisch beäugt und sind heute
nicht mehr aus der deutschen Küche wegzudenken. Warum sollen nicht auch Couscous
und Rosinenreis ganz selbstverständlich zu unserem Alltag gehören?

UPDATE: 13. Januar 2016

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Donnerstag 14. Januar 2016 8:25 AM GMT+1

U2-Sänger Bono;
"Die Vokuhila-Frisur ist mir heute noch peinlich"

AUTOR: Martin Scholz

RUBRIK: ICON; ICON

LÄNGE: 3048 Wörter

HIGHLIGHT: Er posierte im Feinripp-Unterhemd in der Wüste, ging mit Vokuhila auf


die Bühne und trägt meistens eine Sonnenbrille. U2-Sänger Bono hat seinen
eigenen Stil - und auch ein eigenes Modelabel.

Das Gespräch mit ihm war eine Art Langzeitprojekt. Die Konversation mit Bono zog
sich über Wochen und Kontinente: Beim Tourneestart im Mai 2015 in Vancouver,
später in Berlin und Köln - und auch am Telefon haben wir noch nachgehakt. Dann
spielten U2 in Paris, am 14. und 15. November 2015 sollten zwei weitere Konzerte
dort folgen, aber sie wurden nach den Anschlägen vom 13. November abgesagt.
Gegenüber dem Radio-Moderator Dave Fanning sagte Bono in Richtung der
Terroristen: "Sie werden nicht bestimmen, wie wir leben." 2001 hatte die Band
eine ähnliche Situation erlebt, als sie wenige Wochen nach 9/11 mehrere Konzerte
im Madison Square Garden von New York gab. "Die Atmosphäre in der Halle war
unglaublich", erinnerte sich der Sänger.

"Die Stimmung besagte: Ihr werdet uns nicht mit eurem Hass anstecken, Ihr werdet
nicht die Art, wie wir leben, auf den Kopf stellen. So war es im Madison Square
Garden - und ich hoffe, dass es in Paris genau so sein wird, wenn wir dorthin
zurückkommen." U2 kehrten nach Paris zurück: Anfang Dezember 2015 holten sie die
beiden verschobenen Konzerte in der französischen Hauptstadt nach - sie luden
Patti Smith und die Eagles of Death Metal als Gäste ein. Beim Konzert der Eagles
of Death Metal im Konzertsaal Bataclan in Paris waren drei Wochen zuvor 89
Menschen von den islamistischen Terroristen erschossen worden. Die nachgeholten
U2-Konzerte vermittelten dann - für einen Moment - etwas von der heilenden Kraft
der Musik. Davon singen U2 auch in einem ihrer neuen Songs: "Stronger than
fear".

Die Worte passen zu dem Mann, der mit bürgerlichem Namen Paul Hewson heißt. Man
kennt ihn als Grenzgänger zwischen Pop und Politik. Als Zampano und Sänger, der
mit seinen Sonnenbrillen in Stadien auftritt. Man kennt ihn aber auch als
Eiferer, als engagierte Nervensäge, die diversen Staatschefs und dem Rest der
Welt nun schon seit mehr als 16 Jahren erklärt, wie man Afrika von der Armut
befreien kann. Rocken, jetten und retten. Noch dazu ist Bono ein Geschäftsmann -
und als solcher seit zehn Jahren in der Modebranche mit einem eigenen Label
namens Edun präsent. Die damit verbundenen Stilfragen haben uns natürlich
besonders interessiert.

ICON: Lassen Sie uns über Mode-Sünden reden.

Bono: Von mir aus.

ICON: Welche von Ihren vielen Frisuren aus den letzten 40 Jahren ist Ihnen
heute am peinlichsten?

Bono: Da muss ich nicht lange nachdenken: Meine Vokuhila-Frisur. Fotos damit
sind noch heute ein Schock für mich. In letzter Zeit musste ich allerdings
feststellen, dass es mir ein seltsames Vergnügen bereitet, meinen Beitrag an der
Entwicklung dieser unsäglichen Frisur zu analysieren. Das sah ja teilweise so
aus, als hätte ich mir die Haare hoch gebügelt. Ein Mann sollte nie mit seiner
Frisur gleichgesetzt werden (lacht) . Einer der wichtigsten Momente in der
Geschichte von U2 war sicher unser Auftritt beim Live-Aid-Festival 1985 im
Londoner Wembley Stadion. Wenn ich heute daran denke, sehe ich vor allem diese
Frisur vor mir.

ICON: In der Rangliste der schlimmsten Vokuhila-Frisuren aller Zeiten rangiert


Ihre Live-Aid-Version ganz weit oben, oder?

Bono: Wenn ich mir heute Filmausschnitte davon ansehe, ist das eine
Demutserfahrung. Ich frage mich dann: "Wer ist dieser seltsame Bursche, der
damals der Frontmann von U2 war?" Ich habe mit all meinen Frisuren aus den
letzten Jahrzehnten meinen Frieden gemacht - mit der langen Mähne oder dem
Mecki-Schnitt. Nur nicht mit dem Vokuhila. Im Moment muss ich mir ja wegen
meiner blond gefärbten Haare wieder so einiges anhören: Ein spanischer
Journalist stichelte mir gegenüber neulich: "Deine Haare haben die Farbe von
Chicken Wings."

ICON: Und das lassen Sie sich gefallen?

Bono: Ich habe ihm später ein paar Chicken Wings geschickt. Damit er die Farbe
noch mal überprüfen konnte.

ICON: Sogar das "Wall Street Journal" meinte, diplomatisch formuliert, dass
Ihnen das Blond nicht so gut stehen würde.

Bono: Mir egal. Mein Gesicht hat mich zuletzt gelangweilt. Wenn ich an einer
Fensterscheibe vorbeiging, mein Spiegelbild darin sah, dachte ich: Wer ist
dieser Typ eigentlich? Bei den Aufnahmen für unser aktuelles Album haben wir uns
nicht nur von der Musik der späten 70er inspirieren lassen, mit der wir
aufgewachsen sind. Ich habe mir auch Fotos von den Musikern aus jener Zeit
angesehen. Viele von ihnen hatten platinblond gefärbte Haare. Billy Idol mit
"Generation X" oder Gary Numan mit "Tubeway Army" oder "The Police". Damals
haben wir die Haare im "Do-It-Yourself"-Verfahren gefärbt.

ICON: Haben Sie das jetzt auch wieder getan?

Bono: Nein. Obwohl es Leute in meiner Band gibt, die meinen, es sähe so aus.
Aber ich habe einen Experten verpflichtet. Ich ging zum Friseur und sagte ihm:
Färb mir die Haare blond, aber lass es so aussehen, als ob ich es selbst gemacht
hätte." Er war völlig perplex. "Sie geben mir sehr viel Geld, damit ich Ihnen
die Haare färbe, wollen aber, dass es so aussieht, als hätten Sie es selbst
gemacht?" "Genau", sagte ich ihm, "lass es richtig mies aussehen."

ICON: Blond sein ist für Sie also nicht nur eine Haltung, sondern eine Art
Sound?

Bono: Wenn Sie so wollen. Wir haben uns in der letzten Zeit beispielsweise
viele Songs von "The Police" wieder angehört. Die ersten drei Police-Alben sind
minimalistische Meisterwerke. Die stehen ganz oben auf der Liste der besten
Pop-Alben, die je gemacht wurden. Direkt neben den Beatles. Das wurde für mich
zuletzt ein immer größerer Einfluss. Der Sound dieser Police-Alben hat bereits
unser aktuelles Album "Songs Of Innocence" beeinflusst. Und ich glaube, dass
sich dieser Einfluss bei unserem nächsten Album "Songs Of Experience" noch
stärker bemerkbar machen wird.

ICON: Der Legende nach soll Frank Sinatra Sie und Ihre Band-Kollegen einst cora
publico gescholten haben: "Ihr Typen seht so aus, als würdet ihr keinen Cent für
eure Klamotten ausgeben." Stimmt das?

Bono: Ja. Das ist allerdings ewig her, damals ging es gerade erst los mit
unserem Erfolg. Und Frank, das ist richtig, war nicht gerade angetan von unseren
Outfits. Wir sahen aus wie heruntergekommene Straßenmusiker. Und das bei einem
Gala-Dinner mit Elizabeth Taylor. Die ganze Hollywood Elite war da. Man hatte
uns nur eingeladen, weil wir als das "next big thing" galten. Wir hatten Sitze
in der ersten Reihe. Direkt vor der Bühne, wo Frank stand. Er war in Höchstform.
Er stellte uns den Zuschauern vor, bat uns dann aufzustehen - und war dann wohl
geschockt, als er uns in unseren abgerissenen Klamotten sah. Und dann sagte er
vor allen anderen diesen legendären Satz. Das war der Beginn meiner Freundschaft
mit Sinatra. Wir haben uns mehrmals getroffen, sogar zusammen gesungen. Viele
Jahre später sagte er mir mal: "Bono, du bist der einzige Ohrring-Träger, den
ich je gemocht habe."

ICON: Auch wenn Sie damals noch Ihre Punk-Haltung vor sich hertrugen - war
Ihnen das nicht peinlich, von Frank Sinatra vor allen anderen heruntergeputzt zu
werden?

Bono: Das war mir kein bisschen peinlich. Ich selbst habe mich an dem Abend
köstlich über alle anderen im Saal amüsiert - ich fand, die sahen aus wie
Pinguine in ihren adretten Anzügen.

ICON: Wie wichtig ist Ihnen Ihr Outfit heute? Suchen Sie sich Ihre
Bühnen-Klamotten selbst aus - oder haben Sie dafür einen Stylisten?

Bono: Im Team unserer Band gibt es eine Frau, die dafür zuständig ist. Sie
heißt Sharon Blankson. Wir kennen sie, seit sie 15 ist. Sie war einer der ersten
Punks in Dublin. Sharon ist unser Fashion-Guru. Sie hat einen unfehlbaren
Geschmack. Wir vertrauen ihr. Leider hat sie es mit Leuten wie uns zu tun, die
ihr ihren Job manchmal sehr schwer machen.
ICON: Seit 2005 sind Sie selbst in der Welt der Mode vertreten - mit Ihrem
Fashion Label Edun, das Sie mit Ihrer Frau Ali gegründet haben. Sie wollten
nicht nur fairen Handel für Afrika predigen, sondern Mode in mehreren
afrikanischen Ländern produzieren lassen und zeigen, dass man so Gewinn machen
kann.

Bono: Ja, das Gewinnmachen hat noch nicht geklappt, aber wir arbeiten dran
(lacht).

ICON: Edun hatte Liefer-Schwierigkeiten und Probleme, die Qualitäts-Standards


zu halten. Sie machten Millionen Verluste und mussten teilweise in China
produzieren lassen. Seit Sie 49 Prozent Ihrer Firma 2009 an Louis Vuitton
verkauften, geht es offenbar langsam aufwärts. 85 Prozent der Edun-Kollektionen
wird inzwischen wieder in afrikanischen Ländern produziert. Wo ist das Ziel?

Bono: Edun ist inzwischen ein Erfolg bei den Kritikern. "Vogue"-Chefin Anna
Wintour respektiert uns, das gilt auch für andere einflussreiche Modeexperten.
Aber Edun ist noch kein kommerzieller Erfolg, doch ich bin zuversichtlich, dass
wir in nicht allzu ferner Zukunft Gewinn machen werden.

ICON: Was haben Sie bei Ihrem Einstieg in die Mode-Branche falsch gemacht?

Bono: Es brauchte eine Zeit, um zu erkennen, wie unglaublich schwer es ist,


sich im Modegeschäft durchzusetzen. Und das nicht nur deshalb, weil wir es uns
zum Ziel gesetzt hatten, in afrikanischen Ländern Mode von hoher Qualität zu
produzieren. Es ist an sich schon schwer genug. Meine Frau Ali hat sich mehr als
ich damit auseinandergesetzt. Sie hat in den letzten zehn Jahren enorm viel
gelernt und erreicht. Ich werde sie ewig dafür bewundern, dass sie sich so
unnachgiebig für Edun eingesetzt und nicht aufgegeben hat.

ICON: Warum haben Sie trotz der Verluste keinen Schlssstrich gezogen?

Bono: Wenn wir uns immer nur auf die Schreckens- und Elendsbilder aus Afrika
beschränken, helfen wir dem Kontinent nicht. Wenn Mode aus Afrika eine
Erfolgsstory wird, ist das ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Ich
habe gelernt, dass Handel das einzige Mittel ist, um die extreme Armut in Afrika
zu überwinden. Entwicklungshilfe kann nur eine Brücke sein.

ICON: Solange die Korruption in vielen afrikanischen Ländern nicht wirksam


bekämpft wird, wird es in dem Bereich immer Rückschläge geben.

Bono: Das Problem ist seit Langem bekannt - und darauf immer wieder
herumzureiten, ist keine Entschuldigung, nicht zu investieren. Es gibt in vielen
afrikanischen Ländern Anzeichen dafür, dass Korruption zurückgedrängt worden
ist. In vielen Ländern hat sich eine aktive Zivilgesellschaft gebildet. Sie
müssen sich nur mal die Zahlen anschauen: Im Jahr 2050 wird ein Drittel der
Jugend der Welt auf dem afrikanischen Kontinent leben. Überlegen Sie mal, was
das für die Welt der Mode, für die Musik, Fußball, Sport, Kunst bedeutet. Aber
es gibt zu solchen guten Aussichten auch weitaus düstere Alternativen: Denn
sollte Afrika sein ökonomisches und kreatives Potenzial nicht entwickelt,
sollten einzelne Länder, wie beispielsweise Nigeria, in die Hände von
Extremisten fallen, dann wäre das sehr gefährlich für Europa. Sie sehen ja,
welche fatalen Auswirkungen der Krieg in Syrien für Europa und den Rest der Welt
hat.

ICON: Das heißt, dass Sie weiter in Edun investieren, bis die Firma Gewinne
abwirft?
Bono: Das haben wir ja schon zehn Jahre lang gemacht, ja. Seit wir eine
Partnerschaft mit Louis Vuitton eingegangen sind, ist die Situation etwas
entspannter. Sie dürfen sich das vorstellen wie eine Ehe zwischen einem Wal und
einem Goldfisch.

ICON: Und Sie sind der Goldfisch?

Bono: Genau. Bernard Arnault, der Chef von Louis Vuitton, hat uns sehr
unterstützt und ermutigt weiterzumachen. Das hatte mich zu dem Zeitpunkt schon
positiv überrascht, denn in der Modewelt war Edun ja lange völlig unbedeutend.

ICON: Das mag für Ihr Fashion Label gegolten haben - aber doch nicht für Sie
selbst, oder?

Bono: So läuft das aber nicht: Rockstar gründet Modelabel und ist damit sofort
erfolgreich. Bernard sagt mir jedenfalls immer wieder: "Nein, nein, Edun ist
nicht unbedeutend. Genau so fangen große Träume an - mit einer kleinen Firma,
die eine kleine Idee hat." Das mit der kleinen Firma stimmt - die Idee dahinter
ist natürlich eher eine sehr große. Als wir in den Anfängen Probleme hatten, gab
es durchaus Zeiten, in denen meine Frau und ich zusammensaßen und uns sagten:
"Mein Gott, dieses Geschäft ist wirklich tough." Aber dann gab es immer wieder
Lichtblicke, beispielsweise, als First Lady Michelle Obama ein Kleid von uns bei
ihrem Auftritt in einer TV-Show trug. Cate Blanchett trägt ebenfalls Edun. Man
muss Geduld mitbringen. Und die haben wir.

ICON: Bei der Schau in New York sitzen Sie manchmal am Laufsteg - als
Zuschauer. Erklären Sie uns mal den Unterschied zwischen diesen Catwalks und
jenen gigantischen Laufstegen in den Rock-Arenen, die Sie in Ihrem Hauptberuf
abschreiten?

Bono: Zunächst einmal bin ich natürlich größer, schlanker und sehe besser aus
als all die Supermodels. Im Ernst: Früher habe ich mich über Rockstars, die sich
mit Models umgaben, lustig gemacht. Bis ich dann selbst so einer geworden bin.

ICON: Finden Sie das jetzt schlimm oder nicht?

Bono: Ich finde, die Modeszene ist ganz anders, als man sie in den
Klatschspalten wahrnimmt. Nehmen Sie Naomi Campbell. Ich habe sie oft auf dem
Catwalk gesehen - sie hat dort eine fast schon Angst einflößende Präsenz. Diese
Frau lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Sie hat diese aggressive
Ausstrahlung, die zeitweise leider auch in ihr privates Leben übergegangen ist.
Aber sie hat eine Haltung, die besagt: Ich lasse mich nicht dominieren. Das mag
ich. In der Modewelt gibt es viele kreative, geistreiche Leute. Karl Lagerfeld
beispielsweise ist ein ungeheuer inspirierender und gebildeter Mensch.

ICON: Sind Sie selbst jemals bei einer Fashionshow gelaufen?

Bono: Nur einmal. Bei einer Benefiz-Mode-Show für die Kinder von Tschernobyl.
Das habe ich meiner Frau zuliebe gemacht. Sie hat oft Fashion Shows organisiert,
um für diesen Zweck Geld einzunehmen. Ansonsten haben meine Frau und ich, was
die Mode betrifft, folgende Arbeitsteilung. Sie sagte mir mal: "Ich schätze ja
deinen Input, was das Geschäftliche betrifft - aber halt dich ansonsten bitte
aus der Mode raus." Das ist unser Deal.

ICON: Mode und Pop bilden in vieler Hinsicht Allianzen. Zum Beispiel Lady Gaga:
Sie ist nicht nur Musikerin, sondern ein sich ständig wandelndes
Fashion-Ausrufezeichen. Kürzlich ist sie bei einem Ihrer Konzerte in New York zu
Ihnen auf die Bühne gesprungen - mit riesigen Plateauschuhen und einem Hauch von
nichts auf der Haut. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Bono: Dieses Mädchen ist eine Urkraft. Sie kann die meisten an die Wand singen,
sie schockiert mit ihrer Präsenz und übertrumpft jeden mit ihrer Kreativität.
Wir hatten ihren Auftritt ja im Soundcheck geprobt. Da sagte sie noch: "Ich komm
vielleicht in einer Bomberjacke zu euch auf die Bühne. Und ich setze einen Hut
auf, den ich erst am Ende abnehme, damit mich die Leute nicht gleich erkennen."
Ich sagte nur: "Prima, zieh einfach das an, worin du dich wohlfühlst." Als sie
dann auf die Bühne kam, war sie ... ja, fast nackt. Ich dachte mir, dieses
Mädchen hat eine Menge Mut. Das waren für sie ja erschwerte Bedingungen, denn
unser Publikum ist nicht gerade dafür bekannt, dass es jubelt, wenn leicht
bekleidete Mädchen in Avantgardemode auf die Bühne kommen. Nach dem Konzert kam
sie zu uns hinter die Bühne, um sich zu verabschieden. Sie musste gleich weiter,
einen Flug erwischen. Und sie hatte immer noch dasselbe an wie vorher auf der
Bühne. Also fast nichts. Und in dem Outfit ist sie dann ins Flugzeug. So ist sie
eben. Sie verkleidet sich nicht als Lady Gaga. Sie ist Lady Gaga.

ICON: Wie authentisch sind Sonnenbrille und blonde Haare bei Ihnen?

Bono: Die Sonnenbrille trage ich, weil ich an einer Augenkrankheit leide, dem
grünen Star. Ich bin deshalb überempfindlich für Licht. Aber auf der Bühne
verwandele ich mich in jemand anderen. Da findet ein seltsamer chemischer
Prozess in mir statt. Ich werde furchtlos, gehe aus mir heraus.

ICON: So weit, dass Sie sich auf der Bühne jüngst selbst beschimpft haben. In
dem Song "Bullet The Blue Sky", der von einem Angriff US-amerikanischer
Kampfjets in den 80er-Jahren in El Salvador handelt, singen Sie heute: "Wer bist
du in deinem Privatjet, dass du dich über Angriffe in Kampfjets ereiferst?"

Bono: Ja, ich habe mich in mein jüngeres Ich hineinversetzt, das mir heute die
Leviten liest.

ICON: Erinnern Sie sich noch daran, als Sie das erste Mal in einem Privatjet
geflogen sind?

Bono: Ich weiß noch, dass es eine Propeller-Maschine war. Ich muss damals
ungefähr 23 Jahre alt gewesen sein. Da fing das an, dass ich und die Band auf
diese Weise reisten. Auf Tourneen haben wir nun mal einen eigenen Jet. Ich muss
akzeptieren, dass mein Leben nicht normal ist. Andere Leute müssen dagegen
akzeptieren, dass solche Dinge für mich normal sind.

ICON: Das sind schon üble Tiraden, die Sie sich bei dem Song "Bullet The Blue
Sky" selbst auf der Bühne an den Kopf werfen. Wollen Sie sich am Ende Ihre
Bonohaftigkeit austreiben?

Bono: Ja, der junge Bono beschimpft mich (fängt an zu singen) : "Sieh dich doch
nur an, du bist ein Ire, und jetzt stehst du hier mit einem Grinsen im Gesicht
und posierst mit den Mächtigen. Als ob du das wirklich nur machen würdest, um
den Machtlosen und Ärmsten zu helfen." Und dann legt er noch nach: "Kannst du
aus deinem fetten Privatjet heraus überhaupt Kampfjets sehen?" Er ist
verbittert. Aber: Dieser junge Bono hat unrecht. Ich streite mit ihm, sage ihm:
Als ich jünger war, hieß mein Credo: "Wir gegen die anderen", heute ist meine
Position eine andere: "Es gibt nicht ,die Anderen' - nur uns alle".

ICON: Medienberichten zufolge gehören Sie inzwischen zum Club der


IT-Milliardäre. Durch den frühen Kauf von Facebook-Aktien soll Ihr Vermögen auf
mehr als eine Milliarde Dollar angewachsen sein. Sind Sie inzwischen der
reichste Rock-Star der Welt?

Bono: Ich habe dieses Geld ja nicht selbst eingenommen. Ich habe zwar Geld
daran verdient, aber nicht in der Höhe, wie es berichtet wurde. Ich wünschte,
das wäre so (lacht) . Wir haben es mit der von mir mitbegründeten Firma
Elevation Partners erwirtschaftet.

ICON: Sie haben das Unternehmen 2004 mit mehreren IT-Managern, unter anderem
von Apple, gegründet. Sie investieren in die Medien- und IT-Branche.

Bono: Ja. Sehen Sie - ich hatte mich früher nie für ökonomische Prozesse
interessiert. Meine Rolle als Aktivist hat mich gewissermaßen dazu gezwungen.
Weil mir schnell klar wurde: Ich muss ökonomische Zusammenhänge begreifen, wenn
ich mich mit Staatschefs treffe. Die hätten mich sonst nicht ernst genommen.
Manche Rockstars spielen Golf, ich investiere.

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UPDATE: 14. Januar 2016

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Dienstag 19. Januar 2016 9:46 AM GMT+1

McDonald's;
Warum einige Iraner Angst vor Burgern haben

AUTOR: Sonja Gillert

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 721 Wörter

HIGHLIGHT: Bisher gibt es im Iran "Mash Donald's" - das Ende der Sanktionen
lässt die Burger-Liebhaber in dem Land jetzt auf McDonald's hoffen. Der Markt
ist groß. Doch das gefällt nicht allen Iranern.

Mash Donald's, Pizza Hat, Subways und Burger House - Fast-Food-Restaurants


findet man viele in Teheran und anderen großen iranischen Städten. Die
amerikanischen Originale dürfen allerdings bisher nicht in das Land. Das könnte
sich mit dem Wegfall der Wirtschaftssanktionen im Rahmen des Atomabkommens in
Zukunft möglicherweise ändern - und McDonald's und Co. dürfte im Iran ein großer
Markt erwarten. "Fast Food ist mittlerweile sehr beliebt im Iran, besonders
unter jungen Leuten", sagt die Iranerin Negar, die ihren richtigen Namen nicht
nennen möchte, der "Welt".

Im Juli berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasmin, McDonald's habe sich


im Iran um eine Lizenz beworben. Bestätigt wurde das von dem US-Unternehmen
nicht. Kurz darauf hieß es in einem Bericht des iranischen Staatssenders Press
TV, die Fast-Food-Kette habe noch keinen Antrag gestellt.

Wie BBC kurz nach der Unterzeichnung des Atomabkommens im Sommer schrieb, ist es
mittlerweile zumindest möglich, auf der internationalen Webseite von McDonald's
einen Antrag für die Eröffnung einer Filiale im Iran auszufüllen. Der Link zu
dem Formular ist noch aktiv. Zugleich findet sich noch ein Statement des
Unternehmens auf der Webseite: "Wir haben noch kein festes Datum für eine
Entwicklung von McDonald's-Restaurants im Iran bestimmt." Allerdings wird der
Iran nicht mehr in der Liste der Franchising-Märkte des Unternehmens auf der
Webseite aufgeführt. Auf eine Anfrage der "Welt" zu möglichen Plänen im Iran
äußerte sich das Unternehmen bisher nicht.

Vor der Islamischen Revolution im Jahr 1979 gab es die Fast-Food-Kette bereits
im Iran. Aber auch mit dem Wegfall der Sanktionen dürfte eine Lizenz nicht ohne
weiteres zu bekommen sein. Einerseits dürften Investitionen für US-Unternehmen
im Iran immer noch durch einige Einschränkungen betroffen sein und es gibt auch
Gegner des US-Konzerns. Für die religiösen Kräfte ist McDonald's mehr als ein
Gastronomieunternehmen, das Burger verkauft.

Angst vor dem frittierten US-Einfluss

"Es gibt Hardliner, die gegen diese Restaurants sind", sagt Negar. "Sie denken,
dass diese Restaurants ein Teil der westlichen Kultur sind, um die iranische und
islamische Kultur zu beeinflussen." Imperialismus und amerikanischer
Kapitalismus, frittiert oder als Burger zubereitet also.

Sogar ein der amerikanischen Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken (KFC) nur
ähnlich sehendes Restaurant mit dem Namen Halal KFC wurde im November 2015 nur
einen Tag nach der Öffnung in Teheran geschlossen. Dabei gehörte es einem
türkischen Unternehmen. Der Vorsitzende der iranischen Handelskammer sagte der
Nachrichtenagentur Ilna nach der Schließung, man würde "im Einklang mit den
Anweisungen des höchsten Anführers" an westliche Fast-Food-Unternehmen keine
Lizenzen vergeben.

McDonald's hat mit den Behörden der Islamischen Republik bereits eigene
Erfahrungen gemacht: Ende der 1990er-Jahre, unter dem gemäßigten Präsidenten
Mohammed Khatami, hatte McDonald's Berichten zufolge geplant, im Norden Teherans
eine Filiale zu eröffnen. Den religiösen Hardlinern gefiel dies überhaupt nicht,
und sie protestierten gegen die Eröffnung. Da es allerdings jede Menge iranische
Burger-Fans gibt, wurde als "Ersatz" ein Fast-Food-Geschäft mit dem Namen
Superstar auf dem Gelände eröffnet, auf dem die McDonald's-Filiale stehen
sollte. Auch am 4. November 2015 wurden bei antiamerikanischen Protesten in
Teheran Schilder gegen die amerikanischen Restaurants Starbucks und KFC in die
Höhe gehalten.

Nicht nur im Iran, auch in Nordkorea, dem Jemen oder Syrien gibt es noch keine
McDonald's-Filialen. Russland eröffnete das erste Fast-Food-Restaurant der Kette
erst 1990 - nach dem Zerfall der Sowjetunion. Im selben Jahr gab es auch im
chinesischen Shenzhen die ersten Mc-Burger zu kaufen.

Für jedes Land entwickelt die Fast-Food-Kette ein passendes Angebot. In China
sorgte kürzlich ein grauer "Modern China Burger" für Aufregung, in Indien
verkauft das Unternehmen einen "McCurry Pan", und in der Schweiz geht gerade der
"McFondue" an den Start. Wer weiß, ob es im Iran bald einen "McTscholo Kebab
Burger" geben wird, inspiriert von dem wohl beliebtesten iranischen
Grillgericht. Doch selbst, wenn McDonald's seine Türen in Teheran öffnen sollte,
Negar würde sich über eine andere Fast-Food-Kette viel mehr freuen: "Ich mag
lieber Kentucky Fried Chicken."

UPDATE: 19. Januar 2016

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Dienstag 19. Januar 2016 11:55 AM GMT+1

US-Wahlkampf;
Republikaner, vom Ronald auf den Donald gekommen

AUTOR: Hannes Stein

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1298 Wörter

HIGHLIGHT: Was haben Reagan und Trump miteinander gemeinsam? Auf den ersten
Blick viel, auf den zweiten Blick wenig - wenn man von den Wählern absieht. Bei
den Konservativen Amerikas herrscht Klassenkampf.

Der amerikanische Niedergang schien unausweichlich zu sein, geradezu


schicksalhaft: Die Vereinigten Staaten hatten einen wichtigen Krieg verloren,
sie waren gedemütigt worden, ihre Feinde tanzten den USA auf der Nase herum, und
jeder Versuch, das Schlamassel abzuwenden, führte nur tiefer in den Sumpf.

Da tauchte plötzlich, quasi aus dem Nichts, ein Präsidentschaftskandidat auf,


der versprach, er habe die Lösung, und sie sei ganz einfach: "Lasst uns Amerika
wieder groß machen." Die Lösung des Kandidaten war Härte - sei es beim Kürzen
der staatlichen Ausgaben oder gegenüber Amerikas Feinden auf der Weltbühne.

Die politischen Gegner jenes Kandidaten lachten ihn aus. Er sei ein
Einfaltspinsel, hieß es, sein Weltbild manichäisch. Wenn der Mann sprach, wurde
sofort klar, dass er sich aufs Showbusiness verstand. Dieser Kandidat habe keine
Chance, hieß es, er werde bald wieder in der Versenkung verschwinden.

Aber es kam anders: Der Präsidentschaftsbewerber setzte sich gegen seine


Konkurrenten durch, und am Ende stieg er in das höchste Amt auf, das die
amerikanische Republik zu vergeben hat. Die Rede - versteht sich - ist von
Ronald Reagan, dem 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Härte! Härte! Härte! Tönt Trump

Klingt all dies aber nicht nach einem ganz anderen Kandidaten, reimt sich Ronald
vielleicht am Ende auf Donald? Den Slogan "Let's make America great again" etwa
hat Mr. Trump geradewegs von Ronald Reagan geklaut.

Und die außenpolitische Situation der Vereinigten Staaten ist mit jener von 1980
durchaus vergleichbar: Damals hatte Amerika längst den Vietnamkrieg verloren,
sah hilflos mit an, wie die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, und konnte
sich nicht wehren, als amerikanische Botschaftsangehörige in Teheran zu Geiseln
wurden.

Heute sieht sich Amerika einem Trümmerhaufen im Nahen Osten gegenüber, Putin
lässt seine Soldaten in der Ukraine einmarschieren, und die Nachfahren der
Geiselgangster von Teheran handeln einen Vertrag über Atomwaffen aus, der für
sie äußerst vorteilhaft ist (um das Mindeste zu sagen).

Und die Antwort von Donald Trump? Härte! Härte! Härte! Härte gegenüber illegalen
Einwanderern aus Mexiko ("deportieren wir sie doch einfach"). Härte gegenüber
Muslimen ("kennzeichnen wir sie doch einfach"). Härte gegenüber dem "Islamischen
Staat" ("bombardieren wir sie doch einfach und nehmen ihnen das Öl weg").

Die große Maulschlacht

Bei der großen Maulschlacht zwischen den republikanischen


Präsidentschaftskandidaten, die am vergangenen Donnerstag stattfand, versuchte
Trump, als Reagans einzig wahrer Erbe zu posieren.

Und er war damit recht erfolgreich. Zwar steckte er Prügel ein, als er
versuchte, in Zweifel zu ziehen, ob sein Mitbewerber Ted Cruz überhaupt zum
Präsidentschaftskandidaten tauge, weil der in Kanada geboren worden war. (Trump
bewies hier wieder einmal seine umfassende Viertelbildung: Das Gesetz sieht
lediglich vor, dass der Präsident der Vereinigten Staaten als amerikanischer
Staatsbürger geboren worden sein muss. Der Geburtsort spielt dabei keine Rolle.)

Aber Ted Cruz sah dann seinerseits furchtbar alt aus, als er gegen Donald Trump
die Ressentiments der konservativen Amerikaner New York betreffend mobilisieren
wollte:

Donald Trump legte ein lakrimoses Bekenntnis zu der Metropole am Hudson ab. Kurz
und gut, dieses Duell ging unentschieden aus - und Trump lieferte den bisher
besten Auftritt seiner Laufbahn ab.

Reagan war höflich und witzig

Die Frage muss also erlaubt sein: Benutzt Trump den Slogan "Let's make America
great again" vielleicht mit Recht? Ist er am Ende wirklich Reagans Erbe? Nein.

Der erste Unterschied zwischen den beiden Männern - es klingt nach einer
Nebensache, ist aber bei genauerem Hinsehen keine - besteht darin, dass Ronald
Reagan die Liebenswürdigkeit in Person war.

Auch Leute, die ihm nicht wohl wollten, berichten von dieser Liebenswürdigkeit:
Reagan war höflich, zuvorkommend, oft witzig. Er war ein zivilisierter Mensch.

Donald Trump kann man derlei wirklich nicht nachsagen. So hat er einen
behinderten Kollegen von der "New York Times" verhöhnt, indem er ihn vor der
Kamera nachäffte; Trump ist der personifizierte innere Schweinehund.

Reagan zeigte Tugend, Trump das Gegenteil

Warum es sich hier nicht um eine Nebensache handelt? Weil die amerikanische
Demokratie - darauf haben Jefferson, Hamilton, Washington und die anderen
Gründerväter immer wieder hingewiesen - auf der Selbstdisziplinierung der Bürger
basiert, oder mit einem altmodischen Wort zu sprechen: auf der Tugend.

Zweiter Punkt: Ronald Reagan war gegen den "Civil Rights Act" von 1964 (der die
rassistische Gesetzgebung in den amerikanischen Südstaaten beendete), und er hat
Südafrika, während dort noch die Apartheid herrschte, als Verbündeten im Kalten
Krieg unterstützt. Beides kann man grundfalsch finden.

Trotzdem gibt es keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass Reagan ein Rassist
war.

Den "Civil Rights Act" lehnte er ab, weil er grundsätzlich gegen die Einmischung
der Zentralregierung in Washington in die inneren Angelegenheit der
amerikanischen Bundesstaaten war; den Führern Südafrikas ließ er ausrichten,
dass er die Apartheid für abscheulich hielt.

Trump ist ein Rassist, Reagan war keiner

Donald Trump hingegen hat aus seinem Rassismus nie ein Geheimnis gemacht: Er hat
Mexikaner als Vergewaltiger und Mörder bezeichnet und gefordert, eine Mauer zu
errichten, um Amerika vor der kriminellen Gefahr aus dem Süden zu schützen, die
in Wahrheit nur in seinem verwirrten Kopf existiert.

Drittens: Wenn Ronald Reagan Härte gegen die Feinde Amerikas forderte, dann
verfolgte er eine bestimmte Strategie. Er verstand, dass die Sowjetunion
innerlich morsch war, dass dieses Gewalt- und Unrechtssystem also ohne
Blutvergießen besiegt (und nicht nur in Schach gehalten) werden konnte. Das
bleibt sein historisches Verdienst.

Was wäre nun aber die Strategie des Donald Trump? Okay, er fordert ein
Flächenbombardement des "Islamischen Staates", dem ohne Zweifel mehr Zivilisten
als Gotteskrieger zum Opfer fallen würden. Und was machen wir am Nachmittag? Was
soll seiner Ansicht nach mit dem Assad-Regime geschehen, das Syrien in ein
Schlachthaus verwandelt hat?

Was mit der "Islamischen Republik Iran"? Dass er nichts tun würde, um Wladimir
Putin in die Schranken zu weisen, dürfte klar sein - schließlich lässt der als
Politiker dilettierende Showmaster keinen Zweifel daran, dass er ihn für einen
"maladjez" hält, einen tollen Kerl. Trumps Forderungen nach "Härte" erinnern an
das Gefuchtel eines Teenagers, der mit rotem Kopf irgendwelche Rachepläne in ein
Mikrofon plärrt.

Frustrierte weiße Mittelschicht

In Wahrheit haben Reagan und Trump nur eines gemeinsam: Dieselben Leute finden
(oder fanden) sie gut, nämlich weiße Amerikaner der Mittelschicht, von denen
viele in der Mitte des Kontinents leben.

Bei ihnen handelt es sich zurzeit um die zornigste und am meisten deprimierte
Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten. Dafür gibt es Gründe: Weiße
Amerikaner der Mittelschicht gehören zu den Verlierern der technologischen
Revolution, die wir gerade durchleben.
Die Zahlen sind horrend - eine hohe Selbstmordrate, viel Drogen- und
Alkoholmissbrauch. Diese Gruppe fühlt sich im Moment von allen Seiten gründlich
verraten: von der Demokratischen Partei, die nicht für sie, sondern für die
Latinos und Schwarzen spricht, und von der Elite der Republikanischen Partei,
deren wichtigster ökonomischer Programmpunkt Steuererleichterungen für die
Superreichen zu sein scheinen.

Eigentlich ist das, was wir im Moment erleben, ein Klassenkampf innerhalb der
Republikanischen Partei. Milliardäre müssen sich von Einwanderern wirtschaftlich
nicht bedroht fühlen - jene Angehörigen der weißen Mittelschicht, die den
sozialen Abstieg fürchten, schon. Und so kommt die Partei von Ronald auf den
Donald. Es ist eine Tragödie.

UPDATE: 19. Januar 2016

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Dienstag 19. Januar 2016 4:26 PM GMT+1

Facebook-Projekt;
Arabische Frauen wehren sich gegen sexuelle Gewalt

AUTOR: Khulud Khamis

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1043 Wörter

HIGHLIGHT: Gewalt gegen Frauen wird in der arabischen Gesellschaft häufig


totgeschwiegen. Morde an Frauen werden selten verfolgt. Eine palästinensische
Aktivistin will dieses Schweigen brechen, mit Erfolg.

Tuskuteesh ist eine neue Initiative, geboren aus dem dringenden Bedürfnis, das
Schweigen über sexuelle Gewalt innerhalb Israels palästinensischer Gesellschaft
zu brechen. Wir, meine Freundin Reem Jarmneh und ich, laden Frauen auf unsere
Facebook-Seite ein, ihre Erfahrungen sexueller Gewalt zu teilen. Der Gedanke
dahinter ist, dass Frauen ihre persönlichen Geschichten nicht teilen, weil ein
Großteil sexueller Gewalt innerhalb der Familie geschieht - der Angreifer ist
meist ein männliches Familienmitglied, ein Cousin, ein Onkel oder ein naher
Freund. Es gibt keinen sicheren Raum für Frauen, in dem sie diese Erfahrungen
teilen können.

Ich bin Schriftstellerin, also wollte ich die Stimmen dieser Frauen in einer Art
von Erzählung hervorbringen, aber ich wusste nicht, wie. Als wir dann die Idee
hatten, eine Facebook-Seite zu erstellen, erschien uns das als die perfekte
Plattform: Hier können die Frauen ihre Geschichten erzählen, unvermittelt, in
ihren eigenen Worten und in ihrer eigenen Sprache und doch in einem Raum, der
sicher ist.

Die Idee dafür kam uns nach einer Veranstaltung von Kayan, einer feministischen
Organisation, die sich für die Emanzipation palästinensischer Bürgerinnen
Israels einsetzt. Das war Anfang Dezember in Haifa. Die palästinensischen
Teilnehmerinnen diskutierten alle möglichen Arten von Gewalt - sie sprachen von
wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und sexueller Gewalt und von
geschlechtsbezogenen Morden an Frauen. Es war eine Atmosphäre voller Wut und
schwieriger Gefühle, vor allem wegen der hohen Zahl palästinensischer Frauen,
die jedes Jahr ermordet werden, meist ohne dass die Mörder je geschnappt werden.

Tuskuteesh: Brich das Schweigen

Nach der Veranstaltung sprachen Reem und ich stundenlang, wir diskutierten über
sexuelle Gewalt und die erdrückende Stille, die sie umgibt. In unserer
Gesellschaft wird es als Tabu wahrgenommen, über persönliche Erfahrungen mit
sexueller Gewalt zu sprechen, nicht einmal im vertrautesten Kreis und mit
nächsten Freunden wird es besprochen - bei jüdischen Frauen ist das anders,
viele von ihnen teilen ihre Erfahrungen mit Freundinnen.

Am siebten Dezember 2015, um zwei Uhr nachts, erstellten wir unsere


Facebook-Seite und nannten sie Tuskuteesh, was auf Arabisch bedeutet: brich das
Schweigen. Es sollte ein Aufruf an Frauen sein, ihre Stimme zu erheben. Bereits
am nächsten Morgen hatten wir eine Nachricht von der Leiterin einer unserer
örtlichen feministischen Organisationen bekommen, sie schlug uns Zusammenarbeit
vor und bot jede Unterstützung an, die wir brauchen könnten. Ich verstand erst
jetzt, dass diese Seite wirklich revolutionär war und wie stark die Stille in
unserer Gesellschaft ist.

Weil es so schwer ist, Worte zu finden für Geschichten sexueller Gewalt, bieten
wir Frauen die Möglichkeit an, ihre Geschichten in Form von Kunst zu erzählen:
als Fotografien, Malerei, Lyrik - oder in anderen künstlerischen Formen.
Innerhalb von zwei Wochen hatten wir 3000 Teilnehmerinnen, vor allem
palästinensische Frauen, aber auch Männer. Nach einem Monat hatten wir 20
Geschichten sexueller Gewalt erhalten - darunter Belästigung im Internet,
Belästigung auf der Straße, und auch einige sehr schwierige Geschichten von
sexuellem Missbrauch von nahen Verwandten und guten Freunden der Familie.

Endlich eine Seite auf Arabisch

Was uns überraschte, war, dass wir auch Geschichten aus anderen Ländern der
arabischen Welt bekamen - aus Syrien und Marokko, und wir erhielten
Unterstützungsnachrichten aus Ägypten. Unserer Initiative ist es in sehr kurzer
Zeit gelungen, nicht nur die Stille zu brechen, sondern auch andere Grenzen zu
überwinden: Grenzen der Besetzung, geografische Grenzen. Eine palästinensische
Frau aus Ramallah hat das Logo und das Cover-Foto für Tuskuteesh gemacht, auch
die Sticker und Lesezeichen, und einige Geschichten kommen aus der Westbank.

Die meisten Reaktionen, die wir bisher erhalten haben, waren positiv und
unterstützend. Zum Beispiel schrieb mir eine Frau eine Nachricht, in der sie mir
mitteilte, dass sie ihre Geschichte eigentlich auf dem hebräischsprachigen
Äquivalent zu unserer Seite hatte teilen wollen, dass sie sich aber aus
verschiedenen Gründen nicht wohl damit fühlte und nun glücklich war, dass es
endlich eine Seite auf Arabisch gibt.

Eine andere Frau hat an unsere Seite gepostet, dass das die erste Seite auf
Arabisch sei, die Frauen überhaupt mit Informationen versorge. Eine Lehrerin aus
Galiläa schickte mir eine private Unterstützungsnachricht, aber sie
entschuldigte sich, sie könne die Seite nicht auf ihrer Timeline teilen, ja, sie
noch nicht einmal liken. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie stark das Schweigen
ist. Viele Frauen haben Angst, die Seite zu kommentieren oder sie zu liken.

Neben der Unterstützung hat es auch einige Gegenreaktionen gegeben. So hat mir
ein Mann geschrieben und mich gefragt, warum wir denn arabische Männer angreifen
würden, sexuelle Gewalt käme im Westen doch genauso vor. Meine Antwort war: Ja,
ich bin mir sehr wohl darüber bewusst, dass sexuelle Gewalt sich nicht auf die
palästinensische Gesellschaft oder die arabische Welt beschränkt, sondern in
jeder Gesellschaft in der ganzen Welt vorkommt. Jedoch sei es, da ich nun einmal
Palästinenserin bin, meine Verantwortung, mich an erster und vorderster Stelle
um die Frauen in meiner Gesellschaft zu kümmern. Wir machen das nicht, weil wir
Männer angreifen wollen, sondern weil wir eine Veränderung bewirken wollen, die
endlich eine sichere Welt für uns und unsere Töchter schafft.

Innerhalb des letzten Jahres mussten wir beobachten, wie die Gewalt gegen
palästinensische Frauen immer weiter angestiegen ist, einschließlich der
Ermordungen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Graswurzelbewegungen, die auf die
Straße gehen und aufschreien gegen diese grauenhaften Verbrechen, die sich
engagieren, Bewusstsein schaffen. Tuskuteesh, brich das Schweigen, sprich
lauter, ist nur der erste Schritt zu einer sicheren Zukunft für uns und unsere
Töchter.

Khulud Khamis ist eine palästinensische Schriftstellerin und feministische


Aktivistin. Ihr Buch "Haifa Fragments" ist auf Englisch bei Spinifex Press
(Australien) erschienen. Khamis ist Mitglied des feministischen Kollektivs Isha
L'Isha Haifa Feminist Center. Sie lebt in Haifa mit ihrer Tochter.

UPDATE: 20. Januar 2016

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Donnerstag 21. Januar 2016 8:20 AM GMT+1

Besuch in Wildbad Kreuth;


Merkel erteilt CSU und Österreich die Absage
AUTOR: Peter Issig, Wildbad Kreuth

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1596 Wörter

HIGHLIGHT: Merkels Besuch in Kreuth zeigt: Der Graben zwischen CDU und CSU ist
tiefer geworden. Beeindrucken lässt sich die Kanzlerin davon nicht - genauso
wenig wie von der österreichischen Grenzpolitik.

Sie kommt überpünktlich. Und wird mit dem konfrontiert, was für die CSU auch zur
gelebten Leitkultur gehört: Eine Abordnung von Trachtlern aus dem Tegernseer Tal
heißen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Wildbad Kreuth willkommen. Zwei Buben in
kurzen Lederhosen überreichen einen Blumenstrauß. "Wunderbar", findet das
Merkel.

Die 101 Abgeordneten der CSU-Landtagsfraktion mit denen Merkel eineinhalb


Stunden hinter verschlossenen Türen reden will, sind weniger begeistert. Sie
wollen der Kanzlerin sagen, dass es so mit ihrer Flüchtlingspolitik nicht
weitergehen kann und schnell eine Obergrenze notwendig sei. "Wir sind der
Auffassung, dass wir nicht viel Zeit haben, da wir in diesem Jahr schon wieder
bei 3000 Flüchtlingen am Tag sind", sagt Gastgeber und Fraktionsvorsitzender
Thomas Kreuzer. Er verlangt "nationale Lösungen".

So wie sie gerade die Österreicher beschlossen haben, deren Grenze nur wenige
Kilometer von Kreuth entfernt liegt. Dort soll künftig eine Obergrenze bei den
Flüchtlingszahlen gelten. "Das wäre eine Chance, die Politik zu ändern", sagt
Kreuzer.

Mehr Meinungsverschiedenheit ist kaum vorstellbar

Der Schritt des Nachbarlandes passt Merkel aber gar nicht ins Konzept. Dieser
gefährde die Verhandlungsposition der EU mit der Türkei, sagt Merkel vor den
Landtagsabgeordneten der CSU. "Verstanden habe ich das nicht", sagt ein
CSU-Minister dazu.

Generell wächst an diesem Tag in Kreuth das gegenseitige Unverständnis zwischen


Kanzlerin und CSU. "Der Dissens in den grundlegenden Fragen bleibt - von der
Grundsatzentscheidung her, von dem Wie von dem Wann, von der Bewertung der
gesellschaftlichen Herausforderungen", sagt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer
nach der über zweistündigen, sehr ernsten und emotionalen Diskussion.

Mehr Meinungsverschiedenheit ist kaum vorstellbar zwischen Schwesterparteien.


Das Klima ist so frostig wie die winterlichen Temperaturen im Tegernseer Tal.
"Man hatte das Gefühl es spricht eine europäische Kanzlerin, keine deutsche",
sagt ein Fraktionsmitglied.

Merkel, die die gleiche Situation hier, am legendären Versammlungsort der CSU in
den Alpen, schon vor zwei Wochen erlebt hat - nur mit den
CSU-Bundestagsabgeordneten - wusste, was auf sie zukommt. Dennoch gibt sie sich
gelassen. Und sie bleibt wie vor zwei Wochen bei ihrer Linie. Mit einem kurzen
"Nein", antwortet ein Teilnehmer der Aussprache auf die Frage, ob sich die
CDU-Vorsitzende irgendwie bewegt habe.

"Sind uns einig, dass wir die Zahl der Flüchtlinge reduzieren sollten"
Merkel ist mit demselben Konzept angereist wie vor zwei Wochen: Das
Miteinander-Reden sei in so herausfordernden Zeiten von allergrößer Bedeutung,
sagt sie und stimmt der CSU im Prinzip zu: "Wir sind uns einig, dass wir die
Zahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig reduzieren sollten. Ich glaube, dass
das gelingen kann."

Aber bei der Realisierung zieht sie andere Schlussfolgerungen als die
Schwesterpartei: "Ich glaube, dass wir eine europäische Lösung finden sollten."
Und sie warnt davor, dass "am Ende ein geschädigtes oder zerstörtes Europa"
stehe, wenn nationale Alleingänge unternommen würden. "Nationale Maßnahmen und
europäische Verhandlungen gehen gleichzeitig nicht", hat sich ein Teilnehmer aus
Merkels Rede notiert.

Merkel, die auch in der CDU unter Druck steht, unterstreicht, welche Rolle sie
auf internationalem Parkett spielt. Sie verweist auf drei wichtige Ereignisse in
den nächsten Tagen: Auf die Regierungskonsultationen mit der Türkei, "die eine
Schlüsselrolle spielt", auf eine Geberkonferenz am 4. Februar wo es um die
Verbesserung der Flüchtlingssituation in Syrien, Jordanien und Libanon geht. Und
auf eine Sitzung des EU-Rats Mitte Februar. Und immer werde Deutschland sich mit
seinen Vorstellungen einbringen.

"Danach werden wir eine weitere Zwischenbilanz ziehen und dann sehen, wo wir
stehen", sagt sie an die CSU gerichtet. Eine Konzession, dass sie vielleicht
doch bald in die Obergrenzen-Diskussion einsteigen werde, können nicht alle in
der CSU in diese Aussage hineininterpretieren. Dennoch ist das Datum "Mitte
Februar" für den Fraktionsvorsitzenden Thomas Kreuzer wichtig. "Wir werden uns
daran erinnern, dass die Kanzlerin eine Zwischenbilanz ziehen wollte." Das
nächste Ultimatum.

Merkel weiß, dass sie nicht bis Ende 2016 warten kann

Merkel denkt aber offenbar in längeren Zeiträumen. Sie werde alles versuchen,
was sie international erreichen könne, versichert sie den CSU-Politikern. Und
sie wisse, dass sie damit nicht bis Ende 2016 warten könne.

Parteichef Horst Seehofer und seine Truppe wollen Fakten, zumindest Signale.
Schnell, am besten noch vor den drei Landtagswahlen im März. "Es wird immer
enger. Die Probleme werden immer größer", warnt Seehofer. Aber die Kanzlerin
bleibt hart und freundlich. Bei den 26 Wortmeldungen macht sie sich eifrig
Notizen. Und es gibt es ein Extra-Lob und Anerkennung: Was Bayern geleistet
habe, "das ist herausragend, dafür will ich mich bedanken".

Seehofer fühlt sich eigentlich schon allerorten bestätigt. In Umfragen, in den


faktischen Entwicklungen und jetzt auch durch die Entscheidung Österreichs, eine
Obergrenze für die Flüchtlingszahlen einzuführen. "Eine gute Regierung" habe das
Nachbarland, sagt der CSU-Chef.

Sein Generalsekretär Andreas Scheuer ruft dazu auf, von den Nachbarn zu lernen:
"Die Österreicher machen's. Also müssen wir es auch."

Trotz aller Bestätigung leidet die CSU

Doch trotz aller Bestätigung leidet die CSU. Es fehlt der Erfolg. Es bleibt beim
Fordern. Auch an diesem Tag in Kreuth gelingt das nicht. Seehofer wusste es
längst, will aber nicht locker lassen. Die Kanzlerin überzeugen? "Dazu wende ich
heute keine Kraft auf, das mache ich zu gegebener Zeit."

Von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der zwei Stunden vor Merkel in


Kreuth zu Gast ist, kann sich die CSU keine subtile Schützenhilfe erwarten. Der
CDU-Politiker zieht sich elegant aus der Affäre und lässt sich nicht in die
Karten schauen. Weil er weiß, dass die CSU zurzeit nur das Flüchtlingsthema
kennt, fühlt sich Schäuble irgendwie fehl am Platz. "Was soll ich eigentlich
da?", habe er sich beim Vorgespräch mit Merkel am vergangenen Sonntag gefragt.
"Denn ich hab' zwei Möglichkeiten. Ich kann dasselbe sagen wie die Kanzlerin.
Das ist langweilig. Ich kann das Gegenteil sagen. Das wäre dumm." Deshalb will
er nur über die Finanzpolitik mit der CSU diskutieren.

Aber zumindest lässt er seine wiederholten Warnungen vor einem Zerfall des
Schengenraums nicht unkommentiert. Auch er setze auf internationale Lösungen und
Lösungen nahe an den Ländern, wo die Fluchtursachen entstünden.

Nichts soll von der Botschaft aus Kreuth nach Berlin ablenken

Die Landtagsabgeordneten der CSU sind mit einer ganz anderen Regieanweisungen in
die Diskussion mit der Kanzlerin gegangen: Freundlich im Ton, aber verbindlich
in der Sache. Keine Ko-Referate, höchsten zwei Minuten pro Redebeitrag. Und vor
allem volle Konzentration auf nur ein Thema: die schnelle Begrenzung der
Flüchtlingszahlen. Nichts soll von der Botschaft aus Kreuth nach Berlin
ablenken.

Zusätzlich gibt die CSU der Kanzlerin noch einen 12-Punkte-Plan mit auf den Weg,
der die altbekannten Forderungen zusammenfasst. Und mit der Ansage, dass Merkel
daraus schnell Konsequenzen ziehen müsse. Sonst müsste das die CSU tun.

"Keiner kann ewig lange eine Politik mittragen, die er für falsch hält", sagt
Fraktionsvorsitzender Kreuzer. Er will sich nicht mit einer rhetorischen Wende
begnügen. Die Maßnahmen müssten "noch im März wirken".

Die CSU hebt in ihrem Forderungskatalog hervor, dass die deutsche


Flüchtlingspolitik einzigartig ist auf der Welt - einzigartig falsch, in Augen
der CSU. Denn kein Staat gewähre den Rechtsanspruch auf eine Einreise. Um Recht
und Ordnung an den Grenzen wiederherzustellen, müssten lückenlose Kontrollen an
den deutschen Außengrenzen stattfinden.

"Dann kommen vielleicht noch 300"

Die Grenzschließung soll in Absprache mit europäischen Nachbarn, den


Balkanstaaten und sogar Griechenland stattfinden. Die CSU hält nationale
Maßnahmen für unerlässlich in Abstimmung mit nationalen Maßnahmen anderer
europäischer Staaten.

Der Entschluss der Österreicher bekräftigt die CSU in ihrer Strategie. Jetzt
könnte der erhoffte Kaskaden-Effekt eintreten: Wenn europäische Partner Grenzen
schließen, machen sie auch schnell ihre Grenzen dicht. Land für Land wird so das
Problem an die EU-Außengrenze zurück verschoben.

Die CSU hofft, dass allein schon die Ankündigung der Obergrenze und einer
Grenzschließung den Flüchtlingsstrom schnell abschwellen lasse: "Dann kommen
nicht mehr jeden Tag 3000, 4000, sondern vielleicht noch 300", sagt
Fraktionsvorsitzender Thomas Kreuzer.

Währenddessen wird in der CSU munter spekuliert, wann und wie es zur ultimativen
Eskalation mit Merkel kommen könnte, falls die Kanzlerin nicht in der
Flüchtlingspolitik umsteuere. Vor oder nach den drei Landtagswahlen im März oder
erst im Frühsommer, wenn die Obergrenze von 200.000 der CSU schon längst
überschritten sein wird?

Auf Fristen will sich niemand festlegen. "Wir machen das Schritt für Schritt",
sagt Seehofer und betont, dass immer die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachtet
werden müsse - auch von der CSU.

Konsens ist aber, dass es der Partei nicht schnell genug gehen kann mit der
Korrektur. Ein Kabinettsmitglied breitet schon detailliert aus, wie Merkel
ansonsten gezwungen sein wird, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen,
womit der Weg für einen Neuanfang frei wäre.

Als ausgemacht gilt jetzt zumindest, dass Ministerpräsident Seehofer tatsächlich


seine Drohung wahr macht und gegen die Flüchtlingspolitik des Bundes beim
Bundesverfassungsgericht klagt.

UPDATE: 21. Januar 2016

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Donnerstag 21. Januar 2016 1:56 PM GMT+1

Militärhistoriker;
Wir müssen wieder lernen, wie Krieg funktioniert

AUTOR: Sven Felix Kellerhoff

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 953 Wörter

HIGHLIGHT: Die "postheroischen" Deutschen haben mit dem Krieg abgeschlossen und
blenden ihn aus. Doch Konflikte rücken immer näher, sagt Sönke Neitzel,
Deutschlands einziger Professor für Militärgeschichte.

Am Donnerstag hält Sönke Neitzel, der neue Inhaber der einzigen deutschen
Professur für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, seine
Antrittsvorlesung. Der 47-Jährige kommt von der renommierten London School of
Economics, wo er seit 2012 den Chair of International History innehatte. Neitzel
ist nicht nur Experte für militärische Konflikte im 20. Jahrhundert, sondern
auch wesentlich beteiligt an der Konjunktur von Zeitgeschichte im Fernsehen.
Außerdem ist er durch innovative methodische Zugänge bekannt geworden, etwa
durch das Buch "Abgehört" über die Gespräche deutscher Generäle in britischer
Kriegsgefangenschaft oder den Band "Soldaten" über Voraussetzungen und Folgen
des Tötens im Krieg.
Die Welt: Deutschland ist heute eine durch und durch pazifistische Gesellschaft
...

Sönke Neitzel: Postheroisch, würde ich sagen!

Die Welt: Ja, postheroisch. Fällt angesichts dessen nicht ein Lehrstuhl für
Militärgeschichte irgendwie aus der Zeit?

Neitzel: Nein, im Gegenteil. Mehr denn je brauchen wir eine Beschäftigung mit
Kriegen, mit Konflikten, aber auch mit dem Militär. Es ist ja leider
offensichtlich, dass wir nicht in einer friedlichen Zeit leben. Vielmehr sind
wir umgeben von Konflikten, die uns näher rücken, als uns das lieb ist. Denken
Sie an die Ukraine, an Syrien natürlich, aber auch an Westafrika, den Jemen und
so weiter.

Die Welt: Mit diesen Themen befassen sich aber auch benachbarte Disziplinen,
etwa die Politikwissenschaften oder die International Affairs.

Neitzel: Natürlich. Aber diese Fächer betrachten doch meist die aktuellen
Ereignisse. Wir als Historiker können da mehr anbieten, wie haben einen anderen
Blick. Das gilt zumal für Deutschland, das in Europa in den vergangenen 200
Jahren ja immer eine zentrale Rolle in Kriegen spielte. Wir dürfen aber
gleichzeitig den Krieg nicht nur als Black Box betrachten und fragen: Wie
brechen Kriege aus, welche Folgen haben sie, wie werden sie erinnert? Nein, wir
müssen in diese Kriege hineinschauen: Was ist genau passiert? Warum sind sie
verbrecherisch verlaufen, wenn man beispielsweise an den Zweiten Weltkrieg
denkt?

Die Welt: Also ergründen, wie Kriege funktionieren?

Neitzel: Genau. Gewissermaßen die Grammatik des Krieges verstehen, und zwar auf
verschiedenen Ebenen - bezogen etwa auf Staaten und Armeen, aber eben auch im
Hinblick auf das individuelle Erleben von Krieg. Es ist wichtig zu begreifen,
wie ein Soldat im Einsatz "tickt". Warum halten sich die einen an Regeln, die
andere vorsätzlich brechen? Wie kommt es zu Gewaltexzessen? Auch das ist für uns
heute wichtig.

Die Welt: Kann man denn daraus für die Gegenwart noch Erkenntnisse ableiten?

Neitzel: Sicher. Wir würden es uns zu einfach machen, wenn wir sagen: 1945/55
ist der Schnitt, die Bundesrepublik ist irgendwann von den letzten Nazis
gereinigt, und seither haben wir nichts mehr damit zu tun. Die Logik des Krieges
gilt damals wie heute. Und auch wie Menschen sich in der Extremsituation Krieg
verhalten, ist heute nicht grundsätzlich anders als vor 75 oder 100 Jahren. Wenn
wir alles wüssten, was Nato-Soldaten in Afghanistan getan haben, dann würden wir
diese Zusammenhänge wohl noch deutlicher sehen, vermute ich. Wenn wir die
Vergangenheit einbeziehen, können wir die Probleme der Gegenwart besser
verstehen.

Die Welt: Die Geschichtswissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten vor


allem auf die Verbrecher unter den Soldaten des Zweiten Weltkriegs geschaut -
ein wichtiges Thema, aber reicht das aus?

Neitzel: Nein, das wäre zu wenig. Denn Krieg ist mehr. Ja, die Wehrmacht ist
mordend und sengend durch Europa, vor allem Osteuropa gezogen, aber eben nicht
nur. Wenn wir nur auf die Verbrechen schauen, verstehen wir die komplexe
Wirklichkeit dieses Krieges nicht. Und natürlich schmerzt es zu fragen: Steckt
vielleicht etwas von dieser Logik des Krieges auch in uns? Bequemer wäre
bestimmt, einfach 1945 einen Strich zu ziehen und zu sagen: Die Lehren aus der
Geschichte sind gezogen. Punkt. Die "Banalität" auch der heutigen Kriege wird
dabei leicht übersehen.

Die Welt: Relativiert man damit nicht indirekt den Zivilisationsbruch des
Vernichtungskrieges?

Neitzel: Nein, wieso denn? Wir müssen uns als Wissenschaftler freimachen von
schablonenhaftem Denken. In Deutschland erkenne ich manchmal eine gewisse
Neigung, einmal zu einer Meinung zu kommen und sie dann in einer Art
Materialschlacht zu verteidigen. Nehmen Sie die Debatte über den Beginn des
Ersten Weltkrieges vor zwei Jahren ...

Die Welt: ... die Christopher Clark mit seinem Buch "Die Schlafwandler"
losgetreten hatte.

Neitzel: Ja. Da führte zum Beispiel Heinrich August Winkler als Argument gegen
ein Überdenken hergebrachter Deutungsmuster zum Juli und August 1914 sinngemäß
ins Feld: Wer das tue, zweifele auch an den Ursachen des Zweiten Weltkriegs. Nur
hat das von den seriösen Historikern, die an dieser Diskussion beteiligt waren,
nie jemand getan. Mit einer solchen Keule erreicht man nur eines: Denkverbote,
und die halte ich nicht für sehr förderlich. Einen Fortschritt in der
Wissenschaft kann es nur geben, wenn man sich permanent infrage stellt.

Die Welt: Aber überfordert dieser Ansatz nicht jedenfalls die deutsche
Gesellschaft? Wenn historische Fakten jederzeit infrage gestellt werden können?

Neitzel: Es geht ja mitnichten darum, historische Fakten infrage zu stellen. Wer


wollte das? An den Verbrechen der Wehrmacht etwa braucht man nicht zu zweifeln,
und ich habe mit meinen Forschungen dazu hoffentlich einen Beitrag leisten
können. Aber ich muss nun nicht zum hundertsten Mal die Legende der sauberen
Wehrmacht zerstören. Das ist längst geleistet. Wir müssen nun neue Fragen
stellen, neue Interpretationen liefern und können uns nicht damit begnügen,
Altbekanntes zu wiederholen.

UPDATE: 21. Januar 2016

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Freitag 22. Januar 2016 10:44 AM GMT+1

FDP-Chef Lindner;
"Junge Muslima muss am Sportunterricht teilnehmen"
AUTOR: Ulf Poschardt und Thorsten Mumme

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 2344 Wörter

HIGHLIGHT: Der FDP-Vorsitzende Lindner erklärt, was liberale Integrationspolitik


bedeutet. In der Asylkrise steht für ihn fest: "Frau Merkel kann ihre ethischen
Abwägungen nicht länger ganz Europa oktroyieren."

Die Welt: Noch vor zwei Jahren war die FDP totgesagt, heute sieht man Ihre
Partei in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz als Gefahr für die CDU - als
Teil einer möglichen Ampelkoalition. Sind Sie überrascht, wie schnell die
Wahrnehmung sich geändert hat?

Christian Lindner: Mich überrascht daran, dass sich manche Kommentatoren wenig
mit den Sachfragen beschäftigen. Wir wollen nicht um jeden Preis regieren,
sondern in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt einen
Politikwechsel erreichen. Vertrauen in die Eigenverantwortung der Bürger,
Bremsen für die Wirtschaft lösen, Bildung und Infrastruktur ohne ideologische
Denkmuster modernisieren. Mit Rot-Grün ist so eine Politik und damit auch eine
Ampel unwahrscheinlich.

Die Welt: Spüren Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass die FDP wieder besser bei
den Leuten ankommt?

Lindner: Ja, die Menschen sind massiv auf der Suche, weil sie die Politik der
großen Koalition nicht mehr unterstützen. Und die FDP ist eine ernsthafte
Partei, die sich nach einer Krise erneuert hat. In unruhigen Zeiten ist unser
Kompass mit Rechtsstaat, sozialer Marktwirtschaft und Toleranz wieder für viele
eine Orientierungshilfe. Unsere Veranstaltungen sind so gut besucht, dass die
Menschen teilweise auf den Fensterrahmen sitzen müssen. Wir haben am 13. März
eine echte Comeback-Chance.

Die Welt: Die Flüchtlingskrise schüttelt die Parteienlandschaft durcheinander.


Wie beobachten Sie diese teilweise ja gravierenden Veränderungen, was die
politischen Trends und Stimmungen betrifft?

Lindner: Ich habe noch nie so viel Nervosität wahrgenommen. Dafür trägt die
Regierung die Verantwortung. CDU, CSU und SPD haben immer noch keine gemeinsame
Antwort auf die Flüchtlingskrise.

Sigmar Gabriel nennt die Zuwanderungspolitik sogar chaotisch. Das ist völlig
zutreffend, aus dem Mund des Vizekanzlers aber zugleich Ausdruck eines
Zerfallsprozesses in der großen Koalition. Mit Symboldebatten, Blockade und
Schuldzuweisungen macht die Regierung die Rechtspopulisten groß. Wieder klein
macht man sie mit entschlossenem Handeln und Problemlösungen.

Die Welt: Die SPD mutete noch vor wenigen Wochen links-grün an. Inzwischen
scheint sie fast die CDU rechts zu überholen. Wie nehmen Sie das wahr?

Lindner: Wenn ein Vizekanzler die eigene Regierung kritisiert, dann


dokumentiert er seine eigene Macht- und Orientierungslosigkeit. Die Uneinigkeit
der Regierung ist angesichts der Lage unverantwortlich. Das provoziert ein
staatliches Organisationsversagen.
Die Welt: Wie würden Sie die Probleme angehen und der Verunsicherung in der
Bevölkerung begegnen?

Lindner: Unsere Freiheit ist ohne Rechtsstaat undenkbar. Und dahin müssen wir
zurück. Man darf nicht aus dem edlen Motiv der Solidarität dauerhaft den
Rechtsstaat aussetzen, wie es die Frau Bundeskanzlerin getan hat. Das Ergebnis
sind die chaotischen Zustände in Europa.

Um es konkret zu machen: Wir lieben das Europa, in dem wir frei leben und
arbeiten können. Zäune und Schlagbäume müssen da bleiben, wo sie sind: in den
Geschichtsbüchern. Aber die Voraussetzung für offene Binnengrenzen ist eine
Kontrolle über die Außengrenze. Die Freizügigkeit in Europa ist daran gekoppelt,
dass Flüchtlinge einen Asylantrag nur dort stellen dürfen, wo sie zuerst
europäischen Boden betreten.

An der deutschen Grenze müssten demnach Flüchtlinge abgewiesen werden. Frau


Merkel hat im September entschieden, dass wir diese Regeln nicht anwenden. Die
Schengen-Vereinbarung über den Verzicht auf Grenzkontrollen funktioniert aber
nur, wenn die Regeln der Dublin-Vereinbarung eingehalten werden. Deshalb muss
der rechtsfreie Zustand beendet werden.

Die Welt: Was sollte Angela Merkel konkret tun?

Lindner: Ich fordere Frau Merkel auf, den nächsten europäischen Gipfel im
Februar als Wendepunkt zu nehmen. Entweder erreicht sie dort eine europäische
Strategie, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren und eine faire Verteilung zu
erreichen. Das wäre mein Wunsch. Oder Frau Merkel muss ihre Entscheidung aus dem
September korrigieren, damit Deutschland nach den Dublin-Regeln wieder alle
Flüchtlinge aus sicheren Drittländern an der Grenze abweist. Solange keine
europäische Lösung erreicht wird, kann Deutschland so die Kontrolle
zurückgewinnen.

Das ist für mich der Hebel, um allen in Europa zu verdeutlichen, dass die
Flüchtlingskrise nicht ein Problem Deutschlands ist, sondern eine gemeinsame
europäische Herausforderung. Der muss man sich auch gemeinsam stellen. Sonst
kehren die Schlagbäume auf Dauer zurück, was eine Katastrophe wäre.

Die Welt: Ist es denn realistisch, so etwas durchzusetzen, wenn man sich die
politische Situation in Europa anguckt?

Lindner: Mit den einseitigen Entscheidungen Deutschlands hat sich unser Land
isoliert, und jetzt sagen die andern in Europa: Schaut mal, wie ihr damit
umgeht. Der Versuch, ein globales Problem allein zu lösen, musste scheitern.
Frau Merkel kann ihre ethischen Abwägungen nicht länger ganz Europa oktroyieren.
Deshalb ist eine Rückkehr zum europäischen Gemeinschaftsrecht die Voraussetzung
dafür, wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen.

Die Welt: Wie wahrscheinlich ist das aus Ihrer Sicht?

Lindner: Wenn Deutschland seine Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft


durch einen solidarischen Realismus ersetzt, halte ich eine europäische Lösung
für erreichbar. Wir können nicht länger einen rechtsfreien Zustand tolerieren.
Das zerstört das Vertrauen der Menschen in ihren Staat. Das Ziel muss eine
geschützte Außengrenze sein. Geschützt durch eine europäische Grenzpolizei und
nicht durch Herrn Erdogan.

Dann kann die Einreise nach Europa über Registrierung und Kontingente erfolgen,
die fair verteilt werden. Ein solches Verfahren erlaubt überhaupt erst die
Solidarität mit wirklich Bedürftigen, nämlich den Alten, den Kranken und den
Kindern. Denn durch den Kontrollverlust und die Einreise über die Balkanroute
sind überwiegend die Starken gekommen, nämlich junge Männer. Das sind nicht die,
die erst unsere Hilfe brauchen.

Die Welt: Der Ausweis der Liberalität ist ja eigentlich, dass jeder nach seiner
Fasson glücklich werden soll. Aber Integration erfordert ja klare Leitplanken.
Wie sieht eine ideale, liberale Integrationspolitik aus?

Lindner: Die Voraussetzung für Integration ist, dass wir uns über unsere
Identität klar werden: In was soll überhaupt integriert werden? Für mich ist das
die Verfassungskultur des Grundgesetzes. Eine bessere Willkommenskultur kann es
gar nicht geben als unsere weltoffene, liberale Verfassung.

Bei uns sind die Freiheit und Würde des Einzelnen, die Gleichberechtigung der
Geschlechter und der Schutz des Eigentums garantiert. Jeder kann sich frei
entfalten, an welchen Gott er auch glaubt. Aber bei uns ist Satire über Mohammed
erlaubt, und die junge Muslima muss am Sportunterricht teilnehmen.

Die Welt: Spielt auch wirtschaftliche Liberalität eine Rolle?

Lindner: Ja, die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Einfluss auf ihr
eigenes Schicksal auszuüben. Wer zu uns kommt, darf nicht durch immer höhere
bürokratische Hürden vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Wir müssen die Hürden
viel eher senken. Denn der beste Integrationshelfer ist der deutsche Kollege am
Arbeitsplatz.

Die Welt: Sehen Sie bei der Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und in der
Sozialdemokratie irgendeine Bewegung?

Lindner: Nein, im Gegenteil. Die geplanten Einschränkungen bei Zeitarbeit und


Werkverträgen zerstören weitere flexible Brücken für Schwächere in den
Arbeitsmarkt. Also Geringqualifizierte mit Sprachdefiziten, die sich in unserer
Arbeitswelt und Gesellschaftsordnung erst erproben müssen. Ich halte das für
fatal.

Man nimmt hin, dass Menschen auf Dauer auf Sozialleistungen angewiesen sind,
anstatt selbst etwas beizutragen und damit auch ihren eigenen Alltag zu
strukturieren. Ein Flüchtling hat mir gesagt, er könne gar nicht verstehen, dass
er in Deutschland so viel Geld dafür bekomme, dass er nicht arbeiten darf.

Die Welt: Ist ein Einwanderungsgesetz notwendig?

Lindner: Ja, es ist höchste Zeit. Die Konservativen haben sich den Debatten
nicht gestellt, weil sie Angst vor Fremden hatten. Die linken Parteien haben
sich gescheut, die Interessen Deutschlands und unsere legitimen Erwartungen an
Zuwanderer zu beschreiben. Jetzt kann keiner mehr ausweichen. Wir müssen klar
definieren und unterscheiden, wen wir aus humanitären Gründen aufnehmen und wen
wir aus deutschem Eigeninteresse in unseren Arbeitsmarkt einladen.

Bei Kriegsflüchtlingen sollte der Schutz nur vorübergehend sein. Nach der
Stabilisierung der alten Heimat sollten die Menschen dorthin zum Wiederaufbau
zurückkehren. Wer bei uns bleiben will, soll das dürfen, wenn er den Kriterien
hinsichtlich Integrationsbereitschaft und Qualifikation genügt.

Die Welt: In den Debatten, Kommentarspalten und auch familiären Runden wird der
Umgangston rauer. Geraten da zivilisatorische Standards in Gefahr, die uns über
70 Jahre in der Bonner und dann Berliner Republik ausgezeichnet haben?

Lindner: Nicht in der ganzen Bevölkerung, aber in einem Teil der Bevölkerung
gibt es diese Verrohung. Bei aller Kritik an der Bundesregierung, die ich ja
auch teile und äußere: Gewählten Volksvertretern ihre Legitimität abzusprechen,
sie gar zu Volksverrätern zu erklären, zerstört die innere Liberalität und den
gesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Wer das tut, ist kein Verteidiger,
sondern ein Feind unserer freiheitlichen Lebensweise.

Wir alle ziehen unsere Lebensqualität doch daraus, dass wir ein Land sind, in
dem man frei im öffentlichen Raum sprechen kann, aber in dem nicht permanent der
verbale Tabubruch zelebriert wird. Respekt vor dem anderen, auch wenn er eine
andere Meinung hat, ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

Die Welt: Nun gibt es das Phänomen, dass sich die politischen Ränder im Moment
praktisch berühren. Im Verhältnis zu Putin, der antiwestlichen Haltung und oft
im Antizionismus scheinen sich das linke und das rechte Extrem nicht feindlich
gegenüberzustehen, sondern sich viel eher gegen den Rest zu verbünden.

Lindner: In der Tat, sie bilden das, was man historisch die Querfront genannt
hat. Sie sind sich einig in der Ablehnung einer libertären, weltoffenen
Lebensweise. Sie pflegen Vorbehalte gegen den Kapitalismus. Sie legen einen
bisweilen plumpen Antiamerikanismus an den Tag und versuchen, sich in den alten
Nationalstaat zurückzuziehen.

Beides sind auch kollektivistische Vorstellungen, ganz links wie ganz rechts.
Bei der AfD heißt der Kollektivismus Volksgemeinschaft, bei den Linken
Sozialismus. Beides läuft auf dasselbe hinaus: Die Eigenverantwortung und
Freiheit des Einzelnen wird kleingemacht. Entweder durch den autoritären Zugriff
der Volksgemeinschaft oder durch Klassenkampf.

Die Welt: In dieser Woche gab es eine bemerkenswerte Entscheidung des


SWR-Intendanten Peter Boudgoust, die AfD nicht zu den sogenannten
Elefantenrunden vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg
einzuladen. Wie ging es Ihnen mit dieser Entscheidung?

Lindner: Die Entscheidung des SWR ist Wasser auf die Mühlen von
Medienkritikern. Aber viel bedeutsamer finde ich, dass die Ministerpräsidentin
Malu Dreyer und der Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Entscheidung
provoziert haben, weil sie nicht mit der AfD debattieren wollen. Das ist feige
und falsch.

Man sollte diese Leute im Gegenteil mit ihren Positionen konfrontieren, man muss
sie argumentativ stellen, denn die haben ja nichts zu sagen. Die bleiben ja
stumm, ohne Konzept, um als Projektionsfläche für Protest zu funktionieren.

Die Welt: Linke und Grüne gehen also falsch mit der AfD um?

Lindner: Ja, da stimmt was nicht. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Am Samstag
wird Markus Söder den "Orden wider den tierischen Ernst" in Aachen erhalten.
Doch Sozialdemokraten und Grüne boykottieren diese karnevalistische
Veranstaltung wegen des neuen Ordensträgers. Noch ein Jahr zuvor haben sie Sahra
Wagenknecht bei ihrem Auftritt begeistert applaudiert. Da stimmen die
Verhältnisse nicht, wenn ein Toni Hofreiter wegen Markus Söder absagt.

Die Welt: Was wäre der richtige Weg?

Lindner: Mit der AfD muss man über Sachfragen sprechen. Nüchtern und fachlich.
Dann kann man entlarven, dass die die Krise nicht lösen können und auch gar
nicht wollen. Denn die Flüchtlingskrise begreifen die ja als Geschenk, wie Herr
Gauland gesagt hat. Eine Partei, die Krisen herbeisehnt, um durch sie zu
wachsen, übertrifft alles an Zynismus und Egoismus, was ich in der Politik
erlebt habe.

Die Welt: Sie sind Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen. Nach den Ereignissen


in Köln war die Landesregierung auffallend still. Wie wollen Sie SPD und Grüne
zur Verantwortung ziehen?

Lindner: Wir werden einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einrichten,


um die Vorfälle in Köln zu untersuchen. Dabei wird die persönliche Verantwortung
des Innenministers ein Thema sein. Entscheidend ist aber, strukturelle Mängel in
der Polizei zu prüfen und abzustellen. Die Bürger müssen sich darauf verlassen
können, dass der Rechtsstaat das Gewaltmonopol hat. Das war in der
Silvesternacht in Köln für viele Frauen offensichtlich nicht der Fall.

Die Welt: Sind die geplanten Gesetzesverschärfungen der richtige Weg?

Lindner: Ja, insbesondere die Abschiebungen krimineller Zuwanderer. Eine


liberale Gesellschaft kann und muss die Kontrolle darüber behalten, mit wem sie
solidarisch ist und mit wem nicht. Generell bin ich beim Ruf nach schärferen
Sicherheitsgesetzen aber skeptisch. Nach Paris wurde sofort nach mehr
Überwachung gerufen. Oft sind das Symbolforderungen, die nichts bringen. Die
radikalisierten Rückkehrer aus Syrien, die dort für die islamische Sekte
gekämpft haben, sollten überwacht werden - aber doch nicht Millionen
unbescholtener Bürger.

Wir brauchen also einen Rechtsstaat, der nicht unsere Freiheit permanent
beschneidet, sondern einen, der unsere Freiheit schützt. Durch gut ausgestattete
Polizei und Justiz. So war immer unsere Überzeugung. Der Innenminister
Hans-Dietrich Genscher hat auf den Terror nicht mit Ausnahmezustand und
Einschränkung von Bürgerrechten reagiert, sondern zum Beispiel mit der Gründung
der Anti-Terror-Einheit GSG 9.

UPDATE: 22. Januar 2016

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Samstag 23. Januar 2016 9:14 AM GMT+1

Außenhandel;
Der neue Markt für Hamburg heißt Teheran

AUTOR: Olaf Preuß

RUBRIK: REGIONALES; Regionales


LÄNGE: 1087 Wörter

HIGHLIGHT: Nach der Aufhebung von Sanktionen gegen den Iran hofft die deutsche
Wirtschaft auf einen Boom. Besonders in Hamburg. Durch den Hafen und Branchen
wie den Flugzeugbau rückt die Hansestadt in den Fokus.

Man macht die Aufträge fertig, die schon so lange in den Schubladen liegen, in
Unternehmen in Teheran oder Isfahan, in den Häfen von Chabahar oder Bandar
Abbas, in den Behörden und Ministerien der Islamischen Republik. Man öffnet die
Orderbücher in den Etagen der deutschen Wirtschaft. Der Iran ist wieder da. Nach
fast zehn Jahren vielfältiger Handels- und Finanzembargos wurde ein großer Teil
der Sanktionen am vergangenen Sonnabend aufgehoben. Der Iran hofft nun darauf,
seine Infrastruktur und die - weit überwiegend staatliche und klerikale -
Wirtschaft umfassend modernisieren zu können. Und die Wirtschaft in Deutschland
erwartet goldene Zeiten im Außenhandel mit einem der wichtigsten Staaten des
Mittleren Ostens.

Kein deutscher Standort dürfte davon so profitieren wie Hamburg. Rund 2,4
Milliarden Euro deutsche Iranexporte und Importe im Wert von rund 300 Millionen
Euro verzeichnen die Statistiker für 2014. Der Hamburger Außenhandel mit Iran
betrug im selben Jahr rund 214 Millionen Euro. Bedingt durch die Sanktionen,
sind diese Zahlen niedrig, doch das könnte sich bald ändern. Der Hafen, aber
auch für den Iran wichtige Branchen wie die Luftfahrtindustrie oder die
Medizintechnik rücken Hamburg in den Fokus. "Es gab immer Kontakte iranischer
Unternehmen zu unserer Handelskammer, auch von uns aus zur Deutsch-Iranischen
Industrie- und Handelskammer", sagt Corinna Nienstedt, Leiterin des Bereichs
International bei der Handelskammer Hamburg. "Der Deutsche Industrie- und
Handelskammertag rechnet damit, dass sich der deutsche Außenhandel mit Iran
schnell vom heutigen Niveau aus verdoppeln lässt, wenn alle Sanktionen fallen."

Der Zahlungsverkehr mit Iran muss neu aktiviert werden

Hürden bleiben zunächst vor allem bestehen, weil der Zahlungsverkehr zwischen
dem Iran und anderen Ländern erst wieder reaktiviert werden muss: "Wir raten
Unternehmen, bestehende Kontakte wieder aufzunehmen, aber zugleich die
Sanktionslage genau zu prüfen", sagt Nienstedt. "Die Kreditversicherung Euler
Hermes hat die Beschlusslage für die Vergabe von Deckungen noch nicht geändert,
Exporteure können dort Anträge aber bereits einreichen. Insgesamt gibt es bei
den Geschäftsbanken und im Zahlungsverkehr vorerst noch Unsicherheiten über
Reglements und Zahlungswege."

Bestens vernetzt im Iran und in der gesamten Golfregion ist die Hamburger
Anwaltssozietät Wülfing Zeuner Rechel (WZR). Deren Mitbegründer Thomas Wülfing
pflegte Kontakte, schuf Expertise im eigenen Haus und baute das Netzwerk Germela
mit auf, das Kanzleien in Deutschland und der Schweiz mit Sozietäten in 15
islamischen Ländern Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens verbindet -
darunter Iran, aber auch dessen Rivale Saudi-Arabien.

Seit 2015, als eine Beilegung des langjährigen Streits um das iranische
Atomprogramm näher rückte, betreibt WZR ein Büro in der iranischen Hauptstadt:
"Wir sind als Sozietät in Teheran mit drei eigenen Mitarbeitern präsent", sagt
Wülfing. "Ganz wichtig ist für uns die enge Kooperation mit dem Management
Development Research Center (MDRC) in Teheran, dem Spitzeninstitut für die
Ausbildung des Managementnachwuchses im Iran. Dadurch haben wir Zugang zu
praktisch allen Bereichen der iranischen Wirtschaft."
Hamburg könnte eine Schlüsselrolle im Iranhandel spielen

Wülfing ist überzeugt, dass die Öffnung eine große Chance zur Modernisierung des
Landes bietet. In der vergangenen Woche begleitete er Altkanzler Gerhard
Schröder (SPD) bei einer Delegationsreise in den Iran: "Innerhalb Irans gibt es
viele Kraft- und Machtzentren. Neben der schiitischen Geistlichkeit sind dies
der Wächterrat, die Revolutionsgarden, die Armee, der Staatspräsident und
andere. Es bleibt zunächst unklar, wie die Öffnung des Landes und das Ende der
Sanktionen die internen Kräfteverhältnisse verändert", sagt er. "Ich bin aber
überzeugt davon, dass 80 Prozent der Bevölkerung, wenn nicht mehr, eine
deutliche Öffnung und Modernisierung des Landes wollen. Ganz besonders die
jungen Menschen, die ja über das Internet und die sozialen Netzwerke sehr genau
wissen, wie sich die Welt um sie herum entwickelt und verändert."

Hamburg sieht der Wirtschaftsanwalt in einer Schlüsselrolle. In der Hansestadt


leben rund 20.000 Iraner oder Menschen mit iranischen Wurzeln, mehr als in jeder
anderen deutschen Stadt und in Europa nur übertroffen von London. 353 in Hamburg
ansässige Unternehmen haben geschäftliche Verbindungen zum Iran. Obgleich stark
eingeschränkt, waren Geschäfte mit dem Land auch in der Zeit des Embargos
möglich. Die Hamburger Speicherstadt ist der weltweit wichtigste Handelsplatz
für Teppiche etwa aus Iran.

Saudi-Arabien und Iran ringen um die Vormacht in ihrer Region

Die wirtschaftlichen Chancen im Iran sind aus Wülfing Sicht bedeutend: "Das Land
hat einen enormen Nachholbedarf, von der Modernisierung der Flugzeugflotte bei
Iran Air über die Häfen und die Ölindustrie, beim Gesundheitswesen und dem
öffentlichen Nahverkehr. Iran mit fast 80 Millionen Einwohnern schiebt seit
vielen Jahren einen wachsenden Investitionsstau vor sich her." Ein wesentlicher
Vorteil für die Umsetzung von Verträgen sei das iranische Rechtssystem: "Mit
Blick auf die rechtliche Investitionssicherheit ist der Iran in der Region des
Nahen und Mittleren Ostens führend", sagt er. "Das iranische Rechtssystem ist
dem europäischen vergleichbar, weil der Iran schon vor langer Zeit die
Grundlagen des napoleonischen Code Civil implementiert hat. Man findet auch dort
etwa Unternehmensformen wie die GmbH oder die KG, die hier bei uns zu den
Grundlagen der Wirtschaft gehören."

Viel wird davon abhängen, ob die Spannungen zwischen dem sunnitisch geprägten
Saudi-Arabien und dem mehrheitlich schiitischen Iran weiter eskalieren. Beide
Staaten ringen, auch in Stellvertreterkriegen in Syrien und im Jemen, um die
Vormachtstellung in der Region. Die arabischen Emirate - obgleich Teil der
sunnitischen Welt des Islams - gelten als neutraler Boden, vor allem das
Handelszentrum Dubai. Mit Hamburg ist Dubai durch Kooperationen eng verbunden.
"Wir werden auch bei unserer Delegationsreise Ende März nach Dubai wohl noch
mehr Klarheit darüber bekommen, was in diesem Jahr im Handel zwischen
Deutschland und Iran und speziell auch Hamburg und Iran möglich sein wird", sagt
Handelskammer-Managerin Nienstedt. "Hamburg kann enorm viel beitragen, um die
iranische Wirtschaft, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen zu modernisieren.
Umgekehrt ist der Iran ein wichtiger Exporteur für Güter wie pharmazeutische
Produkte, aber auch Möbel oder hochwertige Teppiche."

UPDATE: 23. Januar 2016

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Samstag 23. Januar 2016 9:49 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Warum in Passau niemand an Pegida denkt

AUTOR: Christian Eckl

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1303 Wörter

HIGHLIGHT: Seit Monaten strömen täglich Tausende Flüchtlinge in den Landkreis


Passau. Statt Pegida-Populisten warten Ehrenamtliche. Dabei hatte die Stadt
einst den Ruf eines braunen Nests. Was ist geschehen?

Dass er seinen größten politischen Erfolg mit 62 Jahren erreichen würde, hätte
Landrat Franz Meyer (CSU) nie gedacht. Doch die heftigste humanitäre Krise seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland sollte für den Kommunalpolitiker
zur Sternstunde werden. "Als ich selbst der ,Washington Post' ein Interview
gegeben hatte, musste ich mich danach zwicken", schmunzelt der Landrat von
Passau.

Nun sind Landräte in Bayern so etwas wie Regionalfürsten, ihre Ämter sind
begehrt. Nicht selten tauscht ein Landtagsabgeordneter aus Mangel an
Entscheidungsbefugnis sein Mandat gegen eine Kandidatur für den begehrten Posten
ein. Doch gleichzeitig ist die Politik in Berlin weit weg. Das änderte sich für
Meyer spätestens, als die Flüchtlingskrise nirgendwo sonst so dramatische
Ausmaße annahm wie in seinem Landkreis.

Über die Balkanroute strömten Zigtausende Menschen tagtäglich an die Grenze. Die
Österreicher, deren direkte Nachbarschaft man hier eigentlich sehr schätzt,
karrten täglich Tausende Menschen mit Bussen und Zügen über die Grenze - anfangs
ohne Vorankündigung. Als Meyer Ende Oktober einen Brandbrief an Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) schrieb, schaltete ihn sogar Günther Jauch per Übertragung in seine
Sendung zu.

Meyer warnte Anfang November, dass die schiere Zahl der Flüchtlinge unser Land
überfordern wird - die "FAZ" attestierte ihm daraufhin: "Ein Landrat aus Passau
kann besser rechnen als das politische Berlin." Schnell schickte Merkel ihren
Kanzleramtsminister und Koordinator der Flüchtlingspolitik, Peter Altmaier
(CDU), nach Passau. Das wirkte.

"Eine unserer Forderungen aus dem Gespräch mit Altmaier war unter anderem, dass
die Transportkapazitäten für die Weiterleitung der Flüchtlinge deutlich erhöht
werden und die Verteilung innerhalb Deutschlands besser koordiniert wird", sagt
Meyer. Auch habe man angemahnt, dass der Ablauf an der Grenze optimiert werden
muss. "Die Forderungen wurden erfüllt."

Tödliche Unfälle infolge der Grenzkontrollen

Doch längst nicht in allen Bereichen. Denn während in Passau die Zelte nicht
mehr mit Menschen berstend voll sind, tut sich für den Kommunalpolitiker ein
anderes Problem auf. An der Grenzkontrollstelle an der A3 bei Pocking kommt es
fast täglich zu schweren Unfällen. Erst kurz vor Weihnachten geschah ein so
schwerer Zusammenstoß, dass zwei Menschen starben. Zuletzt verunglückte am 14.
Januar eine rumänische Autofahrerin tödlich.

Der Grund: Statt die von früher noch vorhandenen Grenzhäuser zu nutzen, verengt
die Bundespolizei die Autobahn auf nur eine Spur. In dem Nadelöhr geschahen seit
der Wiedereinführung der Grenzkontrollen im November 2015 bereits 60, teils
schwere und sogar tödliche Unfälle.

Der Landrat ist sauer auf die Bundespolizei, denn offenbar verweigert man das
Gespräch mit der österreichischen Seite: Dort steht das Grenzhäuschen des
früheren Übergangs Suben leer. Doch Meyer arbeitet im Hintergrund daran, dass
sich der Grenzverkehr normalisiert. Begründet hat man die Absage von Seiten der
Bundespolizei übrigens mit zu hohen Investitionen in die Grenzhäuschen.

Vielleicht ist dieses Engagement für Dinge, die viele Menschen im Alltag
betreffen, auch der Grund, warum zwar in Passau die Flüchtlingskrise jeden Tag
sichtbar war wie kaum an einem anderen Ort, es aber in Passau keine
Pegida-Demonstrationen gab. Für Meyer ist ein Grund dafür, dass die Menschen
spürten, dass ihre Sorgen und Nöte vor Ort im politischen Berlin wahrgenommen
wurden. "Ich hatte nach der Jauch-Sendung 600 Mails in meinem Fach, in dem mir
die Leute bekundeten: Danke, dass du es denen in Berlin gesagt hast, wie es uns
hier geht."

Doch Passau wurde 2015 auch zum Symbol dafür, was eine auf Solidarität und
ehrenamtliches Engagement fußende Gesellschaft leisten kann. Das war nicht immer
so, im Gegenteil - auch oft zu Unrecht wurde Passau als rechtslastig
verunglimpft. "Passau ist braun", war eine Schlagzeile eines Hamburger Magazins.
Das war 2001.

Der Bierdampf der längst abgebrochenen Nibelungenhalle, wo nicht nur die CSU am
Aschermittwoch kräftig gegen die Linken polterte, sondern auch die rechtsextreme
DVU und die NPD ihre Klientel bedienten, hatte Passaus Ruf arg ramponiert. Doch
in der Flüchtlingskrise bewiesen die 50.000-Einwohner-Stadt und der viel größere
Landkreis mit 186.000 Einwohnern, was es heißt, zusammenzurücken. Helferkreise
bildeten sich im noch so kleinen Ort im Landkreis. Kaum ein Ehrenamtlicher hatte
die letzten Monate ein freies Wochenende.

Eine dieser Ehrenamtlichen ist Ulrike Fuchs-Schacherbauer. Sie ist


Mitorganisatorin des Helferkreises Neuhaus am Inn, einer Gemeinde mit 3334
Einwohnern direkt an der Grenze. Über eine Brücke ist das oberösterreichische
Schärding zu erreichen. Sie hat wie Hunderte anderer Helfer das Grauen der
Flucht gespürt, das die Menschen aus Syrien mitbrachten.

"Mein eindrücklichstes Erlebnis hatte ich mit einem Mann, der mir ein Foto
seiner Familie zeigte - eine glückliche junge Familie. Vor mir aber saß ein
alter Mann mit grauen Haaren. Er erzählte mir, dass er sie im Bombenhagel von
Aleppo verloren hat." Ihre Stimme stockt, als die Ehrenamtliche weitererzählt:
"Sein Baby ist mit abgerissenen Armen in seinen Armen gestorben. Über Nacht sind
seine Haare grau geworden."
Auch Fuchs-Schacherbauer hat einen guten Eindruck von dem, was Lokalpolitiker
leisten. "Unser Bürgermeister hat sich dafür eingesetzt, dass die Menschen vor
Ort menschenwürdig versorgt werden, dass Toiletten aufgestellt werden und dass
es Strom und Wasser gab. Der Landrat hat dafür gesorgt, dass die Absprachen
zwischen Österreich und Deutschland besser funktionieren", schildert die
Ehrenamtliche.

Hier kommen 2500 Flüchtlinge pro Tag an

Inzwischen ist das Aufnahmelager in Neuhaus am Inn aufgelöst.


Fuchs-Schacherbauer kritisiert, "dass es nach wie vor an der Kommunikation
mangelt. Uns sagt keiner, ob es so bleibt, deshalb lösen wir den Helferkreis
jetzt auch noch nicht auf."

Doch die Probleme haben sich für die Helfer nur verschoben. Täglich weist die
Bundespolizei Hunderte von Flüchtlingen ab und setzt damit Dublin III wieder
konsequent um. Fuchs-Schachenbauer: "In Passau gibt es wieder Ärger, da die
Flüchtenden nun zwischen Feldkirchen bei Straubing und Passau hin und her
gefahren werden und es nach wie vor kein Zelt in Passau gibt", so die
Ehrenamtliche.

"Abgewiesene Flüchtlinge, die ins österreichische Schärding zurückgeschickt


werden, werden dort in einem Aufnahmezelt erfasst und dann auf die Straße
gestellt - ohne zu wissen, wohin", klagt sie. Während die Solidarität in Passau
ungebrochen sei - selbst nach den sexuellen Übergriffen durch Migranten in Köln
-, beobachtet sie mit Schrecken, wie jenseits der Grenze mit den Menschen
umgegangen wird.

Einen der Gründe für die Solidarität in der Flüchtlingskrise sieht die
Fuchs-Schachenbauer in den Hochwassern der Vergangenheit; zuletzt 2013, als ganz
Passau unter Wasser stand: "Natürlich gibt es auch bei uns verschiedene
Meinungen zu dem Thema Flüchtlinge", gesteht sie ein. "Aber ich glaube, dass die
Bevölkerung bei uns durch das Hochwasser immer wieder Solidarität gezeigt und
erlebt hat und die Menschen hier nun einfach anpackten und halfen, weil sie die
konkrete Not der Flüchtlinge sahen - dadurch nahm man Menschen die Macht, die
dagegen marschieren wollten."

In ihren Augen ist Pegida ein Thema des Ostens: "Ich finde das schade, denn ich
kann mich noch sehr gut an die Züge aus dem Osten erinnern, die vor 25 Jahren in
Passau gelandet sind. Damals wurden diese Menschen genauso freundlich begrüßt
wie heute die Flüchtlinge."

Landrat Meyer ist mit der Situation im Moment zwar zufriedener als noch vor ein
paar Monaten. Doch er warnt: "Im Moment kommen jeden Tag weiterhin 2500 Menschen
bei uns an. Rechnet man das hoch, sind das in einem Jahr wieder 900.000." Sein
Landkreis scheint darauf vorbereitet - doch ist es auch Deutschland?

UPDATE: 23. Januar 2016

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Sonntag 24. Januar 2016 11:10 AM GMT+1

Ökonomische Folgen;
Warum Flüchtlinge eine Last für die Wirtschaft sind

AUTOR: Thomas Exner

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1849 Wörter

HIGHLIGHT: Ja, ein Staat muss Menschen aus humanitärer Verantwortung aufnehmen.
Aber aus ökonomischer Sicht gibt es keine Argumente für offene Grenzen:
Deutschland droht über die Hilfe die Zukunft zu verspielen.

"Im besten Fall kann es auch eine Grundlage für das nächste deutsche
Wirtschaftswunder werden", orakelte Daimler-Chef Dieter Zetsche im vergangenen
September. Und der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau,
jubelte: "Das ist eine Riesenchance für das Land, die die Position Deutschlands
in der Weltwirtschaft und innerhalb Europas in den kommenden Jahrzehnten stärken
kann." Vielleicht hatte manch einer das Gefühl, dass die Hilfsbereitschaft der
Deutschen möglicherweise nicht von Dauer sein könnte, wenn sich dafür nicht auch
rationale Gründe finden lassen.

Konzernlenker und Ökonomen waren schnell mit Prognosen bei der Hand, wie sich
die massive Zuwanderung junger Flüchtlinge positiv auf das Land auswirken werde.
Auf einen Schlag schienen sich Probleme wie der Facharbeitermangel oder die
zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft zu lösen. Inzwischen fallen die
Einschätzungen allerdings durchweg deutlich differenzierter und nüchterner aus.

Doch der Reihe nach. Wer wirtschaftlich über die Flüchtlingskrise diskutieren
will, kommt um die Frage der Kosten nicht herum. Und wie immer in der Ökonomie
gibt es die unterschiedlichsten Berechnungen. So veranschlagt das Ifo-Institut
allein die im vergangenen Jahr aufgelaufenen Kosten für die Flüchtlingshilfe auf
21 Milliarden Euro. Und auch der Noch-Präsident des Zentrums für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW), Clemens Fuest, kommt zu jährlichen Ausgaben in einer
ähnlichen Größenordnung, wenn man die Zuwanderung von rund 800.000 Menschen
unterstellt.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung


(DIW), betont dagegen die Chancen der Flüchtlingskrise. "Die zentrale Frage ist
nicht, ob die Flüchtlinge langfristig einen wirtschaftlichen Nutzen für
Deutschland bedeuten, sondern lediglich, wie schnell die Leistungen der
Flüchtlinge die zusätzlichen Ausgaben übertreffen", schreibt er in einer Studie.
Doch eine langfristige Betrachtung, wie Fratzscher sie anstellt, braucht
natürlich jede Menge Annahmen. Beispielsweise jene, wie lange es dauern wird,
bis die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert sind.

Verteilungsdiskussionen drohen
Sicherer sind deshalb Berechnungen der kurzfristigen Kosten. Und die sind nicht
unerheblich. Für jeden Flüchtling muss der Staat zunächst rund 1000 Euro pro
Monat ausgeben, für die Unterkunft, die Versorgung und die Betreuung in einem
Aufnahmelager. Erhalten die Neuankömmlinge ein Bleiberecht, ändert sich zwar ihr
rechtlicher Status. An den Ausgaben des Staates ändert sich aber zunächst wenig,
wenn ein Flüchtling nicht rasch eine Arbeitsstelle findet.

Die Leistungen erfolgen dann nur nicht mehr nach dem


Asylbewerberleistungsgesetz, sondern nach dem Sozialgesetzbuch. Nach
Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) werden in diesem Jahr
ungefähr 1,2 Millionen Flüchtlinge Sozialleistungen beziehen. Allein das
summiert sich voraussichtlich auf rund 14 Milliarden Euro, weitere fünf
Milliarden Euro dürften nach IW-Schätzungen hinzukommen für Kurse zur
Sprachförderung, Integration und Qualifizierung. Das macht unter dem Strich rund
19 Milliarden Euro - eine Summe, die ungefähr der Hälfte der gesamten
Hartz-IV-Ausgaben des Jahres 2014 entspricht.

Die meisten Experten glauben zwar, dass Deutschland diese Summe auch 2016
weitgehend ohne zusätzliche Neuverschuldung aufbringen können wird, spätestens
ab dem kommenden Jahr dürfte es aber eng werden. Der IWF beispielsweise
erwartet, dass die Verschuldung Deutschlands im Jahr 2020 wegen der
Flüchtlingskrise um knapp 0,8 Prozentpunkte höher ausfallen wird. Auch dies wäre
angesichts der vergleichsweise soliden Finanzsituation des Landes kein
Beinbruch, zeigt aber, dass es über kurz oder lang zu einer
Verteilungsdiskussion kommen wird.

Schon jetzt warnt der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie
(BDI), Ulrich Grillo, davor, die Zukunftsfähigkeit des Landes aus den Augen zu
verlieren: "Wir dürfen nicht nur an die Finanzierung der Flüchtlingskrise
denken." Denn die Haushaltsüberschüsse, die in die Bewältigung der
Flüchtlingskrise gesteckt werden, stehen für Investitionen in die Infrastruktur,
die Bildung und den digitalen Umbau des Landes eben nicht zur Verfügung. Der
renommierte Ökonom Thomas Straubhaar sieht zudem die Gefahr, dass die
Bewältigung der Flüchtlingskrise möglicherweise auf Jahre hinaus sämtliche
politische Kraft absorbiert.

Problem im Niedriglohnsektor

Unwahrscheinlich ist dies nicht angesichts der gewaltigen Dimension der Aufgabe
und der zunehmenden gesellschaftlichen Konflikte. Für die ökonomische Zukunft
des Landes insgesamt wäre dies eine Katastrophe. Denn die Weltwirtschaft erlebt
gerade einen disruptiven Wandel. Am Ende könnten die Dinge, die man nicht getan
hat, sogar wesentlich gravierendere wirtschaftliche Folgen haben als die
direkten Kosten der Flüchtlingshilfe.

Auch die Hoffnung, dass der Flüchtlingszustrom die bestehenden Engpässe am


Arbeitsmarkt merklich und rasch lindern könnte, zerschlägt sich mehr und mehr.
Wer davon ausgehe, angesichts des Fachkräftemangels werde die Integration in den
deutschen Arbeitsmarkt quasi zum Selbstläufer, sei naiv, erklärt etwa die
IWF-Ökonomin Enrica Detragiache. Das hängt auch mit der Herkunft der in
Deutschland ankommenden Menschen zusammen.

Immigranten aus Afghanistan, dem Iran, Irak, Syrien, Somalia, Eritrea und dem
ehemaligen Jugoslawien sind nach Angaben einer aktuellen Studie des
Internationalen Währungsfonds im Schnitt schlechter qualifiziert als die
heimische Bevölkerung oder andere Migranten. Gerade für die deutsche Wirtschaft,
die in besonders hohem Maße Fachkräfte benötigt, ist das ein Problem. Schon
jetzt stehen 1,2 Millionen Arbeitslosen, die einen einfachen Job suchen, nur
110.000 offene Stellen mit niedriger Qualifikation gegenüber.

Legt man die in Schweden gemachten Erfahrungen zugrunde, werden zunächst nur
etwa 20 Prozent der im vergangenen Jahr zugewanderten erwerbsfähigen Flüchtlinge
einen Arbeitsplatz finden. Nach Berechnungen des IW bedeutet dies, dass in
diesem Jahr lediglich 100.000 Flüchtlinge einen Arbeitsplatz finden werden - und
dies trotz einer historisch günstigen Situation am deutschen Arbeitsmarkt. Die
Mehrzahl wird für längere Zeit arbeitslos bleiben.

Mehr als ein Schönheitsfehler

In den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) wird sich dies, aufgrund
der langen Bearbeitungszeiten der Asylfälle, aber erst ab dem zweiten Halbjahr
2016 bemerkbar machen. BA-Chef Frank-Jürgen Weise geht im Jahresschnitt derzeit
von 130.000 zusätzlichen arbeitslosen Flüchtlingen aus.

Das IW rechnet hingegen in diesem Jahr mit 280.000 zusätzlichen Arbeitslosen,


2017 sollen es dann 235.000 arbeitslose Flüchtlinge mehr sein - wenn die Zahl
der Neuankömmlinge, wie in der Studie unterstellt, in diesem Jahr tatsächlich
auf 600.000 zurückgehen sollte.

Sollte sich die bislang stabile wirtschaftliche Situation in Deutschland


verschlechtern, wären natürlich auch alle Berechnungen Makulatur. Betroffen
wären von einer schwächeren Konjunktur überproportional häufig gering
qualifizierte Jobs. Die Arbeitslosigkeit unter den Zuwanderern dürfte dann
merklich höher ausfallen.

Dass der feine Unterschied zwischen Flüchtlingen und einer gesteuerten Zu- oder
Einwanderung oft übersehen wurde, ist mehr als ein kleiner Schönheitsfehler.
Denn Flüchtlinge kommen aufgrund von Bedrohungen oder existenzieller Gefahr,
nicht weil sie aus eigenem Antrieb ein neues Leben anfangen wollen oder für ihre
Qualifikation und persönliche Berufsplanung bessere Möglichkeiten in einem
fremden Land sehen. Sie sind weder von ihrem Wissen noch mental vorbereitet auf
das Leben an einem anderen Ort oder gar in einer fremden Kultur.

Und das hat erhebliche ökonomische Folgen. So kommt der IWF in einer Studie zu
dem Ergebnis, dass Flüchtlinge in Australien "in den ersten zehn bis 15 Jahren
netto einen negativen finanziellen Einfluss auf ein Land" haben, während
Wirtschaftsflüchtlinge - über die in Deutschland oft mit einer negativen
Konnotation gesprochen wird - "einen positiven Beitrag leisten". Auch die in
Deutschland gemachten Erfahrungen geben Anlass zu einer gehörigen Portion
Skepsis. In keinem anderen Land der Industrieländerorganisation OECD war in der
Vergangenheit der negative Finanzeffekt von Flüchtlingen so groß wie in
Deutschland. Wir sind in der Integration von Neuankömmlingen eben keine
Weltmeister.

Mindestlohn muss durchdacht werden

Dies hat auch damit zu tun, dass die Politik, aber auch die Bürger bisher nicht
anerkennen wollen, dass sich bei einer Zuwanderung solchen Ausmaßes für alle
etwas ändern muss. Wenn möglichst viele Flüchtlinge möglichst rasch in Lohn und
Brot gebracht werden sollen, müssen die Einstiegshürden für sie gesenkt werden.
Das stellt zum Beispiel den gerade eingeführten Mindestlohn infrage. Würde man
ihn nur für die Flüchtlinge aussetzen, wären Verdrängungseffekte für bisher in
Niedriglohnjobs Beschäftigte unausweichlich.

Die Marktlogik verlangt, dass der Mindestlohn für alle neu durchdacht werden
muss. Wahrscheinlich müsste er für alle sinken, auf jeden Fall dürfte er aber
nicht weiter steigen. Nur, das will niemand. Schon allein deshalb, weil es die
Stimmung gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen wahrscheinlich weiter
verschlechtern würde. Was aber passiert, wenn man seine starren Regeln trotz des
millionenfachen Zustroms neuer Arbeitskräfte einfach beibehält, haben wir nach
der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland sehen können. Das Resultat
waren fünf Millionen Arbeitslose.

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir noch nicht einmal, wie lange die
Neuankömmlinge tatsächlich bei uns bleiben wollen und werden. Die Gefahr von
Fehlsteuerungen ist in einer solchen Situation groß. Das gilt zum Beispiel für
den Bau von Wohnungen für Flüchtlinge. Die vielen Flüchtlinge brauchen schnell
Unterkünfte, die dann zwangsläufig schnell geplant und mit einem eher
rudimentären Ausstattungsstandard versehen sind.

Nur Moral und Menschlichkeit

Doch wer möchte in diesen Wohnungen leben, wenn ein Großteil der Flüchtlinge
nach einigen Jahren vielleicht doch wieder geht? Wer übernimmt dann die
Arbeitsplätze, für die wir möglicherweise jahrelang mit großem Aufwand
Flüchtlinge geschult und ausgebildet haben? Alternative Bewerber könnten
Mangelware sein. Denn wer sorgt noch für ein modernes und an den Bedürfnissen
Deutschlands ausgerichtetes Einwanderungsrecht, wenn die Akzeptanz von
Neuankömmlingen angesichts des Flüchtlingsstroms und der verbundenen Probleme
mehr und mehr schwindet?

Um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aus


humanitären Gründen aufzunehmen ist Pflicht eines jeden demokratischen Staates -
ganz nach seinen Kräften. Die Begründung hierfür kann jedoch nur in der Moral
und der Menschlichkeit liegen.

Sich ökonomische Vorteile aus einer solchen Fluchtbewegung auszurechnen täuscht


über die Realitäten hinweg. Vor allem aber lenkt es davon ab, die Weichen für
ein weiterhin prosperierendes Land richtig zu stellen. Dies wäre aber nicht nur
für den Wohlstand der Bürger, sondern auch für die Fähigkeit Deutschlands fatal,
künftig Kriegsflüchtlinge aufzunehmen.

UPDATE: 24. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 26. Januar 2016 11:55 AM GMT+1

Machtverlust;
Fünf Gründe, warum die Ära Merkel in Europa endet
AUTOR: Florian Eder

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1840 Wörter

HIGHLIGHT: Deutschland ist in Europa zusehends isoliert. Das liegt an


inhaltlichen Differenzen. Aber es liegt auch an der Person Angela Merkel: Sie
hat zu wenig Verbündete - selbst unter ihren eigenen Beamten.

Die Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) an Brüsseler Gipfeltagen waren


immer der Ort, an dem man als Reporter sein musste. Ein mächtiger Block von
Christdemokraten in Regierungsverantwortung kam gegen Mittag im Palais der
Königlichen Akademien zusammen, tagte, stritt sich, einigte sich. Die Dinge
waren oft entschieden, bevor ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs
überhaupt angefangen hatte. Die Christdemokraten traten dann, unter deutscher
Führung, in vielen Fällen mit ihrer Mehrheit im Kreis der Kollegen in stabiler
Gefechtsformation auf.

Deutscher Einfluss in Europa speist sich aus der Quelle wirtschaftlicher Kraft
und der Größe des Landes. Doch solches Gewicht allein hilft nicht in Brüssel.
Man muss auch dafür sorgen, diese Ressourcen in Gestaltungskraft zu verwandeln.
Doch bei eben dieser Transmission deutscher Macht ruckelt es, die
Bundesregierung tut sich schwer, die Geschicke des Kontinents maßgeblich zu
lenken. Für diesen schleichenden Verlust deutscher Durchsetzungskraft lassen
sich fünf Gründe erkennen.

1. Der Wähler bestraft die Mitte

Beim jüngsten Gipfel kurz vor Weihnachten lohnte sich das EVP-Treffen immer
noch. Es war viel Zeit, um mit Beratern von Oppositionsführern zu sprechen, über
Nicolas Sarkozys Comeback-Pläne etwa, es war Gelegenheit, sich von Vertretern
der EU-Kommission die Strategie in der Flüchtlingsfrage auseinandersetzen zu
lassen und von den Spaniern die Hoffnung auf Nach- und Einsicht ihres Volkes
wenige Tage vor der anstehenden Parlamentswahl. Entschieden wurde drinnen im
Saal der Chefs diesmal aber nichts, was den Ausgang des Gipfels entscheidend
prägen konnte.

Die Gruppe ist in letzter Zeit kleiner und kleiner geworden, dem Wählerwillen
geschuldet: Die Griechen haben vor einem Jahr eine Linksregierung gewählt, auch
aus der Wahl in Portugal ging schließlich eine linke Koalition hervor. Die
Finnen nahmen den Christdemokraten das Premierministeramt. Die Polen brachten
dann im Herbst eine rechtsnationale Regierung an die Macht.

Die spanischen Wähler haben Mariano Rajoy fast jede Chance auf eine weitere
Amtszeit genommen, sodass Angela Merkel bei künftigen Vortreffen ihrer
Parteienfamilie wohl die einzige Regierungschefin eines großen europäischen
Landes sein wird. Der Bundeskanzlerin kommen die gleichgesinnten Partner
abhanden. Das schwächt die Christdemokraten nicht nur zahlenmäßig, es nagt auch
an der Legitimation ihrer Politik.

2. Merkel gehen die Partner von der Fahne

Sofern diese Politik über Parteiprogramme hinaus überhaupt ein gemeinsames


Anliegen ist: Die Partner, die Angela Merkel noch hat, verweigern sich zunehmend
ihrer Führung. Die Kanzlerin und Viktor Orbán saßen im Dezember an einem
EVP-Tisch - die Vertreter der beiden Extrempositionen, was die Antworten auf die
Flüchtlingskrise angeht; von letzteren ist einzig Irlands Taoiseach Enda Kenny
in der Lage, EU-Politik maßgeblich zu beeinflussen.

Den Streit in der Flüchtlingspolitik können Parteierklärungen nicht verschwinden


machen, die grundsätzlich verschiedenen Positionen überdauern nach Kompromiss
und Fortschritt klingende Gipfel-Schlussfolgerungen. Auf keinen Teil der
europäischen Lösung, an der Merkel und Juncker arbeiten, wollen sich Skeptiker
recht einlassen: Weder auf den Schutz der Außengrenze in EU-Verantwortung noch
auf ein Umsiedlungsprogramm, das legale Migration erlauben würde. Hot-Spots,
Registrierungszentren unter EU-Kontrolle, sind auch nicht hilfreich, solange
sich halb Osteuropa weigert, die dort registrierten Migranten aufzunehmen.

Der Streit zwischen Merkel und Orbán belegt, dass der politische Kompass
zunehmend weniger nach Parteizugehörigkeit ausgerichtet ist, anders als etwa in
wirtschaftspolitischen Fragen, welche die auch nicht einfachen vergangenen Jahre
prägten. Es kommt noch viel mehr als in der Vergangenheit wieder auf regionale
Blöcke an: Die in der Migrationskrise erstarkte Visegrád-Gruppe vereint an der
Seite Orbáns rechtskonservative Polen, den Linkspopulisten Robert Fico aus der
Slowakei, den Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka aus Tschechien.

Das jüngste, sechs Stunden währende Treffen zwischen Orbán und Jaroslaw
Kaczynski, dem starken Mann hinter Polens Regierung, lässt ahnen, dass ihre
gemeinsame Vision eines illiberalen Staates Europa in diesem Jahr und darüber
hinaus noch arg beschäftigen wird. Gegen die Nichtumsetzung einer
Abfallrichtlinie hat Brüssel bewährte juristische Mittel. Gegen eine Politik,
die an den Grundfesten des Hauses Europa rührt, gibt es die nicht.

Der "Rechtsstaatsmechanismus", mit dem die Kommission den polnischen Reformen


von Verfassungsgericht und Fernsehen zu Leibe rückt, ist eine Form der
politischen Rüge, die sich bestens als ein weiteres Argument in die polnische
Erzählung einfügt, die EU sei unter deutscher Führung zu einem Bund von linken
Weichlingen verkommen. Die deutsche Europapolitik wird als Gegner angesehen.

3. Brüssel entwickelt eigenen Willen

Die Entwicklung, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Pendant


im Europäischen Parlament, Martin Schulz, derweil ihren Institutionen
aufgezwungen haben, steht nur vordergründig im Widerspruch zur Auflösung
hergebrachter Parteiallianzen. Eine politische EU-Kommission hat Juncker
angekündigt, und er löst das Versprechen ein, sehr zum Unbehagen der
Bundesregierung, die vor Weihnachten an EU-Abgeordnete schrieb, die Kommission
könne nicht beides sein, politische Akteurin und unparteiliche Hüterin der
Verträge. Junckers Politik ist nicht per se gegen Deutschland gerichtet, aber er
ruft auch nicht eben mal zum Zweck der Abstimmung in Berlin oder Paris an, bevor
er sich äußert.

Mehrheiten für das Programm der Kommission zu organisieren, ist in diesem


institutionellen Rahmen die vornehmste Aufgabe des Parlaments, auch gegen den
Widerstand des Rates. Es brauchte keine Änderung des EU-Vertrags, um die
Kommission in Richtung einer EU-parlamentarisch kontrollierten Regierung mit
einer "großen Koalition" aus Christ- und Sozialdemokraten im Rücken (und Nacken,
würden Parlamentarier hoffen) zu bewegen.

Es ist eine Mündigkeitserklärung, geboren aus politischem Instinkt und gestützt


auf die juristische Expertise zweier hochmögender Deutscher, wie den
Institutionen Beinfreiheit zu verschaffen sei: Klaus Welle, Generalsekretär des
Europäischen Parlaments, Vater der Spitzenkandidaten-Idee, und Martin Selmayr,
Junckers Kabinettschef. Beide sind Unionsleute, aber für beide ist die Berliner
CDU-Parteizentrale sehr fern.

4. Loyalität zu Brüssel, nicht zu Berlin

Sie haben ihren eigenen Kopf und lassen sich aus Berlin nicht gerne etwas
nahelegen. Selmayr wurde im vergangenen Jahr von Wolfgang Schäuble für seine
"kompetenzwidrige Einmischung" in die Griechenland-Verhandlungen mit
fraktionsöffentlichen Verwünschungen belegt: Als es wieder einmal Spitz auf
Knopf stand, hatte Selmayr als Junckers Leutnant Optimismus verbreitet und die
Finanzminister (die das weitere Rettungspaket bezahlen) unter Einigungsdruck
gesetzt.

Im letzten Dezember verschickte Selmayr sehr freundliche Zahlen zu einer


vermeintlichen erheblichen Reduzierung illegaler Einreisen in die EU, die einen
Erfolg türkischer Bemühungen zum besseren Grenzschutz belegen sollten, sich aber
nicht halten ließen. Für Berlin war das überaus kontraproduktiv. Die
Bundeskanzlerin braucht einen tatsächlichen Erfolg und wirkliches Bemühen der
Türkei, nachdem sie sich durch ihren Besuch bei Recep Tayyip Erdogan kurz vor
der türkischen Parlamentswahl so sehr exponiert hat: Hoher politischer Einsatz
erfordert eine tatsächliche Gegenleistung, und die kritische deutsche
Öffentlichkeit ließe sich kaum lange mit schon auf den zweiten Blick unhaltbaren
Zahlen täuschen.

Beide Szenen werfen ein Schlaglicht auf Selmayrs hochpolitische Instinkte, die
manchmal auch trügen können. Darüber hinaus aber auch auf die Loyalität
Deutscher, die in Diensten der EU stehen: Sie gilt, so soll es sein, dem
Dienstherrn, nicht der Regierung des Landes, das den Pass ausstellt. Loyalität
zum Dienstherrn EU, das gilt für Selmayr und für Welle.

Franzosen oder Italiener sind da weniger etepetete, wie eine Episode um Italiens
Ministerratspräsidenten Matteo Renzi zeigt. Ein Italiener war bis vor wenigen
Wochen dasjenige Mitglied von Junckers Kabinett, das mit Rechts- und
Migrationsfragen befasst war. Es kam zu wiederholten Meinungsverschiedenheiten
des Mannes mit seinem Chef Selmayr, wie Beteiligte berichten. Das kommt vor, und
was auch vorkommt in europäischen Institutionen, ist, dass der Ober den Unter
sticht. Dem Mann wurde ein anderes Kabinettsmitglied faktisch vor die Nase
gesetzt, woraufhin er das Kabinett verließ.

Matteo Renzi muss das Vorkommnis als kriegerischen Akt gewertet haben; sein
Europaminister jedenfalls nannte vor Journalisten die Behandlung des Landsmanns
in Brüssel "inakzeptabel", forderte die Benennung eines italienischen
Ersatzmanns, eine Forderung, die mit weniger Verve und mehr Diplomatie, in der
Sache aber unverändert, vom italienischen Fraktionschef der Sozialisten im
Europaparlament, Gianni Pittella, wiederholt wurde. Europäische
Flüchtlingspolitik wollen die Italiener von Italienern gemacht sehen.

Das Theater lässt die Italiener dumm dastehen, als wüssten sie sich nicht anders
als mit divenhaftem Krach zu helfen, wenn es längst zu spät dafür ist, sich
Einfluss zu sichern. Es folgt anderen Provokationen Renzis gegenüber Juncker -
und Merkel. Es ist der letzte Punkt, der deutschem Einfluss gefährlich werden
kann: Der Kanzlerin erwächst keine echte Konkurrenz für die Rolle als
Führungsfigur in der EU, und damit niemand, der satisfaktionsfähig Kompromisse
aushandeln kann.

5. Die Kanzlerin hat keine Konkurrenz

Renzi ist ein fähiger Politiker, der Italien kräftig aufmischt und dessen
Analyse zum Konkurrenzumfeld in Europa richtig ist: Es gibt unter den Chefs der
großen Länder im Europäischen Rat keine geborene Konkurrenz zu Angela Merkel als
Führungsfigur. François Hollande ist mit Frankreich ausreichend beschäftigt,
David Cameron will den Job nicht, Rajoy könnte den seinen bald los sein. Aber
auch Renzi hat noch keinen Hebel für die EU-Ebene gefunden.

Das Fehlen von Führung ist umso bedeutsamer, da die hergebrachte Definition
einer EU-Krise nicht mehr greift: Regierungen haben vor Beginn eines Gipfels
unterschiedliche Ansichten, drechseln Schlussfolgerungen, mit denen alle leben
können, und die Krise ist beigelegt. Die Flüchtlinge aber scheren sich nicht um
Brüsseler Papier: Es geht nicht nur um Beschlüsse, sondern um deren rasche
Umsetzung, ein schwacher Punkt der EU-Gipfel.

Auf eine europaweite Krise konnten sich immer alle Mitglieder des Europäischen
Rats gerade noch konzentrieren. Dann kommen die Terrorattacken in Paris, dann
bekommen die chinesischen Turbulenzen weltweite Ausmaße und bedrohen den
Wohlstand der EU. Dann kommt der neue Konfessionskrieg im Nahen Osten und stellt
eine Lösung für Syrien vehement infrage.

Dann kommt die Silvesternacht in Köln. Alles hat in dieser Krise mit allem zu
tun, nichts ist mehr in bearbeitbare Teile zerlegbar, ein Krisenmeer, und
niemand in Sicht, der die Fluten zu teilen vermag.

UPDATE: 26. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 26. Januar 2016 1:38 PM GMT+1

CEOs zur Flüchtlingskrise;


"Noch eine Million, und die Stabilität ist gefährdet"

AUTOR: Jan Dams und Sebastian Jost

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 3998 Wörter

HIGHLIGHT: Die Flüchtlingskrise beschäftigt auch die großen Konzerne. Die CEOs
von Deutscher Bank, Airbus und Siemens im Streitgespräch über die Probleme und
Chancen, die durch die Flüchtlinge entstehen.

Die Welt: Vor einem Jahr sprachen noch alle über Griechenland, nun erscheinen
Athens Finanzen als kleines Problem verglichen mit der Flüchtlingssituation, für
die keine europäische Lösung in Sicht ist. Ist Europa noch in der Lage, solche
Herausforderungen zu stemmen - oder auf dem Weg in den Zerfall?

Tom Enders: Ich war nie so besorgt über den Zustand Europas wie heute. Man sagt
immer so schön: Europa wächst an seinen Krisen. Aber wir haben nun eine
Kumulation von Krisen. Und momentan sind die Zentrifugalkräfte größer als die
Kräfte, die Europa zusammenhalten. Das ist sehr bedenklich.

Jürgen Fitschen: Wir erleben das Erstarken nationaler Egoismen. Das gab es so
bisher nicht und ist das Kardinalproblem für die Weiterentwicklung Europas. Es
geht nun um grundsätzliche Entscheidungen: Wie viel nationale Souveränität tritt
man ab, damit Europa sich weiterentwickeln kann? Wenn die Länder dazu nicht
bereit sind, läuft Europa Gefahr, wieder in die Kleinstaaterei zurückzufallen.

Welt: Gibt es nur die Alternative, mehr zu integrieren oder zurückzufallen? Kann
man nicht auch auf dem derzeitigen Niveau der EU stehen bleiben?

Joe Kaeser: Es gibt nur einen Weg, und das ist der Weg nach vorne. Unter einer
Krise versteht man normalerweise den Unterschied zu einem Normalzustand. Die
Frage ist, ob die Krise nicht der neue Normalzustand ist. Und die Antwort kann
nur eine weitere Integration sein, um den größten Wirtschaftsraum der Welt zu
einer echten Gemeinschaft zu machen.

Enders: Grundsätzlich stimme ich dem zu. Aber man muss realistisch sein: Mit
allen 28 EU-Staaten geht das auf absehbare Zeit nicht. Wir müssen daher
variabler werden. Jetzt sollten die Länder enger zusammenarbeiten, die zu
stärkerer Integration bereit sind - notfalls auch ohne die anderen.

Die Welt: Das ist die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, die immer
wieder kontrovers diskutiert wird. Ist jetzt die Zeit dafür gekommen?

Fitschen: In einigen Bereichen haben wir explizit die Möglichkeit


unterschiedlicher Geschwindigkeiten. In der Praxis kann dies aber zu
Schwierigkeiten führen. Wer will befinden, wer in welcher Klasse mitfahren darf?
Niemand möchte sich zurückgesetzt fühlen. Wir sollten auf die Institutionen
setzen, die wir heute haben. Wer abgeschottete Teilmärkte schafft, tut letztlich
allen weh, auch uns in Deutschland.

Enders: Natürlich wäre es wünschenswert, die Europäische Union in ihrer jetzigen


Form zusammenzuhalten. Da stimme ich Herrn Fitschen vollkommen zu. Aber man
braucht in einer solchen Situation, in der so viele Zentrifugalkräfte wirken,
auch einen Plan B. Ich leite ein stark deutsch-französisch geprägtes
Unternehmen, für das ein stabiles bilaterales Verhältnis unabdingbar ist. Beide
Länder bilden den Kern Europas. Wenn sich Paris und Berlin auseinanderdividieren
lassen, steht Deutschland wirklich weitgehend isoliert in Europa da.

Kaeser: Aber wenn man Deutschland isoliert, isolieren sich umgekehrt auch die
anderen. Und dann fehlt dem Zug die Lokomotive. Deutschland kann eine gewisse
Führungsrolle für sich in Europa beanspruchen. Wir tun gut daran klarzumachen,
dass die Deutschen Verantwortung übernehmen wollen und können.

Enders: Führung ja, aber bitte nicht unabgestimmt. Sowohl bei der Energiewende
als auch in der Flüchtlingskrise wirft uns der Rest Europas vor, ohne jegliche
Koordination vorangeprescht zu sein. Dann darf man sich natürlich auch nicht
wundern, wenn die Solidarität der anderen ausbleibt.

Fitschen: Eine Dominanz Deutschlands wollten die Gründungsväter der Europäischen


Union ja gerade verhindern. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Umgekehrt können
wir nicht in allen Fragen auf das schwächste Glied in der Kette warten. Derzeit
ist diese Balance offensichtlich nicht gegeben, gerade beim Thema Flüchtlinge
fühlt man sich von Deutschland eher gedrängt. Und wir sind ganz überrascht über
diese Tonlage und fragen uns: Sind wir denn nicht auch solidarisch gewesen?

Die Welt: In Deutschland mag man den Eindruck haben, dass man in der
Griechenland-Krise solidarisch war. Im Ausland wird das eher umgekehrt
wahrgenommen: Ist es für die europäische Balance vielleicht förderlich, dass
Deutschland nun einmal etwas von den anderen will?

Fitschen: Das ist zumindest ein Hinweis, etwas demütiger zu sein.

Enders: Das Problem ist doch, dass die alten Krisen nicht gelöst sind. Die
Häufung der Probleme bereitet mir Sorgen. Wir haben jahrelang über die südliche
Peripherie gesprochen. Nun bildet sich im Osten eine Art informeller Block. Und
das Flüchtlingsthema birgt die Gefahr, dass sich die Fronten eher weiter
verhärten und am Ende die EU der 28 Staaten ganz zerfällt.

Die Welt: Mit Großbritannien könnte bereits dieses Jahr der erste Stein aus der
Mauer brechen. Könnte ein "Brexit" der Auslöser für weitere Desintegration sein?

Kaeser: Jedenfalls sehen viele Briten Europa skeptisch. Und die vergangenen
Jahre scheinen ihnen oberflächlich betrachtet recht zu geben: Großbritannien
hatte seine Industrie komplett verloren und ganz auf Bereiche wie den
Finanzsektor gesetzt, die durch ihre eigenen Exzesse entzaubert wurden. Aber die
darauf folgende Konsolidierung war erfolgreich, der Dienstleistungssektor ist
gestärkt aus der Krise hervorgegangen, und sogar die Industrie kommt zurück. Da
kann man sich als Brite schon sagen: Geht doch - auch ohne mehr Europa.

Enders: Wenn man all die Krisen in Europa sieht, könnte man schon zu dieser
Ansicht gelangen. Aber das wäre ein Trugschluss. Ich hoffe sehr, dass die Briten
bei der Stange bleiben. Und wenn es gut läuft, werden einige ihrer durchaus
berechtigten und sinnvollen Forderungen erfüllt. Das kann sogar den Weg für eine
wirtschaftliche Liberalisierung in Europa ebnen.

Fitschen: Und das wäre sehr in unserem Interesse. Die Stellung Deutschlands in
Europa würde sich massiv verschlechtern, wenn Großbritannien nicht mehr dabei
wäre. Bei einem Austritt würde es nur Verlierer geben, das werden hoffentlich
auch die Briten einsehen. Glauben Sie denn, dass japanische Autohersteller
Fabriken in Großbritannien gebaut hätten, wenn sie nicht davon ausgegangen
wären, dass England Teil der EU bleibt? Mit Sicherheit nicht.

Kaeser: Rational betrachtet ist klar: Ein EU-Austritt würde einerseits


Großbritannien schaden - und umgekehrt würde auch Europa ohne die Briten unter
seinen Möglichkeiten bleiben. Dennoch ist der Ausgang des Referendums aus meiner
Sicht offen.

Die Welt: Wenn die Probleme in Europa zu groß werden, könnte am Ende tatsächlich
nur der kleinste gemeinsame Nenner übrig bleiben - etwa die in Großbritannien
durchaus populäre Vorstellung einer Freihandelszone de luxe. Ketzerisch gefragt:
Wäre das für die Wirtschaft nicht ausreichend?

Enders: In der Wirtschaft gibt es keinen Zweifel, dass der heutige gemeinsame
Markt eine weit überlegene Lösung ist. Wir können darüber diskutieren, warum es
nicht schneller vorangeht, zum Beispiel bei der Energieversorgung oder der
digitalen Infrastruktur. Aber wenn wir alles zurückdrehen und überall wieder
Grenzen einführen würden, wäre der wirtschaftliche Schaden enorm.

Kaeser: Die globalen Unternehmen könnten einen Zerfall des Binnenmarktes noch
vergleichsweise gelassen sehen, weil sie ohnehin in verschiedenen Regionen
unterwegs sind und ihre Ressourcen schnell von Europa nach Asien oder Amerika
verschieben können. Für einen Mittelständler sieht das oft ganz anders aus. Im
weltweiten Maßstab kann selbst ein starkes Deutschland auf Dauer nicht alleine
auf Augenhöhe mitspielen. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die europäische
Gemeinschaft zu erhalten. Dazu gehört es auch, schwächere Staaten zu
unterstützen - deshalb führt in Europa auch kein Weg an einer Transformation
vorbei.

Die Welt: Aber sehen Sie den politischen Willen dafür? Nicht nur in Deutschland
ist derzeit die Begeisterung gering, für andere Länder zu zahlen.

Kaeser: Es ist wichtig, dass man mal bestimmt, was rational notwendig ist - und
dann die Balance zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren findet.

Fitschen: Warum sind die Menschen in Deutschland bereit, beispielsweise die


Bremer über den Länderfinanzausgleich zu unterstützen, nicht aber die Griechen
oder Slowenen? Es gibt nur eine plausible Erklärung: Weil sie Ausländer sind.
Aber das ist doch ein äußerst schwaches Argument mit Blick auf das weitere
Zusammenwachsen von Europa!

Die Welt: Es mag schwach sein, aber es zieht im Moment.

Fitschen: Leider ja. Wenn wir diesen nationalen Egoismen den Raum lassen,
kriegen wir künftig große Probleme in Europa. Allerdings kann Solidarität nur
funktionieren, wenn die Empfängerländer auch sichtbare Anstrengungen
unternehmen, sich selbst zu helfen.

Enders: Vielleicht müssen wir Europa aber auch einfach noch etwas mehr Zeit
lassen, bis nationale Unterschiede keine Rolle mehr spielen. Bisher ist es den
Politik- und Wirtschaftseliten offenbar nicht gelungen, dem sprichwörtlichen
Mann auf der Straße ein echtes Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Unsereiner
argumentiert, dass wir Europäer uns weltweit nur behaupten können, wenn wir uns
zusammenschließen. Aber vielen Menschen liegt nun einmal die Sorge um ihren
Arbeitsplatz oder ihren Wohnort viel näher, gerade angesichts der momentanen
Flüchtlingssituation. Deshalb kann man nur eines tun: Wir müssen weiter erklären
und aufklären.

Die Welt: Fehlt es tatsächlich an Aufklärung - haben nicht viele Menschen in


Osteuropa und selbst in Deutschland das Gefühl, ihnen bringt Europa nichts?

Kaeser: Sicher ist das häufig die Wahrnehmung. Gerade hier in Deutschland geht
es uns im Moment ganz gut, die allermeisten können ganz zufrieden sein. Da ist
es verständlich, dass die Menschen wenig bereit sind, Einschnitte oder
Veränderungen hinzunehmen, nur um das Land noch wettbewerbsfähiger zu machen.
Das Risiko eines Abstiegs im globalen Wettbewerb wird dabei aber völlig
unterschätzt. Wir sollten einen ehrlicheren Dialog darüber führen, wie der
Wohlstand entstanden ist - und dass derjenige, der stehen bleibt, irgendwann
überholt wird.

Fitschen: Wer nur am heutigen Zustand festhalten will, versündigt sich an der
Zukunft. Denn die nächste Generation wird dann nicht mehr denselben Wohlstand
haben können, auch mit Blick auf die demografische Entwicklung. Deshalb müssen
wir uns an eine sich verändernde Welt anpassen, auch wenn das für manche
schmerzhaft ist.

Enders: Wir müssen allerdings auch aufpassen, dass die Veränderungen die
Menschen nicht überfordern. Das zeigt sich derzeit beim Flüchtlingsthema: Wenn
dieses Jahr wieder eine Million und mehr Menschen kommen sollten, wird das die
politische und soziale Stabilität in Deutschland gefährden. Das ist eine
besorgniserregende Entwicklung. Ich glaube, dass uns nicht mehr viel Zeit
bleibt, hier eine Lösung zu finden.

Die Welt: Die Bundesregierung wirbt seit Monaten vergeblich für eine andere
Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Glauben Sie, dass es je dazu kommt?

Enders: Nein, ich glaube nicht an eine europäische Lösung. Jedenfalls nicht in
dem Sinne, dass man Flüchtlinge über nationale Kontingente verteilen wird. Das
wird nicht funktionieren.

Fitschen: Man kann die mangelnde Bereitschaft anderer Länder kritisieren, aber
man muss auch die unterschiedliche Ausgangslage sehen. Für uns in Deutschland
ist es vielleicht möglich, zehn Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe
bereitzustellen, ohne anderswo spürbare Abstriche machen zu müssen. In anderen
Ländern sieht es anders aus. Deshalb sollten wir auch nicht darauf pochen, dass
jedes Land ähnlich viel beitragen muss.

Enders: Ich würde sogar noch weiter gehen: Gerade weil wir in der Lage sind,
einige Milliarden Euro aufzubringen, sollten wir nicht unbedingt warten, bis
überhaupt ein europäischer Finanzierungsschlüssel gefunden ist. Deutschland
sollte hier notfalls auch allein vorangehen.

Fitschen: Dabei geht es nicht nur um eine europäische Lösung, wir müssen uns
auch mit den Fluchtursachen im Nahen Osten beschäftigen. Aus meiner Sicht war es
grundfalsch, dass man die finanzielle Unterstützung für Flüchtlingslager in
Jordanien und im Libanon gekürzt hat.

Die Welt: Die Finanzen sind das eine, aber viel schwieriger erscheint die rein
praktische Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Viele Menschen werden es nicht
akzeptieren, wenn sie die Turnhalle nebenan für eineinhalb Jahre an Flüchtlinge
abtreten sollen.

Kaeser: Ich stimme Ihnen zu, die Finanzfragen sind lösbar, beispielsweise über
einen europäischen Migrationsfonds, in den die Staaten je nach Wirtschaftskraft
einzahlen. Kritisch ist vor allem die soziale und gesellschaftliche Integration.
An den Reaktionen auf die Vorfälle in Köln können Sie sehen, wie angespannt die
Lage ist. Die Flüchtlingsfrage wird die Nagelprobe für Europa und besonders für
Deutschland.

Enders: Diese Silvesternacht hat riesige Auswirkungen. "Cologne" ist ein


Stichwort überall in Europa und sogar in den USA. So etwas gibt extremistischen
Kräften Auftrieb. In Frankreich ist die politische Lage jetzt schon viel
brisanter als in Deutschland. Der Front National war im ersten Wahlgang der
Regionalwahlen die stärkste Partei. Der Spielraum der französischen Regierung,
sich in der Flüchtlingssituation stärker zu engagieren, ist deshalb sehr
beschränkt.

Fitschen: Wir können nur hoffen, dass Köln ein Einzelfall bleibt. Wenn sich
solche Fälle wiederholen, dann bekommen wir ein vielleicht unlösbares Problem in
unserem Land, weil die gesellschaftliche Akzeptanz für die Flüchtlingspolitik
wegbricht. Und wenn diese Bilder durch Europa gehen, könnte das auch der letzte
Auslöser für einen Brexit sein.

Die Welt: Noch vor wenigen Monaten hatten sich die meisten Wirtschaftsvertreter
optimistisch gezeigt. Auch Ihr Chefvolkswirt, Herr Fitschen, pries die
Einwanderung als große Chance für Deutschland. Ist man da inzwischen
desillusioniert?
Fitschen: Wenn es gut geht mit der Integration, dann wird das natürlich positive
Effekte haben. Angesichts unserer demografischen Lage brauchen wir Einwanderung.
Aber es muss kontrolliert geschehen. Und wir sollten jetzt Geld in die Hand
nehmen, um diese jungen Leute möglichst schnell zu integrieren, etwa mit einem
großen Ausbildungsprogramm. Wenn diese Menschen erst ein, zwei Jahre ohne
Perspektive sind, dann ist es oft zu spät.

Enders: Dafür brauchen wir auch einen flexibleren Arbeitsmarkt, als wir ihn
heute haben. Hier ist die Bundesregierung in den vergangenen Jahren in die
falsche Richtung marschiert.

Fitschen: Völlig richtig. Wenn die Flüchtlinge zunächst nur relativ schlecht
bezahlte Jobs finden, sollten wir das nicht von vornherein als Umgehung des
Mindestlohns kritisieren. Wir müssen klarmachen, dass die Integration in den
Arbeitsmarkt einen hohen Stellenwert hat.

Die Welt: Und mit einem Ausbildungsprogramm und Ausnahmen beim Mindestlohn wird
die Flüchtlingswelle zum wirtschaftlichen Erfolg?

Enders: Manche erste Stellungnahme aus der Wirtschaft war sicher zu euphorisch.
Mittlerweile dämmert es allen, dass der Facharbeitermangel kurz- und
mittelfristig nicht durch die Flüchtlinge ausgeglichen werden kann. Etwa 80
Prozent von ihnen haben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit keinen Berufs-
oder Studienabschluss. Das zeigt, wie gewaltig die Aufgabe ist. Und das ist ein
weiterer Grund, warum dieser Flüchtlingsstrom nicht einfach so weitergehen kann.
Wir werden alle Hände voll zu tun haben, die eine Million Menschen aus dem
vergangenen Jahr zu qualifizieren und sie in Lohn und Brot zu bringen.

Die Welt: Viele wollen die Zahl der Flüchtlinge senken. Aber wie soll das in der
Praxis geschehen?

Kaeser: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das sehr deutlich die Richtung
vorgibt. Es gibt zwei Arten von Migranten: Menschen aus Krisengebieten, die um
ihr Leben fürchten, müssen wir helfen und aufnehmen. Wirtschafts- und
Wohlstandsmigranten können dagegen erst kommen, wenn wir sie benachrichtigen,
dass wir sie jetzt brauchen. Das muss man deutlich machen.

Die Welt: Das alleine wird vielen Menschen in Deutschland nicht ihre Sorge
nehmen. Sie fragen sich: Was, wenn jemand zwar als Kriegsflüchtling kommt - sich
dann aber doch so verhält wie die Grapscher von Köln?

Kaeser: Wer in unserem Land bleiben will, muss auch die Regeln hier befolgen,
das gilt auch für Kriegsflüchtlinge. Wer das nicht möchte, weil er andere
moralische oder religiöse Werte hat, für den ist unser Land vielleicht dann
nicht das richtige. Wenn wir das verständlich artikulieren, wird diese Botschaft
in den Herkunftsländern der Menschen auch ankommen. Mit einer klaren Regelung
und deren Umsetzung könnte die Regierung auch dem Eindruck entgegenwirken, sie
habe die Lage nicht mehr unter Kontrolle.

Die Welt: Im Bemühen um mehr Kontrolle könnten bald auch Schlagbäume in Europa
zurückkehren. Eine Horrorvision für die Wirtschaft?

Enders: Sicher begrüßt jedes europäische Unternehmen offene Grenzen. Aber wir
werden um gewisse Grenzkontrollen nicht herumkommen. Dass eine Grenzsicherung im
Moment gar nicht möglich erscheint, hat viele Bürger tief schockiert, mich
eingeschlossen. Sie können den Menschen nicht vermitteln, warum die Türkei 8000
Kilometer maritime Grenzekontrollieren soll, wenn wir uns nicht mal in der Lage
sehen, die Grenze zu Österreich zu kontrollieren, wenn wir das wollten. Die
Menschen nehmen da einen Kontrollverlust wahr, das ist hoch gefährlich für die
Stimmungslage.

Fitschen: Ich stimme zu, dass die Lage wieder kontrollierbar werden muss. Aber
letztlich wollen wir doch alle auch weiterhin die Freiheiten im Schengen-Raum
genießen. Das setzt voraus, dass wir die Außengrenzen sichern. Dafür haben wir
bisher zu wenig getan. Wir haben etwa die Griechen, die in diesem Bereich
Hervorragendes geleistet haben, viel zu wenig unterstützt.

Kaeser: Auch ich bin für mehr Kontrolle in dieser Situation. Gleichzeitig ist es
richtig und wichtig, dass wir auch weiterhin Verantwortung übernehmen. Es gibt
kein Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg so sehr von der Globalisierung
profitiert hat und dadurch reich und wohlhabend wurde. Bisher ging diese
Globalisierung nur in eine Richtung: Deutschland exportierte in andere Länder,
auch nach Syrien oder in den Irak. Jetzt kommt diese Globalisierung in unsere
Richtung. Deshalb haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung, Migration
zu adressieren. Man kann nicht nur die Vorteile mitnehmen und die
Begleitumstände ignorieren.

Die Welt: Ökonomen diskutieren, ob die Globalisierung gerade an wirtschaftlichem


Reiz verliert, vor allem durch das geringere Wachstum in China. Waren die
dortigen Börsenturbulenzen Anfang des Jahres der Vorbote für Schlimmeres?

Kaeser: Mir machen die geopolitischen Turbulenzen derzeit mehr Sorgen als die an
den chinesischen Börsen. Schwankungen am Kapitalmarkt sind ein vorübergehendes
Phänomen. Darüber hinaus gibt es in China sicher auch strukturelle Probleme. Die
Regierung in Peking hat vor Jahren die richtigen Reformen geplant, um das Land
stärker auf Hightech-Industrien auszurichten. Diese Reformen wurden aber
verzögert , um zu große soziale Verwerfungen zu vermeiden. Dieser Reformstau
belastet China derzeit.

Fitschen: Die Herausforderungen für Chinas Industrie sind seit Jahren bekannt.
Aber die Wirtschaft wächst immer noch zwischen sechs und sieben Prozent pro
Jahr. Die jetzige Aufregung beruht auf den Turbulenzen an den Kapitalmärkten.
Was dabei völlig vernachlässigt wird: Die Börse in Shanghai korreliert weitaus
weniger mit der realen Wirtschaftstätigkeit, als man das aus Frankfurt oder New
York kennt.

Die Welt: Die Hedgefonds-Größe George Soros hat die Situation in China gerade
mit der Finanzkrise des Jahres 2008 verglichen. Selbst wenn man das für
übertrieben hält: Bilden eine Kreditblase, ein Immobilienboom und unregulierte
Schattenbanken nicht einen gefährlichen Cocktail in dem Land?

Fitschen: Sicher müssen manche Entwicklungen in China korrigiert werden. Und


weil die Währung des Landes inzwischen ein Stück weit liberalisiert ist, sind
die Lösungen für solche Probleme nicht einfacher geworden, weil das Land nicht
mehr in einem geschlossenen System operiert. Aber wir sollten Respekt dafür
haben, dass China schon 2008 in der Finanzkrise und auch in den letzten Jahren
nicht am Abwertungswettlauf teilgenommen hat, mit dem man die heimische
Wirtschaft auch hätte entlasten können.

Enders: Die Luftfahrt ist durchaus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in China -


und wir haben dort vergangenes Jahr so viele Aufträge verzeichnet wie noch nie.
Der Luftverkehr ist wieder um zehn Prozent gewachsen. Zudem haben wir dort in
unserer A320-Endmonage so viele Flugzeuge produziert wie nie zuvor. Insofern
sehe ich keinen Grund für übertriebene Besorgnis, zumindest nicht in den
industriellen Sektoren.

Kaeser: Wir wachsen noch in China, wenn auch nicht mehr so stark wie in den
Sturm -und Drangjahren, als sehr viel in Infrastruktur investiert wurde. Aber es
ist ein anderes Wachstum als bisher. China importiert nicht mehr nur, sondern
baut mehr und mehr lokale Wertschöpfung auf.

Die Welt: Funktioniert das deutsche Exportmodell denn noch, wenn China und
andere Schwellenländer langsamer wachsen und wichtige europäische Handelspartner
wohl noch auf Jahre stagnieren werden?

Fitschen: Vielleicht sollten wir uns nicht immer nur an unserem Exportüberschuss
berauschen. Überschussländer tragen ebenso zu globalen Ungleichgewichten bei wie
die, die ein großes Defizit einfahren. Wenn wir also etwas weniger abhängig
werden vom Export und dieses Jahr vor allem dank einer stärkeren Binnennachfrage
zwei Prozent Wachstum erreichen würden - was übrigens die Deutsche Bank für 2016
erwartet -, wäre das eine durchaus gute Botschaft.

Kaeser: Grundsätzlich ja, allerdings dürfen wir nicht übersehen, wie viele
Arbeitsplätze in Deutschland am Export hängen. Deshalb müssen wir es schon ernst
nehmen, wenn wir hier an Boden verlieren sollten. Wir müssen uns neuen
Herausforderungen wie der Digitalisierung stellen. Das Internet eliminiert die
schwachen Teile vieler Wertschöpfungsketten und zwar rasend schnell.

Enders: Die deutsche Wirtschaft genießt im Moment eine Menge Rückenwind, durch
den schwachen Euro und das billige Öl. Das kann sich aber schnell ändern,
weshalb wir uns nicht zurücklehnen dürfen. Wir als Unternehmen müssen unser
Innovationstempo erhöhen - man muss auch mal losmarschieren und ausprobieren,
wenn es noch kein Gesamtkonzept gibt. Und die Politik sollte den Kurs der
vergangenen Jahre beenden, der doch stark von Schönwettermaßnahmen geprägt war.

Die Welt: Nachdem wir heute über lauter Themen gesprochen haben, die vor einem
Jahr kaum jemand auf dem Schirm hatte: Versuchen Sie sich doch mal an Prognosen
für die kommenden zwölf Monate - worüber sprechen wir beim nächsten
"Welt"-Wirtschaftsgipfel?

Fitschen: Ich fürchte, viele Themen von heute werden uns dann auch noch
beschäftigen. Ich glaube nicht, dass wir das Flüchtlingsproblem schnell lösen
können. Ich würde mir aber wünschen, dass an den Krisenherden im Nahen Osten bis
dahin das eine oder andere geklärt werden konnte. Auch die Entscheidung über den
Brexit dürfte bereits dieses Jahr fallen. Das wird für Europa vielleicht der
wichtigste Tag der kommenden zwölf Monate. Insgesamt droht es ein turbulentes
Jahr zu werden angesichts der zahlreichen Herausforderungen.

Kaeser: In einem Jahr werden wir darüber sprechen, wie der neue amerikanische
Präsident oder die neue Präsidentin das Land in der Welt positionieren wird. Und
wir werden uns weiter den Kopf zerbrechen über geopolitischen Krisen und ihre
Folgen für Europa. Hier und da wird Griechenland wieder aufpoppen, wenn die
Journalisten gerade nichts über andere wesentliche Themen zu schreiben haben.

Enders: Ich bin mir sicher, dass es auch dieses Jahr wieder Entwicklungen geben
wird, die niemand auf dem Radarschirm hat. Und wir werden nach den
Präsidentschaftswahlen in den USA auf die wichtigen europäischen Wahlen im Jahr
2017 schauen - im Frühjahr in Frankreich, im Herbst in Deutschland. Die Themen
Flüchtlinge und Terrorismus werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Und ich
hoffe sehr, dass wir aus diesen Wahlen nicht mit mehr Friktionen zwischen diesen
beiden Ländern hervorgehen, sondern mit mehr Kohäsion. Das ist mein frommer
Wunsch zu Beginn dieses Jahres.

UPDATE: 26. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Dienstag 26. Januar 2016 2:00 PM GMT+1

Wehrbeauftragter;
Die kleinste und marodeste Bundeswehr aller Zeiten

AUTOR: Thorsten Jungholt

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1394 Wörter

HIGHLIGHT: Die Streitkräfte erreichen das Limit ihres Leistungsvermögens: Zu


diesem drastischen Ergebnis kommt der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht.
Er fordert eine Trendwende: "Die Truppe ist es leid."

Sein erster Besuch bei den Soldaten der Bundeswehr führte Hans-Peter Bartels in
die Lüneburger Heide. Der Wehrbeauftragte, im Mai 2015 vom Bundestag berufen,
entschied sich wenige Tage nach seinem Amtsantritt für eine Visite auf dem
Truppenübungsplatz Munster-Süd in Niedersachsen. Dort übte das
Panzergrenadierbataillon 371 für seine Aufgabe bei der Nato-Speerspitze, dem
neuen Krisenreaktionsverband zur Bündnisverteidigung.

"Nüchtern, präzise und eindrucksvoll", so schreibt Bartels nun in seinem ersten


Jahresbericht als Wehrbeauftragter, sei ihm von den Soldaten dort das
Hauptproblem der Bundeswehr vorgetragen worden, auf das er seitdem immer wieder
stoße: "Die Bundeswehr hat von allem zu wenig."

Für diese bittere Bilanz führt Bartels eine Fülle von Einzelbeispielen aus
Gesprächen mit Soldaten, schriftlichen Eingaben und Truppenbesuchen an. So habe
das besagte Panzergrenadierbataillon 15.000 Ausrüstungsgegenstände von 56
Verbänden aus der gesamten Bundeswehr ausleihen müssen, um für seinen Auftrag
voll ausgestattet zu sein. Dieses Material fehle nun an anderen Stellen.

Dem Wehrbeauftragten wurde bei seinen Truppenbesuchen von "existenziellen


Ausrüstungslücken" berichtet, die Einsatzbereitschaft, Übung, Ausbildung und "im
schlimmsten Fall Leib und Leben" der Soldaten im Einsatz gefährdeten.

Der Fehlbestand beginne beim Großgerät wie Panzerhaubitzen, Transportflugzeugen,


Hubschraubern oder Fregatten, und er reiche bis zu Schutzwesten,
Nachtsichtbrillen, Munition oder tauglichen Kampfstiefeln. Dem Bundesministerium
der Verteidigung bescheinigte Bartels, die Probleme zwar erkannt, aber noch
lange nicht abgestellt zu haben. So seien die Defizite bei den
Hauptwaffensystemen wie Panzern, Kampfjets und Transportflugzeugen nur "zu einem
geringen Teil behoben" worden.

Auch der Ersatzteilbedarf für altes Gerät sei weiter nicht gesichert. Und selbst
bei der grundlegendsten Versorgung der Soldaten mit persönlicher Ausrüstung
hapere es.

Nur ein Beispiel dafür: Beim Gebirgsjägerbataillon 232 waren 2015 von 522
eingeplanten Nachtsichtgeräten Typ Lucie lediglich 96 vorhanden. Von diesen 96
mussten 76 an andere Einsatzverbände abgegeben werden. Von den verbliebenen 20
Geräten waren 17 beschädigt und in Reparatur. Tatsächlich standen dem Bataillon
mithin drei Lucies zu Verfügung.

"Übe wie du kämpfst", so lautet die Vorgabe für die Ausbildung in der
Bundeswehr. Mit drei Nachtsichtbrillen von 522 gestaltet sich das eher
schwierig.

Das Abstellen solcher Mängel, so führt Bartels weiter aus, "gestaltet sich oft
unerklärlich langsam". Und wenn dann mal etwas in ausreichender Zahl vorhanden
ist, weise es gelegentlich Qualitätsmängel auf, wie beispielsweise bei den
dienstlich gelieferten Kampfstiefeln, die bei den Soldaten "Blasen und
Fußschmerzen" verursachten - weil im Vergleich zum Vorgängermodell eine
Billigvariante bestellt wurde. Fast alles käme "verspätet, verzögert, voller
Kinderkrankheiten, in zu geringer Stückzahl und teurer als geplant", so der
Wehrbeauftragte.

Mehr Aufgaben als jemals zuvor

Bei aller Detailtreue geht es Bartels in seinem Bericht um die großen Linien. So
zeigt er die gestiegenen Anforderungen an die Bundeswehr auf, um die
Notwendigkeit einer politischen Kehrtwende zu belegen: "Die Truppe ist es leid,
es fehlt zu viel. Die Bundeswehr ist an einem Wendepunkt, noch mehr Reduzierung
geht nicht." Schließlich würden die Aufgaben wachsen.

Nie zuvor in den 60 Jahren ihres Bestehens, so schreibt er, habe die Bundeswehr
"eine derartige Fülle unterschiedlicher Aufgaben und Einsätze" bewältigen
müssen: der verlängerte und ausgeweitete Einsatz in Afghanistan mitsamt dem
Erstarken der Taliban, die Russland-Ukraine-Krise mit der Wiederentdeckung der
Nato-Aufgaben zur Bündnisverteidigung, die Konflikte in Syrien, im Irak und in
Mali, ein Dutzend weitere Auslandseinsätze mit kleineren Kontingenten - und dazu
der Amtshilfeeinsatz der Streitkräfte in der Flüchtlingskrise in Deutschland,
der 2015 teilweise 8000 Soldaten beschäftigte.

Es sei sehr deutlich geworden, so fasst Bartels zusammen, "dass die Bundeswehr
in einigen Bereichen inzwischen ihr Limit erreicht, personell und materiell.
Hier ist politisches Nachsteuern dringend erforderlich." Die aktuelle
Einsatzbereitschaft der Streitkräfte werde der sicherheitspolitischen Lage
jedenfalls nicht gerecht, nötig sei eine "Vollausstattung".

Neben dem Thema der Mangelverwaltung bei der Ausrüstung sieht der
Wehrbeauftragte also auch Defizite beim Thema Personal. Die Streitkräfte seien
von 1990 (fast 600.000 Soldaten) auf eine Zielmarke von heute 185.000 Soldaten
geschrumpft. Diese Obergrenze werde aber nicht einmal erreicht, derzeit gebe es
nur 177.000 aktive Soldaten.

"So klein wie heute war die Bundeswehr niemals in ihrer Geschichte", schreibt
Bartels und fordert: "Die Debatte über Personalstruktur, Aufgaben und Umfang der
Bundeswehr (militärisch und zivil) muss geführt werden." Ohne Aufstockung, so
fürchtet der SPD-Politiker, drohe eine Überlastung der Streitkräfte in wichtigen
Bereichen.

Schon jetzt müsse ein Soldat teilweise die Arbeit von zwei oder drei Kameraden
erledigen. Oder er müsse in Auslandseinsätze aufbrechen, ohne zuvor die
erforderlichen Regenerationszeiten einhalten zu können. Vieles, so heißt es im
Jahresbericht, würde nur noch deshalb funktionieren, "weil Soldaten, wenn Not am
Mann war, sich Tage und Nächte um die Ohren geschlagen haben und weil sie
improvisiert und informelle Wege zum Ziel gefunden haben, wo Dienst nach
Vorschrift ins Nichts geführt hätte".

So lobenswert das sein möge: "Belastbarkeit findet dort ihre Grenzen, wo


permanente Überbelastung entsteht." In manchen Bereichen führt fehlendes
Personal sogar dazu, dass Fähigkeiten stillgelegt werden müssen. So kann das 1.
U-Bootgeschwader von sieben vorgesehenen Mannschaften derzeit nur drei stellen.

Auch die Zahl von Rettungsassistenten und Notfallsanitätern sei so "erschreckend


niedrig", dass manches Lazarettregiment keine Sanitäter mehr für die
Auslandseinsätze stellen könne. Der Fachkräftemangel betreffe zum Teil ganze
Laufbahnen, schreibt Bartels, "wie die Laufbahn der Feldwebel des allgemeinen
Fachdienstes und der Fachunteroffiziere in technischen und
informationstechnischen, aber auch sanitätsdienstlichen Verwendungen".

Das Fazit des Wehrbeauftragten zum Thema Personal: Obwohl die Truppe schon
Schwierigkeiten habe, "die vorhandenen Dienstposten mit qualifiziertem Personal
zu besetzen und die Personalstärke von 185.000 Soldaten tatsächlich zu
erreichen, ist die Frage zu stellen, ob diese angesichts des erweiterten
Aufgabenspektrums der Bundeswehr noch angemessen ist". Mit anderen Worten: Der
Wehrbeauftragte sieht Bedarf für eine Erhöhung der Obergrenze.

Kritik an "degenerierter Fehlerkultur"

Ausrüstung, Personal - man könnte diese Mängelliste nahezu beliebig erweitern.


Im rund 100 Seiten umfassenden Jahresbericht findet sich auch Kritik an der
teils maroden Infrastruktur der Liegenschaften, an überbordender Bürokratie,
fehlender Flexibilität und einer "degenerierten Fehlerkultur". Wer all das
liest, kann nur zu einem Ergebnis kommen: Die Bundeswehr ist nicht nur so klein,
sie ist auch so marode wie nie zuvor. "Drastisch" nannte Bartels das von ihm
gezeichnete Lagebild denn auch.

Seine wichtigste Botschaft ist deshalb folgende: Um alle diese Probleme


anzugehen, ist nach Meinung des Anwalts der Soldaten vor allem eines nötig,
nämlich mehr Geld im Wehretat. Eine "Bundeswehr nach Kassenlage" sei nicht
verantwortbar, der Wehrbeauftragte verlangt von der Regierung ein Konzept mit
Preisschildern: "Das Bundesministerium der Verteidigung sollte alle bestehenden
Lücken und Defizite identifizieren und benennen, damit sich der Deutsche
Bundestag ein Bild von dem notwendigen finanziellen Aufwand machen kann."

Zwar steigt der Verteidigungskostenanteil an der gesamten Wirtschaftsleistung


Deutschlands von 1,16 Prozent im Jahr 2015 auf 1,18 Prozent im Jahr 2016. Aus
diesem Etat aber fließen nur 14 Prozent in Materialbeschaffung. Nötig sind, so
sagen es Experten, etwa 30 Prozent. Und laut mittelfristiger Finanzplanung wird
der Anteil des Wehretats an der Wirtschaftsleistung bis 2019 sogar auf 1,07
Prozent absinken - das wäre dann das niedrigste Niveau in der Geschichte der
Bundeswehr.

"Damit", schließt Bartels, "wäre Deutschland von der Einhaltung der in der Nato
vereinbarten Zielvorgabe von zwei Prozent noch weiter entfernt als je zuvor."
UPDATE: 26. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Mittwoch 27. Januar 2016 9:47 AM GMT+1

Wehrbeauftragter;
Die kleinste und marodeste Bundeswehr aller Zeiten

AUTOR: Thorsten Jungholt

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1662 Wörter

HIGHLIGHT: Die Streitkräfte haben von allem zu wenig: Zu diesem drastischen


Ergebnis kommt der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht. Die
Verteidigungsministerin reagiert - und verspricht 130 Milliarden Euro.

Sein erster Besuch bei den Soldaten der Bundeswehr führte Hans-Peter Bartels in
die Lüneburger Heide. Der Wehrbeauftragte, im Mai 2015 vom Bundestag berufen,
entschied sich wenige Tage nach seinem Amtsantritt für eine Visite auf dem
Truppenübungsplatz Munster-Süd in Niedersachsen. Dort übte das
Panzergrenadierbataillon 371 für seine Aufgabe bei der Nato-Speerspitze, dem
neuen Krisenreaktionsverband zur Bündnisverteidigung.

"Nüchtern, präzise und eindrucksvoll", so schreibt Bartels nun in seinem ersten


Jahresbericht als Wehrbeauftragter, sei ihm von den Soldaten dort das
Hauptproblem der Bundeswehr vorgetragen worden, auf das er seitdem immer wieder
stoße: "Die Bundeswehr hat von allem zu wenig."

Für diese bittere Bilanz führt Bartels eine Fülle von Einzelbeispielen aus
Gesprächen mit Soldaten, schriftlichen Eingaben und Truppenbesuchen an. So habe
das besagte Panzergrenadierbataillon 15.000 Ausrüstungsgegenstände von 56
Verbänden aus der gesamten Bundeswehr ausleihen müssen, um für seinen Auftrag
voll ausgestattet zu sein. Dieses Material fehle nun an anderen Stellen.

Dem Wehrbeauftragten wurde bei seinen Truppenbesuchen von "existenziellen


Ausrüstungslücken" berichtet, die Einsatzbereitschaft, Übung, Ausbildung und "im
schlimmsten Fall Leib und Leben" der Soldaten im Einsatz gefährdeten.
Der Fehlbestand beginne beim Großgerät wie Panzerhaubitzen, Transportflugzeugen,
Hubschraubern oder Fregatten, und er reiche bis zu Schutzwesten,
Nachtsichtbrillen, Munition oder tauglichen Kampfstiefeln. Dem Bundesministerium
der Verteidigung bescheinigte Bartels, die Probleme zwar erkannt, aber noch
lange nicht abgestellt zu haben. So seien die Defizite bei den
Hauptwaffensystemen wie Panzern, Kampfjets und Transportflugzeugen nur "zu einem
geringen Teil behoben" worden.

Auch der Ersatzteilbedarf für altes Gerät sei weiter nicht gesichert. Und selbst
bei der grundlegendsten Versorgung der Soldaten mit persönlicher Ausrüstung
hapere es.

Nur ein Beispiel dafür: Beim Gebirgsjägerbataillon 232 waren 2015 von 522
eingeplanten Nachtsichtgeräten Typ Lucie lediglich 96 vorhanden. Von diesen 96
mussten 76 an andere Einsatzverbände abgegeben werden. Von den verbliebenen 20
Geräten waren 17 beschädigt und in Reparatur. Tatsächlich standen dem Bataillon
mithin drei Lucies zu Verfügung.

"Übe wie du kämpfst", so lautet die Vorgabe für die Ausbildung in der
Bundeswehr. Mit drei Nachtsichtbrillen von 522 gestaltet sich das eher
schwierig.

Das Abstellen solcher Mängel, so führt Bartels weiter aus, "gestaltet sich oft
unerklärlich langsam". Und wenn dann mal etwas in ausreichender Zahl vorhanden
ist, weise es gelegentlich Qualitätsmängel auf, wie beispielsweise bei den
dienstlich gelieferten Kampfstiefeln, die bei den Soldaten "Blasen und
Fußschmerzen" verursachten - weil im Vergleich zum Vorgängermodell eine
Billigvariante bestellt wurde. Fast alles käme "verspätet, verzögert, voller
Kinderkrankheiten, in zu geringer Stückzahl und teurer als geplant", so der
Wehrbeauftragte.

Mehr Aufgaben als jemals zuvor

Bei aller Detailtreue geht es Bartels in seinem Bericht um die großen Linien. So
zeigt er die gestiegenen Anforderungen an die Bundeswehr auf, um die
Notwendigkeit einer politischen Kehrtwende zu belegen: "Die Truppe ist es leid,
es fehlt zu viel. Die Bundeswehr ist an einem Wendepunkt, noch mehr Reduzierung
geht nicht." Schließlich würden die Aufgaben wachsen.

Nie zuvor in den 60 Jahren ihres Bestehens, so schreibt er, habe die Bundeswehr
"eine derartige Fülle unterschiedlicher Aufgaben und Einsätze" bewältigen
müssen: der verlängerte und ausgeweitete Einsatz in Afghanistan mitsamt dem
Erstarken der Taliban, die Russland-Ukraine-Krise mit der Wiederentdeckung der
Nato-Aufgaben zur Bündnisverteidigung, die Konflikte in Syrien, im Irak und in
Mali, ein Dutzend weitere Auslandseinsätze mit kleineren Kontingenten - und dazu
der Amtshilfeeinsatz der Streitkräfte in der Flüchtlingskrise in Deutschland,
der 2015 teilweise 8000 Soldaten beschäftigte.

Es sei sehr deutlich geworden, so fasst Bartels zusammen, "dass die Bundeswehr
in einigen Bereichen inzwischen ihr Limit erreicht, personell und materiell.
Hier ist politisches Nachsteuern dringend erforderlich." Die aktuelle
Einsatzbereitschaft der Streitkräfte werde der sicherheitspolitischen Lage
jedenfalls nicht gerecht, nötig sei eine "Vollausstattung".

Neben dem Thema der Mangelverwaltung bei der Ausrüstung sieht der
Wehrbeauftragte also auch Defizite beim Thema Personal. Die Streitkräfte seien
von 1990 (fast 600.000 Soldaten) auf eine Zielmarke von heute 185.000 Soldaten
geschrumpft. Diese Obergrenze werde aber nicht einmal erreicht, derzeit gebe es
nur 177.000 aktive Soldaten.
"So klein wie heute war die Bundeswehr niemals in ihrer Geschichte", schreibt
Bartels und fordert: "Die Debatte über Personalstruktur, Aufgaben und Umfang der
Bundeswehr (militärisch und zivil) muss geführt werden." Ohne Aufstockung, so
fürchtet der SPD-Politiker, drohe eine Überlastung der Streitkräfte in wichtigen
Bereichen.

Schon jetzt müsse ein Soldat teilweise die Arbeit von zwei oder drei Kameraden
erledigen. Oder er müsse in Auslandseinsätze aufbrechen, ohne zuvor die
erforderlichen Regenerationszeiten einhalten zu können. Vieles, so heißt es im
Jahresbericht, würde nur noch deshalb funktionieren, "weil Soldaten, wenn Not am
Mann war, sich Tage und Nächte um die Ohren geschlagen haben und weil sie
improvisiert und informelle Wege zum Ziel gefunden haben, wo Dienst nach
Vorschrift ins Nichts geführt hätte".

So lobenswert das sein möge: "Belastbarkeit findet dort ihre Grenzen, wo


permanente Überbelastung entsteht." In manchen Bereichen führt fehlendes
Personal sogar dazu, dass Fähigkeiten stillgelegt werden müssen. So kann das 1.
U-Bootgeschwader von sieben vorgesehenen Mannschaften derzeit nur drei stellen.

Auch die Zahl von Rettungsassistenten und Notfallsanitätern sei so "erschreckend


niedrig", dass manches Lazarettregiment keine Sanitäter mehr für die
Auslandseinsätze stellen könne. Der Fachkräftemangel betreffe zum Teil ganze
Laufbahnen, schreibt Bartels, "wie die Laufbahn der Feldwebel des allgemeinen
Fachdienstes und der Fachunteroffiziere in technischen und
informationstechnischen, aber auch sanitätsdienstlichen Verwendungen".

Das Fazit des Wehrbeauftragten zum Thema Personal: Obwohl die Truppe schon
Schwierigkeiten habe, "die vorhandenen Dienstposten mit qualifiziertem Personal
zu besetzen und die Personalstärke von 185.000 Soldaten tatsächlich zu
erreichen, ist die Frage zu stellen, ob diese angesichts des erweiterten
Aufgabenspektrums der Bundeswehr noch angemessen ist". Mit anderen Worten: Der
Wehrbeauftragte sieht Bedarf für eine Erhöhung der Obergrenze.

Kritik an "degenerierter Fehlerkultur"

Ausrüstung, Personal - man könnte diese Mängelliste nahezu beliebig erweitern.


Im rund 100 Seiten umfassenden Jahresbericht findet sich auch Kritik an der
teils maroden Infrastruktur der Liegenschaften, an überbordender Bürokratie,
fehlender Flexibilität und einer "degenerierten Fehlerkultur". Wer all das
liest, kann nur zu einem Ergebnis kommen: Die Bundeswehr ist nicht nur so klein,
sie ist auch so marode wie nie zuvor. "Drastisch" nannte Bartels das von ihm
gezeichnete Lagebild denn auch.

Seine wichtigste Botschaft ist deshalb folgende: Um alle diese Probleme


anzugehen, ist nach Meinung des Anwalts der Soldaten vor allem eines nötig,
nämlich mehr Geld im Wehretat. Eine "Bundeswehr nach Kassenlage" sei nicht
verantwortbar, der Wehrbeauftragte verlangt von der Regierung ein Konzept mit
Preisschildern: "Das Bundesministerium der Verteidigung sollte alle bestehenden
Lücken und Defizite identifizieren und benennen, damit sich der Deutsche
Bundestag ein Bild von dem notwendigen finanziellen Aufwand machen kann."

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen reagierte prompt. Aus ihrem Ressort
verlautete, die CDU-Politikerin wolle dem Verteidigungsausschuss des Parlaments
am Mittwoch ein Investitionspaket in Höhe von 130 Milliarden Euro vorstellen.
Dieses Geld soll nur in die Ausrüstung gesteckt werden. Die für die nächsten 15
Jahren geplanten Investitionen entsprechen fast einer Verdoppelung der bisher im
Wehretat dafür vorgesehenen Mittel. "Diese Verwaltung des Mangels, die muss
beendet werden", hieß es aus dem Ministerium.
Zum Vergleich: Bis 2019 sind bisher für militärische Beschaffung jeweils rund
fünf Milliarden Euro im Jahr eingeplant. Setzt sich von der Leyen mit ihren
Plänen durch, müssten diese Mittel auf im Durchschnitt knapp neun Milliarden
Euro pro Jahr nahezu verdoppelt werden. Für eine bessere Ausstattung der Truppe
will die Ministerin auch einen Teil der Bundeswehrreform von Thomas de Maizière
kippen. 2011 hatte ihr Vorgänger Obergrenzen für die Ausstattung der Bundeswehr
mit großen Waffensystemen wie Panzern oder Kampfflugzeugen festgelegt. Diese
sollen jetzt komplett gestrichen werden. Die Truppe soll je nach Lage und
Aufgaben ausgerüstet werden.

Von der Leyen muss sich mit Schäuble abstimmen

Noch allerdings sieht die Planung anders aus. Zwar steigt der
Verteidigungskostenanteil an der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands von
1,16 Prozent im Jahr 2015 auf 1,18 Prozent in diesem Jahr. Aus diesem Etat aber
fließen nur 14 Prozent in die Materialbeschaffung. Nötig sind, so sagen es
Experten, etwa 30 Prozent.

Und laut mittelfristiger Finanzplanung wird der Anteil des Wehretats an der
Wirtschaftsleistung bis 2019 sogar auf 1,07 Prozent absinken - das wäre dann das
niedrigste Niveau in der Geschichte der Bundeswehr. "Damit", so schreibt es
Bartels, "wäre Deutschland von der Einhaltung der in der Nato vereinbarten
Zielvorgabe von zwei Prozent noch weiter entfernt als je zuvor."

Von der Leyen muss ihre Pläne zur Aufstockung des Verteidigungshaushalts nun mit
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) abstimmen - und anschließend im Kabinett
durchsetzen. Über eine personelle Aufstockung der Truppe will sie dann im März
entscheiden. Klar ist schon jetzt: Auch mehr Soldaten werden nicht zum Nulltarif
zu haben sein.

UPDATE: 27. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 28. Januar 2016 1:51 PM GMT+1

Soziologe;
"Bei häuslicher Gewalt geht es um Machtausübung"

AUTOR: Claudia Sewig

RUBRIK: REGIONALES; Regionales


LÄNGE: 1589 Wörter

HIGHLIGHT: Für Torsten Heinemann sind die Silvestervorkommnisse kein Ausdruck


fremder Kulturen. Der Soziologie-Professor über Hintergründe sexueller
Übergriffe auf Frauen und notwendige Signale gegen die Täter.

Das Kabinett hat eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, wonach die
Ausweisung krimineller Ausländer erleichtert werden soll. Torsten Heinemann, 36,
Professor für Soziologie an der Universität Hamburg, spricht sich nach den
sexuellen Übergriffen auf Frauen in Hamburg ebenfalls für weiterreichende
Konsequenzen aus. Er beschäftigt sich mit sozialen Problemen und sozialer
Kontrolle und ordnet im Gespräch mit der "Welt" die Geschehnisse ein.

Die Welt: Bei acht der Tätern der Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in
Hamburg soll es sich, so gab es die Polizei bekannt, um Flüchtlinge und
Asylbewerber, die schon länger in Deutschland leben, handeln. Was bedeutet das
für unsere Gesellschaft - wie sehr ändert sich dadurch das Bild auf die
Asylsuchenden?

Prof. Torsten Heinemann: Das ist hoch problematisch, weil jetzt alle Flüchtlinge
unter einen Generalverdacht kommen. Es war ja ohnehin schon so, dass die
Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, zwar von einem Teil der Bevölkerung
willkommen geheißen wurden, aber dass zu einem großen Teil auch Skepsis bestand.
Das war also schon keine ganz unproblematische Situation von Anfang an. Mit
diesen Ereignissen verschärft sich das jetzt noch einmal, weil einige von denen
Straftaten begangen und sich völlig unangemessen verhalten haben. Damit bringen
sie alle Flüchtlinge in Verruf. Das ist eine explosive Mischung.

Die Welt: Was kann man tun, um diese Lage zu entspannen?

Heinemann: Ich finde es wichtig, genau hinzuschauen. Mich freut es, dass die
Medien da eine gute Rolle spielen, insbesondere, was die Einordnung dieser
Ereignisse angeht. Eine große Gefahr ist - die Kommentare liest man auch -, dass
es da um eine fremde Kultur geht oder dass da Kulturen aufeinander prallen. Man
muss aber sagen, dass es praktisch keine Kultur gibt, die diese Form von
sexueller Belästigung, von sexuellen Übergriffen, von Vergewaltigungen gut heißt
oder akzeptiert. Es mag Kulturkreise geben, wo das weniger geächtet ist, aber so
zu tun, als gäbe es eine Kultur, wo man die Frauen auf offener Straße
begrapschen und vergewaltigen kann, ist in meinen Augen falsch. Und man muss
vorsichtig sein, dass man nicht auf die Kulturschiene "Wir" gegen "Die anderen"
kommt. Natürlich haben die Flüchtlinge eine andere Kultur. Aber die Vorkommnisse
sind damit nicht zu begründen. Außerdem kommt dann noch der Eindruck hinzu, in
Deutschland gäbe es so etwas sonst nicht, unsere Kultur würde mit Frauen immer
ganz toll umgehen - was aber faktisch leider nicht der Fall ist. Auch bei uns
gibt es tägliche Diskriminierung von Frauen, auf verschiedenen Ebenen. Dies sind
zwar nicht immer tätliche Angriffe, aber qualitativ sind sie oft auch
dramatisch.

Die Welt: Welche meinen Sie damit konkret: Häusliche Gewalt? Diskriminierung im
Arbeitsumfeld?

Heinemann: Beides. Zum einen die häusliche Gewalt. Aber auch Vorkommnisse im
öffentlichen Raum: Da sieht man auch auf offener Straße immer einmal wieder,
dass Frauen bepöbelt oder aber ihnen nachgepfiffen werden. Von offenkundig
deutschen Männern - das ist Alltagssexismus, den es auch bei uns gibt. Der ist
in der Tat meistens nicht physisch, aber für Frauen unter Umständen genauso
unangenehm und kann auch ein Gefühl der Unsicherheit produzieren. Das andere ist
die strukturelle Diskriminierung am Arbeitsplatz, von sexistischen Anfeindungen
bis zu Benachteiligungen bei der Karriere und der Bezahlung. Da gibt es viele
Untersuchungen zu, dass das in Deutschland ein großes Problem ist.

Die Welt: Sehen Sie da Verbesserungen in den vergangenen Jahren?

Heinemann: Was ich wahrnehme entspricht eher einer Stagnation dieser Situation,
teils sogar mit Rückschritten. Im Prinzip hängt vieles noch an der
Familiengründung. Frauen sind häufig im Beruf noch erfolgreich, bis sie heiraten
und Kinder bekommen. Dann bricht es ab. Wenn man in den Wissenschaftsbereich
schaut, dann sind bis zur Promotion Frauen statistisch genauso viel, wenn in
viele Fächern nicht sogar häufiger vertreten als Männer. Guckt man dann eine
Ebene weiter, auf die Professuren, dann fällt der Frauenanteil extrem ab, auf
vielleicht noch zehn Prozent.

Die Welt: Zurück zu tätlichen Übergriffen: Was treibt Männer zu solchen Taten?

Heinemann: Häusliche Gewalt, die sehr gut untersucht ist, ist keine Frage von
Bildung oder Schicht. Hier geht es ganz klar um Machtausübung, um das
Stärkersein, ums Dominieren. Natürlich geht es meist gegen Frauen, aber in
erster Linie steht das Machtausüben. Wenn Kinder im Haus sind, richtet sich die
Gewalt ja oft auch gegen diese. Ich finde es durchaus richtig, dass wir diese
Gewalt im Kontext der Gewalt, die wir in der Neujahrsnacht erlebt haben,
diskutieren. Gleichzeitig sind die beiden dann doch noch ein Stück weit getrennt
zu betrachten, weil dort etwas anderes passiert. Die häusliche Gewalt findet
hinter geschlossener Tür statt, sozialpsychologisch spielen dort noch einmal
ganz andere Mechanismen eine Rolle. Was wir um Neujahr erlebt haben sind
Gruppen, die im öffentlichen Raum ein Verhalten gezeigt haben, was wir bisher
so, in dieser Massivität, in einer westlichen Demokratie noch nicht erlebt
haben.

Die Welt: Wie kann diese Gruppendynamik entstehen?

Heinemann: Eine Frage, die davor beantwortet werden müsste, ist die Vermutung
von Bundesjustizminister Heiko Maas, dass das Ganze orchestriert war. Wenn dem
so wäre, kommt da eine Dimension rein, die weniger mit Kultur oder männlichen
Rollenbildern zu tun hat, sondern in Zusammenhang mit der Reihe der
Terroranschläge mitdiskutiert werden müsste. Weil es so massiv, an vielen Orten
gleichzeitig geschehen ist, liegt der Verdacht wirklich nahe, dass die
Übergriffe nicht zufällig geschehen sind. Wenn man das aber erst einmal außen
vor lässt, muss man sagen, dass offenkundig verschiedene Sachen zusammenkommen.
Eins ist eine Frustration mit der Situation, die die Flüchtlinge hier erleben.
Sie kommen hier her, es wird von vielen Menschen eine Dankbarkeit von ihnen
erwartet, man kümmert sich um sie - und gleichzeitig erleben sie, dass es
trotzdem nicht das Paradies ist, dass es alles andere als einfach für sie ist,
dass sie nicht all das tun können, as sie gerne wollten. Und das führt natürlich
zu einer Frustration. Das kann sich immer mehr aufbauen und an einem Anlass, wie
etwa Neujahr, wenn die Gesellschaft, der es bei uns ja überwiegend gut geht, das
neue Jahr begrüßt, in Gewalt Bahnbrechen. Was allerdings auf keinen Fall als
Rechtfertigung für die Handlungen zu verstehen ist. Es gibt nichts, was solche
Gewalt und Kriminalität rechtfertigt.

Die Welt: Wie können wir als Gesellschaft jetzt damit umgehen?

Heinemann: Abschottung gegenüber den Flüchtlingen ist meines Erachtens nicht die
richtige Antwort. Das sieht man ja an anderen Ländern. Es ist ja nicht so, dass
etwa Dänemark, das einen harten Kurs in der Flüchtlingsfrage fährt, generell
weniger Probleme hat - abgesehen von den Übergriffen. Was ganz wichtig ist, ist,
die Verfahren in Deutschland einmal ganz wesentlich zu straffen. Diese
Unzufriedenheit entsteht ja auch aus den langen Wartephasen der Flüchtlinge.
Zweitens muss man den Punkt der Integration betrachten: Alle reden immer davon,
dass man die Flüchtlinge möglichst schnell integrieren müsste. Doch viele wollen
vielleicht gar nicht auf Dauer bleiben! Sondern wollen, wenn sich die Zustände
in ihren Ländern wieder gebessert haben, dorthin zurückgehen. Sie hatten oftmals
ja gar kein schlechtes Leben in ihrem Heimatland. Und jeder, der schon einmal
länger im Ausland war, weiß, dass das nicht nur ein Spaß ist, selbst wenn man
Arbeit hat! Man muss eine neue Sprache lernen, man wird mit einer anderen Kultur
konfrontiert und dass Vieles auch nicht immer schön ist, wird oftmals
unterschlagen. Wir tun immer so, als würden wir etwas unglaublich Tolles den
Flüchtlingen bieten und alle wollten für immer bleiben - ob das aber wirklich so
ist, ist eine offene Frage. Und da muss man schauen, dass man eine gute Balance
schafft zwischen Integration und Teilhabe an der Gesellschaft und dem Aufzeigen
von Möglichkeiten, wie sie irgendwann einmal zum Beispiel in ein befriedetes
Syrien zurückgehen können.

Die Welt: Wenn sich der Tatverdacht gegen die acht Männer erhärtet - sind sie
dann für eine harte Strafe, ein verschärftes Strafrecht?

Heinemann: Ja, ein Stück weit schon. Es ist ja schnell so, dass, wenn Verbrechen
passieren, nach härteren Strafen gerufen wird. Aber ganz häufig ist es so, dass
man sagen muss: Wir haben ja eigentlich die richtigen Strafen, aber das
Justizsystem braucht zu lange und die Strafen werden nicht durchgesetzt. Wenn
man sich aber den aktuellen Fall anschaut, hält das Strafrecht an einigen
Stellen nicht mit mit den Problemen, die hier auftreten. Sowohl, was die
sexuellen Übergriffe angeht, als auch den Trickbetrug. Da kann unser Strafrecht
nicht adäquat drauf reagieren. Und man muss fragen, ob es angemessen ist, dass
Leute, die hier noch im Asylverfahren stecken, Diebstähle begehen können, die
Polizei aber nichts groß weiter machen kann. Da sollte es weiterreichende
Konsequenzen geben.

Die Welt: Das wäre dann ein weitreichendes Zeichen: Ihr seid willkommen, aber
hier gelten klare Gesetze.

Heinemann: Genau. Und dass, wenn wir noch einmal über das Sexualstrafrecht
sprechen, es ein Signal nach innen und nach außen ist. Ein Signal das zeigt,
dass die Integrität eines jeden Menschen, insbesondere aber auch von Frauen,
unter keinen Umständen zur Disposition stehen darf. Ansonsten sollte bei
Gewalttaten mit allen Mitteln des Rechtsstaats gegen Flüchtlinge vorgegangen
werden - wie auch gegen jeden anderen Menschen.

UPDATE: 28. Januar 2016

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Freitag 29. Januar 2016 12:34 PM GMT+1

Angst vor Image-Verlust;


Das alles beherrschende Wort ist in Äthiopien tabu

AUTOR: Christian Putsch, Mekala

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1113 Wörter

HIGHLIGHT: Der Osten Äthiopiens erlebt die größte Dürrekatastrophe seit 40


Jahren. Doch die Regierung bittet nur zögerlich um Hilfe aus dem Ausland. Denn
das Image als Tigerstaat Afrikas wäre gefährdet.

An den Viehpreisen merkte die Regierung, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie
sanken seit April 2015 im Osten Äthiopiens um die Hälfte. Sobald Ernte und Regen
ausbleiben, versuchen die Bauern ihre Rinder und Schafe zu verkaufen, bevor sie
verenden. Das Angebot steigt, die Nachfrage sinkt, entsprechend leiden die
Preise. Das Warnsystem funktioniert gut und soll dabei helfen, dass sich eine
Hungersnot wie die der Jahre 1984 und 1985 mit Hunderttausenden Toten nicht
wiederholen kann.

Mohammed Sheko spürt die Gefahr beim Blick auf seinen Hof in der besonders stark
betroffenen Mekala-Region. Er hat nur noch ein Rind, vor ein paar Monaten waren
es noch 13. Von 30 Schafen sind ihm fünf geblieben. "So schlimm wie im Moment
war es seit Jahrzehnten nicht", sagt der Kleinbauer, "ich habe Angst um das
Leben meiner Familie." Verzweifelt rupft der Muslim einen schrumpeligen
Mais-Halm aus seinem vertrockneten Feld und reckt ihn anklagend in die Höhe.
Zehn Kinder und zwei Ehefrauen muss er ernähren.

Ohne die Notrationen der Regierung und der deutschen Hilfsorganisation Menschen
für Menschen (MfM) wäre der Überlebenskampf für ihn vielleicht schon verloren.
"Es gab seit Mitte Juli keinen Regen und in der Folge keine Ernte", sagt der
MfM-Nothilfe-Koordinator Tewolde Kida, "in anderen Gegenden zerstörten heftige
Regenfälle zu den falschen Jahreszeiten die Ernte. Die Hilfe muss aufgestockt
werden." Äthiopien aber redet die Dürre seit Monaten klein, um sein Image als
Tigerstaat Afrikas nicht zu gefährden. Ende vergangenen Jahres vermeldete es
lediglich 8 Millionen Hilfsbedürftige, als die Vereinten Nationen bereits von 15
Millionen Menschen ausgingen.

Selten waren so viele Länder in Afrika im aktuellen Ausmaß von El Niño


gleichzeitig betroffen, es sind über ein Dutzend. Ähnlich schlimm wie in
Äthiopien ist die Situation im Süden Afrikas, wo insgesamt 14 Millionen von
einer Hungersnot bedroht sind - besonders in Malawi, Simbabwe und Madagaskar.
Die Lebensmittelpreise sind massiv gestiegen, in Malawi kostet Mais derzeit 73
Prozent mehr als im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre. Die Situation wird
dadurch verschärft, dass der wichtigste Lebensmittelexporteur der Region,
Südafrika, ebenfalls die schlimmste Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichnung im
Jahr 1904 erlebt und nicht liefern kann.

Extremer Bevölkerungszuwachs

Eine Trockenperiode dieser Größenordnung kann auch das beste Krisenmanagement


nicht vollends auffangen. Tatsächlich scheinen die meisten Regierungen unter
anderem in Form von Risikoversicherungen deutlich besser vorbereitet als bei
vorangegangen derartigen Krisen, besonders wenn man das enorme
Bevölkerungswachstum bedenkt: Die Zahl der Einwohner hat sich in Äthiopien seit
der Dürre im Jahr 1973 von rund 26 Millionen auf rund 100 Millionen fast
vervierfacht, was die Situation massiv verschärft. Immerhin konnte bislang ein
Massensterben wie noch bei der Dürre im Jahr 2011 verhindert werden. Damals
starben besonders in Somalia und Kenia mindestens 50.000 Menschen.

Doch indirekt rächen sich nun Versäumnisse der Politik. Der Rand, Südafrikas
Währung, hat auch wegen der desaströsen Politik der Regierungspartei African
National Congress (ANC) im Laufe des vergangenen Jahres 30 Prozent an Wert im
Vergleich zum Dollar verloren, auch deshalb sind die nun nötigen zusätzlichen
Lebensmittelimporte eine besonders große Belastung für Staat und Bürger.
Präsident Jacob Zuma weigert sich angesichts knapper Staatskassen, den
nationalen Notstand auszurufen - nur so aber würden nennenswerte Staatshilfen an
die Bauern fließen. Viele fürchten um die Existenz, ohne externe Hilfe droht der
Verlust Tausender Arbeitsplätze.

In Äthiopien wirkt es problematisch, dass die Verkehrswege zum Nachbarland


Dschibuti nicht ausreichend entwickelt sind. Das Land hat selbst keinen eigenen
Seezugang und ist deshalb auf Dschibuti angewiesen. Der Hafen in Dschibuti
bewältigt im Normalfall aber nur 500.000 Tonnen im Monat, nötig sind wegen der
Krise zusätzliche zwei Millionen Tonnen. 400.000 Kinder sind allein in Äthiopien
nach Angaben der Vereinten Nationen unterernährt. El Niño bedrohe somit ähnlich
viele Minderjährige wie der Bürgerkrieg in Syrien.

Erschwerend wirkt, dass die Regierung nur zögerlich um Hilfe der internationalen
Gemeinschaft bat. Bilder vertrockneter Felder passen nicht in die PR eines
Landes, das seinen beachtlichen Aufschwung mit Prestigeobjekten wie dem Bau
einer Straßenbahn in der Hauptstadt Addis Abeba illustriert. Im offiziellen
Sprachgebrauch ist das Wort "Dürre" unerwünscht, vielmehr ist vom "El
Niño"-Effekt die Rede. Das weltweite Klimaphänomen ist natürlich einer der
Hauptgründe für die aktuelle Krise, die Rhetorik soll aber vor allem von dem
Eindruck ablenken, Äthiopien könne sein Volk nicht ernähren. Die Regierung
beeilte sich zu betonen, dass die Dürre am prognostizierten Wirtschaftswachstum
von zehn Prozent im laufenden Fiskaljahr nichts ändern werde. Erst vor einigen
Tagen wurde die Zahl der von der Dürre Betroffenen auf 18,2 Millionen
korrigiert, das ist beinahe jeder fünfte Bürger.

Bürokratie lähmt Entwicklung

Äthiopien will bis zum Jahr 2025 den Status eines Schwellenlandes erreichen. Das
wäre selbst ohne die Dürre eine gewaltige Herausforderung. Die gewaltigen
Investitionen der vergangenen Jahre wurden zu zwei Dritteln aus Staatsmitteln
finanziert, die aktuelle Krise dürfte das hohe Handelsbilanzdefizit von 13
Prozent weiter verschlechtern. Es ist nicht davon auszugehen, dass
mittelfristiges Wachstum die von der Dürre verursachten Kosten auffangen kann.
Weil die Staudämme des Landes bislang nicht den projizierten Strom erzeugen
können, wurde bereits eine Vertragsstrafe an das Nachbarland Dschibuti fällig.
Wirtschaftsexperten zweifeln zudem an den Wachstumsraten. Sie basieren auf
Informationen der Zentralen Statistikagentur Äthiopiens.

Trotz erkennbarer Fortschritte klagen Investoren über Bürokratie und geringes


Ausbildungsniveau. Aus den USA, die jahrelang Äthiopiens Aufschwung lobten,
dürfte künftig weniger Unterstützung kommen. Anfang Januar musste das
US-Drohnenprogramm in Arba Minch, 450 Kilometer südlich von Addis Abeba, auf
Anweisung der äthiopischen Regierung eingestellt werden. Nach Angaben der
"Washington Post" geschah dies für das Pentagon "überraschend". Die USA flogen
von Äthiopien aus Einsätze gegen die Terrormiliz al-Schabaab in Somalia.

In Mekala hofft Bauer Sheko, dass er nicht Opfer des äthiopischen


Wirtschaftswunders wird. Die Regierung forderte ihn auf, in eine fruchtbarere
Gegend umzuziehen. Sheko lehnte ab. Der Bezug zum eigenen Land ist in seiner
ethnischen Gruppe, den Benoji, von großer Bedeutung. "Wir sind hier geboren",
sagt er, "wir werden hier sterben."

UPDATE: 29. Januar 2016

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Sonntag 31. Januar 2016 9:45 AM GMT+1

Ministerin Aigner;
"Die Leidensfähigkeit der Russen ist offenbar groß"

AUTOR: Peter Issig

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1077 Wörter

HIGHLIGHT: Bayerns Wirtschaftsministerin Aigner verteidigt die Reise von Horst


Seehofer zu Waldimir Putin. Gerade in schwierigen Zeiten müsse miteinander
geredet werden - auch über wirtschaftliche Interessen.

Im Dezember 2015 war sie selbst mit einer 20-köpfigen Delegation nach Moskau
gereist. Jetzt verteidigt Bayerns Wirtschaftsministerin und stellvertretende
Ministerpräsidentin Ilse Aigner die umstrittene Reise von CSU-Chef Horst
Seehofer nach Russland. Der bayerische Ministerpräsident will bei seinem
dreitägigen Besuch in Moskau Präsident am Donnerstag Wladimir Putin treffen und
für die Wiederbelebung der Wirtschaftsbeziehungen werben. Wegen einer
angeblichen Gewalttat an einem russischen Mädchen in Berlin und der Kritik
Russlands an den deutschen Sicherheitsbehörden ist das deutsch-russische
Verhältnis angespannt.

Die Welt: Was will Ministerpräsident Horst Seehofer jetzt in Russland - die
Sanktionen aufheben?

Ilse Aigner: Voraussetzung für die Aufhebung der Sanktionen ist, dass Russland
das Minsk II-Abkommen umsetzt. Dennoch ist die Reise des Ministerpräsidenten
wichtig - gerade für Bayern: Es geht darum, die traditionell guten Verbindungen
zwischen dem Freistaat und Russland auch in einer schwierigen Phase aufrecht zu
erhalten. So gibt es etwa 1700 bayerische Firmen in Russland. Und es gibt die
Partnerschaft zwischen Bayern und der Stadt Moskau. Es ist wichtig, im Gespräch
zu bleiben.

Die Welt: Die Wirtschaft leidet unter den Sanktionen...

Aigner: ....die ja nicht einseitig sind. Seitens der EU ist die Öl- und
Rüstungsbranche sanktioniert. Von russischer Seite ist vieles aus dem Bereich
der Ernährungswirtschaft mit einem Importverbot belegt. Deswegen ist es richtig,
immer wieder Brücken zu schlagen. Es gilt aber das Primat der Politik:
Voraussetzung für eine Öffnung bleibt die Umsetzung des Minsk II-Abkommens , das
zur Deeskalation und Befriedung im Osten der Ukraine beitragen soll. Beide, die
Ukraine und Russland, sind hier gefordert. Und Bayern wird dann dank der
fortgesetzten Kontakte bei einer Öffnung vorbereitet sein.

Die Welt: Reicht das wirtschaftsstarke Bayern damit Russland die Hand?

Aigner: Russlands Wirtschaft ist nicht nur von den Sanktionen betroffen, sondern
leidet schon länger unter dem billigen Ölpreis. Aber es liegt auch in
bayerischem Interesse, dass die wirtschaftlichen Beziehungen wieder in Gang
kommen. Die bayerischen Exporte sind um mehr als ein Drittel gesunken. Für
einzelne Firmen ist das existenzgefährdend.

Die Welt: Soll also über die Aufhebung der Sanktionen gesprochen werden?

Aigner: Die Bedingungen dafür sind klar. Dennoch ist es gerade in der Krise
wichtig, im Gespräch zu bleiben, und es ist natürlich eine symbolische Geste von
Bayern, die zeigt, dass es ein Interesse an guten Beziehungen gibt. Es ist nicht
auszuschließen, dass sich daraus etwas ergibt, um die Beziehungen wieder
voranzubringen. Deswegen ist es gut, dass der Ministerpräsident nach Moskau
fährt. Ich war ja bereits im vergangenen Jahr dort und habe registriert, dass
die russische Seite das sehr positiv aufnimmt.

Die Welt: Was halten sie von den Sanktionen?

Aigner: Man muss sich schon fragen, ob die Sanktionen auch so wirken wie
beabsichtigt. Das ist fraglich. Die Leidensfähigkeit der Russen ist offenbar
groß, und Präsident Putin wirkt in seinem riesigen Land nicht geschwächt.

Die Welt: Unterläuft Bayern damit nicht die EU-Politik und die der
Bundesregierung?

Aigner: Nein, ich habe ja erklärt, worum es geht und es ist abgestimmt, dass
Horst Seehofer jetzt und ich jüngst Moskau besuchen, um Kontakte zu pflegen -
ohne dabei die grundsätzliche Linie infrage zu stellen. Außerdem war Kanzlerin
Angela Merkel im vergangenen Jahr selbst in dort.

Die Welt: Ist es also eine Rollenverteilung. Berlin bleibt hart, Bayern fährt
die weichere Linie?

Aigner: Nein, es war immer klar, dass Minsk erfüllt werden muss. Aber es kann
nicht schaden, wenn ein so starkes Land wie Bayern für die westliche Sichtweise
wirbt. Und es ist sinnvoll, dass es seine eigenen Interessen vertritt.

Die Welt: Das Verhältnis ist momentan stark belastet. In Berlin gibt es einen
unklaren Fall um die angebliche Entführung eines 13-jährigen russisch-stämmigen
Mädchens in Berlin. Russland instrumentalisiert die angespannte Situation in
Deutschland offenbar für seine Zwecke. Was halten Sie davon?

Aigner: Der Fall und die gegenseitigen Schuldzuweisungen machen die Reise des
Ministerpräsidenten nicht einfacher.

Die Welt: Dennoch: Ist es der richtige Zeitpunkt als hochrangiger Politiker
nach Russland zu fahren?

Aigner: In diesem Fall gibt es keinen richtigen oder falschen Zeitpunkt. Falsch
wäre es, die Kontakte einzustellen und damit die Möglichkeit des Gesprächs
auszuschließen. Wie leben in schwierigen Zeiten. Gerade dann muss ich auch mit
jemanden reden, mit dem es Differenzen gibt.

Die Welt: Wird sich Seehofer über die Haltung Russlands in dieser Angelegenheit
beschweren?

Aigner: Ich denke, das Thema lässt sich nicht aussparen, und ich bin mir
sicher, dass der Ministerpräsident den richtigen Ton trifft und die richtigen
Worte wählt .

Die Welt: Gleichzeitig hofiert Bayern mit dem hochrangigen Besuch auch
Präsident Putin?

Aigner: Als Exportnation sind wir an guten Beziehungen zu allen Ländern


interessiert , ohne dass wir die Probleme dabei negieren. Und oft hilft es, sich
ein Bild vor Ort zu machen. Manches stellt sich dann anders dar. Mein Bild von
Iran oder von Ägypten hat sich auch verändert, seit ich selbst dort war.

Die Welt: Kann man wirtschaftliche Kontaktpflege von moralischen Kategorien wie
Rechtstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Demokratie trennen?

Aigner: Nein, natürlich nicht. Aber wirtschaftlicher Fortschritt, Bildung,


Arbeit, Wohlstand können durchaus auch Demokratisierungsprozesse befördern,
davon bin ich überzeugt.. So hoffe ich etwa, dass die wirtschaftliche Öffnung
des Iran auch politische und gesellschaftliche Reformen mit sich bringt.

Die Welt: Seehofer wird auch über die Flüchtlingspolitik sprechen?

Aigner: Davon gehe ich aus. Schon deshalb, weil die Krise in Syrien ohne
Russland nicht gelöst werden kann. Russland, die USA, die arabischen Staaten und
die Regionalmächte müssen an einen Tisch. Auch deswegen ist es gut, miteinander
zu sprechen, auf allen Ebenen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung bei
der Bekämpfung der Fluchtursachen sowie im Kampf gegen den IS.

Die Welt: Ministerpräsident Seehofer wird von seinem Vorvorgänger Edmund


Stoiber begleitet. Warum?

Aigner: Edmund Stoiber verfügt aufgrund seiner langjährigen politischen


Tätigkeit über gute Kontakte. Diese Kontakte helfen, um Gespräche mit den
richtigen Partnern zu führen. Höher als Putin geht in Russland nicht.

UPDATE: 31. Januar 2016

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Mittwoch 3. Februar 2016 9:49 AM GMT+1

Moskau-Reise;
Seehofer kanzelt Kritiker als "fünftklassig" ab

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 604 Wörter

HIGHLIGHT: Anbiederung an Moskau? Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer weist


Kritik an seiner Russland-Reise harsch ab. Selbstverständlich müsse "man in
dieser aufgewühlten Welt im Gespräch bleiben".

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) reist unter ungünstigen


Vorzeichen zu einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin nach Moskau.
Am Vortag des Gesprächs kanzelte Seehofer die Kritiker der Reise bei der
Opposition und in der CDU als fünftklassige Durchschnittspolitiker ab. "Es ist
völlig selbstverständlich, dass man in dieser aufgewühlten Welt im Gespräch
bleiben muss", verteidigte Seehofer das Treffen am Dienstag. Die Reise sei
sorgfältig vorbereitet und werde von der Bundesregierung unterstützt. "Da kann
man nur den Kopf schütteln, wenn man die nationale Begleitung von fünftklassigen
Politikern hört." Seehofer will Putin am Mittwochabend treffen.

Kritik an der Reise gibt es vor allem von SPD und Grünen, aber auch aus der CDU.
Die Vorwürfe zielen darauf, dass Seehofer sich von Putin instrumentalisieren
lasse und mit einer Anbiederung an Moskau gegen die deutschen Interessen handle.
"Die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag macht noch keinen Politiker", sagte
der CSU-Chef zu den Vorhaltungen.

Aufhebung der Wirtschaftssanktionen stark umstritten

Strittig ist unter anderem die Frage, ob Seehofer sich für eine Aufhebung der
europäischen Sanktionen gegen Russland starkmachen wird, die die EU nach der
Besetzung der Krim gegen Moskau verhängt hatte. "Es kann kein vernünftiger
Politiker ein Interesse daran haben, dauerhaft Sanktionen zu haben", sagte
Seehofer.

Um in den Medien ein Echo zu finden, "reicht es heute aus, wenn Sie Dummes
daherreden", stänkerte Seehofer. Deutschland sei Teil des westlichen Bündnisses.
"Aber zum Gewinnen unserer Zukunft brauchen wir eine Zusammenarbeit auch
außerhalb des westlichen Bündnisses."

Abgesehen von Putin will Seehofer bis Donnerstag mit dem Industrie- und dem
Wirtschaftsminister sowie dem Moskauer Bürgermeister zusammenkommen. Druck für
eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Moskau kommt vor allem aus der
bayerischen Wirtschaft. Deren Geschäfte in Russland sind in den vergangenen zwei
Jahren um die Hälfte geschrumpft, wie Seehofer berichtete. Begleitet wird der
CSU-Chef von seinem Vorvorgänger Edmund Stoiber, der gute Drähte zu Putin hat
und das Treffen arrangierte.

Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) betonte, sie sei sich "sicher, dass der
Ministerpräsident klug vorgehen und sich vom russischen Präsidenten nicht
instrumentalisieren lassen wird".

Nicht nur die Opposition kritisiert die Reise, sondern auch der Unions-Obmann
für Außenpolitik im Bundestag, Roderich Kiesewetter (CDU). Er sagte der "Welt am
Sonntag": "Seehofer hat sich in der Flüchtlingsdebatte eindeutig gegen die
Bundeskanzlerin positioniert - ich hoffe, dass er die Reise unterlässt."

"Der anbiedernde Herr Ministerpräsident"

SPD-Landtagsfraktionschef Markus Rinderspacher nannte die Visite schon vor


Reiseantritt missglückt. "Der Ministerpräsident zeigt sich anbiedernd gegenüber
dem russischen Machthaber, der das Völkerrecht mit Füßen tritt." Die
Wirtschaftssanktionen aufheben zu wollen, ohne ein Entgegenkommen an anderer
Stelle zu fordern, sei eine diplomatische Fehlleistung. Grünen-Fraktionschef
Ludwig Hartmann überreichte Seehofer im Landtag eine Ausgabe der "Erklärung der
Menschenrechte". "Falscher Mann, falsche Zeit, falscher Ort. Wir brauchen
Einsatz für die Menschenrechte statt eines Seehofer-Bücklings vor Putin",
forderte Hartmann im Kurznachrichtendienst Twitter.

Russland steht wegen seines Vorgehens in der Ukraine und in Syrien international
in der Kritik. Vergangene Woche führten russische Falschmeldungen über die
angebliche Vergewaltigung einer 13-jährigen Russlanddeutschen durch Flüchtlinge
in Berlin zu diplomatischen Verwerfungen.

UPDATE: 3. Februar 2016

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Samstag 6. Februar 2016 2:00 AM GMT+1

Nato-General;
"Afghanen sind noch nicht so gut, wie wir dachten"

AUTOR: Christoph B. Schiltz, Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik


LÄNGE: 791 Wörter

HIGHLIGHT: Der deutsche Nato-General Domröse fordert ein robusteres Mandat für
Afghanistan - die Verluste im Kampf gegen die Taliban seien noch zu hoch. Man
bemühe sich jedoch, ein sicheres Umfeld zu schaffen.

Der deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse hat gefordert, die


Ausbildungsmission des Verteidigungsbündnisses in Afghanistan auszubauen.
Domröse, der als Befehlshaber des Joint Force Command im niederländischen
Brunssum von Europa aus den Afghanistan-Einsatz "Resolute Support" führt, sagte
der Welt: "Die militärische Erfahrung in Afghanistan hat uns in den vergangenen
Monaten gezeigt, dass unser Training robuster werden muss."

Das bedeute, dass die Ausbilder der Nato die afghanischen Sicherheitskräfte
nicht mehr länger nur in den Kasernen ausbilden sollten, sondern sie auch
draußen, also in laufenden Operationen, begleiten und beraten. "Es wäre aus
militärischer Sicht sinnvoll, die bisherige Trainingsmission 'Resolute Support'
um einen robusten Anteil zu ergänzen. Das würde eine bessere und stabilere
Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte ermöglichen und mehr Sicherheit im
Land produzieren."

Luftunterstützung durch die Nato

Klar sei aber auch, so Domröse, dass die Ausbilder ausreichend geschützt werden
müssen: "Ein robustes Mandat erfordert im extremen Fall natürlich auch
Luftunterstützung seitens der Nato. Wir müssen alles tun, um die Sicherheit der
Afghanen und der Nato-Ausbilder zu gewährleisten."

Im Rahmen dieses "robusten Mandats" würde die Nato auch Drohnen einsetzen und
die Bilder den afghanischen Sicherheitskräften zur Verfügung stellen. "Die
Führung dabei muss natürlich bei den Afghanen liegen", sagte der
Viersternegeneral.

Zugleich betonte Domröse, dass die Nato-Ausbildungsmission möglicherweise schon


im kommenden Jahr beendet werden könnte: "Sollte die afghanische Luftwaffe, die
wir gerade mit Hubschraubern und Flugzeugen aufbauen, im nächsten Jahr
ausreichend einsatzfähig sein, so würde dies die Schlagkraft der Afghanen
wesentlich erhöhen. Wir denken, dass wir 'Resolute Support' dann 2017 beenden
könnten." Dies müsse allerdings die Politik entscheiden. "Die politische Führung
hat zugestimmt, dass wir die Dauer der Trainingsmission von den Erfolgen
abhängig machen. Das ist eine gute Sache."

Hohe Verluste im Kampf gegen Taliban

Zur Sicherheitslage in Afghanistan sagte Domröse: "Wir haben rund 150 gefallene
afghanische Soldaten oder Polizisten pro Monat zu beklagen, das ist immer noch
eine riesige Anzahl. Solange in Afghanistan noch Distrikte unter der Herrschaft
der Taliban stehen und dort immer wieder gekämpft wird, kann man Afghanistan in
Gänze nicht als sicheres Land bezeichnen." Die Nato bemühe sich zusammen mit den
Afghanen, ein sicheres Umfeld im Land zu schaffen. "Die Menschen dort sollen
eine konkrete Perspektive finden können. Da sind sie auf einem guten Weg trotz
einiger Rückschläge. Ich bin daher vorsichtig optimistisch."

Der General verwies auch darauf, dass die afghanischen Sicherheitskräfte im


vergangenen Jahr "schwerste Verluste" hinnehmen mussten, beispielsweise in
Helmand und Kunduz. "Die afghanischen Sicherheitskräfte sind noch nicht so gut,
wie wir gedacht hatten. Ihnen fehlt vor allem eine schlagkräftige Luftwaffe und
Leadership." Darum sei es wichtig, dass die Nato in diesem Jahr nicht nur in
Kabul, sondern auch an vier Stützpunkten in der Fläche ausbildet.

Was darf ein Nato-General sagen?

Mit seiner Forderung nach einem robusteren Mandat für die "Resolute
Support"-Mission setzt sich Domröse erneut in Widerspruch zur Haltung der
Bundesregierung, die an dem Auftrag der internationalen Soldaten nichts ändern
will. Bereits mit seinem Plädoyer für einen Einsatz von
Awacs-Aufklärungsflugzeugen über Syrien hatte der Nato-General in den
Regierungsfraktionen im Bundestag für Unmut gesorgt. SPD-Fraktionsvize Rolf
Mützenich warf dem deutschen Offizier danach vor, "mit seinem ,militärischen'
Ratschlag deutlich die Grenze zur politischen Stellungnahme" überschritten zu
haben.

Nicht nur in Deutschland gelte das demokratisch begründete Primat der Politik,
das Domröse verletzt habe. "Die Frage ist, ob er das selbstherrlich gemacht hat
oder nur eine Auftragsarbeit erledigt hat. Beides kann nicht hingenommen
werden", sagte Mützenich und verlangte, "den Mann in seine Grenzen zu
verweisen".

Das wiederum rief den Deutschen Bundeswehrverband (DBwV) auf den Plan. "Als
ehrenrührig, im Ton inakzeptabel und in der Sache vollständig verfehlt" wies
Verbandschef André Wüstner die Kritik des SPD-Politikers zurück. General Domröse
sei ein charakterfester, einsatzerfahrener und ehrenwerter Soldat, genieße
national wie international höchstes Ansehen. "Er weiß um seine Rolle als
Staatsbürger in Uniform, seine Befugnisse und das Primat der Politik", sagte
Oberstleutnant Wüstner. Domröse eine Auftragsarbeit zu unterstellen, sei "eine
bodenlose Unverschämtheit". Für die Forderung, den General in seinen Schranken
zu verweisen, verlangte Wüstner eine Entschuldigung.

UPDATE: 6. Februar 2016

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Samstag 6. Februar 2016 8:18 AM GMT+1

Russlands Schulen;
"Warum schreien Sie uns nicht an?"

AUTOR: Julia Smirnova, Moskau


RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1455 Wörter

HIGHLIGHT: In russischen Schulen gilt oft noch die alte Sowjet-Einstellung: Man
darf den Schülern nicht zu viel Freiheit geben. Zwei junge Frauen wollen das
ändern und werden dafür als US-Agenten beschimpft.

Anfangs sorgte seine Milde für Überraschung. "Warum schreien Sie uns nicht an?",
fragten die Schüler ihren neuen Lehrer für Mathe und Englisch. "Ich respektiere
euch, und ich respektiere mich selbst, deshalb werde ich euch nie anschreien",
antwortete Alexander Jadrin. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler hat im
September für die nächsten zwei Jahre eine Dozentenstelle an der Universität in
St. Petersburg gegen ein Leben in dem Ort Karinskoje bei Moskau eingetauscht.
Karinskoje hat rund anderthalbtausend Einwohner, auch Kinder aus umliegenden
Dörfern gehen hier zur Schule.

"Ich möchte Kindern zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann", sagt Jadrin. Für
ihn sind Spiele besser als Strenge - im Englischunterricht werfen seine Schüler
einander einen Ball zu, der wie eine Erdkugel aussieht, und erzählen, in welches
Land sie gerne reisen und was sie dort machen würden. Und damit ist es auch eine
kleine Lehrstunde in Weltoffenheit. Er spricht gutes Englisch ohne Akzent, was
bei russischen Lehrern nicht immer der Fall ist.

Jadrin ist einer von 42 Absolventen der besten Universitäten des Landes, die
dieses Jahr als Lehrer auf Zeit in Schulen arbeiten. Nach dem Vorbild von
Programmen wie "Teach First" in Deutschland und "Teach for All" in den USA gibt
es jetzt auch in Russland ein solches Programm.

Der Lehrerberuf ist in Russland unattraktiv. Die besten Schüler entscheiden sich
selten für ein Pädagogik-Studium, und die besten Absolventen arbeiten nach dem
Studium schon gar nicht in Schulen in der Provinz, wo Lehrer noch schlechter als
in Moskau bezahlt werden. Das Programm "Lehrer für Russland" soll das ändern und
frischen Wind ins steife russische Schulsystem bringen.

So wollen es die Gründerinnen - zwei junge Frauen aus St. Petersburg. Aljona
Markowitsch und Elena Jarmanowa, beide 27, studierten zusammen internationale
Beziehungen, machten Austauschsemester im Ausland und reisten um die Welt.
Jarmanowa war beeindruckt von einem Freund aus den USA, der statt der Karriere
beim Staat in einer Schule angefangen hat. Die Erinnerungen an die eigene
Schulzeit der beiden war noch frisch und wenig erfreulich. "Wir wurden für die
Abiturprüfungen gedrillt, aber die Schule war für mich nicht immer ein
angenehmer Ort. Bei einigen Lehrern konnte man keine eigene Meinung äußern, die
deren Meinung widersprach", sagt Markowitsch.

Auch zehn Jahre später hat sich in den Schulen nicht viel verändert. "Es fällt
auf, dass einige Lehrer rumschreien, Türen laut zuknallen, die Klasse
manipulieren und Kinder erniedrigen können", sagt Jarmanowa, die selbst in einer
Moskauer Schule Englisch unterrichtet. Es liege daran, dass Lehrer oft
überfordert seien, aber auch an den Erziehungstraditionen. Einige Eltern haben
sie gebeten, mit ihren Kindern streng zu sein. "Sie kennen es selbst auch nicht
anders", erklärt sie.

Es muss doch einen Weg geben, das zu ändern, dachten die beiden Frauen und
suchten nach Sponsoren und Partnern für ihre Idee. Anfangs arbeiteten sie mit
der Beratungsfirma Boston Consulting Group zusammen, inzwischen ist die
halbstaatliche Bank Sberbank der Hauptsponsor. Für den Sberbank-Chef Herman
Gref, einen Wirtschaftsliberalen, ist Bildung eine persönliche Leidenschaft. Die
Sberbank öffnete den Frauen Türen bei den regionalen Bildungsministerien und
ermöglichte so, dass junge Lehrer überhaupt an staatlichen Schulen zugelassen
werden.

Das Ziel ist, Schülern kritisches Denken beizubringen

So ein mächtiges Schutzschild wie die Sberbank braucht das Programm "Lehrer für
Russland" sehr wohl. Seit dem vergangenen Sommer beschimpfen Aktivisten der
nationalistischen Jugendorganisation NOD die Frauen als "amerikanische Agenten",
die "fremde Werte" in russische Schulen bringen. In der Tat wollen sie Kindern
kritisches und selbstständiges Denken beibringen. Das finden Nationalisten gar
nicht gut.

Warum macht das Bildungsministerium mit? Weil die jungen Leute gleich mehrere
Punkte umsetzten, die - in bürokratischem Russisch formuliert - im staatlichen
Bildungsprogramm geschrieben stehen: Schüler müssen in der Schule lernen,
selbstständig zu arbeiten und zu denken, und das Schulwissen auch im Leben
anwenden. Denn genau hier liegt das Problem: "Das russische Schulprogramm ist
darauf ausgerichtet, akademisches Wissen zu vermitteln. Lehrer geben dieses
Wissen weiter, aber sie machen sich keine Gedanken darüber, was die Kinder mit
diesem Wissen außerhalb der Schule anfangen sollen", sagt Wjatscheslaw Losing,
Bildungsexperte der Moskauer Higher School of Economics.

Für Losing ist das einer der wichtigsten Gründe, warum Russland so schlecht beim
Pisa-Test abschneidet, der kognitive Fähigkeiten der Schüler prüft. 2012 lag
Russland im Pisa-Test auf Platz 34, war aber unter den zehn besten Ländern beim
TIMSS-Test, einer Studie, die eher akademisches Wissen in den Grundschulen
prüft.

Das steife russische System gehört noch zum Erbe der untergegangenen Sowjetunion
und hat bisher allen Reformbemühungen widerstanden. Immerhin war die
ideologische Organisation der Jungen Pioniere abgeschafft worden, und in den
90er-Jahren experimentierten die Schulen mit alternativen Unterrichtsformen und
Methoden. "In den 90er-Jahren war der Staat faktisch nicht da, die Verwaltung
vom Bildungssystem lag in den Händen von Schuldirektoren", sagt Losing.

Er war selbst in den 90er-Jahren Schuldirektor in der sibirischen Stadt Kemerowo


und Verfechter neuer Lernmethoden. Seine Schule gehörte zu den besten der Stadt.
"In den 2000er-Jahren kehrte der Staat zurück und schrieb uns einheitliche
Bildungsnormen vor. Die unabhängigen Schuldirektoren wurden abgeräumt", sagt
Losing. Auch er musste gehen. Gleichzeitig forderte der Staat immer mehr
Erziehung im Geiste des Patriotismus. "Man geht gerade zum System zurück, das es
in den sowjetischen Schulen gab", sagt der Experte.

Klassenräume mit Putin-Porträts an der Wand

Heute haben russische Lehrer und Direktoren gewaltige Mengen bürokratischer


Arbeit zu erledigen. Sie müssen detaillierte Lehrpläne und Berichte schreiben
und bekommen von den Behörden Anweisungen, welche Veranstaltungen sie in den
Schulen organisieren müssen. In allen Schulen hängen inzwischen Putin-Porträts
an der Wand. Wenn es trotzdem keine russische Einheitsschule gibt, ist das
meistens Lehrern und Schuldirektoren zu verdanken. Wer eine eigene Meinung hat
und seine Schüler nicht indoktrinieren will, findet meistens einen Weg, das
nicht zu tun. Ganz so wie in der späten Sowjetunion war die Ideologie an den
Schulen oft nur eine Fassade, an die niemand ernsthaft glaubte.

Wie viel Freiheit Lehrer heute haben, hängt meistens mit der Person des
Schuldirektors zusammen. Die Leiterin der Schule in Karinskoje, Julia Melzewa,
ist Neuem gegenüber offen. "Sie wollen doch alle die Welt verändern", sagt sie
über die Teilnehmer des Programms "Lehrer für Russland". Und das findet sie gut
und lässt sie frei arbeiten. Sie findet es auch gut, dass junge Lehrer mit den
alten über Unterrichtsmethoden diskutieren. "Die Kinder haben doch keinen
einzigen Gedanken im Kopf", sagt etwa eine Biologielehrerin nach dem Unterricht
den jüngeren Kollegen. "Doch, sie haben nur nicht das im Kopf, was wir von ihnen
erwarten", erwidert Igor Rjabzew.

Der 24-jährige Absolvent der Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO unterrichtet in


Karinskoje Literatur. "Wenn wir ihnen die ganze Zeit das Gefühl geben, sie haben
keine richtigen Gedanken, werden sie sich immer minderwertig fühlen." Er sagt
den Schülern immer wieder, dass es in der Literatur keine richtigen und falschen
Antworten gibt. Überhaupt liest er mit den Schülern nicht nur die russischen
Klassiker aus dem 19. Jahrhundert, mit denen sie oft wenig anfangen können,
sondern auch übersetzte Abenteuerbücher. Das soll ihnen zeigen, dass Lesen Spaß
machen kann.

Das läuft nicht an allen Schulen so gut. Ulaja al-Sabban machte in einer
Moskauer Schule schlechte Erfahrungen. Die Tochter von Eltern aus Jordanien und
Marokko ist in Russland aufgewachsen und studierte Germanistik. In ihrer Schule
wollte sie Deutsch unterrichten - und fühlte sich nicht willkommen. "Die Lehrer
wollten mir nur zeigen, dass ich alles falsch mache", sagt sie. Ihre Schule war
überfüllt und die Lehrer überfordert. Jetzt wird sie in Karinskoje kreative
Unterrichtsformen ausprobieren.

Und manchmal stößt man auch an ganz andere Grenzen. In einer Moskauer Schule
bekam eine Lehrerin, die in einer Klasse für Kadetten unterrichtet, einen Stapel
Postkarten vom Verteidigungsministerium. Die Schüler sollen sie unterschreiben
und an russische Soldaten in Syrien schicken. "An unsere Verteidiger", stand auf
den Karten. Die Lehrerin hat noch nicht entschieden, was sie damit macht.
Selbstständiges und freies Denken unter solchen Bedingungen zu vermitteln ist
keine leichte Arbeit.

UPDATE: 6. Februar 2016

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Montag 8. Februar 2016 8:40 AM GMT+1

Netflix-Gründer;
"Ich bin kein Freund der Hardcore-Gucker"

AUTOR: Dagmar von Taube


RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 2502 Wörter

HIGHLIGHT: Reed Hastings ist der größte Feind des Fernsehens. Mit dem
Streamingdienst Netflix revolutioniert er die Filmwelt. Ein Gespräch über
Laptops im Bett, Machtkämpfe im Silicon Valley, Pornos und Hitler.

Er zählt zu den Mächtigen des 21. Jahrhunderts, was man Reed Hastings, 55, erst
mal nicht ansieht: Mit seinem Pfeifenraucher-Bart, gekleidet Grau in Grau - bis
auf eine kleine, pink leuchtende Bordüre an seiner Hemdknopfleiste, erinnert er
an einen Mathelehrer, der er auch schon einmal war. Heute serviert er als einer
der größten Filmanbieter im Netz mit seinem weltweiten Streamingdienst Netflix
das große Popcorngefühl auf allen Tablets. Hastings war nach München gekommen,
um auf der DLD-Digitalkonferenz das Ende des linearen Fernsehens zu begrüßen.
Ausgeruht lächelnd sitzt er da, trotz Jetlag. Dagegen helfen nur Kaffee und ein
Croissant, an dem der gesundheitsbewusste Kalifornier lange zu knabbern hat.

Die Welt: In Amerika verabredet man sich nicht mehr zum Fernsehabend, man sagt:
"Netflix and chill". Was ist das für ein Gefühl, Herr Hastings, wenn man vom
Silicon Valley aus die ganze Welt beherrschen kann?

Reed Hastings: Die Welt beherrschen - so etwas würde ich nie sagen, und das
wissen Sie, glaube ich, auch.

Die Welt: Aber Sie träumen davon?

Hastings: Ihr journalistisches Feingefühl in Ehren, aber die Antwort ist: Nein.
Wir laufen auf jedem Schirm und das rund um die Welt. Dieses Angebot können Sie
nutzen. Oder auch nicht.

Die Welt: Es ist schon kurios, wenn man heute das Fernsehen einschaltet, hat
man inzwischen den Eindruck, man verpasst etwas.

Hastings: Ja, lineares Fernsehen wird es bald nicht mehr geben, außer im
Museum. Es hat ja auch niemand mehr Festnetz, unsere Eltern vielleicht noch.

Die Welt: Die gute alte Strippe! Früher durfte man ja in Deutschland um 20 Uhr
fast niemanden anrufen - denn dann lief die "Tagesschau".

Hastings: Und, wann haben Sie zuletzt die "Tagesschau" gesehen? Sie wissen halt
schon alles, wenn die auf Sendung gehen. Durch Ihr Smartphone. Stattdessen
werden bei ARD oder ZDF immer mehr die Mediatheken genutzt, die sind auch sehr
gut. Wir wissen, was Sie sehen wollen. Sie können in der U-Bahn auf Ihrem
Smartphone eine Serie anfangen, zu Hause schalten Sie dann den Fernseher an und
sie läuft da weiter, wo Sie aufgehört haben. Es gibt zwar noch Sendungen, die
Sie nur linear empfangen können. Aber das wird sich bald ändern.

Die Welt: Filme anbieten und produzieren - das macht Amazon auch.

Hastings: Und noch viele andere. Unser Unternehmen wächst, trotzdem haben wir
eine Menge Konkurrenten. Was haben Sie zum Beispiel gestern gemacht, wenn Sie
nicht auf Netflix waren? Haben Sie Free-TV gesehen oder einen Film auf Sky,
Schach gespielt, ein Buch gelesen, sich die Zeit mit Facebook vertrieben oder
mit Ihrer Virtual-Reality-Oculus-Brille Paris besucht? Alles Aktivitäten, mit
denen wir konkurrieren. Dazu kommen YouTube, Amazon, Watchever - und wir kämpfen
alle: Jeder von uns reißt sich um Ihre Zeit.

Die Welt: Wo schauen Sie denn am liebsten?

Es gibt drei feste Plätze: Im Bett auf meinem Laptop. Im Wohnzimmer, wo wir
einen kleinen Fernseher haben. Da schauen meine Frau und ich, wenn es noch nicht
so spät ist, wir haben nämlich vier Hunde. Wenn die schlafen, gehen meine Frau
und ich dann in den Keller. Dort haben wir ein Heimkino, also groß, wissen Sie:
Drei-Meter-Bildschirm, viele Kissen. All das.

Die Welt: Verstehe, wie bei den Scheichs in Kuwait. Die haben mit Privatkinos
ja überhaupt angefangen - mit so 16 Meter Sofafläche und Wasserpfeife.

Hastings: Haha. Ja, genau. Na, bei uns ist es vielleicht nicht ganz so groß.
Ich lebe eher simpel, nichts, was ablenkt. Einfache Geräte. Ich bin auch kein
Kiffer, eher ein kauziger Kniffler, ganz langweilig.

Die Welt: Und dann "Bingewatching" - Dauerglotzen, bis die Augen platzen?

Hastings: Das ist vielleicht zu extrem. Aber, sagen wir, letztes Wochenende
oder wann war das - welchen Tag haben wir heute? Sonntag, richtig?

Die Welt: Ach, den Kalender wollen Sie auch abschaffen?

Hastings: Nein, nein, ich bin nur viel gereist und etwas durcheinander mit den
Zeitzonen. Jedenfalls, letztes Wochenende sahen meine Frau und ich diese Serie
"Making a Murderer". Eine geniale Dokumentation, jeder spricht gerade darüber.
Original-Filmmaterial. Das Faszinierende daran: Man verfolgt diesen Fall und
manchmal hältst du den Kerl für schuldig, dann bist du dir wieder unsicher.
Daraus spinnen sich die wildesten Unterhaltungen. Das war mal echtes
Marathongucken für mich: Mit zwei Episoden am Abend ging's los, am nächsten
Morgen sagst du: Komm, lass uns noch eine Folge sehen. Wobei, mehr als zwei
hintereinander schaffen wir nicht, dann melden sich die Hunde und wollen raus.
Ich bin kein Hardcoregucker. Fünf bis zehn Stunden pro Woche, mehr schaue ich
nicht. Ich bin auch kein Freund von Dauerberieselung. Ich erlebe das manchmal
bei Leuten, da wird gekocht und dann läuft irgendwas im Hintergrund. Immer muss
etwas laufen. Mag ich nicht. Ich bin ein "focus viewer".

Die Welt: Und sorgen nun für das Revival der Couch-Potatoes. Quält Sie kein
schlechtes Gewissen?

Hastings: Sie meinen, Bücher zu lesen wäre anspruchsvoller? Für mich gehen
diese kulturkritischen Fragen ins Leere. Es ist wie mit Rock'n'Roll und Klassik:
Beides ist anspruchsvoll.

Die Welt: Pardon, wenn ein 100-Mann-Orchester vier Stunden spielt, und ein
Heldentenor singt dazu, ist das natürlich anspruchsvoller, als wenn Metallica
auftritt - und die Frage, ob die Metallica-Fans vier Stunden Oper aushalten
würden, noch mal eine ganze andere.

Hastings: Es ist eine Generationssache: Sie sind noch anders aufgewachsen, darum
verteidigen Sie wahrscheinlich das Buch. Aber Filme anzuschauen ist genauso
gehaltvoll wie Bücher zu lesen, nur auf andere Weise, eben bildsprachlich, nicht
schriftsprachlich.

Die Welt: Bücherlesen ist eine einsame Sache, man kann nicht zu zweit ein Buch
lesen. Außerdem: Ein Buch auf meine geistige Festplatte runterzuladen dauert
Tage, manchmal Wochen. Ein Film - 90 Minuten. Die Leute lesen deshalb keine
Bücher mehr, weil es zu lange dauert.

Hastings: Wir, bei Netflix, bieten nichts anderes an als den modernen Roman.
"House of Cards" ist im Grunde Shakespeare, es ist die Geschichte von Richard
III. Man kann wirklich sagen, dass mit der Art von Fernsehen, die wir anbieten,
vor allem mit unseren Eigenproduktionen, eine völlig neue Art des Erzählens
gefunden wurde. Diese neue Form der TV-Shows entfaltet ein derart üppiges
Panorama, wie der schönste Balzac-Roman, und ist der Literatur, dem
Kunstanspruch eines Buches absolut ebenbürtig. Wir bieten sozusagen
"Film-Bücher", die Sie frei von Orts-, oder Zeitvorschriften immer und überall
konsumieren können - wie einen Roman. Da schreibt Ihnen ja auch keiner vor: So,
Kapitel 7 können Sie dann nächsten Dienstag um 20 Uhr 15 weiterlesen.

Die Welt: Aus kalifornischer Sicht, einem Land, wo jeder nur surft und ins Kino
geht, mag es richtig sein. Wir sind aber hier im Land der Dichter und Denker.
Wir haben nicht nur die Bibel übersetzt, sondern auch den Buchdruck erfunden.

Hastings: Und wir Amerikaner haben jetzt das Fernsehen revolutioniert, indem
wir aufwendige Produktionen von Kinofilmen auf Fernsehserien übertragen. Und
zwar so, dass die meisten Fernsehserien besser aussehen als Kinofilme und auch
spannender sind. Jeder verteidigt immer das gute Buch. Es gibt kein Pro nur fürs
Buch. Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens ist trotzdem so stark
herausgefordert wie noch nie. Man muss E-Mails schreiben, Textnachrichten, auf
Facebook - kurz, okay. Aber immerhin wird geschrieben und es wird gelesen. Der
Zwang, Legasthenie zu überwinden, ist heute hundertmal höher als vor zwanzig
Jahren. WhatsApp, E-Mails, et cetera - man kann das alles nicht lesen und
beantworten, wenn man nicht lesen und schreiben kann.

Die Welt: Dann erfüllen Sie eine Art bildungspolitischen Auftrag? Oder wollen
Sie auch bloß wachsen, um gekauft zu werden: Was ist Ihr Ziel?

Hastings: Wir wollen weltweit Qualität, gute Unterhaltung, vor allem gutes
Storytelling liefern. Menschen interessieren sich für Geschichten, das liegt in
ihrer Natur. Und das führt und hält sie zusammen.

Die Welt: Na gut. Sie tun nun so, als ob Sie tolles, innovatives Fernsehen
machen - Netflix, die großen, modernen Erzähler. Dafür stellen Sie dann Teaser
wie Ihre Eigenproduktionen "Narcos" oder "House of Cards" ins Schaufenster.
Dahinter jedoch, das merkt man rasch, wird weniger angeboten, als man denkt,
sodass man relativ schnell an die Grenzen seiner Interessen stößt.

Hastings: Na ja, wer nur danach einkauft, was ihm an der Kasse in Augenhöhe
sozusagen auf dem Präsentierteller serviert wird, der ist auch etwas selbst
schuld, würde ich sagen. Man geht ja in ein Warenhaus, um zu kaufen, was man
braucht. Dazu sucht man auch etwas selbst nach den Dingen.

Die Welt: Es gibt zwar Nachschub, aber von den 1,2 Millionen Filmen, die Sie
außerdem noch anbieten, ist vieles Ramsch. Alte Klamotten. B-Movies, die nicht
mal ins Kino kamen.

Hastings: So ist es natürlich nicht. Ein Vorteil von Netflix ist auch, dass man
selbst kleinste Juwelen findet: "Caché" von Michael Haneke. "Adams Äpfel" von
Anders Thomas Jensen. Autorenfilme, Dokumentationen wie "Pumping Iron", die den
jungen Arnold Schwarzenegger 1977 bei seinem Kampf um "Mr. Olympia" zeigt. Wir
kaufen japanische Serien wie die Komödie "Atelier" über eine junge Japanerin,
deren Karriere plötzlich zerbricht. Originalton mit Untertiteln - ein
Riesenerfolg weltweit. Wir versuchen nicht Hollywood nachzuahmen, sondern suchen
in jedem Land nach den besten Stoffen, polnischen oder koreanischen. Nach
ungewöhnlichen Geschichten, frisch, keine Remakes, um sie weltweit zu teilen.
Und wir hoffen, in fünf oder zehn Jahren die globalen Rechte für alle unsere
Shows zu haben.

Die Welt: Warum gibt es bei Ihnen keine Pornos?

Hastings: Es ist einfach kein gutes Marktsegment. In den USA ist Pornografie
etwas ganz anderes als in Deutschland, nach den Maßstäben dessen, was
gesellschaftlich akzeptabel ist. Der Markt hat zwar ursprünglich in Amerika
begonnen, heute aber steht er dort sehr im Verruf. Pornos würden unser Image und
damit unsere Marke schädigen. Ich denke außerdem, dass Menschen, die so etwas
sehen wollen, anonym bleiben möchten.

Die Welt: Und Sie wollen ja mithilfe Ihrer Algorithmen alles über Ihre Nutzer
wissen.

Hastings: Alles, ja! Wann sie ihre Steuer abgeben, wie oft sie sich am Ohr
kratzen. Nein, ich mache Witze.

Die Welt: "Netflix and chill" - haben Sie mal geprüft, ob die Geburtenrate
gestiegen ist, seit es Sie gibt?

Hastings: Nein, auch darüber liegen uns keine Daten vor. Was wir über unsere
Nutzer wissen, ist lediglich: welche Filme sie sehen und wie lang sie an einem
dranbleiben. Mehr nicht. Wir teilen unsere Daten auch nicht, wir verlinken sie
nicht etwa mit Facebook oder Werbeanbietern. Verglichen mit vielen anderen
Internetunternehmen behandeln wir die Daten unserer Abonnenten diskret.

Die Welt: Angelina Jolie dreht gerade einen Film über Kindersoldaten in
Kambodscha für Sie. Was kostet so was?

Hastings: Nicht so viel. Unsere Filme kosten zwischen fünf und fünfzig
Millionen Dollar. Der Film von ihr liegt im Mittelfeld, es ist eher ein
Autoren-Werk.

Die Welt: Ursprünglich waren Sie Mathematiklehrer. Konnten Sie Ihren Erfolg
berechnen?

Hastings: Ganz so einfach ist es halt nicht. Wobei, Netflix, die reine Idee,
war jetzt gar keine so revolutionäre Erfindung. Die große Herausforderung war
die Realisierung, die "Durchbruch-Technologie", die Server-Kosten. Es geht
darum, dass man das Geld hat und die Infrastruktur, etwas auf den Markt zu
bringen. Deshalb kommt es ja immer zu diesen komischen Fusionen im Silicon
Valley. Deshalb kauft Facebook WhatsApp oder Snapchat. Natürlich könnte Snapchat
selbst auch ein Riesenunternehmen werden. Aber die Größeren müssen alle
Kleineren kaufen und an sich binden, damit keiner größer wird als sie. Sonst
verdrängen sie dich vom Markt.

Die Welt: Was kaufen Sie denn als Nächstes - ein Filmstudio wie "Warner"?

Nein. Wir sind an den Inhalten interessiert, nicht an einer physischen Firma.
Wenn Sie Onliner sind, interessiert Sie auch keine gedruckte Zeitung - außer
vielleicht ein paar der Journalisten, die man möglicherweise abwerben möchte.

Die Welt: Sind Sie sehr streng als Chef?

Hastings: Manchmal, aber nicht streng im klassischen Sinne. Wir arbeiten


einfach diszipliniert. Wenn wir ein Meeting um acht haben, dann fängt es auch um
Punkt acht an - und Punkt meint dann wirklich Punkt. Ich bin eh ein
Frühaufsteher. Heute morgen war ich wegen meines Jetlags entsprechend früh wach
und um sechs Uhr im Gym, das erstaunlich leer war. Ich war der Einzige im
Fitnessraum! Die Deutschen scheinen keinen Sport zu treiben. Okay, es ist
Sonntag. In Amerika - egal welcher Tag: Sie kommen in ein Gym und es ist
knacke-backe voll noch bevor die Sonne aufgeht.

Die Welt: Sie sind 55. Wie sind Sie mit Fernsehen aufgewachsen?

Hastings: Wir hatten drei oder vier Sender, es gab schon Farbe, natürlich. Als
vierzehnjähriger Highschool-Schüler war ich fernsehversessen! Ich habe definitiv
zu viel geschaut. Kaum war ich von der Schule zu Hause, habe ich den Kasten
angeschaltet: Brady Bunch, die Sitcoms der 60er und 70er, egal wie albern, ich
habe alles geschaut. Der Fernseher war mein Freund.

Die Welt: Filme und Serien machen Sie bereits, jetzt auch Dokumentationen.
Haben Sie Pläne, in den News-Sektor zu gehen und auch TV-Nachrichten zu
produzieren?

Hastings: Nein, wir bleiben bei unserem Programm. Wir starten jedoch dieses
Jahr mit einem nächtlichen Talk-Show-Experiment mit Chelsea Handler.

Die Welt: Sie warten auf Erlaubnis in China, sind nicht in Syrien und
Nordkorea, aber neu in Kuba und im Irak: insgesamt in 190 Ländern vertreten.
Welche Restriktionen gibt es, beispielsweise im Irak?

Hastings: Bis jetzt haben wir im Irak keinerlei Einschränkungen. Japan schreibt
vor, Nacktheit von vorne und Genitalien zu pixeln. Wir haben dort Szenen
entsprechend bearbeitet, aber nicht geschnitten. Bislang hatten wir keine großen
Probleme. Aber ich bin sicher, da wird noch einiges auf uns zukommen. Bei 190
Ländern lernen wir selbst noch dazu.

Die Welt: Kennen Sie überhaupt deutsches Fernsehen, "Wetten, dass..?" oder
"Deutschland 83"?

Hastings: Nein, nie gehört.

Die Welt: Demnächst wollen Sie eine Serie für den deutschen Markt produzieren.
Was ist denn typisch deutsch für Sie, Mister Hastings?

Hastings: Uns interessieren TV-Shows, deutsche Produzenten, deutsches Cast,


und, ja, wir wollen in Deutschland produzieren - für ein globales Publikum
wohlgemerkt. Dazu hören wir uns gerade um in Deutschland und sind im Gespräch
mit einigen. Mehr kann ich leider noch nicht verraten. Aber wir freuen uns,
sagen zu können, dass wir gerade die weltweiten Rechte für "Er ist wieder da"
gekauft haben, die Hitler-Satire - außer für Japan, Benelux, Deutschland,
Österreich und die Schweiz.

Die Welt: Immer Hitler. Warum nicht neue, deutsche Filme wie "Victoria"? Oder
den Millionen-Erfolg "Fack ju Göhte", Klassiker von Rainer Werner Fassbinder
oder Fritz Lang - warum Hitler?

Hastings: Wir glauben, dass sich ein weltweites Publikum für die Hitler-Satire
interessieren wird. Wir konnten die Rechte kaufen. Also haben wir zugeschlagen.
Ganz einfach.

UPDATE: 8. Februar 2016

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Montag 8. Februar 2016 9:25 AM GMT+1

Oskar Lafontaine;
"Merkel hat zu oft allein entschieden, das rächt sich!"

AUTOR: Oliver Rasche

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 896 Wörter

HIGHLIGHT: Angela Merkels Umfragewerte sind im Keller, vier von fünf Deutschen
sind unzufrieden mit der Flüchtlingspolitik. "Kriegt sie die Kurve?", fragt Anne
Will. Ihre Gäste sind sich überraschend einig.

Polit-Talks leben von der Kontroverse. Vom Streit, und davon, dass sich die
Gäste leidenschaftlich angehen, unterbrechen, sich verbal einen Kampf liefern.
Tun sie das nicht, wie in dieser Ausgabe von Anne Will, ist die Moderatorin
gefragt. Sie müsste anheizen, die Unterschiede zwischen den Gästen
herausfiltern.

Das gelingt ihr aber diesmal kaum, dabei wirft sie zumindest zu Beginn einiges
in den Ring: Sollte Merkel jetzt nicht gehen, wäre das nicht der richtige
Moment? Anfangs wagt sich noch niemand so weit aus der Deckung. Nicht mal
Lafontaine. Er könne das für Frau Merkel nicht beantworten, sagt der
Linken-Politiker.

Ursula von der Leyen, eben nicht nur Verteidigungsministerin, sondern als
Parteivize in der CDU schon qua Amt Merkels persönliche Ministerin für
Verteidigung, findet die Flüchtlingspolitik ihrer Chefin naturgemäß eh' klasse -
und das gleich für den ganzen Kontinent. "Merkel hält in Europa den Laden
zusammen", findet sie.

Immerhin in dem Punkt widerspricht ihr Lafontaine. Die europäischen Partner


würden sich von Merkels Politik geradezu überrumpelt fühlen. "Frau Merkel hat zu
oft allein entschieden, und das rächt sich jetzt!" Was sich genau rächt und wie
- jedenfalls über die schlechten Umfragewerte hinaus - das lässt der Saarländer
offen. Er wird aber auch nicht danach gefragt.

Jörges: "Merkel hat die Menschen nicht mitgenommen"

Journalist Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Stern-Chefredaktion, springt der


Kanzlerin ebenfalls bei. "Ich bin von der Richtigkeit ihrer Politik 100 Prozent
überzeugt, aber sie hat die Menschen nicht mitgenommen!" Viel Lob und eine
Restmenge an Kritik. Wie generell an diesem Abend. Niemand will hier wirklich,
dass Merkel aufgibt. Auch nicht der neben Lafontaine zweite offenbar als
Kritiker geladene Gast, Autor Peter Schneider. Merkels "Wir schaffen das" sei
eine großartige Geste gewesen, "auf die wir Deutschen stolz sein können", findet
er. "Aber das ist vorbei!", hakt Will ein. Sie muss anschärfen, die anderen
Gäste tun ihr diesen Gefallen nämlich nicht. Und dann wird Schneider deutlicher.

Schneider lobt Merkels humanitären Akt der Grenzöffnung, kritisiert aber scharf,
sie habe versäumt, klar zu machen, dass es Grenzen gibt. Merkel muss sich also
besser erklären? Schneider bietet ihr sogar an, die passende und nötige
Regierungserklärung zu schreiben, er könne so etwas.

Die Kritik der Runde bezieht sich also vor allem auf Merkels
Öffentlichkeitsarbeit? Nein, sie geht schon weiter, nur scheint allen klar zu
sein: Die Frau, die ihre Politik einst als alternativlos bezeichnet hat, ist es
inzwischen selbst. Wer denn sonst? Zumal in der Union? Die SPD wird in eine
solche Runde ja offenbar schon gar nicht mehr eingeladen - sie war jedenfalls
nicht vertreten, wie zuletzt so oft.

Lafontaine findet, die Kanzlerin habe nicht die Weichen gestellt, die
Bevölkerung offen und aufnahmebereit zu machen. Redet dann vom kleinen Mann, der
sich ausgegrenzt fühle. Fischt von linker Seite dort, wo auch die AfD gerne
angelt: Bei denen, die glauben, sie würden zu wenig bekommen und die Flüchtlinge
zu viel. Ein Lehrstück: Politik ist ein Kreis und wer immer weiter nach links
geht, kommt nun mal irgendwann rechts an. Dann ist er plötzlich bei Afrika, bei
Freihandel, "Rohstoffkrieg" der USA - er merkt offenbar nicht, wie er abdriftet,
legt noch nach: Er wolle nicht, dass unsere jungen Leute für Öl sterben müssten.
Warum lässt Will das laufen?

Dürfen nicht fehlen: Die Merkel-Folterknechte von der CSU

Will kriegt die ohnehin müde Runde zunehmend weniger in den Griff: "Herr Jörges,
Assad lässt Aleppo bombardieren, wollten sie dazu etwas sagen?" Jörges holt
Luft: "Dazu wollte ich nichts sagen!" Später will sie von der Leyen etwas
entlocken, Grenzschließungen vielleicht doch? Die Ministerin geht der
Moderatorin lächelnd und deutlich nicht auf den Leim.

Und was passiert, wenn man die ganz großen Themen irgendwie nicht gepackt
bekommt? Man widmet sich den Begrifflichkeiten. Wie nennt man das eigentlich,
wenn man irgendwann zu dem Schluss kommt, dass man keine Menschen mehr aufnehmen
kann? Obergrenze? Erschöpftes Kontingent? Immerhin: Jetzt diskutiert die Runde
erstmals richtig miteinander. Über einen Begriff.

Dann wird ein Gespenst eingespielt, das dieser Tage in keiner


Politik-Inszenierung fehlen darf: Die Merkel-Folterknechte von der CSU,
Seehofer, der immer wieder gegen die Kanzlerin schießt. Kein Plan, so gehe das
nicht, Verfassungsgericht - garniert mit dem Höhepunkt, dem Besuch bei Putin.
Warum lässt Merkel das zu? Ist das Schwäche? Unterschätzt Merkel die böse
Schwester aus dem Süden? "Wir leben doch in einer Demokratie", erklärt von der
Leyen das salopp. Freie Meinungsäußerung, und jeder müsse eben seinen eigenen
Stil wählen. Lafontaine findet das ungewöhnlich, mehr auch nicht. Sind die alle
müde?

Vielleicht hilft der jetzt eingespielte Weckruf: Die Drohnenbilder aus dem
völlig zerstörten Homs in Syrien - Flucht-Ursachen in HD. Hier jetzt mal
einhaken, darüber reden, wie man den Strom der Flüchtlinge stoppen kann, indem
man nach Jahren endlich Ursachen bekämpft? Nein, weiter sind alle wieder nur
irgendwie der Meinung, dass man trotzdem nicht alle aufnehmen könne, und die
Luft entweicht zusehends. Lafontaine jovialt bereits grinsend herum; Zeit für
den Feierabend.

Ob Merkel noch die Kurve kriegt, fragte die Redaktion im Titel. Die Sendung hat
diese Kurve jedenfalls nicht gekriegt.

UPDATE: 8. Februar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 8. Februar 2016 9:59 AM GMT+1

Flüchtlingskrise und Karneval;


Deutsche, entspannt euch endlich!

AUTOR: Dirk Schümer

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1358 Wörter

HIGHLIGHT: Im deutschen Narrenhaus darf auch gefeiert werden. Gelassenheit und


Lebensfreude, auch dies sollte man sich in der Flüchtlingskrise erlauben, ganz
zu schweigen vom Verständnis für den Andersdenkenden.

Die schlechte Nachricht zuerst: Die Welt geht gar nicht unter. Ob diese
Erkenntnis allen hysterischen Mitmenschen gefallen wird, die Deutschland seit
Monaten in den Katastrophenmodus reden? Gemeint sind hier notabene nicht nur
volkstümelnde Heimatschützer, die am liebsten Wohnungen wehrloser Mitmenschen
abfackeln würden.

Diese Kriminellen wirken nicht weniger auf Krawall gebürstet als die moralisch
korrekten Leute von der Gegenseite, die jeden mit Geschrei zum Neonazi erklären,
der auch nur leise Irritation über Merkels Willkommensexzess äußert oder
islamische Frauenversteher höchstens unter der Lupe findet. Man kann getrost
vorhersagen: Die Welt geht auch dann nicht unter, wenn der deutsche Staat wieder
so etwas Unerhörtes wie Grenzkontrollen einführt oder Marokko zu einem sicheren
Staat für Auswanderer erklärt.

Doch die meisten Mitbürger bekommen das leider nicht mit. Zwischen den so
extremen wie schlichten Meinungen der beschränkten Extremisten scheint es in
Deutschland keinen Mittelweg mehr zu geben. Wer weiter Kriegsflüchtlinge in Not
aufnehmen möchte, ist mindestens ein humanistisch verblödeter
Vaterlandsverräter. Wer sich andererseits nach einer Obergrenze der
Gastfreundschaft sehnt oder zu Recht Terroristen in Asylantenheimen verortet,
ist mindestens ein herzloser Hetzer, geistiger Brandstifter oder - wie die einst
seriöse "Süddeutsche Zeitung" inzwischen die Sympathisanten der AfD bezeichnet -
ein "Brüllaffe".

Vor- und Nachteile der Völkerwanderung

Dieses unwürdige Theater gegenseitigen Maximalmisstrauens und wechselseitiger


Beschuldigungen, das man auch gerne als humorloses Rüpeltum bezeichnen darf, hat
das Klima in Deutschland bereits derart vergiftet, dass Gespräche und
Diskussionen - also das Salz in der oft faden Suppe der Demokratie - bis in
Familien und Freundeskreise hinein verstummen.

Können wir nicht mehr die Vor- und Nachteile der aktuellen Völkerwanderung
abwägen und dabei eigene Positionen infrage stellen? Und, wichtiger noch, dürfen
wir uns vor lauter Flüchtlingsrettung oder lauter Flüchtlingsfurcht nicht mehr
unseres Alltags erfreuen? Müssen wir uns schuldig fühlen, weil wir zu wenig
gegen das Elend der Welt unternehmen - oder zu wenig für die Rettung unserer
Identität?

Wer einfach nur normal arbeitet, brav die Steuern bezahlt und sich um die
Familie kümmert, entkommt der Dauerbeschallung schon lange nicht mehr. Und hat
fast schon das Recht zum skeptischen Mitreden verwirkt. Die Flüchtlingskrise hat
alle Themen verdrängt oder - wie jetzt den Karneval - beängstigend unterwandert.
Gibt es noch eine Wirklichkeit jenseits dieses Ausnahmezustands? Wer sich Redner
von Pegida antut, der fürchtet irgendwann in jedem Gebüsch einen dunkelhäutigen
Vergewaltiger.

Und wer den Predigern der großen Volkskirchen lauscht oder Nachrichten im
staatsnahen Gebührenfernsehen über sich ergehen lässt, der wird fast weggespült
von der moralischen Ergriffenheit der Sprecher und vom obligatorischen
Helfersyndrom - was angesichts der guten ökonomischen Polsterung von Bischöfen,
Oberkirchenräten und Nachrichtenvorlesern arg theoretischer Natur bleibt und
eher die weniger Privilegierten zu Opfern überreden soll.

In aufgeheizten Phasen wie der jetzigen tendieren die unspektakulären Menschen


aus der Mitte der Gesellschaft traditionell zum Rückzug ins Private; das war
schon in der DDR so. Wer heute merkt, dass er sich besser nicht allzu laut
beklagt, wenn der Sportverein keine Halle mehr hat, der sattelt stillschweigend
von Tischtennis oder Volleyball um und reagiert sich jetzt beim Joggen oder
Wandern ab.

Wer weder ins schrille Willkommensgejodel noch in xenophobes Gepöbel einstimmen


möchte, der hält einfach den Mund und macht sein Ding. Denn sonderbarerweise
geht das Leben unspektakulär weiter, selbst im Katastrophenmodus. Sogar in
Passau und Rosenheim wird weiter getanzt und Skat gespielt; in der Nachbarschaft
von Flüchtlingsunterkünften gehen Menschen mit dem Dackel spazieren - ohne das
arme Tier auf die vielen Fremden zu hetzen, aber auch ohne täglich Teddybären am
Zaun niederzulegen.

Der neue Extremismus der Tat

Der Karneval, der nach der unwürdigen Silvesternacht in den Medien zum
Gradmesser für die öffentliche Sicherheit werden musste, dient den feiernden
Menschen freilich nicht in erster Linie als Willkommensparty oder als
angsterfülltes Happening mit Pfefferspray. Die Leute wollen einfach nur Spaß
haben. Sie wollen über die verbissene politische Korrektheit sogar über die
Willkommenspolitik lachen und lästern dürfen, ohne zu Unmenschen abgestempelt zu
werden. Und sie wollen mal einen Tag nicht über den Untergang des Abendlandes
nachdenken müssen.

Fast muss man aber fürchten, dass dieses menschliche Grundbedürfnis auf
Zufriedenheit in Deutschland nicht mehr ohne Reue zu kriegen ist. Haben wir
wirklich ein Recht auf persönliches Glück, wenn Millionen aus Syrien zu uns
fliehen, wenn IS-Kämpfer über die Balkanroute kommen, wenn obendrein auch noch
der Euro weiter bröckelt, wenn der böse Putin hinterm Horizont grollt und auf
der anderen Seite des Atlantiks Donald Trump mit dem cholerischen Erstschlag
droht?

Die Antwort lautet: Ja, wir haben ein Recht auf Spaß und Glück gerade in solchen
schlimmen Zeiten! Und wir müssen uns auch nicht rechtfertigen, wenn wir einen
Feierabend lang von den beengten Unterkünften nichts wissen wollen und lieber
einen guten Wein entkorken oder eine unpolitische Schnulze im Fernsehen
gewissenlos genießen. Stinknormal sein - das ist der neue Extremismus der Tat.

Wenn die repräsentative Demokratie die Bürger schon über die Einführung des Euro
oder die Öffnung der Grenzen nicht abstimmen lässt, dann haben die Untertanen
wenigstens ein Recht darauf, nicht minütlich zu den Folgen solcher
Entscheidungen eine aufgeregte Meinung abzulassen oder sich winkend in die
staatlich verordnete Tugendkolonne einzureihen.

Das Vorrecht, in einem liberalen Staat zu leben, bedeutet auch, von diesem Staat
einigermaßen in Ruhe gelassen zu werden. Wenn bei der Flüchtlingskrise in vielen
Städten ohne freiwillige Helfer nichts mehr klappt, dann ist das eine üble
Diagnose für den teuren Staat. Dauerhaft wird man die Lösung des Problems nicht
der Nächstenliebe und der kreativen Freizeitgestaltung der Bürger aufbürden
können, sonst werden sie nervös.

Dass diese Nervosität das soziale Miteinander belastet, dass die Menschen der
Obrigkeit und sogar einander so langsam nichts mehr zutrauen, ist daher keine
skandalöse Sabotage des merkelschen Wir-Schaffensdrangs, sondern durchaus
nachvollziehbar.

Ein Bierchen trotz der Flüchtlingskrise

Wer also einen Nachbarn hat, der von der AfD schwärmt, der sollte ihn nicht als
einen staatsgefährdenden Brüllaffen abtun, sondern sich ruhig mal dessen Sorgen
und Ängste anhören. Und wer Freunde hat, die am liebsten noch ein paar Millionen
Neubürger aus Nahost und Afrika begrüßen möchten, der darf sich die Argumente
für diese Utopie gerne bei einem gemeinsamen Bierchen durch den Kopf gehen
lassen. Sind diese Leute allesamt vor Krieg und Verfolgung geflohen? Wer sind
sie? Und wenn ja, wie viele? Und wann wird ihre schiere Anzahl unseren Alltag so
unverhältnismäßig dominieren, dass der soziale Frieden dadurch in Gefahr gerät?

Vielleicht merkt man bei einem fairen Gespräch unter Mitbürgern endlich, dass
die funkelnde Flüchtlingsmedaille am Revers der Bundesrepublik zwei Seiten hat.
Wenn Politiker und viele Medien Fakten verdrängen und immer nur losteufeln,
sobald die schäbige Seite der Medaille - Kriminalität, Kosten, Logistik,
Kontrollverlust - ins Bild kommen, wird das nie etwas mit dem gelassenen
Miteinander.

Und wenn irgendjemand meint, jedwede Zuwanderung sei für unsere alternde
Gesellschaft des Teufels, kann er seine urdeutschen Tugenden später mal als
verarmter Autist hinterm Zaun ausleben. Wann merken wir endlich, dass beide
Extreme verkehrt sind?

Ansonsten gilt: Ruhig durchatmen! Nicht immer nur schimpfen! Nicht überall
Feinde wittern, sondern Menschen! Das Leben ist kompliziert, aber es geht
tatsächlich weiter in all diesem Kuddelmuddel. Am besten, wir gar nicht so
humorlosen Deutschen machen ein Zitat von Karl Kraus zum Karnevalsmotto 2016:
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

UPDATE: 8. Februar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Samstag 13. Februar 2016 8:54 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
"Wenn ich nach Deutschland komme, muss ich mich anpassen"

AUTOR: Ulf Poschardt und Thorsten Mumme

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 2844 Wörter

HIGHLIGHT: Die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney


kritisiert eine Zweckentfremdung des Asylsystems. Gleichzeitig warnt sie davor,
skeptischen Bürgern Rassismus zu unterstellen.

Die Welt: Der Wahlkampf in Baden-Württemberg nimmt Fahrt auf. Ihr


Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, betet für Angela Merkel. Betet er auch
ein bisschen für die Sozialdemokraten?

Bilkay Öney: (lacht) Das müssen Sie ihn fragen. Im Moment betet jeder für sich.

Die Welt: Wie ist die Stimmungslage in der SPD angesichts der Gefahr, vielleicht
nur viertstärkste Kraft zu werden?

Öney: (überlegt) Gemessen daran, dass die SPD Schlüsselressorts besetzt und gute
Regierungsarbeit leistet, sind die Umfragewerte nicht erfreulich. Die
Erwartungen an die SPD sind allerdings besonders hoch. Denn die SPD steht mit
einem Teil ihrer klassischen Wählerklientel für eine Gruppe sozial
benachteiligter Menschen, die nun in gefühlte Konkurrenz zu Flüchtlingen gerät.
Schon seit zwei Jahren fragen mich die Bürger: "Frau Öney, alle kümmern sich um
die Flüchtlinge. Wer kümmert sich um mich?" Da ist eine große Sorge, zu kurz zu
kommen.

Die Welt: Wo verorten Sie den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in der


Flüchtlingsfrage?

Öney: Ich glaube, dass er mit Frank-Walter Steinmeier frühzeitig deutlich


gemacht hat, dass man die Sorgen der Bürger ernst nehmen muss.

Die Welt: Wo steht die SPD denn im Moment? Und wo stehen Sie innerhalb der
Partei?

Öney: In Volksparteien gibt es immer unterschiedliche Meinungen, die im Volk


vorkommen. Von linksliberal bis konservativ. Es gibt auch große regionale
Unterschiede zwischen den Landesverbänden. Die SPD muss es schaffen, die Stimme
der Vernunft zu sein.

Die Welt: Wie würde sich diese Stimme anhören?

Öney: Sie sollte Abstand nehmen von gewohnten Ritualen und Sprechhülsen,
Formulierungen. Die bringen uns nicht weiter. Man muss sagen, wie wir mit den
1,1 Millionen Flüchtlingen umgehen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland
gekommen sind. Dazu sind ja noch 500.000 EU-Ausländer gekommen. Die werden im
Moment nicht beachtet, aber vor zwei, drei Jahren hatten wir noch eine
Diskussion um Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Das ist in den
Hintergrund gerückt.

Die Welt: Aber das Problem besteht weiterhin.

Öney: Natürlich. Auch EU-Ausländer, die nach Deutschland kommen, sind nicht
sofort perfekt in Arbeit und gesellschaftliches Leben integriert. Auch die sind
teilweise auf Unterstützung angewiesen. In der politischen Auseinandersetzung
rückt das derzeit zwar in den Hintergrund, aber den Bürgern fällt das auf. Die
SPD muss versuchen, zwischen Rechtskonservativen ...

Die Welt: AfD ...

Öney: ... und den ganz Linken ...

Die Welt: Merkel ...

Öney: (lächelt) ... zu vermitteln. Wir haben innerhalb kurzer Zeit so viele
Menschen aufgenommen. Aus integrationspolitischer Sicht ist das kein
erstrebenswerter Zustand. Denn Integration in diesem Tempo kann so kaum
gelingen. Die staatlichen Institutionen sind nicht darauf eingestellt. Das
betrifft auch die Bundespolizei genauso wie das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF).

Die Welt: Dabei ist es wichtig, klarzustellen, wann Flüchtlinge arbeiten dürfen.

Öney: Richtig, eine EU-Richtlinie spricht von neun Monaten. In Deutschland haben
wir das auf drei Monate gesenkt, damit das Ganze den Steuerzahler nicht zu viel
kostet und auch um Integration zu fördern. Damit wurde aber auch eine
Einwanderung in das Asylsystem attraktiver und möglicherweise ausgelöst. Wir
müssen aufpassen, dass das Asylrecht nicht ad absurdum geführt wird.

Die Welt: Sie sprechen also von Asylmissbrauch?


Öney: Nein, von Zweckentfremdung. Ich würde es vermutlich auch so machen. Sie
auch! Wir brauchen mehr Informationen über legale Wege der Einwanderung. Wenn
jemand qualifiziert ist, zum Beispiel ein Arzt oder ein Ingenieur, muss er nicht
in das Asylsystem. Dann muss er nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft mit 20
Männern in einem Zimmer schlafen. Wenn unsere Gesellschaft seine Qualifikationen
braucht, soll er über einen anderen Kanal einreisen können. Aber im Moment
erscheint Asyl offenbar als der schnellste Weg, nach Deutschland zu kommen.

Die Welt: Glauben Sie also nicht an Merkels Satz "Wir schaffen das"?

Öney: Wir schaffen das nicht in diesem Tempo. Das BAMF will seit zwei Jahren
Leute einstellen. Aber die Personalstellen wurden erst spät bewilligt. Dazu gibt
es arbeitsrechtliche Vorgaben und Verfahren, du musst jeden beteiligen: den
Personalrat, den Betriebsrat, die Gleichstellungsbeauftragte. Es ist ja gut,
dass es das alles gibt. Aber das dauert, und es sind langwierige Prozesse.

Die Welt: Ist das wirklich gut? Kann man in so einer Lage nicht auf gewisse
bürokratische Hürden verzichten?

Öney: Na ja, wir können jetzt nicht den Rechtsstaat aussetzen. Aber wir sollten
flexibler sein und im Krisenmodus arbeiten. Und das gelingt nicht überall.

Die Welt: Dann ist es doch praktisch, dass Frank-Jürgen Weise, Chef der
Bundesagentur für Arbeit, seit September 2015 auch das BAMF leitet, oder?

Öney: Nein, ich fand, das war keine gute Entscheidung. Denn es wird teilweise
missverstanden als das Signal: Wir sehen in der Asylpolitik nicht nur eine
humanitäre Aufgabe, sondern vor allem ein Instrument zur Bewältigung des
Fachkräftemangels. Und das passt nicht!

Die Welt: Was für Fehler gab es noch im Krisenmanagement des vergangenen
Herbstes?

Öney: Ich glaube, es war nicht gut, dass nach der Woche, in der die in Ungarn
gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland kommen durften, alle
Entscheidungskraft zu Peter Altmaier ins Kanzleramt gezogen wurde. Dadurch wurde
das von vielen Flüchtlingen so verstandene Signal, die Kanzlerin wolle
Flüchtlinge, also können sie alle hingehen, verstärkt. Sie hätte außerdem
deutlicher klarmachen sollen, dass niemand wegen der Flüchtlinge zu kurz kommt.

Die Welt: Im April 2015 haben Sie im Interview mit der "Welt" gesagt, unsere
Grenzen seien zu durchlässig. Wie ist Ihre Wahrnehmung jetzt?

Öney: Ja, das habe ich gesagt, als der Hype noch ein ganz anderer war.
Inzwischen gibt es teilweise Grenzkontrollen, aber im Grunde hat sich nichts
geändert. Zudem ist die Finanzkrise zwar in den Hintergrund gerückt, aber sie
ist in vollem Gang. Wenn es anderen EU-Ländern schlechter geht, die
Jugendarbeitslosigkeit etwa in Italien, Spanien und Griechenland weiter wächst,
könnte das zu noch mehr Zuwanderung führen. Und an der EU-Niederlassungsfreiheit
will wohl keiner rütteln, auch ich nicht. Also selbst wenn die
Flüchtlingsdebatte aufhören würde, werden wir vermutlich andere
Zuwanderungsdebatten führen.

Die Welt: Und wir haben noch gar nicht über Integration gesprochen.

Öney: Das kommt nach der Zuwanderung. Integration ist ein lebenslanger
Lernprozess. Das betrifft nicht nur Flüchtlinge, sondern jeden. Wenn ich als
Berlinerin nach Stuttgart gehe, muss ich mich anpassen. Wenn ich als Ausländer
nach Deutschland komme, muss ich mich auch anpassen, nur dass dann die
Unterschiede viel größer sind. Das kann innerhalb kurzer Zeit nicht ganz
gelingen. Vor allem nicht, wenn es keinen Druck zur Integration gibt.

Die Welt: Wie erzeugt man Anpassungsdruck?

Öney: Man versucht es über aufenthaltsrechtliche Regularien wie: Wer kein


geregeltes Einkommen hat, bekommt vielfach nicht den angestrebten
Aufenthaltstitel. Das greift allerdings nicht bei EU-Ausländern, denn die haben
Niederlassungsfreiheit. Welche Regelungen für Flüchtlinge gelten sollen,
diskutieren wir gerade.

Die Welt: Warum ist Deutschland so attraktiv für Flüchtlinge?

Öney: Es gab Entscheidungen, die höhere Flüchtlingszahlen zur Folge hatten. Die
Leistungsanpassungen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
2012 etwa. Daraufhin stiegen die Flüchtlingszahlen, vor allem aus dem Balkan,
rasant an. Und damit die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten
können, kam es 2014 zum Asylrechtskompromiss, auch mit der Stimme von
Baden-Württemberg im Bundesrat. Das Arbeitsverbot wurde auf drei Monate gesenkt.
Auch das hat etwas ausgelöst. Denn sofort ging die Information raus: Wenn man
als Flüchtling nach Deutschland kommt, kann man arbeiten. Und dann vielleicht
auch bleiben.

Die Welt: Hat es Sie überrascht, wie gut die Flüchtlinge informiert sind? Der
Durchschnittsdeutsche weiß wohl kaum, was genau im Asylgesetz steht.

Öney: Das Asylrecht ist kompliziert und bislang ein Randthema gewesen. Teilweise
kennen sich die Flüchtlinge im Asylrecht daher auch besser aus als manch
deutscher Politiker. Und so etwas spricht sich sofort herum. Zudem gibt es
Gerüchte. Wir leben in einem Technologiezeitalter. Wenn Sie hier eine Nachricht
absetzen, wird die via Twitter, Facebook und Co. auf der ganzen Welt sofort
gelesen.

Aber das braucht es noch nicht mal: Es reicht schon, wenn jemand aus der
Familie, aus dem Dorf schon in Deutschland ist und sagt: "Wenn ihr kommt, gibt
es hier eine Wohnung, Arbeit, einen Integrationskurs; kommt!" Es spricht sich
alles schnell rum. Die Bilder vom September sind um die Welt gegangen.

Die Welt: Sie meinen das Selfie der Kanzlerin?

Öney: Nicht nur das Selfie, sondern auch Informationen über Asylpakete, die hier
geschnürt wurden. Nach einem Flüchtlingsgipfel kursierte das Gerücht, dass jeder
Flüchtling 670 Euro bekommt, wenn er nach Deutschland kommt. Das war aber nur
die Pauschale, die der Bund pro Flüchtling in der Erstaufnahme an die Länder
zahlen will.

Die Welt: Denken Sie, dass Maßnahmen, die den Zustrom reduzieren sollen, wie
etwa das Asylpaket II, sich genauso schnell herumsprechen wie die Selfies?

Öney: Das kann sein. Vielleicht kommen auch deshalb gerade jetzt so viele. In
Griechenland sind über 70.000 Menschen aufgelaufen, im türkischen Grenzgebiet
über 30.000. Vielleicht eine Art Torschlusspanik.

Die Welt: Schnell nach Deutschland, bevor der Familiennachzug begrenzt wird.

Öney: Ja, diese Information ging auch umher. Aber genau das, was gerade läuft,
ist Familienzusammenführung. Denn es kommen nicht nur junge Männer, sondern
viele Frauen und Kinder.
Die Welt: Unterstützt der Bund die Länder ausreichend?

Öney: Ich habe schon vor zwei Jahren gefordert, der Bund soll die Erstaufnahme
in Eigenregie übernehmen. Denn dann hätte er endlich mehr Druck, die Zahlen zu
begrenzen. Das können die Länder nicht leisten. Sie können auch nicht ohne Ende
Kapazitäten schaffen. Es gibt sie nicht, und es gibt sie nicht so schnell. Es
gibt Grenzen des Machbaren, und wir stoßen natürlich auch an die Grenzen der
Toleranz.

Die Welt: Können Sie nachvollziehen, dass es diese Grenzen gibt?

Öney: Natürlich, weil manche Entwicklungen einfach zu schnell passieren. Es ist


falsch, den skeptischen Bürgern pauschal Rassismus zu unterstellen. Ängste sind
vorhanden. Und Vorfälle wie an Silvester in Köln erhöhen die Toleranz der Bürger
nicht gerade. Seit Jahren sagen etwa 50 Prozent der Bürger, es gäbe zu viele
Ausländer in Deutschland. Das muss ja gar nicht ausländerfeindlich sein, sondern
ist zunächst nur eine Wahrnehmung.

Die Welt: Sind die Deutschen denn tolerant?

Öney: Gemessen daran, dass hier viele Migranten aus aller Herren Länder schon
seit Generationen leben, sind die meisten Deutschen sehr tolerant. Aber es gibt
eben auch Ängste. Und gerade jetzt wollen die Bürger wissen: Wie lange geht
diese Entwicklung noch? Diese Überfremdungsangst gab es immer schon. Aber sie
hat zugenommen, seit die Zahlen angestiegen sind. Deswegen muss man Mechanismen
finden, um die Zuwanderung zu regeln und zu begrenzen.

Die Welt: Also der Julia-Klöckner-Plan?

Öney: Nein. Ich habe schon vor zwei Jahren Migrationsberatungszentren in


Nordafrika und auf dem Balkan gefordert. Nicht in der EU! Seit zwei Jahren
diskutiert die EU darüber, elf Migrationsberatungszentren einzurichten. Bislang
gibt es eines in Griechenland, drei in Italien. Nur: Es hilft ja gar nichts,
diese Hotspots in Europa zu installieren. Denn wenn die Menschen erst einmal
hier sind, werden sie nicht mehr gehen wollen.

Die Welt: Eine andere Art der Sicherung der EU-Außengrenzen?

Öney: Gewissermaßen, denn auch da hat die EU Fehler gemacht. Frontex wurde mit
Milliarden unterstützt. Aber im Moment arbeitet Frontex hauptsächlich als
Seenotrettungsprogramm. Theoretisch bräuchte es auch einen Brüsseler Schlüssel,
eine Art Königsteiner Schlüssel für Europa. Aber ich habe zunehmend den
Eindruck, dass das vergebliche Liebesmüh ist. Es bräuchte ein einheitliches
europäisches Flüchtlingsrecht.

Die Welt: Sind Sie enttäuscht von Europa?

Öney: Ich bin ein bisschen verärgert, was das Tempo angeht. Und oft trifft man
auf die Einstellung: "Was habe ich damit zu tun?" Viele Länder haben überhaupt
kein Interesse daran, einen Flüchtlingsschlüssel für Europa zu entwickeln, weil
sie dann auch Flüchtlinge aufnehmen müssten. Im Moment kommen circa 80 Prozent
der Flüchtlinge nach Deutschland. Ein langfristiges Ziel der EU müsste daher ein
umfassendes europäisches Flüchtlingsrecht sein. Dafür müsste man vielleicht auch
in Deutschland bestimmte Standards für Flüchtlinge senken. Denn im Moment sind
unsere Standards so hoch, dass viele andere Länder sie nicht erreichen. Generell
sind die Standards zwischen den Ländern zu unterschiedlich.

Die Welt: Ein gemeinsames europäisches Flüchtlingsrecht wäre also ein Mittel
zwischen portugiesischen und deutschen Sozialleistungen?
Öney: Es fängt an mit den rechtlichen Vorgaben der Aufnahme. In einigen Ländern
campieren Flüchtlinge auf der grünen Wiese. Und dann kommen sie nach Deutschland
und finden ein nahezu perfektes Aufnahmesystem - wenn sie in das richtige
Bundesland kommen. Auch was die Anerkennungsquoten angeht, gibt es keine festen
Regeln. Es gibt keine einheitliche Liste der sicheren Herkunftsländer. Es geht
also nicht nur in erster Linie um Leistungen, sondern vor allem auch um die
Umsetzung von rechtlichen Vorgaben.

Die Welt: Wie sehen Sie die Rolle der Türkei in der Flüchtlingsfrage?

Öney: Dort leben seit Jahren über zwei Millionen Flüchtlinge. Die Türkei hat
offen gesagt, dass sie das allein nicht schaffen kann. Die türkische Regierung
hat zudem eine Pufferzone vorgeschlagen. Das sollte man zumindest diskutieren.

Die Welt: Auf türkischem Territorium?

Öney: Das müsste man in Absprache mit den Ländern vereinbaren. In Krisengebieten
müsste es in jedem Fall eine Sicherheitszone geben. Sehen Sie, die EU-Kommission
geht davon aus, dass etwa 60 Prozent der Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge
sind. Die Menschen wollen alle nach Europa beziehungsweise in dieses Leben. Wenn
es gelänge, eine Pufferzone zu schaffen, in der auch ein bisschen was produziert
wird, wohin möglicherweise auch deutsche Firmen einen kleinen Teil risikoarmer
Produktion verlagern, könnte man einen Teil der Menschen in so einer
Sicherheitszone unterbringen. Die Menschen wollen ja alle Sicherheit, und sie
wollen Arbeit.

Die Welt: Aber irgendwann wird auch eine Pufferzone zu voll.

Öney: Perspektivisch wird man auch dort nicht alle Menschen unterbringen können.
Und die Ursachen liegen ja woanders. Bei einer Bürgerversammlung wurde ich mal
gefragt: "Wer trägt denn eigentlich Verantwortung für diese Flüchtlingskrise?"
Im Grunde trägt jedes Land Verantwortung für sich und seine Bürger. Jedes Land
muss dafür sorgen, dass seine Bürger in Sicherheit sind. Egal, ob Syrien,
Ägypten, Eritrea, Jemen - jedes Land muss dafür sorgen, dass es keinen
Massenexodus gibt.

Die Welt: Doch viele arabische Länder kommen dieser Verantwortung nicht nach.

Öney: Genau, dabei hat die Region so viele Bodenschätze, viele arabische Länder
sind ja reich! Warum stecken sie dieses Geld nicht in Forschung, in
Wissenschaft, in Industrie? Einige Länder könnten ja praktisch Europa aufkaufen.
Niemand müsste auf Schlauchbooten nach Europa kommen, wenn diese Länder ihren
Reichtum anders verteilen und sinnvoll nutzen würden. Aber stattdessen gibt es
da Konflikte, die aus dem Islamismus oder dem politischem Islam resultieren.

Die Welt: Dabei ist die vom Islam geprägte Weltregion eine der Wiegen unserer
Kultur und Kulturtechniken. Das ist doch eine wahre Tragödie!

Öney: Ja, aber wer nicht mit der Zeit geht, ist nicht konkurrenzfähig! Das gilt
für jede Organisation, für jede Firma, für jede Partei und auch für jede
Religion.

Die Welt: Aber was ist das strukturelle Problem in diesem muslimisch geprägten
Kulturraum?

Öney: Ich kann nicht sagen, dass der Islam integrationshemmend ist. Denn es gibt
ja viele Muslime, bei denen Integration gelungen ist. Es gibt aber auch einige
wenige, die Religion und Tradition für so wichtig halten, dass alles andere in
den Hintergrund rückt. Aber so kann man in Deutschland, im Herzen von Europa,
eben nicht leben. Man wird so nicht erfolgreich sein, weil man sich auf diese
Art praktisch selbst ausgrenzt.

Die Welt: Wenn die historische Dialektik recht behält, müsste es zu diesem
Neotraditionalismus im Islam ja irgendwann eine Gegenbewegung geben.

Öney: Ja, aber solche fortschrittlichen Botschaften müssen von Leuten kommen,
die als Vorbilder oder Ikonen gelten.

Die Welt: Von wem denn?

Öney: Aus den eigenen Reihen. Ich glaube, dass ein Imam für eine geistliche
Gruppe mehr Autorität hat als andere Personen. Die Menschen müssen von
Bezugspersonen angeleitet werden. Experten sagen: Der politische Islam hat viel
Unheil angerichtet, zum Nachteil dieser Länder. Sie haben sich abgekapselt. Im
internationalen Wettbewerb kann man nur bestehen, wenn man mit der Zeit geht.
Und nicht, wenn man in das vorvorvorletzte Jahrhundert zurückgeht.

UPDATE: 13. Februar 2016

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Montag 15. Februar 2016 7:27 AM GMT+1

Arye Sharuz Shalicar;


Manche Freunde gingen zum IS, er ging nach Israel

AUTOR: Hannah Lühmann

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1654 Wörter

HIGHLIGHT: Arye Sharuz Shalicar, Presseoffizier der israelischen Armee, wuchs in


Berlin-Wedding auf. Manche alte Bekannte kämpfen heute für den IS. Jetzt wird an
seiner Schule sein Leben als Theater nachgespielt

"Eigentlich könnte ich jetzt schon sterben." Ein paar Sekunden lang haftet das
Missverständnis; was sagt man darauf? Ist man selbst auch in Gefahr? Der Film
vor dem inneren Auge: Frustrierte, ungefähr vierzigjährige Salafisten-Boys mit
uralten Rachegelüsten stürmen die denkbar harmloseste und idealistischste
Veranstaltung - ein zu großen Teilen muslimisches Schülertheater, das die
Lebensgeschichte eines jüdischen Jugendlichen nachspielt, der vor zwanzig Jahren
am selben Oberstufenzentrum mit Mühe Abitur gemacht hat.

Shalicar lebt jetzt "in der Nähe von Jerusalem"

Aber Arye Sharuz Shalicar meint nur: Eigentlich könnte er jetzt sterben, weil er
alles erreicht hat. Wenn die schon ein Theaterstück über das eigene Leben machen
und so. Arye Sharuz Shalicar sagt häufig "und so", er sagt auch häufig "weißdu",
er klingt dadurch zwanzig Jahre jünger, nach Straße und Hip-Hop und
Jugendkultur. Er will natürlich nicht sterben, auch wenn er einen gefährlichen
Job hat, die eine Hälfte der Woche im Büro in Tel Aviv, die andere auf Einsätzen
mit der Armee unterwegs. Arye Sharuz Shalicar ist Pressesprecher der IDF, der
israelischen Streitkräfte. Er lebt in der Nähe von Jerusalem und möchte auch,
dass man das so schreibt: "In der Nähe von Jerusalem", ohne den Namen seines
Wohnorts. Jetzt ist er in Berlin, für ein paar Tage, für das Theaterstück.

Shalicar hat hier gelebt, im Nordberliner Stadtteil Wedding, seine ganze


Pubertät lang, als einziger Jude unter sehr vielen muslimischen Altersgenossen.
Am Mittwochnachmittag, am Tag der Theaterpremiere, treffen wir uns an der Ecke
Grüntaler Straße/Badstraße, sein alter Kiez. Shalicar hat seinen Kumpel
mitgebracht, mit dem er zur Schule gegangen ist, der Kumpel ist Deutsch-Türke
und reibt sich fröstelnd die Hände. Shalicar grinst und sagt, er habe ja eine
Mütze. Braune Bommeln, Flechtmuster. Fürs Foto müsse die ab, seine Frau könne
sie nicht ausstehen.

Shalicar ist einer von diesen Menschen, die sich das Erzählen der eigenen
Geschichte zur Lebensmission gemacht haben, weil sie das Glück oder das Pech
haben, dass ihre Geschichte für etwas Größeres steht. Shalicars Eltern stammen
aus dem Iran, sie sind Juden. Sie sind in den Siebzigerjahren nach Deutschland
gekommen, Shalicar ist in Göttingen geboren, in Berlin-Spandau aufgewachsen.
Sauberes, sicheres Rand-Berlin. Dann zieht die Familie in den Wedding, weil die
Mutter da einen Laden kauft. Shalicar muss das Gymnasium wechseln. Er versteht
sich super mit den lauten, schwarzhaarigen Jungs in seiner neuen Nachbarschaft,
denn er ist auch ein lauter, schwarzhaariger Junge. Bis er irgendwann versteht,
dass er Jude ist und das etwas bedeutet und die das auch verstehen und sein
Leben sich in die Hölle verwandelt. Das Buch, das Shalicar über seine Geschichte
geschrieben hat, heißt "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude" und
ist vor sechs Jahren erschienen.

Der Titel bezieht sich auf eine Redewendung, die es anscheinend im Iran gibt.
Juden gelten so wenig, dass man bei Regen die Straßenseite wechselt, wenn sie
einem entgegenkommen, aus Angst, ein Tropfen könnte von ihnen abprallen und eine
Krankheit übertragen. Sie werden als "abstoßender, kränker und dreckiger"
empfunden als Hunde. Also ist ein trockener Jude schlimmer als ein nasser Hund.
So steht es auf Seite 345 von Shalicars eigenartigem Bildungsroman, der damit
endet, dass sich der junge Mann entscheidet, nach Israel zu ziehen, "Aliyah zu
machen", wie man das nennt, wenn man als Jude israelischer Staatsbürger wird.

Die Tragik eines Mannes, der überzeugen will

Heute also Armeepressesprecher dort im Rang eines Majors; Chef der


internationalen Abteilung, weißdu, sagt Shalicar, in Europa gibt's natürlich
viele verschiedene Sprachen und so, Russisch, Deutsch, Französisch. Deutsch
sprechen zwei der jungen Männer und Frauen, die für seine Abteilung arbeiten.
Shalicar macht Imagewerbung für die israelische Armee auf Facebook. Spritztour
mit der Marine auf dem Roten Meer, Fallschirmsprung aus dem Helikopter, der
tragische Tod eines Mädchens, das zum Supermarkt ging und von palästinensischen
Terroristen erstochen wird.

Seine offizielle Seite gefällt fast 9000 Leuten. Es sind fast immer die
gleichen, die kommentieren, liken, sich auf sprachlich institutionalisierte
Weise Sorgen machen: Leute, die sich eh schon viel mit Israel beschäftigen. Die
weisen auch sofort darauf hin, wenn mal wieder eine deutsche Nachrichtenseite
nach einer tödlichen Messerattacke in Israel vor allem den getöteten
palästinensischen Angreifer betrauert, weniger das israelische Opfer. Es ist
eine Welt für sich. Das ist vielleicht das Tragische an dieser Art von
Öffentlichkeitsarbeit. Da will einer überzeugen, auch die, die Israel hassen,
aber man hat das Gefühl, er erreicht vor allem die, die auch vorher schon alles
so gesehen haben wie er.

Denn eigentlich will Shalicar ein Vermittler zwischen Welten sein, einer mit
"street credibility". Der Mann, der den Nahostkonflikt als Jugendlicher im
Kleinen schon durchlebt hat, der die Moslems versteht und der jetzt gekommen
ist, ihnen die jüdischen Israelis zu erklären, wenigstens ein bisschen. Aber so
leicht ist es natürlich nicht. Das Merkwürdige an Lebensgeschichten ist ja, dass
sie ihre vermeintliche Zwangsläufigkeit erst im Nachhinein erhalten. Dass aus
dem Weddinger Jungen ein israelischer Major geworden ist, hält auch Shalicar
selbst nicht für zwangsläufig. Es sei halt ein Job, viel Zufall auch, Kontakte.
Er habe ja nicht direkt bei der Armee angefangen, als er nach Israel gekommen
sei, das klinge immer nur so, wenn es irgendwo in den Medien steht.

Wir sitzen beim türkischen Bäcker, trinken heißen schwarzen Tee und essen eine
Art Milchreis, der türkische Freund hat auf Türkisch bestellt. Shalicar war
damals in Berlin mit vielen Leuten gut bekannt, die heute als Kämpfer in Syrien
sind. Er kannte Denis Cuspert flüchtig, den Deutsch-Ghanaer, der unter dem
Pseudonym Deso Dogg ein bisschen Karriere als Gangsta-Rapper gemacht hat, bevor
er in den Dschihad ging, um IS-Gegner zu enthaupten, und möglicherweise bei
einem Luftangriff ums Leben kam.

Shalicar war selber in der Hip-Hop-Crew Berlin Crime, er hat Musik gemacht und
ist zum Beispiel auf einem Album mit dem Rapper Frauenarzt vertreten. Shalicar
erinnert sich an die Zeit, als Cuspert gerade aus der Justizvollzugsanstalt
Plötzensee entlassen worden war. Schon damals habe es geheißen, dem Denis hätten
sie im Knast komplett das Gehirn gewaschen, von dem müsse man sich jetzt
fernhalten. "Der hat auf einmal ständig irgendwas mit Allah gesagt", sagt
Shalicar. "Inschallah und so." Shalicar redet manchmal ein bisschen wie die
Jugendlichen aus "Fack ju Göhte", was lustig ist bei einem Mann, der zuerst in
Berlin Sozialwissenschaften, Islamwissenschaften, Politikwissenschaften und
Judaistik und dann noch Internationale Beziehungen, Nahostgeschichte und Politik
sowie European Studies in Jerusalem studiert hat.

Irgendwann schloss sich Shalicar einer Gang an

Die vielleicht schlimmste Szene in Shalicars Buch ist die, in der er gerade mit
seinem Kumpel in der Nähe des U-Bahnhofs Pankstraße rumhängt und sie von einer
Gruppe junger Palästinenser umkreist werden. Einer von ihnen, der im Buch Fadi
heißt, zwingt Shalicar, den Mund zu öffnen und eine Erdbeere zu essen: "Sieh zu,
Jude, dass du deinen Mund aufmachst, sonst machen wir ihn dir auf." Und weil
Shalicar keine Lust mehr hatte, ständig fertiggemacht zu werden, und
wahrscheinlich auch einfach, weil es allgemein ziemlich schwierig ist, männlich
und Teenager und mit Migrationshintergrund zu sein, wurde er dann auch
irgendwann Gang-Mitglied. Er stach sogar mal auf einen Typen ein, mit dem
Messer, Oberschenkel und Rücken. Fast fünfzehn Jahre später war der Regisseur
Damir Lukacevic bei einer Lesung von Shalicar in der Jüdischen Gemeinde in der
Fasanenstraße und ist so auf den Stoff gestoßen. Er will ihn eigentlich
verfilmen, aber auf dem Weg dahin hat er ein Theaterstück mit Oberstufenschülern
gemacht.

Shalicars türkischer Freund ist eigentlich Pazifist

Wieder auf der Straße. Noch zwei Stunden bis zur Theaterpremiere. Während
Shalicar mit dem Fotografen über eine Kreuzung verschwindet, bleibt sein
türkischer Kumpel auf der Mittelinsel zurück. Es ist komisch, jemanden zu
treffen, den man sozusagen als Buchfigur kennengelernt hat. In "Ein nasser Hund
ist besser als ein trockener Jude" heißt er Sahin, ist sehr religiös und strikt
dagegen, jemand anderen wegen seiner Religionszugehörigkeit zu verurteilen.
Sahin, der eigentlich Sinan heißt und öfters dabei ist, wenn Shalicar mit der
Presse zu tun hat, sagt, er habe eigentlich gar nicht so viel zu tun mit dem
Buch und allem, seine Freundschaft mit Shalicar bleibe sozusagen "unberührt"
davon, aber eigentlich sei er Pazifist, er finde das schon nicht so gut, dass
sein Kumpel bei der Armee sei. Sinan tritt von einem Bein aufs andere; er habe
mal versucht, in der Türkei etwas zu werden, aber dann sei er irgendwie doch
hierhin zurück. So richtig wolle er hier aber auch nicht sein, vor allem mit den
Leuten von früher, das sei nicht so gut.

Als Shalicar zurück ist, laufen wir die Osloer Straße entlang, bis wir vor dem
Eingang des Oberstufenzentrums stehen, an dem Shalicar sein Abitur gemacht hat
und an dem jetzt das Theaterstück aufgeführt wird. "Meine alte Turnhalle!", ruft
Shalicar, wir wollen durch das Gartentor hinein gehen, aber dahinter steht ein
Sicherheitshäuschen, in dem ein freundlicher älterer Herr mit randloser Brille
sitzt. "Wir wollen zum Theater", sagen wir. "Theater?", antwortet er. "Hier ist
doch jetzt die Notunterkunft für Flüchtlinge. Da müsst ihr eins weiter." Von
weiter hinten, im Türeingang, schaut ein Mann und raucht.

Das Theaterstück ist dann übrigens irre gut. Danach kommen die Jugendlichen zu
Shalicar und sind aufgekratzt und stolz und fragen ihn aus. Und einer, der einen
von den arabischen Jungs gespielt hat, sagt: "Ey, Tschuldigung, ja, ich hab da
mal ne Frage. Zu Israel."

UPDATE: 15. Februar 2016

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Dienstag 16. Februar 2016 8:31 AM GMT+1

Personalmangel;
In diesen Branchen haben Flüchtlinge Job-Chancen

AUTOR: Stefan von Borstel


RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1250 Wörter

HIGHLIGHT: Flüchtlinge sprechen kaum Deutsch und haben oft keinen


Berufsabschluss. Doch klagen einige Branchen seit Jahren über Personalnot. Hier
liegen Chancen - wenn nur die rechtlichen Hürden nicht wären.

Für Optimisten sind sie die Fachkräfte von morgen, für Pessimisten die nächste
Generation Hartz-IV-Empfänger: 350.000 anerkannte Flüchtlinge werden in diesem
Jahr in Deutschland auf Jobsuche gehen. Ihr Vorteil: Sie sind jung, tatkräftig
und hoch motiviert. Ihr Nachteil: Sie sprechen kaum Deutsch und können oft
keinen Berufsabschluss vorweisen. Für den deutschen Arbeitsmarkt sind sie
"Geringqualifizierte" - und die sind schwer zu vermitteln.

Dennoch gibt es Arbeitgeber und ganze Branchen, die die Neuankömmlinge mit
offenen Armen aufnehmen. Und das nicht nur aus Solidarität und Menschenliebe,
sondern auch aus eigenem Interesse. Es sind Branchen, denen es schwerfällt,
offene Stellen und Ausbildungsplätze zu besetzen. Fünf Beispiele.

1. Handwerk: Fachkräfte dringend gesucht

Die größte Bereitschaft und auch das größte Potenzial, Flüchtlinge auszubilden
und zu beschäftigen, zeigt das Handwerk. Mit flotten Sprüchen wie "Bei uns zählt
nicht, wo man herkommt, sondern wo man hinwill" oder "Tatendrang welcome. Das
Handwerk begrüßt alle, die mit anpacken wollen" wirbt der Zentralverband des
Deutschen Handwerks geradezu um Arbeitskräfte unter den Flüchtlingen.

Aus gutem Grund: Das Handwerk klagt über Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Mehr
als 180.000 Betriebe müssen in den nächsten Jahren an einen Nachfolger übergeben
werden, wenn sich denn einer findet. 17.000 Lehrstellen blieben unbesetzt. Im
"Kampf um die besten Köpfe" unterliegen die kleinen Handwerksbetriebe oft den
größeren und besser zahlenden Arbeitgebern in Industrie und Handel.

Zusammen mit den Jobcentern und dem Bildungsministerium will das Handwerk nun
10.000 jungen Flüchtlingen zu einem Berufsabschluss verhelfen. "Wir brauchen
keine Schubkarrenschieber, wir brauchen Fachkräfte", erklärt Handwerkspräsident
Hans Peter Wollseifer. Einige Hundert Flüchtlinge aus Afrika und dem arabischen
Raum haben die Handwerker bereits qualifiziert, als Metallbauer, Mechatroniker
oder Maler und Lackierer.

Mit Migranten kennt man sich aus: In den 90er-Jahren nahmen die Betriebe viele
Flüchtlinge aus den Balkankriegen und Spätaussiedler auf. Bei der Integration
"Hand in Hand", so Wollseifer, helfen im Handwerk "die überschaubare Größe der
Betriebe und der beständige Kontakt mit den Kollegen". Wenn jeder der 420.000
Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten in Deutschland einen Integrationsplatz
zur Verfügung stelle, wäre das Problem gelöst, rechnete die IG Metall vor. Die
Gewerkschaft bescheinigt dem Handwerk das größte Potenzial.

2. Gastgewerbe: Schmelztiegel der Nation

Auf motivierte Mitarbeiter ist auch das Gastgewerbe angewiesen: In der Branche
brummt der Jobmotor. Seit Jahren wächst die Beschäftigung. Im vergangenen Jahr
wurde die Millionengrenze bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
überschritten. Die Kehrseite ist der Mitarbeitermangel: Im Jahresmittel 2015
waren über 32.000 offene Stellen bei den Arbeitsagenturen gemeldet, zu Beginn
des Jahres blieben 7000 Ausbildungsplätze unbesetzt, die Abbruchquoten sind
hoch. Jeder zweite Koch- oder Kellner-Azubi sucht sich dann doch etwas anderes.

Die Flüchtlinge sind daher hoch willkommen. "Die Betriebe des Gastgewerbes
wollen gern ihren Beitrag zur bestmöglichen Integration von Flüchtlingen
leisten", erklärt der Spitzenverband Dehoga. Schließlich sei man von jeher
international aufgestellt und per se für Gastfreundschaft. Hotels und
Gaststätten sehen sich quasi als Integrationsschmelztiegel der Nation: Nahezu
jeder dritte Beschäftigte in der Branche ist Ausländer. In keinem anderen
Wirtschaftszweig ist der Anteil so hoch. Dazu kommen Zehntausende Mitarbeiter
und Tausende Unternehmer mit ausländischen Wurzeln.

"Wer, wenn nicht wir, wäre geeignet, durch Ausbildung und Beschäftigung die
Integration von Flüchtlingen konkret zu unterstützen?", fragt
Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges.

3. Pflege: Eine kulturelle Hürde

Aber auch die chronisch unter Personalmangel leidende Pflegebranche hat das
Potenzial der Flüchtlinge entdeckt. "Als eine von einer Vielzahl von Maßnahmen
gegen den Fachkräftemangel in der Pflege könnten bei Flüchtlingen
ausbildungsbereite Menschen identifiziert werden", beschloss der Deutsche
Pflegerat.

In ersten Modellversuchen werden Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan bereits


zu Pflegern ausgebildet. Besonders euphorisch ist die Branche allerdings nicht:
Denn bei den Flüchtlingen handelt es sich meist um junge Männer, "die aus einem
Kulturkreis kommen, in dem Pflege nicht zu den hoch angesehenen Berufen gehört",
wie der Pflegerat vorsichtig formuliert. Pflege ist in diesen Ländern oft
Frauensache.

4. Zeitarbeit: Warten auf den Gesetzgeber

Deutlich einfacher erscheint da eine Integration der Flüchtlinge über die


Zeitarbeit. Zwar könne die Branche mit ihren knapp 900.000 Beschäftigten nicht
allen Flüchtlingen Jobs anbieten - aber doch einen wichtigen Teilbeitrag bei der
effektiven Integration in den Arbeitsmarkt leisten, sagt Thomas Hetz,
Hauptgeschäftsführer des Bundesarbeitgeberverbandes der Personaldienstleister
(BAP).

Die Zeitarbeitsbranche habe in den vergangenen Jahren immer wieder ihre


"Integrationsleistung für Zielgruppen, die es am Arbeitsmarkt schwer haben,
seien es Migranten oder Langzeitarbeitslose", unter Beweis gestellt, so Hetz.

Allerdings muss der Gesetzgeber dafür den Weg frei machen: Denn Flüchtlinge
dürfen zwar nach drei Monaten arbeiten, in der Zeitarbeitsbranche allerdings in
der Regel erst nach 15 Monaten. Ausnahmen gibt es nur für Hochqualifizierte und
in sogenannten Mangelberufen.

Dabei entspricht das Profil des typischen Leiharbeiters dem des typischen
Flüchtlings: Sie sind überwiegend jung und männlich und erfüllen oft
"Tätigkeiten mit einem niedrigen Anforderungsniveau", wie die Bundesagentur für
Arbeit in einer Analyse über die Zeitarbeit schreibt. Für viele junge
Flüchtlinge ohne Ausbildung könnte ein Job als Zeitarbeiter der Einstieg in die
deutsche Arbeitswelt sein.

Kritiker aus den Gewerkschaften fürchten dagegen, die jungen Männer würden so
auf Dauer in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis im Niedriglohnbereich
stecken bleiben. Zwischen 140.000 und 240.000 offene Stellen gibt es derzeit in
der Zeitarbeit, sagt BAP-Geschäftsführer Hetz. "Allerdings werden häufig
Fachkräfte mit Qualifikationen gesucht, die den Flüchtlingen oftmals fehlen."
Das A und O sei zudem die Beherrschung der deutschen Sprache.

5. Logistik: Flüchtlinge ans Lenkrad

Flüchtlinge gegen den Fachkräftemangel - das treibt auch die Speditionen um.
Zahlreiche Unternehmen seien bereit, Flüchtlingen eine Chance zu geben, heißt es
beim Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV). Von einer
"Win-win-Situation" spricht der Verband. Denn die Branche steckt in einer
Zwickmühle: Alle Experten rechnen mit einem weiteren kräftigen Anstieg der
Lkw-Transporte, doch altersbedingt werden in den nächsten Jahren viele Trucker
in den Ruhestand gehen.

Schon heute kommen auf 100 Arbeitslose 75 freie Stellen. "Um den
Fachkräftemangel zu begegnen, sollte man versuchen, Flüchtlinge für den Beruf zu
interessieren", fordert der Verkehrsexperte des Instituts der deutschen
Wirtschaft (IW) in Köln, Thomas Puls. Das könne klappen, meint er, denn 98 aller
Berufskraftfahrer sind Männer, und die große Mehrheit der Flüchtlinge ist
ebenfalls männlich.

Zudem sei es für Flüchtlinge relativ einfach, die Anforderungen an einen


Fernfahrer zu erfüllen. Gefragt ist vor allem Durchhaltevermögen. Gute
Deutschkenntnisse brauchen sie hinter dem Steuer dagegen nicht - anders als in
den meisten anderen Berufen.

UPDATE: 16. Februar 2016

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Dienstag 16. Februar 2016 11:16 AM GMT+1

Hart aber fair;


Plötzlich darf gesagt werden, was vor Kurzem tabu war

AUTOR: Christian Düringer

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1066 Wörter

HIGHLIGHT: Gäste aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Griechenland


diskutierten bei Plasberg über Grenzzäune und Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge.
Hohe moralische Ansprüche haben es inzwischen schwer.

Die Sendung war schon fast vorbei, da fiel Frank Plasberg etwas Bemerkenswertes
auf. "Vor einem halben Jahr war das Reden über Grenzzäune noch undenkbar",
stellte der Moderator nüchtern fest und malte sich aus, was wohl in weiteren
sechs Monaten alles im Rahmen der Möglichkeiten diskutiert werden könnte.

Zuvor war es in der Debatte seiner "Hart aber fair"-Runde um genau diese
Grenzzäune und um eine restriktive Grenzpolitik gegangen. Allerdings nicht
anhand des Beispiels Ungarn, wie das wohl noch vor einem halben Jahr der Fall
gewesen wäre. Im Zentrum stand diesmal Österreich.

Innenministerin spricht von "verschärften Verschärfungen"

Es war tatsächlich überraschend, wie selbstverständlich Österreichs


Innenministerin Johanna Mikl-Leitner inzwischen über die "verschärften
Verschärfungen" ihrer Regierung zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms referieren
konnte, ohne für Unruhe im Publikum oder vehementen Widerspruch aus der Runde zu
sorgen.

Die Festlegung auf eine Obergrenze für Flüchtlinge kritisierte Rolf-Dieter


Krause, Leiter des ARD-Studios in Brüssel, zwar noch als Populismus und "Balsam
für die Volksseele", der Vorschlag, den Kreislauf der unkontrollierten
Einwanderung an der türkisch-griechischen Grenze notfalls mit einer konsequenten
direkten Rückführung in die Türkei zu unterbrechen, blieb hingegen
unwidersprochen.

"Retten soll an erster Stelle stehen, keine Frage", so Mikl-Leitner. "Aber das
Zurückbringen in die Türkei muss die Folge sein und nicht die automatische
Aufnahme in die EU." Noch vor wenigen Monaten war eine ähnliche Methode der
Abschreckung als inhumanes Modell gebrandmarkt worden, für das beispielsweise
die australische Regierung Prügel einstecken musste.

Europäische Runde statt parteipolitisches Klein-Klein

Nachdem in den TV-Talks zur Flüchtlingskrise zuletzt Vertreter unterschiedlicher


Parteien gerne primär um sich selbst kreisten, hatte Plasberg wenige Tage vor
dem EU-Gipfel zur Asylpolitik eine europäische Runde zusammengestellt. Eine gute
Idee, schließlich gilt es als Schlüsselfrage der Flüchtlingspolitik von Angela
Merkel, ob sie die oft beschworene Lösung auf europäischer Ebene organisieren
kann - oder eben nicht.

"Wohin mit den Flüchtlingen - lässt Europa uns im Stich?", lautete die
Überschrift, und neben Mikl-Leitner und Krause waren noch Ungarns Botschafter
Peter Györkös, die griechische Journalistin Kaki Bali und Merkels treuer
Parteisoldat Armin Laschet eingeladen. Wie isoliert Deutschland inzwischen in
der Asylpolitik auf europäischer Bühne dasteht, zeigt aber nicht nur der
zunehmend abweichende Kurs Österreichs. Nachdem auch skandinavische Staaten
gegensteuern, haben sich nun auch die Visegrad-Staaten Tschechien, Polen, Ungarn
und die Slowakei mit einer gemeinsamen Linie gegen Deutschlands
Flüchtlingspolitik in Position gebracht.

Ungarns Botschafter gibt sich betont diplomatisch

Bei Plasberg zeigte sich Peter Györkös allerdings zunächst überaus diplomatisch.
Die Visegrad-Staaten seien ausdrücklich für eine gemeinsame Lösung in Form einer
effektiven Kontrolle der europäischen Außengrenze zwischen der Türkei und
Griechenland. Der Plan, im Zweifelsfall die Außengrenze nach Mazedonien zu
verlagern, sei lediglich ein Plan B. Die Überlegung dahinter deckt sich mit der
Österreichs: Der Druck auf Griechenland soll erhöht werden.

"Der Dominoeffekt der Verschärfungen ist gewollt", gab Mikl-Leitner zu. "Die
Außengrenze muss geschützt werden, erst dann haben wir die Möglichkeiten, über
Quoten zu diskutieren. Es geht darum, Tempo in die Maßnahmen zu bringen."
Laschet war sichtlich darum bemüht, Gemeinsamkeiten mit Österreich und den
Visegrad-Staaten zu betonen.

Er stellte klar, dass auch Deutschland zwischen Schutzbedürftigen und


Wirtschaftsflüchtlingen trenne, sprach sich für eine Unterbringung der
Flüchtlinge nahe der Grenze zu Syrien aus und bezeichnete das Treiben der
Schlepper als "organisiertes Verbrechen an der EU-Außengrenze". Der
stellvertretende CDU-Chef machte aber auch klar, dass das Zurückziehen in ein
nationales Schneckenhaus für keinen EU-Staat eine echte Option sei.

"Meine Deutschlehrerin sagte: Ordnung muss sein"

Darüber, dass die Außengrenzen wieder unter Kontrolle gebracht werden müssen,
herrschte weitgehend Einigkeit in der Runde. Über eine künftige Verteilung der
Flüchtlinge weniger. Györkös mahnte Hilfe und Unterstützung für Länder an, die
Flüchtlinge aufnähmen, sprach sich aber klar gegen eine "Zwangsverteilung" aus.
Das funktioniere nicht. Nachhaltig beleidigt zeigte er sich außerdem aufgrund
der anhaltenden Vorwürfe, sein Land sei zu hart gegen Flüchtlinge vorgegangen.
"Es ist absurd, uns vorzuwerfen, dass wir die Außengrenzen geschützt haben. Wir
haben die offenen Grenzen im Schengen-Raum verteidigt."

Krause war anzurechnen, dass er stets ein differenziertes Bild von Ungarns
Politik zeichnen wollte und sich keineswegs auf ein einseitiges Bashing
beschränkte. Die Kritik am Schutz der Außengrenze sei unberechtigt gewesen,
räumte er ein. Gleichzeitig kritisierte er aber, man könne sich in der Krise
nicht nur die Rosinen herauspicken, und einen gemeinsamen Beschluss als
"Zwangsverteilung" zu bezeichnen sei eines Diplomaten unwürdig.

Außerdem seien Flüchtlinge im vergangenen September menschenunwürdig behandelt


worden. Auch das ließ der Botschafter nicht auf sich sitzen und forderte
Fairness ein: "Täglich kamen 10.000 fast ausschließlich junge Männer und haben
strukturiert ungarische Regeln missachtet, um sich nicht bei uns registrieren
lassen zu müssen. Meine Deutschlehrerin hat immer gesagt: Ordnung muss sein."

Der Wind hat sich in Europa gedreht

Kaki Bali kam leider kaum zu Wort. In ihren wenigen Beiträgen trat die linke
Journalistin dann aber sehr emotional auf und ließ kein gutes Haar an den
Visegrad-Staaten. Scharf kritisierte sie etwa deren Teilnahme an der
Intervention der USA im Irak und warf ihnen vor, sich nun aus der Verantwortung
zu stehlen. Flüchtlinge seien keine Ströme, sondern Menschen, die man nicht
stoppen, sondern nur besser managen könne.

Über das Schicksal der Kanzlerin wurde an diesem Abend wenig spekuliert.
Deutlich wurde aber, wie sehr sich der Wind innerhalb der EU gedreht hat, wie
wenig Merkels moralische Ansprüche den europäischen Zeitgeist dieser Tage
widerspiegeln und wie viele vermeintliche Tabus innerhalb kürzester Zeit
salonfähig geworden sind. Schon nächste Woche dürfte dann ihre Bilanz beim
EU-Gipfel Thema der Runde sein.

UPDATE: 16. Februar 2016


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Mittwoch 17. Februar 2016 10:26 AM GMT+1

Die Seidenstraße;
Wie reiche Römerinnen an ihr Negligee kamen

AUTOR: Berthold Seewald

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 1085 Wörter

HIGHLIGHT: Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. verband die Seidenstraße China mit dem
Römischen Reich. Auf ihr zogen Kaufleute, Heere und Missionare. Das wertvollste
Handelsgut war ein geheimnisvoller Stoff.

Vierzehn Tage dauerte die Fahrt, die Asien näher an Europa heranführen soll. So
lange war ein Güterzug mit zwölf Waggons aus dem Osten Chinas unterwegs, der in
dieser Woche in Teheran eintraf. Vierzehn Tage brauchte er für die rund 6400
Kilometer lange Strecke. Das sind mindestens zweieinhalb Tage weniger, als ein
Schiff für die 10.300 Kilometer lange Seeroute von Shanghai zum iranischen Hafen
Bandar Abbas an der Straße von Hormus benötigt. Bei guten Bedingungen. Und die
Trasse der Bahn ist noch nicht einmal fertig ausgebaut.

Die neue Seidenstraße heißt das Großprojekt, mit dem die chinesische Führung
einen riesigen Wirtschaftsraum erschließen will: 65 Staaten von Zentral- und
Südasien über die Golfanrainer bis nach Europa und Afrika, ein Raum mit fast
zwei Dritteln der Weltbevölkerung und 29 Prozent der globalen
Wirtschaftsleistung. 40 Milliarden Dollar hat Peking vor einem Jahr dafür
bereitgestellt, um ein Bahn-, Straßen- und Seewegenetz auszubauen, das einmal
bis Duisburg reichen soll.

Vorbild ist die Seidenstraße, die seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. China mit der
Mittelmeerwelt verband. Der Name stammt von dem deutschen Geografen Ferdinand
von Richthofen, der damit ein Netz von Trassen bezeichnete, die sich ebenso
durch die Wüsten und über die Hochgebirge Zentralasiens wanden wie sie Pazifik
und Indik vom Chinesischen Meer bis ins Rote Meer erschlossen. Auf der
Seidenstraße zogen Kaufleute, Eroberer und Flüchtlinge, auf ihr verbreiteten
sich Ideen und Religionen. Sie verband die großen Zivilisationen der Alten Welt
und prägte sie nachhaltig.
Schon als die ersten Hochkulturen in Mesopotamien und am Nil entstanden, muss es
Fernstraßen durch Asien gegeben haben. Auf ihnen wurden wertvolle Handelsgüter
wie Lapislazuli oder Zinn gehandelt, den man zur Herstellung von Bronze
brauchte. Völker wie die Sogder im Osten des Iran hatten sich regelrecht darauf
spezialisiert, für einzelne Teilstücke den Zwischenhandel zu organisieren. Doch
ein zusammenhängendes Netz entstand erst, als sich mit dem Aufstieg der
chinesischen und der römischen Weltmacht an beiden Enden riesige
Wirtschaftsräume formierten.

Der erste Impuls ging von China aus. Seine wohlhabende, auf bäuerliche Arbeit
gegründete Zivilisation weckte die Gelüste der Nomaden im Norden und Westen. Da
die militärische Lösung, der Bau der Großen Mauer, selten den gewünschten Erfolg
brachte, verlegten sich die Kaiser auf Diplomatie und Geschenke. Wertvolle
Produkte der Hochkultur sollten die Nomaden beschwichtigen. Überschüssige
verkaufte man an die Nachbarn. Immer neue Wege wurden in den Handel einbezogen.
Schließlich erreichte das wertvollste aller Dinge Rom: die Seide.

Nachdem Rom die Mittelmeerwelt bis an den Euphrat unterworfen hatte, gierten
seine Eliten nach dem Luxus, der ihnen als Herren der Welt zuzustehen schien. Da
kam die Seide gerade recht, "der Stoff, der um einen gewaltigen Betrag von
fernen Gegenden, die auch dem Handel fast unbekannt sind, herbeigeschafft wird,
damit unsere Damen ihren ehebrecherischen Liebhabern im Schlafzimmer nicht mehr
von sich zeigen, als sie es ohnehin in der Öffentlichkeit tun", klagte der
Philosoph Seneca, der wie alle Römer glaubte, Seide wachse auf Bäumen.

Stoffe aus dem Faden der Seidenraupe wurden in Gold aufgewogen. Daher lohnte es
sich, die Gefahren der 9000 Kilometer langen Reise - von den Handelszentren im
Westen Chinas, bis zu den Oasenstädten Syriens - auf sich zu nehmen.

Der Wert ihrer Güter machte die Seidenstraße zu einem begehrten Objekt der
Begierde. Die Feldzüge Roms gegen Parther und Sassaniden galten nicht zuletzt
dem Ziel, den lukrativen Zwischenhandel in Mesopotamien und dem Iran
auszuschalten. Aus der anderen Richtung marschierten chinesische Armeen über die
Seidenstraße nach Westen, um mit dem Fergana-Tal in Usbekistan das "Land der
himmlischen Pferde" in die Hand zu bekommen.

Die arabische Eroberungen seit 632 machten alle Hoffnung zunichte. Byzanz und
China wurden geschlagen, Persien vernichtet - aber der Handel ging weiter. Die
Seidenstraße wurde zu einem gewaltigen Kulturvermittler. In den Oasenstätten im
Tarimbecken und an der Wüste Taklamakan haben Archäologen die Zeugnisse
buddhistischer Mönche, nestorianischer Christen und manichäischer Dynastien
gefunden, die im Dunstkreis der großen Reiche Zuflucht fanden und ihre dort
beargwöhnten Traditionen über Jahrhunderte bewahren konnten.

Der Venezianer Marco Polo traf an der Seidenstraße noch Ende des 13.
Jahrhunderts Anhänger des persischen Religionsstifters Zarathustra, der im
ersten Jahrtausend v. Chr. den Iran missioniert hatte. Hier lag auch die
berühmte Handelsstadt Samarkand, seit jeher eine wichtige Etappe auf der
zentralen Route nach Westen.

Zu Marco Polos Zeiten beherrschten die Mongolen das größte Reich der Geschichte.
Obwohl ihrer "Pax Mongolica" brutale Eroberungszüge vorangegangen waren, führten
die Großkhane ein Goldenes Zeitalter herauf. Über Generationen hinweg konnten
Karawanen von einem Ende ihres Herrschaftsgebiets bis zum anderen ziehen, ohne
sich mit lästigen Zwischeninstanzen abgeben zu müssen. Kein Wunder, dass die
heutigen Führer Chinas dieses Vorbild gern herausstreichen.

Mit den Mongolen gelang es Nomaden der Steppe zum letzten Mal, sich zu Herren
über die Zivilisationen der Bauern zu machen. 1368 schüttelten die Chinesen die
Herrschaft der Großkhane ab, zur gleichen Zeit gingen die sesshaft gewordenen
Türken daran, den Nahen und Mittleren Osten zu erobern.

Zu eigentlichen Zerstörern der Seidenstraße aber wurden die abendländischen


Entdecker und Kaufleute. Hatten Venedig und Genua noch vom Handel mit dem Orient
profitiert, begann ihr Niedergang mit den Expeditionen der Portugiesen in den
Indischen Ozean. Niederländische und englische Flotten folgten.

Ihnen gelang, was Anfang des 15. Jahrhunderts nur kurz den "Schatzschiffen" der
Ming-Kaiser gelungen war: Sie erkannten die maritimen Trassen der Seidenstraße
als eine Einheit und brachten sie unter ihre Kontrolle. Was zuvor über
zahlreiche Zwischenhändler abgewickelt wurde, geschah nun unter Aufsicht
europäischer Kapitäne, deren kanonenbewehrte Geschwader riesige Kolonialreiche
begründeten.

Nicht von ungefähr wollen Chinas Planer nicht nur die kontinentalen Routen der
Seidenstraße zukunftsfähig machen, sondern auch jene zur See, von der Straße von
Malakka über Aden und Suez bis nach Gibraltar und die Häfen an Kanal und
Nordsee. Die Namen, die auch für die Lebensader des Britischen Empires stehen,
sagen einiges aus über die Seidenstraßen-Ambitionen der Führung in Peking.

UPDATE: 17. Februar 2016

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Donnerstag 18. Februar 2016 10:15 AM GMT+1

Europäische Union;
Gipfel der Verzagten und der Egoisten

AUTOR: Stefanie Bolzen und Andre Tauber, London/Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1639 Wörter

HIGHLIGHT: Einst waren die Spitzenpolitiker in Europa zu mutigen Schritten


bereit, um die gemeinsame Sache voranzubringen. Jetzt sind sie mutlos und
verzagt. Die Krisen unserer Zeit lassen sich so nicht lösen.
Es ist eine gut gepflegte Tradition, die europäische Integrationsgeschichte
entlang großer und bedeutender Gipfeltreffen zu erzählen. So etwa die, als
Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand 1984 die EU-Partner nach
Fontainebleau einlud. Die konservative britische Premierministerin Margaret
Thatcher war gekommen, um einen Haushaltsrabatt einzufordern. Europa befand sich
in einer Krise.

In dieser Situation präsentierten Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU)


die Idee, den europäischen Binnenmarkt zu vollenden und Pläne für eine
Wirtschafts- und Währungsunion voranzutreiben. Thatcher stimmte zu. In der
Rückblende war der Gipfel einer der Glanzstunden Europas, in denen es scheinbar
wenig mehr als eine Vision und eine Portion Mut brauchte, um die großen Krisen
zu lösen.

Der Europäische Rat, der sich nun für zwei Tage in Brüssel trifft, dürfte wieder
britische Wünsche nach Zugeständnissen erfüllen. Doch Lösungen für die
Flüchtlingskrise fehlen bislang. Und damit steht der Rat in guter Tradition mit
den Gipfeln der vergangenen Monate. Seit vergangenem Sommer kamen mehr als eine
Million Flüchtlinge nach Europa. Doch noch immer scheitert der Kontinent daran,
eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderung zu finden. Nach jedem Treffen
teilte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit, man habe wieder einen Schritt
nach vorn gemacht.

Mehr wird auch dieses Mal nicht drin sein. Zwar wird über die britischen
Reformforderungen entschieden. Doch in Sachen Migration ist wenig zu erwarten.
"Ich denke nicht, dass dieser Gipfel ein Entscheidungsgipfel werden wird", sagt
ein EU-Diplomat sehr offen. "Wir betrachten den Europäischen Rat als eine
Möglichkeit zur Zwischenbilanz", heißt es von anderer Seite.

Es wird nun immer lauter die Frage gestellt, ob das Tempo ausreicht. Zu einer
regelrechten Wutrede holte vor einigen Wochen Manfred Weber (CSU) aus, der doch
sonst so besonnen wirkende Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im
Europäischen Parlament. "Der Europäische Rat sollte sich mit sich selbst
befassen", forderte Weber im Europäischen Parlament.

Von einem Treffen der "Verzagten" sprach er, von einem Treffen der "Ängstlichen"
und "Egoisten". Im Kreis der Staats- und Regierungschefs herrsche doch die
klammheimliche Freude vor, wenn andere scheiterten. Wie unrühmlich er das im
historischen Vergleich bewertet, reichte er nach. "Frühere Politikergenerationen
hatten den Mut, den Euro auf den Weg zu bringen", sagte Weber. "Sie hatten den
Mut, die Spaltung des Kontinents zu überwinden." Diese Geisteshaltung sei heute
nicht mehr zu erkennen. "Ich sehe ein historisches Versagen", erklärte er und
forderte die Staats- und Regierungschefs auf, endlich Führung zu übernehmen.

Die Frage ist, wie das gelingen soll. Die Zeiten, als die Staats- und
Regierungschefs sich noch im kleinen Kreis die Pfeifen vor dem Kamin anzündeten
und über die großen Lagen in Europa sprachen, sind längst vorbei. Heute ist der
Europäische Rat eine Maschine geworden. Bevor sich die Staats- und
Regierungschefs treffen, haben längst Heerscharen von Beamten getagt. Gelang
ihnen keine Einigung, dann gelingt sie auch den Chefs selten.

Es ist auch der Größe der Europäischen Union geschuldet. "Die EU der 28 ist
heterogener geworden", sagt Werner Weidenfeld, Politikprofessor in München. "Die
Ausgangslage ist eine andere als früher, als man sich noch im kleinen Kreis
traf." Im gleichen Zug habe auch das deutsch-französische Tandem an Bedeutung
verloren. "Das erschwert die Arbeit."

David Cameron spielt sein eigenes Spiel


Hinzu kommt die zunehmende Neigung der Mitglieder, Themen nach Brüssel zu
schleppen, die dort nichts zu suchen haben. "Mittlerweile möchte jeder die ihm
wichtigen Punkte auf die Tagesordnung setzen", klagt ein EU-Diplomat. Davon
verspricht man sich am Ende mehr Aufmerksamkeit. So verfolgt der britische
Premierminister David Cameron schon lange seine eigene Agenda. Cameron führte in
den vergangenen Monaten zwar viele Einzelgespräche mit seinen Kollegen im
Europäischen Rat, den Spitzen von Kommission, Rat und Parlament. Doch zur Lösung
der Flüchtlingsfrage trug er bislang nichts bei.

Ihn interessiert vor allem, dass er irgendwann am Freitag übernächtigt vor die
Mikrofone im Brüsseler Ratsgebäude treten und verkünden kann, dass er die
Schlacht für Großbritannien erfolgreich geschlagen habe. Den Konservativen
kümmert es scheinbar wenig, ob die Reformen gut für den Rest Europas
sind.\x{202c} Der britische Premierminister reitet seit Monaten vor allem auf
zwei Themen herum: Migration und Souveränität. Erstere will er stoppen, indem
EU-Ausländern künftig der Zugang zu Sozialleistungen gekappt wird. Außerdem wird
er die erwarteten Zusagen, dass das Königreich aus der Vertragspräambel einer
"immer engeren Union aussteigen darf" und Garantien als Nicht-Euro-Mitglied
bekommt, als neue Unabhängigkeit von Brüssel preisen.\x{202c}

Wenig hilfreich ist auch Matteo Renzi. Der italienische Premierminister verfolgt
bislang vor allem seinen Wunsch, Brüssel mehr Flexibilität bei der Auslegung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes abzutrotzen. Auf dem letzten Europäischen Rat
im Dezember wetterte er gegen das deutsche Nein zu einer europäischen
Einlagensicherung und gegen die Ostseepipeline Nord Stream, verweigerte in der
Folge aber über Monate die Beteiligung an den Kosten des EU-Türkei-Abkommens.

Die Franzosen unterdessen verhielten sich in der Flüchtlingsfrage lange wie


teilnehmende Beobachter. Nach den Terrorattacken von Paris forderten sie zwar
die Solidarität Europas ein, auch militärisch in Syrien. Doch in der
Flüchtlingsfrage ließ François Hollande die Bundeskanzlerin allein. Die
Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn setzen unterdessen den
Partnern die Pistole auf die Brust. Sie drohten, dass sie im März allein handeln
werden und Mazedonien bei der Abschottung der Grenze zu Griechenland helfen,
wenn bis dahin keine Lösung gelingt. "Das wäre eine denkbar uneuropäische
Lösung", wird in Brüssel geklagt.

Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Werner Faymann schert zunehmend


aus der Phalanx der Merkel-Getreuen aus. "Eine Regierung muss mit Blick auf die
Realität Beschlüsse fassen, die sie im eigenen Land zu verantworten hat", sagte
er in Bezug auf die angekündigte Ausweitung der Grenzkontrollen entlang der
Südgrenze und äußerte seine Sympathie für die Pläne der Visegrád-Staaten,
Griechenland vom Schengen-Raum abzuriegeln.

Merkel fehlt längst die Kraft, alle auf eine Linie zu zwingen. Und so bleibt ihr
wenig übrig, als die um sich zu sammeln, die ihr zu folgen bereit sind - und
eigene Initiativen zu starten. "Es finden derzeit viele Telefongespräche statt",
sagt ein erfahrener EU-Diplomat. Berlin, Brüssel, Athen, Ankara, Wien. Alle
reden derzeit miteinander mit dem Ziel, einen Plan B, also eine Abschottung der
innereuropäischen Grenzen hinter Griechenland, zu verhindern.

Die Lösung muss nach Ansicht Merkels ein Abkommen mit der Türkei bringen. Am
Vormittag wollten sich eigentlich in der Ständigen Vertretung Österreichs in
Brüssel erneut einige Staats- und Regierungschefs der Koalition der Willigen
treffen, die bereit sein wird, der Türkei auch Flüchtlingskontingente
abzunehmen, sollte das Land die Flüchtlingszahlen reduzieren. Erstmals sollte
auch Frankreichs Staatspräsident Hollande teilnehmen.

Aber das Treffen wird nicht stattfinden. Grund ist die Absage der Brüssel-Reise
des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu nach dem Bombenanschlag in
Ankara. Österreichs Kanzler und Gastgeber des Mini-Gipfels, Werner Faymann,
wolle so schnell wie möglich einen neuen Termin koordinieren, hieß es.

Ohnehin hätte die Gruppe nochkeine Beschlüsse fassen können. Noch weiß man
nicht, ob die Türkei wirklich in der Lage ist, die Flüchtlingsströme zu
regulieren. Zwar sank die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge
zuletzt. Doch in Brüssel wird gewarnt, die Zahlen schon als Beleg dafür zu
nehmen, dass die Türkei wirklich die Grenzen dichthält. "Man wird das Frühjahr
abwarten müssen, um die Erfolge zu sehen", sagen mehrere EU-Diplomaten.

Zahlreiche Initiativen werden gestartet, um das Abkommen mit der Türkei zum
Erfolg zu machen. Mit der beschlossenen Nato-Mission in der Ägäis steigt
erstmals auch die Hoffnung, dass die Türkei und Griechenland effektiv bei der
Grenzsicherung kooperieren. Beide Seiten sprechen derzeit auch über ein
Rückführungsabkommen für Flüchtlinge. Auch sollen die ersten Hilfsprojekte für
Flüchtlinge in der Türkei finanziert werden.

Wird die Geschichte Merkel wirklich recht geben?

Merkel bleibt optimistisch, dass sie den richtigen Weg verfolgt. Am Montag
präsentierte sie sich voller Zuversicht im CDU-Präsidium. "Wir sind gewohnt,
dass manches in Europa eine bestimmte Zeit dauert", sagte sie in der Folge. Auch
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker stand zuletzt der Kanzlerin bei. Die
Geschichte werde Merkel recht geben, sagte Juncker der "Bild"-Zeitung. Er
verwies dabei auch auf "die weitblickende Wiedervereinigungspolitik von Helmut
Kohl", die ebenfalls lange umstritten gewesen sei. "Angela Merkel wird all ihre
jetzigen Kritiker im Amt überdauern."

Vieles deutet nun darauf hin, dass der EU-Gipfel Mitte März entscheiden wird.
Bis dahin wird mehr Klarheit herrschen, inwiefern es der Türkei gelingt, die
Grenzen zu schließen. Bis dahin hatten auch der niederländische Premierminister
Mark Rutte und Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats, eine Frist
gestellt, bevor über alternative Pläne zur Lösung der Flüchtlingskrise
gesprochen werden muss.

Die Glanzstunde Europas, die Nacht, in der alles entschieden wird, steht bislang
noch aus. "Der Rat kann jetzt beweisen, dass er wieder eine Führungskraft ist",
sagt Herbert Reul (CDU), Chef der deutschen Unionsparlamentarier im Europäischen
Parlament. Bislang schaut es danach nicht aus. "Im Moment ist das ein Klub der
Egoisten geworden."

UPDATE: 18. Februar 2016

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Donnerstag 18. Februar 2016 10:43 AM GMT+1

Rohstoffe;
Das ist die wahre Macht im Kampf um den Ölpreis

AUTOR: Stefan Beutelsbacher und Holger Zschäpitz

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1170 Wörter

HIGHLIGHT: Die Öl-Supermächte wollen die Förderung einfrieren, um den


Preisverfall zu stoppen. Aber dafür benötigen sie die Hilfe eines Rivalen. Um
ihn zu überzeugen, schmieden sie einen Deal hinter dem Deal.

Es soll eine historische Übereinkunft werden. Ein globaler Pakt, der Staaten vor
dem Ruin rettet. Und der, ganz nebenbei, das vielleicht größte Paradoxon der
Weltwirtschaft löst. Aber schon 24 Stunden, nachdem der Plan geschmiedet wurde,
in Katar, in dem Konferenzzimmer eines Hotels in Doha, droht er zu scheitern.
Ein wichtiger Gegenspieler stellt sich quer.

Am Dienstag hatten Russland und Saudi-Arabien beschlossen, die Ölförderung nicht


weiter zu steigern, wie in der Vergangenheit. Stattdessen sollen die Quoten auf
dem Niveau des Monats Januar bleiben. Wird die Ölflut gestoppt, steigen die
Preise - so lautet der Doha-Deal. Er funktioniert jedoch nur, wenn andere
Ölmächte mitziehen, allen voran der Iran, der über die viertgrößten Reserven der
Welt verfügt. Das schien an Tag eins nach dem Treffen äußerst fragwürdig.

"Wir werden unsere Förderquoten nicht überdenken", sagte Irans Ölminister


Bidschar Namdar Sangeneh. Das Regime will die Produktion nicht begrenzen, so wie
es Russland und Saudi-Arabien in Doha gefordert hatten. Im Gegenteil, die Quoten
sollen sogar steigen. So weit, bis sie wieder das Niveau aus der Zeit vor den
Sanktionen erreicht hätten. Am Mittwoch waren die Ölminister Venezualas und des
Irak nach Teheran gereist, mit der Hoffnung, das Regime doch noch zu überzeugen.
Jetzt beginnt das große Schachern. Es schlägt die Stunde der Petro-Diplomaten.

Leicht wird es nicht. Die Iraner wollen nachholen, was Amerikas Ölembargo,
verhängt im Streit um Atomanlagen, ihnen lange verwehrte. Die tägliche
Produktion sackte von knapp vier auf zweieinhalb Millionen Barrel ab. Jetzt,
nach dem Ende der Strafen, fördert der Iran zwar wieder gut drei Millionen
Barrel. Im Vergleich zu alten Höchstständen ist das wenig: Vor der islamischen
Revolution im Jahr 1979 exportierte das Land mit sechs Millionen Fass in etwa so
viel wie der Erzfeind Saudi-Arabien.

Russland hat einen Plan

Irans Botschafter bei der Organisation erdölexportierender Länder sagte, es sei


jetzt an Saudi-Arabien und den anderen Mitgliedern, ihre Fördermengen zu
drosseln. Sie hätten während der Sanktionen täglich vier Millionen Barrel mehr
gefördert. "Es ist in erster Linie ihre Verantwortung, das Gleichgewicht im
Markt wiederherzustellen", so Mahdi Asali. "Für den Iran gibt es keinen Grund,
das zu tun." Asali machte seinen Konkurrenten auch gleich einen Vorschlag: eine
Kürzung von zwei Millionen Barrel. Die Opec, das mächtige Ölpreiskartell, hat
sich in der Vergangenheit stets geweigert, die Förderung zu zügeln. Zu groß war
die Furcht, Marktanteile an Amerika zu verlieren.

Lehnt Teheran den Doha-Deal tatsächlich ab, könnte der Förderwahn der
vergangenen Jahre weitergehen. Kuwait etwa erklärte, es fühle sich dem Vorschlag
von Doha nur verpflichtet, wenn sich andere Staaten anschlössen. Die Folgen
wären ruinös. Das billige Öl droht Russland, Venezuela und Nigeria in die Pleite
zu treiben, Saudi-Arabien und der Iran leiden zumindest. Grund für den
Preissturz ist ein Überangebot. Die Lager quellen fast über, und was machen die
Staaten? Sie pumpen und pumpen.

Auch der Iran ist an höheren Notierungen interessiert - aber nicht zu seinen
Lasten. Das Nein zum russisch-arabischen Deal könnte daher auch etwas anderes
sein: Politik. Der Versuch, im Spiel der Ölsupermächte besondere Konditionen zu
erlangen.

Die Hauptrolle in der Petro-Diplomatie spielt Russland. Der Kreml handelt nach
dem uralten Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. So gibt es eine weitere
Verabredung, die eine Rolle spielen könnte. Einen Deal hinter dem Deal,
sozusagen. Moskau hilft Teheran gerade bei der militärischen Aufrüstung. Waffen
und Ausrüstung im Wert von umgerechnet acht Milliarden Dollar sollen geliefert
werden. Womöglich können die Aussagen Russlands zu den Förderquoten nur in
diesem Zusammenhang gesehen werden: Dort hieß es, man gehe davon aus, dass sich
der Iran dem Abkommen zum Einfrieren der Förderung anschließen werde. "Wir
würden auf eine solche Entscheidung positiv reagieren", zitiert die russische
Nachrichtenagentur Interfax einen Unterhändler.

Staaten vor dem Kollaps

Die Pendeldiplomatie zeigt, dass selbst Staaten, die nicht gerade eng befreundet
sind, bei dem Thema Öl zusammenrücken. Von Moskau über Riad bis nach Caracas und
Oslo sind die Folgen des Preisverfalls zu spüren. Wie groß der wirtschaftliche
Schmerz ist, lässt sich an den Kreditmärkten ablesen, an denen die Bonität von
Staaten und Unternehmen gehandelt wird.

Venezuela steht demnach kurz vor dem Kollaps. Die Wahrscheinlichkeit, dass das
Land in den kommenden fünf Jahren pleitegeht, liegt bei nahezu 100 Prozent. Auch
dem Irak und Nigeria droht der Ruin. Dort liegt das Bankrottrisiko weit über 50
Prozent. Selbst die ehemalige Supermacht Russland wackelt - und auch
Saudi-Arabien kann sich nicht mehr sicher fühlen.

Rating-Agenturen sind alarmiert

Auch die Ratingagenturen sind angesichts der ökonomischen Folgen des


Ölpreisverfalls alarmiert. Die Bonitätsprüfer von Standard & Poor's (S&P) haben
das Rating für eine Reihe von Petro-Staaten gesenkt. Gleich um zwei Noten wurden
Saudi-Arabien, Bahrain und Oman zurückgestutzt. Bahrein wird bei S&P mit der
Note BB nun in der "Schrott"-Kategorie geführt, Oman liegt nur noch eine Note
darüber, die Saudis vier. Die Bonität von Brasilien und Kasachstan wurde um eine
Note zurückgestuft.

Alle Ölproduzenten hoffen jetzt umso mehr auf ein Gelingen des Doha-Plans. Irans
Ölminister Sangeneh sagte nach dem Folgetreffen mit Venezuela und Irak in
Teheran, was Unterhändler eben so sagen: "Wir hatten ein gutes Zusammentreffen
heute." Man sehe die Zusammenkunft als "ersten positiven Schritt". Man
unterstütze jegliche Kooperation zwischen den Ölproduzenten. Diplomatensätze.

Geheime Öl-Deals haben Tradition

Ob der Doha-Deal Bestand haben wird, dürfte die Welt erst nach der letzten
Verhandlungsminute erfahren. In der Regel würden solche Abmachungen im Geheimen
geschlossen, sagt Jason Bordoff, Direktor beim Center on Global Energy Policy
der Columbia Universität. Der frühere Stratege des Weißen Hauses erinnert an
eine ähnliche Abmachung Ende der 1990er-Jahre als die Asien-Krise zu einem
abrupten Nachfrage- und damit Preisrückgang geführt hatte.

Damals ging die Initiative vom Chef des staatlichen mexikanischen Ölriesen Pemex
aus, Adrian Lajuous. Die Förderkürzung kam für die Akteure an den Märkten völlig
überraschend und ließ den Barrel-Preis von unter zehn auf weit über 30 Dollar
steigen.

Auch jetzt reagieren die Märkte erratisch. Am Donnerstag kletterten die


Notierungen vorübergehend auf mehr als 35 Dollar je Barrel, fielen jedoch später
wieder. Die Verhältnisse sind heute viel schwieriger als vor 17 Jahren. Die
Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien sind zerrüttet, beide liefern sich
Stellvertreterkriege in Syrien und im Jemen.

Zudem sind die USA mit ihrer Schieferölindustrie ein wichtiger Player geworden,
der jenseits aller Vereinbarungen steht. Eine Preisverdreifachung scheint schon
deshalb ausgeschlossen, weil bei Notierungen von 50 Dollar oder mehr Amerikas
Driller wieder im Geschäft sind.

UPDATE: 18. Februar 2016

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Freitag 19. Februar 2016 11:28 AM GMT+1

500 Jahre Reinheitsgebot;


Warum ein Leben ohne Bier undenkbar ist

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1193 Wörter

HIGHLIGHT: Wir sind ein Volk der Biertrinker: Ein Alkoholverbot am Arbeitsplatz
gibt es in Deutschland nicht, und Ärzte empfahlen Bier lange als Nährstoffgeber.
Ein Prost zum 500. Geburtstag des Reinheitsgebots.
Als die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. im April 1516 eine
gemeinsame Landesordnung erließen, die auch strenge Regeln für die Herstellung
von Bier enthielt, hatten sie kaum die Volksgesundheit im Sinn. "Wir wollen",
heißt es da, "dass forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem
Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gerste, Hopfen und Wasser verwendet
und gebraucht werden sollen".

Die ersten beiden Rohstoffe waren knapp, teuer und mit Steuern belegt. Wer Bier
braute, und das tat damals jeder Haushalt, versuchte sie so sparsam wie möglich
zu verwenden. Verdarb ein Sud einmal, war das eine kleine Katastrophe. Man
versuchte das eigentlich ungenießbare Gebräu mit allen möglichen Hausmitteln von
der Ochsengalle bis zum Gips geschmacklich zu retten. Bilsenkraut erhöhte die
berauschende Wirkung. Mit solchen Hexenkünsten sollte nun Schluss sein. Sauberes
Bier brachte auch stetige Steuereinnahmen.

Die historischen Folgen dieses Erlasses allerdings gehen weit über die
Konsolidierung der Staatlichkeit Bayerns hinaus. Das "Reinheitsgebot" beim Bier
hat als alltagskultureller Nationalmythos alle Brüche und Erschütterungen
deutscher Identität überstanden. Dieser Mythos ist unantastbar. Mit Bier fängt
in Deutschland der Spaß an, beim Bier hört er aber auch auf. Über Weinpanscher
gibt es nette Witze. Für Bierpanscher gibt es in der Humorzone keinen Platz.

Kinder sind erwünscht

Der 500. Geburtstag des Reinheitsgebotes ist Pflichtprogramm für das


kulturgeschichtliche Ausstellungswesen. Bayern widmet sich dem Thema von April
an mit einer Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte im Kloster
Aldersbach. Im Mannheimer "Technoseum", dem Landesmuseum für Arbeit und Technik,
kann man jetzt schon tief in die Biergeschichte eintauchen.

Unter dem schlichten Titel "Bier" öffnet das Museum ein weites Panorama der
Kultur-, Technik- und Sozialgeschichte rund um ein Getränk, das als
allgegenwärtiges Nahrungs- und Genussmittel fast so etwas wie eine Nährlösung
ist, in der sich historische Prozesse darstellen lassen. Diese Chance lässt sich
das Mannheimer Haus in gewohnter Professionalität nicht entgehen.

Obwohl Kinder und Jugendliche eine wichtige Zielgruppe sind, malen die
Mannheimer keineswegs den Bierteufel an die Wand. Sucht und Gesundheitsgefahren
des Alkoholmissbrauchs werden zwar ausführlich behandelt, doch insgesamt
durchzieht der Grundgedanke die Schau, dass ein Leben ohne Bier nicht denkbar
und auch nicht wünschbar sei. Und das ist, wie sich jeder überzeugen kann, nicht
der Tatsache geschuldet, dass der baden-württembergische Brauerbund hier, man
möchte fast sagen: natürlich, als Sponsor auftritt.

"Hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier"

Bier ist zivilisatorischer Treibstoff. Die Menschen begannen im Fruchtbaren


Halbmond, also dort, wo heute im Irak und in Syrien zivilisatorische Strukturen
zusammenbrechen, mit der Züchtung von Getreide, weil sie alkoholische Getränke
für Kulthandlungen brauen wollten. Im sumerischen Gilgamesch-Epos aus dem frühen
zweiten Jahrtausend v. Chr. gibt es eine wunderbare Szene, die an diese
Bierkultur der Frühzeit erinnert.

Der grasfressende, zottelige Tiermensch Enkidu fordert den halbgöttlichen


Herrscher Gilgamesch heraus. Der schickt ihm eine Dirne, die ihm Brot zu essen
und Bier zu trinken gibt. Nach sieben Krügen Bier war Enkidu "entspannt und
heiter" und gab sein Wüten auf.

Fast 4000 Jahre später, im Jahr 1960, streikten beim Mannheimer


Landmaschinenhersteller Lanz zehn Tage lang die Arbeiter für ihr Bier. Lanz war
gerade von der amerikanischen Firma John Deere übernommen worden. In der neuen
Betriebsphilosophie war kein Platz für die bisher übliche Frühstückspause mit
Bier und Wurstbrot. Die Arbeiter sollten sich am Firmenkiosk verköstigen. Bier
hatte das nicht im Sortiment. Der Streik war erfolgreich. Ein spätes Echo dieses
klassenkämpferischen Bierdurstes war Gerhard Schröders legendärer Spruch "Hol
mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier".

Arbeit und Abstinenz - ist das wirklich so gut?

Das schrittweise Verschwinden des Bieres aus der Arbeitswelt begann erst vor
etwa 20 Jahren. Ein generelles Alkoholverbot am Arbeitsplatz gibt es in
Deutschland bis heute nicht. Die heute gleichwohl so selbstverständliche
Verknüpfung von Arbeit und Abstinenz gehört zu den jüngsten Errungenschaften
unserer Kulturgeschichte, und man muss sich fragen, ob wir darauf besonders
stolz sein sollen.

Man kann sich schon darüber Gedanken machen, warum wir in dem Gefühl einer immer
größer werdenden individuellen Freiheit leben und uns gleichzeitig immer
strengerer Disziplin unterwerfen.

Manche Bierreklame, die gerade einmal dreißig oder vierzig Jahre alt ist, wirkt
heute wie ein Tabubruch. Kinder holen Bier für den Papa. Die Frau bringt dem
hoch auf dem Traktor sitzenden Landmann das Bier auf den Acker. Weißbekittelte
Ärzte mit grauer Schläfe empfehlen das Bier wegen seines Nährwertes und seiner
vielen Mineralstoffe. Dass Bier "flüssiges Brot" sei, ist keine zynische Parole
der Brauereiindustrie, die von den Gefahren des Alkoholkonsums ablenken will,
sondern eine ziemlich präzise Formel für die Funktion, die das Getränk bis ins
frühe 20. Jahrhundert hatte.

Ohne Bier hätte es keine Industrialisierung gegeben

Es war Grundnahrungsmittel für alle vom Kleinkind bis zum Greis. Solange der
Zugang zu sauberem Trinkwasser schwierig bis unmöglich war, gehörte das
Bierbrauen zu den wichtigsten seuchenprophylaktischen Hygienemaßnahmen. Bier
deckte einen guten Teil des Kalorienbedarfs in den unteren
Gesellschaftsschichten. Ohne Bier kann man sich die Industrialisierung schwer
vorstellen.

Das Brauhaus Essen warb 1920 mit einem bemerkenswerten Plakat für sein
"Kraftbier". Eine erschöpfte Arbeiterfamilie - Vater, Mutter, Kind - sitzt
völlig erschöpft an einem groben Holztisch. Doch der Mann hat das rettende Glas
Bier schon in der Hand und hält es hoch wie einen Abendmahlskelch. Auf dem
Plakat steht: "Kraftbier. Nahrhaft und haltbar. Alkoholarm. Hervorragendes
Familiengetränk".

In der Schwerindustrie und im Bergbau wurde das Biertrinken gefördert. Es galt


auch als probates Mittel, den "Branntweinteufel" zu vertreiben. Auf
Kalorienzufuhr in Form von Alkohol konnte und wollte der Proletarier nicht
verzichten. War das Bier zu teuer, griff er zum billigen Schnaps.

Bierbrauen war Frauensache

In vorindustriellen Zeiten war das Bierbrauen übrigens Frauensache. Ein


Gärbottich gehörte oft zur Aussteuer. Das Bier wurde dort getrunken, wo es
gebraut wurde. Die Industrialisierung erfasste im 19. Jahrhundert sowohl die
Produktion wie die Distribution des Bieres. Die Bierkutsche mit den schweren
Brauereipferden gehört heute unverzichtbar zur Bierfolklore.
Die normierte Bierflasche, der Kronenkorken, der Bierkasten - das alles sind
Alltagsgegenstände, die jeder tagtäglich im Auge oder in der Hand hat. Wenn man
über das kulturelle Elementarphänomen Bier nachdenkt, geht man mit anderen Augen
in den Getränkemarkt. Jedenfalls taten das die Mannheimer Ausstellungsmacher.
Ihnen kam im Getränkemarkt, wo Kistenstapel die Räume definieren, die
entscheidende Gestaltungsidee. Deswegen steht man in Mannheim zwischen lauter
Bierkisten.

UPDATE: 19. Februar 2016

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Montag 22. Februar 2016 11:32 AM GMT+1

Zuwanderung;
Top-Ökonom befürchtet eine Zwei-Klassen-Bildung

AUTOR: Jan Dams

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1515 Wörter

HIGHLIGHT: Clemens Fuest befürchtet, dass die Asylkrise zu einer


Zwei-Klassen-Ausbildung führt. Der Zuzug müsse begrenzt werden, sagt der
Nachfolger von Hans-Werner Sinn. Und er sieht noch ein anderes Problem.

Der Ökonom Clemens Fuest löst in diesem Jahr Hans-Werner Sinn als Ifo-Chef ab.
Mit der "Welt" sprach Fuest über zwei Probleme der deutschen Wirtschaft: den
schier unaufholbaren Rückstand bei der Digitalisierung - und den weiteren Zuzug
von Flüchtlingen.

Die Welt: Herr Fuest, Europa, auch Deutschland, stehen vor vielen Problemen.
Alle reden über die Flüchtlingskrise. Kaum jemand über unseren Rückstand in der
Digitalisierung. Was wird uns langfristig mehr Probleme machen?

Clemens Fuest: Das sind zwei sehr unterschiedliche Gebiete. Aber eines ist
klar: Für unseren Wohlstand ist das Thema Digitalisierung in den nächsten 10, 20
Jahren sehr wichtig. Wir reden da über Technologien, die disruptiv sein können,
die Geschäftsmodelle von Unternehmen zerstören können, ganze Industrien
grundlegend verändern. Deshalb ist das Thema von zentraler Bedeutung für uns.
Die Welt: Sie sagten kürzlich, in der Digitalisierung steht es zwischen den USA
und Deutschland 1:0. Hand aufs Herz, mit Google, Apple, Facebook steht es doch
längst 10:0.

Fuest: Bei den Internetunternehmen sind wir sicherlich ganz hinten dran und
Länder wie die USA oder auch Südkorea sind uns längst enteilt. Allerdings hat
Deutschland seine Stärken in der Industrie. Es bringt uns wenig, in Sektoren
hinterherzulaufen, in denen wir chancenlos sind. Wir müssen sehr aufpassen, dass
die Bereiche, in denen wir stark sind, wie die Industrie, ihre Wertschöpfung
behalten.

Die Welt: Unsere Vorzeigeindustrie ist der Autobau. Macht nicht gerade die
VW-Krise deutlich, dass wir auf diesem Feld zu stark traditionellen Technologien
verhaftet sind und daher bei Themen wie Elektromobilität oder autonomes Fahren
abgehängt werden?

Fuest: Das ist übertrieben. Trotzdem gibt es Gefahren, zum Beispiel mit dem
möglichen Ende der Motoren mit fossilen Brennstoffen. In dieser Technologie
haben wir heute große Wettbewerbsvorteile. Aber ich glaube, die großen
Automobilhersteller haben verstanden, dass sie da etwas unternehmen müssen. Aus
meiner Sicht ist eher gefährlich, dass wir im Bereich Autobau ein Klumpenrisiko
für den Standort haben. Was passiert denn, wenn die Leute keine teuren Autos
mehr haben wollen?

Die Welt: Dann hat Deutschland ein Problem.

Fuest: Eben. Bislang lebt unsere Industrie davon, dass sie Fahrzeuge für das
höhere Qualitätssegment herstellt. Die Frage ist, wie groß da die
Wachstumschancen im Vergleich zu anderen Formen der Mobilität sind. Also zu
kleineren Elektroautos oder Mobilitätssystemen wie Drive Now oder Car to go. Für
die Menschen geht es zunehmend darum, mobil zu sein. Die Frage, welches Auto man
besitzt, wird dagegen unwichtiger.

Die Welt: Was muss sich in Deutschland ändern, damit wir in neuen Industrien
nach vorn kommen oder zumindest nicht abgehängt werden?

Fuest: Kaufprämien für Elektroautos halte ich für eine Schnapsidee. Das bringt
nichts. Das führt nur dazu, dass eher kleine ausländische Autos gekauft werden.
Das ist sehr teuer, und man erreicht wenig damit. Wir würden den gleichen Fehler
wiederholen, den wir bei den erneuerbaren Energien gemacht haben. Es wäre
vielversprechender, das Geld in die Förderung von Forschung zu Elektromobilität
fließen zu lassen.

Die Welt: Die Deutschen halten die Flüchtlingskrise für bedrohlicher als die
Wettbewerbsnachteile in der Digitalisierung. Die meisten Ökonomen - Sie auch -
sahen Ende 2015 durch die Flüchtlingswelle vor allem extrem hohe Kosten auf die
Gesellschaft zukommen. Anders auch als die Industrie anfangs. Woher rührt die
große Skepsis?

Fuest: Zum Beginn der Debatte herrschte bei vielen Euphorie. Die ökonomischen
Probleme, die die Zuwanderung hat, wurden ausgeblendet. Ich habe das von Anfang
an gesagt und geschrieben und fühle mich heute bestätigt. Man hat sich in der
Diskussion nicht wirklich gefragt, was bedeutet das Ganze ökonomisch, sondern
was für ein Gefühl habe ich, wenn da Menschen, denen es nicht gut geht, über die
Grenze kommen. Das ist eine sympathische Haltung, und ich bin sehr dafür zu
helfen. Aber da kommen Leute, die nicht mehr in die öffentlichen Kassen
einzahlen werden, als sie herausbekommen. Daraus folgt, dass die Inländer von
diesem Zustrom nicht profitieren.
Die Welt: Also sind Sie dafür, die Grenzen dichtzumachen?

Fuest: Die Bundesregierung sollte versuchen, eine Gruppe von Ländern


zusammenzubringen, die bereit ist, die Grenzen nach außen stärker zu
kontrollieren, die bereit ist, stärker zusammenzuarbeiten. Ich halte es für
schwierig, wenn Deutschland national vorgeht. Das ist nicht die Ultima Ratio,
aber so weit sind wir noch nicht. Deutschland sollte versuchen, nicht nur mit
Österreich, sondern auch mit Frankreich, den Beneluxländern und Italien zu einer
besseren Kontrolle der Außengrenzen zu kommen. Ich finde es hochproblematisch,
wenn behauptet wird, dass über Immigration nach Europa in Ankara entschieden
wird. Wir werden die Zuwanderung kontrollieren müssen. Auf Dauer kann man
entweder einen Sozialstaat haben oder ungesteuerte Zuwanderung, mit Sicherheit
aber nicht beides.

Die Welt: Politisch wird darüber diskutiert, ob man die Flüchtlinge möglichst
schnell integrieren soll oder ob man das besser nicht tut, damit sie nach Ende
des Krieges in Syrien möglichst schnell nach Hause gehen. Was ist ökonomisch
besser?

Fuest: Jeder, der qualifiziert ist, jeder, der einen Ausbildungsplatz annimmt
und behält, jeder, der in der Schule Fortschritte macht, sollte das Angebot
erhalten, hier zu bleiben, selbst wenn er kein Asylrecht bekommt. Wir brauchen
ja qualifizierte Zuwanderung.

Die Welt: Herr Sinn ist eher dafür, die Neuankömmlinge im Niedriglohnsektor zu
integrieren, als sie auszubilden. Ihr Weg ist das nicht?

Fuest: Es ist richtig, dass nicht jeder Zuwanderer gleich ausbildungsfähig ist.
Man kann den Leuten im Übrigen ohnehin nichts befehlen. Wir sollten möglichst
gute Ausbildungsangebote machen. Dort, wo das Potenzial da ist, sollten wir es
nutzen. Wir dürfen uns nur keine Illusionen machen, dass daraus massenhaft hoch
qualifizierte Leute entstehen. Wir müssen gleichzeitig aufpassen, dass wir
unsere bewährten Ausbildungssysteme nicht mit einer Ausbildung light
unterminieren.

Die Welt: Würden Sie unsere Sozialstandards für Flüchtlinge auf ein allgemeines
europäisches Niveau absenken, um die Zuwanderung weniger attraktiv zu machen?

Fuest: Der Umfang, in dem wir Sozialleistungen senken können, ist begrenzt.
Einige Länder tun ja gar nichts, dort entsteht Not und Elend für die Menschen.
Das wollen wir nicht. Aber wir sollten noch stärker zu Sachleistungen übergehen.
Das aktuelle Niveau der Sozialleistungen in Deutschland lässt sich mit
unkontrollierter Zuwanderung nicht halten.

Die Welt: Die Union diskutiert über die Abschaffung des Mindestlohns. Ist das
sinnvoll oder politisch gefährlich?

Fuest: Manches, was ökonomisch sinnvoll ist, sorgt politisch für Ärger. Man
muss vorsichtig sein, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge zu senken. Es wird ja
auch darüber diskutiert, sie wie Langzeitarbeitslose zu behandeln. Wir sollten
die Instrumente nutzen, die es gibt. Allgemein ist es richtig, darüber zu
diskutieren, ob wir den Mindestlohn so halten können. Derzeit wird ja sogar
darüber diskutiert, den Mindestlohn wie die anderen Tariflöhne zu steigern.
Darüber muss man noch einmal nachdenken. Man sollte ihn mindestens einfrieren,
besser sogar senken, denn die Lage hat sich geändert.

Die Welt: Welche Höhe wäre angemessen?


Fuest: Ich möchte da keine Zahl in die Runde werfen. Aber der Mindestlohn muss
für alle gelten, sonst werden die heimischen Arbeitskräfte aus dem Markt
gedrängt. Das würde zu einer bösen Debatte führen, die wir nicht haben wollen.

Die Welt: Jahrelang hat man den Bürgern erklärt, dass wegen der hohen Schulden
viele Schulen geschlossen werden müssen, warum die Polizei verkleinert wird,
warum es weniger Schwimmbäder gibt. Jetzt, wo die Flüchtlinge kommen, will man
investieren, in Schulen, Kitas und so weiter. War die Sparpolitik falsch?

Fuest: In den vergangenen 15 Jahren hat es einen Trend gegeben, Ressourcen in


den Ausbau von Sozialleistungen wie Renten oder Pflegeleistungen zu leiten,
während man im Kernbereich der öffentlichen Aufgaben abgebaut hat. Das betrifft
nicht nur die Investitionen. Das betrifft zum Beispiel Polizei und Verteidigung.
Der Staat hat seine Kernaufgaben vernachlässigt zugunsten einer Expansion des
Sozialstaats. Diese Strukturen muss man überdenken.

Die Welt: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat die Flüchtlingskrise als


Rendezvous mit der Globalisierung bezeichnet. Sind die Verlierer der
Globalisierung in Deutschland nicht auch jene Bevölkerungsgruppe, die die Kosten
dieses Rendezvous trägt?

Fuest: Wir erleben schon länger, dass die Globalisierung die hoch Ausgebildeten
begünstig, die weniger gut Ausgebildeten benachteiligt. Es wird eine gewisse
Konkurrenz dieser Gruppe mit den Flüchtlingen geben - um Jobs, um Wohnungen, um
Sozialleistungen. Wie gravierend diese Konkurrenz ist, wird von der Flexibilität
des Arbeits- und Wohnungsmarktes abhängen. Wenn wir hier Überregulierungen - wie
die Mietpreisbremse oder das Zurückdrängen der Leiharbeit - abbauen, sind die
Probleme lösbar.

UPDATE: 22. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Samstag 27. Februar 2016 9:13 AM GMT+1

Flüchtlingsunterkunft;
"Bekomme fast täglich Mails von besorgten Bürgern"

AUTOR: Jakob Koch, Philipp Woldin

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1648 Wörter


HIGHLIGHT: 2400 Flüchtlinge sollen ins wohlhabende Hamburg-Eppendorf ziehen.
Investor Hans-Werner Maas baut auf das Gelände lieber eine Unterkunft, als eine
Tankstelle oder eine Waschanlage - trotz Drohungen.

Warum baut ein Investor Flüchtlingsunterkünfte, wenn er auch weitaus lukrativere


Projekte realisieren kann? Für Investor Hans-Werner Maas ist diese Entscheidung
nicht nur eine Frage der Rendite. Mit der "Welt" spricht er über seine Planungen
im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Eppendorf, seine Verantwortung als Investor
und warum er die Kritik vieler Anwohner nicht nachvollziehen kann.

Die Welt: Herr Maas, Sie sind Eigentümer der Fläche an der Osterfeldstraße,
bauen die Unterkünfte mit Perspektive Wohnen, vermieten sie an die Stadt, nach
15 Jahren können Sie die Wohnungen frei nutzen. Sie sind ja Geschäftsmann: Warum
war das für Sie ein gutes Geschäft?

Hans-Werner Maas: Nun, ich habe und hatte die Möglichkeit dieses Grundstück
gewerblich zu nutzen. Es gibt und gab beispielsweise Anfragen für große
Tankstellen, Waschanlagenzentren, bis hin zu Großmärkten für Elektrofachhandel,
die an dieser Stelle ebenfalls genehmigungsfähig sind.

Es ist eine einfache Rechenaufgabe: Ein Wohngebäude wie jetzt die


Folgeunterkunft, das dem Baustandard des geförderten Wohnungsbaus entspricht,
kostet im ersten Bauabschnitt ca. 35 Millionen Euro. Bei einer Tankstelle oder
Waschanlage hat man den Bruchteil des Investments. Zudem hat man einen Mieter,
etwa eine Mineralölgesellschaft, die ein solches Objekt 20 Jahre fest mietet.

"Als guter Immobilienentwickler trägt man auch Verantwortung"

Die Welt: Warum haben Sie diese Angebote nicht angenommen?

Maas: Ich halte es für absolut verwerflich, in unmittelbarer Nähe zum Zentrum
von Eppendorf so ein wertvolles Grundstück für die Stadtentwicklung und den
Städtebau mit so einer minderwertigen architektonischen Nutzung zu belegen. Als
guter Immobilienentwickler trägt man auch Verantwortung. Zudem behalte ich 99
Prozent der Objekte, die ich entwickle, im eigenen Bestand. Als überwiegend
Bestandsimmobilienentwickler hat man einen anderen Blickwinkel. Eine Investition
muss sich nicht innerhalb von ein bis zwei Jahren für einen geplanten Verkauf
rechnen, sondern ich habe die Möglichkeit, langfristig zu denken.

Die Projektierung einer Tankstelle oder einer ähnlichen gewerblichen Nutzung mit
ihren vergleichsweise zum Wohnungsbau erheblich geringeren Baukosten hätte für
mich sicherlich bei damit wesentlich geringerer Investition eine höhere Rendite
bedeutet. Darüber hinaus noch nicht einmal mit einem erhöhten Investitionsrisiko
im Hinblick auf die langfristige Sicherheit der Mieterträge, da - wie bereits
erwähnt - die Mieter typischerweise Großkonzernen angehören.

Die Zielsetzung der Stadt, des Bezirks und auch nach meiner persönlichen
Überzeugung, in Eppendorf Wohnraum zu schaffen, wäre dort dann aber in
absehbarer Zeit nicht mehr zu erreichen gewesen.

Es ärgert mich, wenn mir vorgeworfen wird, ich würde die Unterkünfte nur aus
wirtschaftlichem Vorteil bauen. Offensichtlich sind die Relation der Kosten für
die Erstellung von Wohnungen und die späteren Rückflüsse aus den Mieten den
meisten Menschen weder bekannt, noch informieren sie sich, bevor sie ihre
Meinung bilden.
Es hat doch sicherlich einen Grund, dass die Erstellung von - insbesondere
günstigem - Wohnraum dem Bedarf nicht annähernd entspricht und solche Projekte
in den letzten 10 Jahren eher in geringer Zahl verwirklicht worden sind.

Die Welt: Wie lange dauert der Planungsprozess für die Unterkunft bereits?

Maas: Seit ungefähr zwei Jahren, also schon vor den hohen Flüchtlingszahlen,
arbeite ich mit dem Bezirk zusammen, aus dem jetzigen Gewerbegebiet ein
Mischgebiet zu machen, d.h. den Wohnungsbau dort mit zu ermöglichen. Die sich
zuspitzende Krise im Sommer hat dazu geführt, dass der Bezirk vom Senat
aufgefordert wurde, Flächen für die Flüchtlingsunterbringung zu definieren.
Daraufhin ist der Senat über den zuständigen Staatsrat an den Bezirk und mich
herangetreten, mit dem Wunsch, dieses Gebiet für zirka 15 Jahre für
Folgeunterkünfte zur Verfügung zu stellen.

"Kein Objekt, das nach 15 Jahren abgerissen wird"

Die Welt: Beschleunigte Bauzeiten, der Bau in sonst nicht zugänglichen


Gebieten, Änderung der Bebauungspläne, die Stadt als Mieter:
Flüchtlingsunterkünfte müssten für Investoren und Eigentümer doch eigentlich wie
ein Sechser im Lotto sein.

Maas: Ich bin der Auffassung, dass es für manche, die in Randbezirken eine
solche Entwicklung durchführen, vielleicht ein tragfähiges wirtschaftliches
Konzept gibt. Es kommt darauf an, mit welchen Baustandards man arbeitet. Ich
wäre z.B. niemand, der ein Grundstück vermieten möchte, auf das Container
gestellt werden. Das halte ich für etwas, was gerade in solchen Zentrumslagen
nicht dazu führt, dass eine sinnvolle Integration erfolgt.

Bei dem Objekt an der Osterfeldstraße wird niemand erkennen, dass es sich um
eine Folgeunterkunft für Flüchtlinge handelt. Wir haben dort eine
Rotklinker-Fassade geplant und werden in den Bauqualitäten keinerlei
vorgefertigte Billigteile verwenden. Es ist ein Objekt, was genauso in den
besten Lagen in Hamburg gebaut wird. Es ist ja kein Objekt, das nach 15 Jahren
abgerissen wird. Einige der dort untergebrachten Familien werden mit Sicherheit
auch den Wunsch haben, dauerhaft dort wohnen zu bleiben.

Die Welt: Das klingt alles so, als ob sie die Unterkunft auch aus persönlicher
Überzeugung bauen wollten. Warum?

Maas: Ich habe mich aus drei Gründen motiviert gesehen, es zu tun. Ein Grund
ist, dass die Flüchtlingssituation einen gewissen Grad erreicht hat. Alle
diejenigen, die auch in diesem Land von der wirtschaftlichen Entwicklung
profitiert haben, müssen daran mitarbeiten, das Problem zu lösen. Zudem wird
damit das, was ich für die Osterfeldstraße als sinnvoll erachte, nämlich eine
wohnwirtschaftliche Nutzung, erreicht. Und was bisher so nicht klar publiziert
worden ist: Auch der Betreiber Fördern und Wohnen plant, dass die dort
einziehenden Menschen sobald als möglich eigene Mietverträge bekommen.

Ich habe bisher immer, wenn ich gefragt wurde, im Hintergrund mit meinem
Netzwerk geholfen. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit diesen
Herausforderungen. Ich glaube, es fällt leichter, die Probleme nachzuvollziehen,
wenn man so wie ich einen anderen Werdegang hat als vielleicht jemand, der in
Harvestehude sozialisiert wurde.

Die Welt: Erzählen Sie.

Maas: Ich bin nicht wohlhabend geboren worden. Ich bin in einem Behelfswohnheim
großgeworden und habe als 14-Jähriger begonnen, mit dem Sammeln von
Pfandflaschen mein Geld zu verdienen. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man keine
finanziellen Möglichkeiten hat. Meine Mutter gehörte zu den Menschen, die mit
den Flüchtlingstrecks vom Osten in den Westen geflohen sind.

Ich bin sehr stolz auf die Politik, die Deutschland derzeit macht. Denn wir
werden damit zum ersten Mal als etwas gesehen, was früher nie für unser Land
stand. Deutschland hat die Arme ausgebreitet und nicht wie früher eine Faust
geballt. Wir sind die stärkste Wirtschaftsnation in Europa. Das, was in Syrien
passiert, ist der Kampfschauplatz der Großmächte. Der Grund, warum die Menschen
hierher kommen, ist, dass unsere Kriege nicht mehr hier stattfinden.

Wir haben doch verdammt nochmal die Verpflichtung, uns diesem Problem zu
stellen. In der jetzigen Situation bin ich davon überzeugt, dass viele Menschen,
die gut ausgebildet herkommen, hier in die Arbeitswelt sehr positiv integriert
werden oder auch später wieder in ihre Heimat gehen möchten. Ich möchte mich
selbst nicht als Gutmensch darstellen, aber ich fühle eine Verantwortung.

"Beste integrative Lösung von allen Bezirken in Hamburg "

Die Welt: Das sehen aber nicht alle so wie Sie.

Maas: Das stimmt. Ich bekomme fast täglich Mails von besorgten Bürgern. Manche
sind sachlich, ein Großteil ist unfreundlich bis hin zu Drohungen. Da kommen
Überschriften wie: "Warum machen Sie Eppendorf unsicher?". Das ist doch das alte
Problem: Alles, was unbekannt ist, ist schlecht. Ich würde gern verstehen, was
es gegen das Projekt Osterfeldstraße sachlich einzuwenden gibt. Im Vergleich mit
der Griechenland-Krise, die für die meisten Menschen nur vor dem Fernseher
stattgefunden hat, greift die Flüchtlingskrise durch die Erfordernisse, für
Wohnraum, Integration etc. zu sorgen, in unseren Alltag ein.

Die Welt: Kritiker argumentieren, bei mehr als 2000 Menschen droht die Gefahr
eines sozialen Brennpunkts - auch mangels fehlender Infrastruktur und
Verkehrsanbindung.

Maas: Sind das wirklich Argumente, die wir den Menschen nennen, die jeden Tag
Angst um ihr Leben haben? Wenn wir hier etwa von schlechter Busverbindung reden,
dann macht es mich wütend. So ein Argument kann doch nur von jemand kommen, der
sich darüber Gedanken macht, wo man in Eppendorf den besten Cappuccino bekommt.

Ich hätte gedacht, dass 2016 in einem Stadtteil wie Eppendorf, in dem die
Menschen eher Luxusprobleme haben, eine integrative Kraft vorhanden ist. Ich
finde es weniger schlau gelöst, wenn in Bezirken neue Unterkünfte geschaffen
werden, die nach dem Ende der Nutzungsdauer überhaupt gar keinen Sinn in der
Stadtentwicklung machen. Da finde ich die Lösung wie in Eppendorf
hochintelligent - also einen Bereich dafür zu nutzen, der sowieso Wohngebiet
werden soll. In meinen Augen wurde hier die beste integrative Lösung von allen
Bezirken in Hamburg gewählt. Und das sage ich nicht, weil es mein Projekt ist.

Die Welt: Der Bezirk rechnet damit, dass spätestens Anfang 2017 die ersten
Menschen an der Osterfeldstraße einziehen werden. Ist das realistisch?

Maas: Wir müssen erst einmal abwarten, wie die baurechtlichen Themen, die
Diskussionen der Bürger-Initiativen und möglichen Klagen sich entwickeln. Erst
danach kann man einen seriösen Zeitplan erstellen.

Die Welt: Am Montag ist die große Informationsveranstaltung zur


Osterfeldstraße, Sie werden Rede und Antwort stehen. In anderen Vierteln waren
diese Veranstaltungen oft sehr hitzig. Was erwarten Sie?
Maas: Ich habe die Hoffnung, dass die Eppendorfer unser Konzept verstehen und
appelliere an sie: Unterstützen Sie unser Vorhaben.

UPDATE: 27. Februar 2016

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Sonntag 28. Februar 2016 2:08 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
De Maizière beendet "Zeit des Durchwinkens"

AUTOR: Stefan Aust, Martin Lutz, C.C. Malzahn

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1110 Wörter

HIGHLIGHT: Countdown zur Grenzschließung: Sollte die Flüchtlingszahl nicht


massiv sinken, droht Innenminister de Maizière der EU mit "anderen Maßnahmen".
Experten warnen vor Kosten von zehn Milliarden pro Jahr.

Die Schließung der deutschen Grenzen rückt näher. Die EU-Innenminister geben
sich noch bis zum 7. März Zeit, um die Flüchtlingszahlen erheblich zu
reduzieren. An diesem Tag verhandeln EU-Politiker dann mit der türkischen
Regierung über die Sicherung der EU-Außengrenzen. Den Sondergipfel will die
Bundesregierung nach Informationen der "Welt am Sonntag" zum Wendepunkt machen.

Sollte die Zahl der Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze nicht bald
in einer nennenswerten Größenordnung verringert werden, will Innenminister
Thomas de Maizière "andere Maßnahmen" ergreifen - eine deutliche Drohung in
Richtung EU. Der Ton verschärft sich.

Für de Maizière ist die "Zeit des Durchwinkens" von Flüchtlingen vorbei. Dennoch
ist es unwahrscheinlich, dass er drastische Aktionen ankündigen wird. Er braucht
den Überraschungseffekt, damit die Maßnahmen greifen. Wie die "Welt am Sonntag"
erfuhr, arbeitet sein Ressort bereits an Plänen, die es erlauben, Flüchtlinge in
den nächsten Wochen an der Grenze zurückzuweisen.

Vor den Landtagswahlen am 13. März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und


Sachsen-Anhalt werde allerdings noch nichts geschehen, heißt es in den
Sicherheitsbehörden. Die Entscheidung fällt letztlich nicht de Maizière allein.
Die Order muss aus dem Kanzleramt kommen.

Bayern macht unterdessen weiter Druck. Die Polizeiabteilung des dortigen


Innenministeriums hat kürzlich drei Polizeiverbände - Niederbayern, Oberbayern
Süd und Schwaben Süd/West - gebeten, "Vorüberlegungen" für den Fall anzustellen,
dass die Bundespolizei dauerhafte Grenzkontrollen und die Zurückweisung von
Flüchtlingen anordnet. Das bestätigten bayerische Polizeikreise.

Falls der Sondergipfel zur Flüchtlingskrise scheitert, "muss Deutschland die


Beschränkung auf seinen Anteil mit eigenen Maßnahmen durchsetzen, notfalls auch
ohne EU-Regelung", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. Die Abweisung
müsste "unmittelbar an der Staatsgrenze erfolgen, nicht erst einige Kilometer
landeinwärts".

Die wirtschaftlichen Folgen der Grenzschließung beschäftigen derweil Ministerien


und Verbände. So befürchtet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK),
dass den Unternehmen hierdurch Kosten in Höhe von zehn Milliarden Euro pro Jahr
entstehen könnten. Die Bertelsmann-Stiftung geht von 77 Milliarden Euro binnen
zehn Jahren aus.

Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) ist dagegen


überzeugt, dass diese Zahl viel zu hoch ist. Sein Ministerium beschäftigt sich
in einem internen Papier vom 22. Februar mit den Kosten verstärkter
Grenzkontrollen. Das Dokument liegt der "Welt am Sonntag" vor und trägt den
Titel "Wirtschaftliche Folgen einer Wiedereinführung von systematischen
Grenzkontrollen für Deutschland".

Zwar haben Gabriels Beamte keine genauen Informationen zu den wirtschaftlichen


Auswirkungen einer Grenzschließung. Dennoch lautet das Fazit: "Die ökonomischen
Auswirkungen dürften insgesamt überschaubar bleiben."

Thomas de Maizière hatte schon Ende 2015 ein Zurückweisen von Flüchtlingen für
möglich gehalten. Damals hatte er jedoch erklärt, man habe sich politisch
dagegen entschieden, dies zu tun. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und
Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wollten unbedingt vermeiden, dass hässliche
Bilder von der deutschen Grenze um die Welt gingen - beispielsweise Bilder von
Bundespolizisten, die Flüchtlingsfamilien zurückdrängten.

Momentan sind die Zahlen gering: Die Bundespolizei hat im Januar 5000
Flüchtlinge zurückgewiesen, die aus Afghanistan, Marokko, Iran, Syrien und dem
Irak in die Bundesrepublik gekommen waren. Im Februar wurden nochmals 2300
Flüchtlinge zurück über die Grenze geschickt. Künftig könnten es aber wesentlich
mehr werden. Die Behörden gehen davon aus, dass die Zahl der ankommenden
Flüchtlinge im März wetterbedingt sprunghaft ansteigen wird.

Bereits seit September vergangenen Jahres hat die Bundespolizei einen konkreten
Plan für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, der bislang allerdings im
Panzerschrank liegt. "Nichteinreiseberechtigte Drittstaatsangehörige sind
zurückzuweisen, auch im Falle eines Asylgesuchs", heißt es in einem 30-seitigen
Einsatzbefehl. Er gilt für 21 Hundertschaften der Bundespolizei und könnte
sofort in Kraft treten.

Laut diesem Papier soll Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich die Einreise
verwehrt werden. Eine Einreise wäre dann nur noch Mini-Kontingenten von
Asylsuchenden gestattet. Um das zu erreichen, würden mehr als 60 größere
Grenzübergänge sowie die Brücken über die Flüsse Salzach und Inn gesperrt
werden. Dort könnten notfalls auch Wasserwerfer zum Einsatz kommen, um
Grenzübertritte zu verhindern.
Zu dem Plan gehört ferner, dass die Bundespolizei auch im bayerischen Hinterland
Flüchtlinge ergreift, die an den Kontrollen vorbei über die grüne Grenze kommen.
Zudem könnten Immigranten aus Aufnahmezentren direkt zurück an die Grenze
geflogen werden - mit Hubschraubern der Bundespolizei.

Rechtliche Grundlage ist das Asylverfahrensgesetz. Es sieht vor, dass


Flüchtlinge, die aus einem sicheren Drittstaat kommen, zurückgewiesen werden
können. Laut dem Dublin-Abkommen ist derjenige Staat der Europäischen Union für
die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in dem ein Einwanderer den
EU-Raum betritt.

Personell wäre die Bundespolizei lediglich eine Woche, maximal zwei Wochen lang
in der Lage, solche Zurückweisungen vorzunehmen. Selbst dann, wenn
Bereitschaftspolizeien der Länder als Verstärkung anrücken würden.

Politisch ginge es Regierungskreisen zufolge auch nicht um die Dauer der


Maßnahme, sondern um ein Signal an die Flüchtlinge. Dass dies nicht im
Widerspruch zu Merkels Willkommenskultur und der Maxime "Wir schaffen das"
stünde, müsste die Kanzlerin der Öffentlichkeit aber plausibel erklären.

Angesichts des Flüchtlingsstroms streben einige EU-Länder an, zeitweilige


Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums bis Ende 2017 zu verlängern. Neben
Deutschland befürworten dies Österreich, Belgien, Schweden und Dänemark. Nach
den jetzigen Regelungen des Schengener Grenzkodex, der die Reisefreizügigkeit
innerhalb der EU garantiert, müsste die Bundesrepublik ihre Kontrollen im Mai
dieses Jahres beenden.

Die Regierung hatte am 13. September 2015 vorübergehend Grenzkontrollen an den


deutschen Grenzen eingeführt. Der Schwerpunkt liegt an der
deutsch-österreichischen Grenze, weil dort die Balkanroute endet. Die Frist
dafür läuft am 13. Mai aus.

Der Auftritt der Kanzlerin in einer Talkshow der ARD am Sonntagabend wird nun
mit Spannung erwartet. Im Herbst hatte Angela Merkel ebendort ihre Politik der
offenen Grenzen verteidigt. Nun ist mindestens mit weiteren Kurskorrekturen zu
rechnen. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

UPDATE: 28. Februar 2016

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Sonntag 28. Februar 2016 10:01 AM GMT+1


Mark Zuckerberg;
"Die Angst vor künstlicher Intelligenz ist hysterisch"

AUTOR: Mathias Döpfner

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 5525 Wörter

HIGHLIGHT: Er zählt zu den wichtigsten Unternehmern der Welt. Ein Gespräch mit
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg über Redefreiheit im Internet, virtuelle Welten
- und den wahren Beginn seiner Erfolgsgeschichte.

Welt am Sonntag: Mark, auf Facebook erfahren wir, dass Sie am Brandenburger Tor
joggen waren. Wie war es?

Mark Zuckerberg: Gut. Ich war zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder im Schnee
joggen. Wenn ich in eine andere Stadt komme, hilft mir das Joggen immer dabei,
mich an die richtige Zeitzone zu gewöhnen und eine Gelegenheit zu haben, die
Stadt kennenzulernen - insofern war das großartig.

Welt am Sonntag: Sie sind nicht zum ersten Mal in Berlin.

Zuckerberg: Nein, und ich liebe es. Berlin ist weltweit eine meiner
Lieblingsstädte. Ich mag die Energie. Die Stadt ist so jugendlich, hat
gleichzeitig so viel interessante Vergangenheit. Damit meine ich auch die
jüngere Geschichte, die Wiedervereinigung. In vielerlei Hinsicht ist Berlin für
mich ein Symbol dafür, was wir bei Facebook als unsere Mission auffassen:
Menschen zusammenzubringen, Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen und
Trennendes einzureißen.

Welt am Sonntag: Wie lange waren Sie joggen?

Zuckerberg: Heute nur sechs Kilometer. War kurz.

Welt am Sonntag: Kann Berlin eine Rolle als europäisches Zentrum für
Digital-Unternehmen spielen? Immerhin rangiert es weltweit jetzt auf Platz 9
unter den Start-up-Hubs.

Zuckerberg: Absolut. Berlin bietet eines der lebhaftesten Start-up-Umfelder in


Europa. Eigentlich nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Hier
entsteht eine interessante Dynamik.

Welt am Sonntag: Wird es im Silicon Valley ernst genommen?

Zuckerberg: Ja. Natürlich ist das Silicon Valley schon irgendwie einzigartig,
und noch ist Berlin damit nicht vergleichbar. Aber von all den verschiedenen
Städten, die eine Start-up-Infrastruktur aufbauen, ist Berlin diejenige, in der
die ähnlichste Energie herrscht. Mich würde es nicht überraschen, wenn hier
schon in kurzer Zeit ein vergleichbares Ökosystem wachsen würde.

Welt am Sonntag: Bis jetzt steht Berlin eher für kreative Ideen, nicht so sehr
für großes Finanzvolumen. Sie glauben aber, das Geld folgt den Ideen?

Zuckerberg: Ja, aber es geht nicht nur um Geld. Wenn man sich anschaut, welche
Unternehmen im Silicon Valley aufgebaut wurden, dann waren das zunächst
Chiphersteller. Und heute sind die Unternehmen, die da sind - beispielsweise
Apple -, viel erfolgreicher, als die Chiphersteller es je waren. Aber ein
Unternehmen wie Apple kann es gar nicht geben ohne die Infrastruktur der
Technologie-Unternehmen. Die fehlen in Berlin. Aber die Stadt holt auf.

Welt am Sonntag: Hat Facebook oder haben Sie persönlich schon in ein Berliner
Unternehmen investiert?

Zuckerberg: Persönlich investiere ich nicht in viele Unternehmen, weil ich


glaube, das wäre dann ein Interessenkonflikt. Und für Facebook ist das auch
nicht üblich. Transaktionen auf Unternehmensebene sind bei uns, wenn wir sie
machen, meistens entweder Geschäftspartnerschaften oder die Übernahme eines
ganzen Unternehmens. Aber es gibt natürlich eine Reihe von Firmen aus Berlin,
mit denen wir eng zusammenarbeiten. Wooga, einer der großen Entwickler für
unsere Plattform, der eine Menge Spiele entwickelt hat. Oder Dubsmash, es war
eines der ersten Unternehmen, mit denen wir rund um die Messenger-Plattform
zusammengearbeitet haben. Ein anderes Beispiel ist Soundcloud.

Welt am Sonntag: Sie waren bei dem Axel Springer Accelerator Plug and Play.

Zuckerberg: Ja. Ich habe mir da die Initiative "REDI - School of Digital
Integration" zeigen lassen, in der sich für mich zwei Dinge überschneiden, die
mir sehr am Herzen liegen: die Mission, Menschen miteinander in Verbindung zu
bringen und zugleich Trennlinien niederzureißen. Die Flüchtlingskrise dreht sich
für mich vor allem genau darum. Das bewundere ich auch an der deutschen
Führungsrolle in der Welt: Wenn ich mich in der Welt umschaue, sehe ich all die
Länder, die die Menschen abweisen, und das ist furchtbar, finde ich. Ich weiß
auch, dass es Probleme gibt, mit denen Deutschland kulturell bei der Frage der
Integration umgehen muss. Aber diese Haltung ist das, was ich zutiefst, wirklich
zutiefst bewundere! Deshalb wollte ich mich mit diesen Leuten treffen und mir
selbst ein Bild machen, ihnen zuhören, was sie in Syrien zurückgelassen haben,
wie sie angefangen haben, programmieren zu lernen. Das war wirklich berührend!
Klar, mir liegt Technologieunterricht sehr am Herzen, Programmieren als
Lehrinhalt. Es war wirklich cool, das zu sehen.

Welt am Sonntag: Ihr derzeitiges Lieblingsthema ist Virtual Reality. Warum sind
Sie so sicher, dass VR nicht bloß ein Hype ist?

Zuckerberg: Dazu gibt es eine langfristige und eine kurzfristige Diskussion. Es


heißt häufig, es sei einfacher, vorherzusagen, was in 10 oder 20 Jahren sein
wird, als vorherzusagen, was in drei Jahren ist. Es gibt ein paar ganz deutliche
Trends. Zum Beispiel wird sich die künstliche Intelligenz weiterentwickeln, und
wir werden künftig noch mehr Krankheiten heilen können. Das wissen wir alle. Die
wahre Kunst besteht aber darin, zu sehen, wie wir von hier nach dort kommen. Am
Ende wetten wir darauf, dass Virtual Reality eine wichtige Technologie werden
wird. Ich bin ziemlich sicher, dass ich diese Wette gewinnen werde. Und jetzt
ist der Zeitpunkt zu investieren. Gerade diese Woche haben wir bekannt gegeben,
dass schon eine Million Stunden 360-Grad-Videos mit der Gear VR abgerufen
wurden, dabei hat die Auslieferung mit Samsung gerade erst begonnen. Das ist
sehr ermutigend. Was ich ehrlich nicht weiß, ist, wie lange es dauern wird, bis
dieses Ökosystem aufgebaut ist. Das könnte fünf Jahre dauern oder zehn, aber
auch 15 oder 20. Ich vermute, zehn werden es mindestens werden. Es hat zehn
Jahre gebraucht, bis wir seit der Entwicklung des ersten Smartphones einen
Massenmarkt erreicht haben. Das Blackberry wurde 2003 eingeführt, und erst 2013
waren es eine Milliarde Geräte. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass es
mit Virtual Reality viel schneller geht.

Welt am Sonntag: Sie haben mit Facebook zwei Milliarden Dollar in Oculus Rift
investiert. Interessieren Sie sich tatsächlich für die Hardware, die Brille?
Bitte erklären Sie die VR-Strategie von Facebook.

Zuckerberg: Wir interessieren uns meistens für Software. Aber in jeder


Entwicklung einer neuen Plattform gibt es am Anfang einen Zeitpunkt, an dem man
sich um Hardware und Software zugleich kümmern muss. Später erst ist
Spezialisierung nützlich. Also sucht man sich ein Unternehmen, das Hardware
wirklich gut kann, und eines, das Software wirklich gut kann. Alles wandelt sich
so schnell, dass man sich wünscht, die Schritte irgendwie zu verbinden. Deshalb
kümmern wir uns auch um Hardware, auch wenn unsere langfristige Rolle auf dem
Gebiet der Software liegt.

Welt am Sonntag: Und mit Oculus Rift entwickeln Sie auch die Technologie, die
Sie an Samsung zur Einführung der Gear-Brillen weiterreichen?

Zuckerberg: Genau. Und von der Gear werden wohl sehr viel mehr Einheiten
ausgeliefert werden als von der Rift.

Welt am Sonntag: Sie liefern Technologie, obwohl Sie beide Wettbewerber sind,
weil Sie VR möglichst schnell global etablieren wollen, oder verstehe ich da was
falsch?

Zuckerberg: So ist es. Es gibt verschiedene Preisniveaus durch Qualität.

Welt am Sonntag: 600 versus 100 US-Dollar bei Samsung, nicht wahr?

Zuckerberg: Ja! Obwohl, um ehrlich zu sein, die Rift sogar noch teurer ist als
600 Dollar, da sie zum Betrieb einen sehr leistungsfähigen PC braucht. Das
bedeutet, der PC - wenn man noch keinen sehr leistungsfähigen hat - macht noch
einmal 1000 Dollar aus. Damit ...

Welt am Sonntag: ... damit fragt man sich, warum man Oculus Rift kaufen sollte?

Zuckerberg: Weil das ein viel, viel besseres Erlebnis ist.

Welt am Sonntag: Warum?

Zuckerberg: VR ist ein sehr intensives visuelles Erleben. Nur mit dem
leistungsstärksten PC kann man bestimmte Erfahrungen rüberbringen. Wir haben
Erlebnisse mit der Rift, bei denen man nicht nur herumschaut, sondern auch mit
den Händen Sachen in Echtzeit bearbeiten kann. Wenn man Tischtennis spielt oder
mit jemandem interagiert, dann muss das alles schnell genug sein - damit, wenn
man etwas macht, die Aktion auch beim anderen ausgelöst und dort gespürt wird,
obwohl sie den ganzen Weg durchs Netz zurückgelegt hat. Genau das erfordert viel
mehr Rechnerleistung.

Welt am Sonntag: Wie groß wird denn der VR-Markt? Goldman Sachs hat in einer
Studie einen 80-Milliarden-Dollar-Markt prognostiziert.

Zuckerberg: Wir wetten auf zwei Trends. Erstens, dass die Menschen immer noch
unmittelbarere Möglichkeiten wollen, sich auszudrücken. Wenn wir uns das
Internet vor zehn Jahren anschauen, teilten und nutzten die Leute in erster
Linie Text. Im Augenblick sind es viele Fotos. Ich meine, im nächsten Schritt
wird vieles davon Video sein. Es wird immer reichhaltiger. Damit ist aber das
Ende noch nicht erreicht. Künftig wird man eine ganze Szene, ein ganzes Zimmer
aufnehmen, sich in dieses hineinversetzen wollen. Man wird das, was man macht,
live streamen wollen, man wird Menschen in diesem Raum interagieren lassen
wollen.

Welt am Sonntag: Können Sie sich vorstellen, dass eines Tage die häufigste Art
der Konversation der VR-Chat sein wird? Dass Menschen so miteinander reden?

Zuckerberg: Ganz sicher.

Welt am Sonntag: Haben Sie eine Vorstellung, wann es so weit sein wird?

Zuckerberg: Ich bin mir nicht sicher. Die Herausforderung ist, glaube ich, dass
es erkennbar besser sein müsste als eine Videokonferenz, damit es den Aufwand
lohnt. Aber eine einfache Version ließe sich recht schnell entwickeln. Daher
geht der eine Trend in Richtung größerer Reichhaltigkeit. Der andere Trend
besteht darin, dass immer immersivere und leistungsstärkere Rechenplattformen
entstehen. Angefangen haben wir mit Servern so groß wie ein Hochhaus, die man
nur mit abgeschlossenem Studium bedienen konnte. Dann kam der PC, und der war
das ganze Hochhaus, aber die Leute haben ihn nicht wirklich gern benutzt, obwohl
er eine ganze Menge Sachen konnte. Und dann kam das Telefon als Computer, das
die Leute lieben, und fast jeder hat eines. Aber mal ehrlich, es ist immer noch
irgendwie umständlich, es aus der Tasche zu holen, und so groß oder immersiv ist
der Bildschirm auch nicht. Ich glaube wirklich, dass künftig alle zehn bis 15
Jahre eine neue Rechenplattform kommt. VR ist dafür der derzeit
vielversprechendste Kandidat.

Welt am Sonntag: Vor ein paar Tagen gab es ein eindrucksvolles Bild von Ihnen in
Barcelona: Sie liefen zu einer Bühne, und niemand erkannte Sie, weil alle diese
VR-Brillen aufhatten. Sie schienen diesen Moment zu genießen. Skeptiker sagen
nun, dieses Beispiel zeige, dass man durch das Virtual-Reality-Erlebnis
vereinsamt, weil es kein gemeinsames Erleben mehr gibt. Sind die Sorgen
berechtigt?

Zuckerberg: Nein. Das genaue Gegenteil ist der Fall. In den Brillen-Headsets
lief ein Video von Kindern, die an einem weit entfernten Ort Fußball spielen,
und man konnte sich umsehen und die Kinder um sich herum Fußball spielen sehen.
Es war ein gemeinsames Erlebnis von allen an diesem Ort, und es wäre unmöglich
gewesen, dies auf eine andere Art zu erleben. Das war, als wäre man im Kino,
aber auf einer viel persönlicheren Ebene, bei der man tatsächlich ganz
mittendrin ist. Ich glaube, die Menschen neigen bei jeder neu auftauchenden
Technologie dazu, sich Sorgen zu machen. Sie befürchten, dass wir irgendwie
vereinsamen, wenn wir Zeit damit verbringen, uns für die neue Art Medium oder
Technologie zu interessieren, anstatt miteinander zu reden. Menschen sind aber
grundsätzlich soziale Wesen. Deshalb denke ich, dass sich eine Technologie, die
uns nicht wirklich hilft, einander sozial besser zu begreifen, in der Realität
nicht durchsetzt. Außerdem kann man das bis zu den ersten Büchern
zurückverfolgen. Ich wette, damals hieß es: Warum sollen wir lesen, wenn wir
miteinander reden können? Sehen Sie, Zweck des Lesens ist doch, sich ganz in die
Perspektive einer Person hineinzuversetzen, oder? Nichts anderes passierte mit
Zeitungen, Telefonen, Fernsehern. Bald ist es Virtual Reality. Darauf wette ich.

Welt am Sonntag: Kürzlich traf ich einen israelischen Unternehmer, einen


Neurowissenschaftler, der sagte, er entwickle eine Technologie, die in einigen
Jahren VR-Erlebnisse auch ohne Headsets schaffen könne, als eine Art Hologramm
im freien Raum. Es klang faszinierend, aber auch ziemlich nach Science-Fiction.

Zuckerberg: Letztlich werden wir auch dahin kommen, meine ich. Ich weiß nicht,
wie weit weg das noch ist. Die Vision ist letztlich, normal aussehende Brillen
zu haben, mit denen ein vollständig immersives Erleben möglich ist oder auf
denen man sich Augmentierungen oder Informationen einblenden lassen kann,
während man sich im Alltag bewegt. Ja, es gibt Leute, die bei diesen Fragen
vorankommen, aber es gibt, meine ich, immer noch eine Anzahl grundsätzlicher
Fragen der optischen Wissenschaften, die gelöst werden müssen. Wenn wir so weit
sind, muss man noch herausfinden, wie sich diese Erlebnisse auch bedarfsgerecht
fertigen lassen. Wenn so ein Produkt 10.000 oder 20.000 Dollar kostet, nützt es
nichts. So teuer waren die ersten Computer! Erst wenn es sich fast jeder leisten
kann, wird es interessant. Und ich vermute, das dauert noch ein paar Jahre.

Welt am Sonntag: Was ist aus Facebook-Perspektive der nächste große Trend nach
Virtual Reality?

Zuckerberg: Ich sehe unsere Arbeit auf drei zeitliche Ebenen verteilt. Erstens
Produkte, die heute bedarfsgerecht existieren. Das sind Facebook und Newsfeed,
Instagram, bis zu einem gewissen Grad WhatsApp. Zweitens gibt es für die
nächsten fünf Jahre eine Handvoll neue Herausforderungen, und davon ist Video
sicherlich die größte. Ich glaube, Video ist ein Megatrend, fast so groß wie
Mobile. Und drittens gibt es schließlich die Zehn-Jahre-Ebene, das, was noch
richtig weit weg ist. Dafür investieren wir in drei großen Bereichen. Einer ist
die Konnektivität, es geht darum, zu gewährleisten, dass jeder auf der Welt
Internetzugang hat. Das ist ein großes Projekt, denn heute haben nur drei von
sieben Milliarden Menschen Zugang zum Internet. Wenn man in einer Gegend ohne
gute Schulen lebt, dann ist das Internet der beste Weg, um Zugang zu einer Menge
Lehrmaterialien zu bekommen. Es ist aber auch der beste Weg, um Zugang zur
Gesundheitsfürsorge zu haben, wenn es keinen guten Arzt gibt. Der zweite Bereich
ist künstliche Intelligenz. Wir erwarten große Fortschritte, die die
Gesellschaft verändern werden: weniger Autounfälle durch selbstfahrende Autos,
bessere Diagnosen von Krankheiten, bessere, zielgerichtete Behandlung von
Krankheiten und in der Folge mehr Sicherheit im Gesundheitswesen. Und noch
vieles mehr. Der dritte Bereich schließlich ist diese nächste Rechenplattform
für Virtual Reality und Augmented Reality. Das sind die Sachen, an denen wir ein
Jahrzehnt oder länger arbeiten werden.

Welt am Sonntag: Wie wird künstliche Intelligenz die Gesellschaft verändern?

Zuckerberg: Meine Erfahrung ist, dass Menschen auf zwei Weisen lernen. Man
spricht vom angeleiteten und vom nicht angeleiteten Lernen. Angeleitetes Lernen
kann man sich vorstellen, etwa wenn man seinem Kind ein Bilderbuch zeigt und auf
alles hinweist: "Das ist ein Vogel, das ist ein Hund, das ist noch ein Hund."
Man weist darauf hin, und schließlich versteht das Kind, dass es einen Hund
sieht, weil man ihm 15-mal gesagt hat, dass das ein Hund ist. Das ist
angeleitetes Lernen. Eigentlich ist das ein Wiedererkennen von Mustern. Mehr
können wir heute nicht umsetzen. Das andere, das nicht angeleitete Lernen, ist
aber die Art, wie in Zukunft die meisten Menschen lernen werden. Dabei hat man
ein Modell dessen im Kopf, wie die Welt funktioniert, und das verfeinert man,
und man versucht vorauszusagen, was künftig passieren wird. Das wiederum nützt,
um darauf zu schließen, wie die eigenen Handlungen aussehen sollten; auch davon
hat man dann eine Art Modell: Okay, ich führe diese Aktion aus und erwarte, dass
in der Welt das und das aufgrund meiner Handlung passiert. Dabei wird uns
künstliche Intelligenz helfen.

Welt am Sonntag: Verstehen Sie die Sorgen, die der Unternehmer Elon Musk in
diesem Zusammenhang artikuliert hat? Er fürchtet ernsthaft, dass künstliche
Intelligenz eines Tages das menschliche Gehirn dominieren und übernehmen könnte,
dass die Maschine über dem Menschen steht. Halten Sie diese Furcht für
gerechtfertigt oder für hysterisch?

Zuckerberg: Ich denke, sie ist eher hysterisch.

Welt am Sonntag: Wie können wir gewährleisten, dass die Computer und Roboter den
Menschen dienen, nicht umgekehrt?

Zuckerberg: Ich denke, der "Standardfall" ist, dass alle Maschinen, die wir
entwickeln, den Menschen dienen, sonst hätten wir wirklich was
durcheinandergebracht. Ich glaube, so bleibt das auch. (lacht)

Welt am Sonntag: Aber beim Schach wurde Garri Kasparow am Ende doch vom Computer
Big Blue geschlagen. So könnte es immer mehr Situationen geben, in denen der
Computer einfach intelligenter ist als das menschliche Gehirn.

Zuckerberg: Ja, aber in dem Fall wurde diese Maschine auch von Menschen
entwickelt, um etwas besser zu können, als es ein Mensch kann. Es gibt im Laufe
der gesamten Geschichte viele Maschinen, die dazu entwickelt wurden, etwas
besser zu können als ein Mensch. Ich meine, in diesem Bereich überbewerten die
Leute das, was die künstliche Intelligenz leisten kann. Nur weil man eine
Maschine entwickeln kann, die eine bestimmte Sache besser kann als ein Mensch,
heißt das nicht, dass sie auch die Fähigkeit hat, in anderen Bereichen zu lernen
oder unterschiedliche Arten von Informationen und Kontexten so zu verbinden,
dass sie Übermenschliches leisten kann.

Welt am Sonntag: Also ist das Science-Fiction und Fantasie und findet im echten
Leben nicht statt und wir brauchen uns keine Sorgen um die Sicherheit
menschlicher Intelligenz zu machen?

Zuckerberg: Ich glaube einfach, dass wir auf dem Weg der Entwicklung auch die
Sicherheitsprobleme lösen werden. Die aktuelle Diskussion erinnert mich manchmal
daran, dass man im 18. Jahrhundert zusammengesessen und sich gesagt hat: Oh,
eines Tages haben wir vielleicht Flugzeuge, und sie könnten abstürzen. Dennoch
hat man erst die Flugzeuge konzipiert und sich dann um Flugsicherheit gekümmert.
Wenn man sich zuerst um die Sicherheit sorgte und alle Probleme lösen wollte,
würde man nie ein Flugzeug entwickeln. Ich glaube, dass dieses ängstliche Denken
dem tatsächlichen Fortschritt im Wege steht. Denken wir doch nur daran, was
wäre, wenn sich selbstfahrende Autos durchsetzten - dann gäbe es weniger
Autounfälle, eine der häufigsten Todesursachen auf der Welt.

Welt am Sonntag: Genau das propagiert ja Elon Musk mit seiner Firma Tesla.
Dennoch fürchtet er eine unkontrollierte Entwicklung künstlicher Intelligenz in
den Händen ganz weniger Menschen und Megakonzerne. In diesem Fall ist es die
Sorge eines Amerikaners. Üblicherweise übernehmen das die Europäer: erst Risiken
und Nachteile sehen, dann die Gelegenheit. Gibt es zwischen Amerikanern und
Europäern in dieser Hinsicht generell einen Mentalitätsunterschied?

Zuckerberg: (denkt nach) Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher. So kann man
das nicht verallgemeinern. Und dieses Beispiel zeigt ja: Es gibt überall solche
und solche. Es gibt Menschen, die voller Hoffnung sind, und andere, die eher
skeptisch sind. Überall in der Welt.

Welt am Sonntag: Auf Ihre Tochter Max soll künftig eine Roboter-Nanny aufpassen.
Welche Erwartungen haben Sie an den digitalen Hausangestellten?

Zuckerberg: Im Grunde entwickle ich ein sehr einfaches AI-System zur Steuerung
meines Hauses. Es soll das Licht ausmachen oder eine Person durch das Tor
hereinlassen; oder es soll erkennen, dass ich ankomme, und das Tor aufmachen.
Wirklich ganz einfache Sachen. Aber unter Verwendung von moderner künstlicher
Intelligenz mit Stimmerkennung, Bilderkennung und anderen
Mustererkennungssystemen, die mit moderner künstlicher Intelligenz einhergehen.
Vieles davon mache ich für mich selbst, es ist eine persönliche Herausforderung,
weil ich gern Code schreibe und Sachen entwickle.

Welt am Sonntag: Sie coden wirklich noch selbst?

Zuckerberg: Tue ich. Als sehr persönliche Herausforderung an mich. Das tue ich
nicht für Facebook. Denn bei Facebook haben wir die Regel, dass, wer Code
abliefert, auch für seinen Support zuständig ist. Und das heißt, wenn in dem
Code ein Bug ist, muss man alles stehen und liegen lassen und den Bug fixen.

Welt am Sonntag: Und das können Sie natürlich nicht.

Zuckerberg: Und ich will nicht in die Lage kommen, deshalb eine andere Aufgabe
zu vernachlässigen - oder, noch schlimmer, einem anderen den Support für meine
Sache aufzudrücken. Deshalb schreibe ich für Facebook schon seit einiger Zeit
keinen Code mehr.

Welt am Sonntag: Sie machen es also gewissermaßen privat, als Hobby?

Zuckerberg: Genau. Ich mag es, auf dem Stand der Technik zu sein - und
Programmieren ist ein guter Weg, es zu bleiben.

Welt am Sonntag: Wann und warum kam Ihnen die Idee, Facebook zu starten?

Zuckerberg: Es existiert diese lustige Vorstellung, dass es einen Augenblick


gibt, in dem man eine Idee hat und ab da etwas aufbaut. Ich glaube ehrlich
gesagt nicht, dass die meisten Sachen in der Welt so laufen.

Welt am Sonntag: Die Legende sagt, dass Sie das machten, weil Sie mit Mädchen
ausgehen wollten.

Zuckerberg: Nein, nein, nein. Das ist die Film-Version.

Welt am Sonntag: "Social Network".

Zuckerberg: Hollywood hat mit dem wahren Leben nichts zu tun.

Welt am Sonntag: Immerhin waren Sie seit 2003 schon mit Priscilla zusammen.
Facebook wurde 2004 gegründet.

Zuckerberg: Genau. Also ich erinnere mich noch, als ich im College war, dachte
ich: Das Internet ist eine tolle Sache, weil man alles finden kann, was man
sucht. Man konnte Nachrichten lesen, Musik runterladen, Filme anschauen, auf
Google Informationen finden, auf Wikipedia enzyklopädisches Material lesen - nur
das, was für Menschen am wichtigsten ist, nämlich andere Leute, das konnte man
nicht finden. Es gab kein Tool, das man benutzen konnte, um etwas über andere
Leute zu erfahren. Aber ich wusste nicht, wie ich das entwickeln sollte. Also
baute ich stattdessen kleine Tools. Als ich am College anfing, baute ich ein
kleines Tool. Ich wollte nämlich wissen, welche Kurse ich belegen soll - und um
das zu entscheiden, wollte ich wissen, welche Kurse die anderen belegten oder
für welche sie sich interessierten. Also schuf ich dieses Tool namens "Course
Match", in dem man alle Kurse, die man belegt, auflisten konnte. Faszinierend
daran war, dass es binnen einer Woche etwa die Hälfte der Schüler nutzte. Dann
entwickelte ich einfach weiter immer mehr Sachen, die ähnlich waren. Ich
entwickelte Face Mash, das auch im Film vorkommt.

Welt am Sonntag: Aber wie kam es dann zu Facebook?

Zuckerberg: Zum Abschlussexamen gab es einen Kurs mit dem Titel "Das Rom des
Augustus", ein Kunstgeschichte-Kurs. Zur Vorbereitung auf das Examen hatten wir
alle in diesem Zusammenhang wichtigen Kunstwerke besprochen. Ich hatte aber in
dem Kurs nicht so aufgepasst, weil ich andere Sachen programmiert hatte. Als es
dann also Zeit zum Abschlussexamen war, dachte ich mir: Das war's, ich habe von
dem Zeugs keine Ahnung. Also entwickelte ich als Lernhilfe einen kleinen Dienst,
der einem die Kunstwerke zeigte, und da konnten alle eingeben, was zur
kunsthistorischen Bedeutung wissenswert war. Dann schickte ich es über die
Mailliste an die Kursteilnehmer und sagte: "Hallo, ich habe diese Lernhilfe
entwickelt." Und alle schrieben da alles rein, was über die Kunstwerke von
Bedeutung war. Ich glaube, die Examensnoten in dem Jahr waren besser als je
zuvor. Am Ende sagte ich mir: Okay, da gibt's also jetzt rund zehn verschiedene
Tools, die ich gemacht habe, während ich in Harvard war. Vielleicht sollte ich
jetzt ein Tool aufbauen, mit dem die Leute teilen können, was immer sie wollen,
und zwar mit den Menschen um sie herum. So kam es zur ersten Version von
Facebook.

Welt am Sonntag: Wie lange dauerte die Entwicklung?

Zuckerberg: Ich brauchte nur zwei Wochen, um die erste Facebook-Version zu


entwickeln, weil so viel schon da war.

Welt am Sonntag: Und natürlich war Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daraus
könnte ein Dreihundert-Milliarden-Unternehmen werden?

Zuckerberg: Nein, nein.

Welt am Sonntag: Wann spürten Sie, dass es wirklich etwas Großes werden kann?

Zuckerberg: Tatsächlich erinnere ich mich sehr genau an die Nacht, in der ich
Facebook in Harvard startete. Da ging ich mit jemandem eine Pizza essen, mit dem
ich all meine Informatiksachen zusammen machte, und ich erinnere mich daran,
dass wir redeten, und ich sagte: "Weißt du, ich bin so froh, dass wir das jetzt
hier in Harvard haben, weil unsere Community auf diese Weise in Verbindung ist.
Eines Tages wird jemand so was für die ganze Welt bauen." Aber dass wir das sein
würden, das dachte ich nicht. Das war kein: Hey, hoffentlich können wir daraus
was Großes machen. In meinem Kopf war das nur: Auf keinen Fall werden wir das
sein. Natürlich erledigt das jemand anders. Wir sind ja nur Studenten. Also,
wenn ich auf diese zwölf Jahre zurückschaue, dann ist das Überraschendste, dass
es sonst niemand tat. Und ich frage mich warum.

Welt am Sonntag: Warum?

Zuckerberg: Es gab immer all diese kleinen Gründe, es nicht zu tun. Überall auf
dem Weg gab es Leute, die sagten: "Ach, nur dicke junge Leute nutzen so was; das
gibt sich." Oder: "Okay, gut, ein Haufen Leute nutzt das, aber Geld verdient man
damit nicht." Oder: "Ach, läuft in den USA, aber weltweit wird das nicht
laufen." Oder: "Ja, es läuft, aber mobil läuft es nicht." Alle diese
unterschiedlichen Gründe. Sie kennen das doch.

Welt am Sonntag: Und Sie haben's einfach gemacht.

Zuckerberg: Ja.

Welt am Sonntag: Und wie sieht Facebook in zehn Jahren aus? Haben Sie eine
Vorstellung?

Zuckerberg: Wenn wir große Fortschritte bei Konnektivität, künstlicher


Intelligenz und VR und AR erzielen, dann wird die Community in zehn Jahren viel
größer und vor allem über Virtual-Reality-Videos kommunizieren. Die Möglichkeit,
ganze Lebensszenen zu teilen, wird mit der Zeit ein wertvolles Hilfsmittel
werden. Ein Beispiel: Priscilla und ich sprechen darüber, wie wir Max' erste
Schritte aufnehmen wollen. Und zwar mit einer 360-Grad-Kamera. Wenn meine Eltern
und Verwandten das sehen, können sie sich so fühlen, als wären sie auch dabei.
Ich hoffe, nein, ich glaube, dass das bald möglich sein wird.

Welt am Sonntag: Wo liegt für Facebook die Grenze? Gibt es eine Grenze?
Zuckerberg: Als Unternehmen arbeiten wir sehr fokussiert. Und zwar darauf, den
Leuten die Fähigkeit zum Teilen zu geben, so wie sie es wollen, und jeden in der
Welt mit ihnen zu verbinden. Das, nur das ist die Mission.

Welt am Sonntag: Was ist für Facebook das größte Risiko? Ist der eigene Erfolg
Ihr größter Feind?

Zuckerberg: Ich glaube, das ist es immer, ja. Unternehmen haben unterschiedliche
Risiken, seien es nun die Wettbewerber oder sei es das Marktumfeld. Ich glaube
aber, dass viele zu sehr auf die Wettbewerber schauen und zu wenig darauf
achten, niemals selbstzufrieden zu werden. Das ist das größte Risiko.

Welt am Sonntag: Ist Facebook eine Vertriebsplattform oder ein Verlag?

Zuckerberg: Eine Vertriebsplattform. Ganz klar.

Welt am Sonntag: Warum wollen Sie nicht Verlag werden?

Zuckerberg: Weil wir ein Technologieunternehmen sind. Ich denke, die Plattform
ist das Herzstück unseres Produkts. Die Leute nutzen sie, um Medieninhalte zu
konsumieren und zu teilen. Aber wir selbst sind kein Medienhaus. Genau deshalb
ist die Partnerschaftsstrategie für uns so wichtig, die Zusammenarbeit mit
anderen, die besser wissen, wie man die spannendsten Inhalte erstellt. Wir
wollen ein Technologiehaus bleiben.

Welt am Sonntag: Wie nehmen Sie die Debatte um Hasspostings wahr?

Zuckerberg: Obwohl wir generell an die Redefreiheit glauben - und daran, jedem
so viel Freiraum zum Reden wie möglich zu geben -, gibt es dafür in der Praxis
zugleich Grenzen. Egal, ob das gesetzliche Einschränkungen oder technologische
Schranken sind - etwa wenn man nicht das teilen kann, was man will, oder keinen
Zugang zum Internet hat. Und es gibt soziale Beschränkungen, bei denen jemand
die Freiheit des anderen, sich auszudrücken, einschränken könnte. Deshalb ist
unser Fixpunkt, dass wir der größtmöglichen Zahl von Menschen so viel Stimme wie
möglich verschaffen wollen.

Welt am Sonntag: Und eben nicht darüber bestimmen wollen, was mehr als eine
Milliarde User lesen oder nicht. Das wäre ja redaktionelle Arbeit, die Aufgabe
eines Verlages. Ich fände es viel bedrohlicher, wenn ein globales Unternehmen
mit mehr als einer Milliarde Usern pro Tag nach subjektiven Kriterien darüber
bestimmen würde, wer was schreiben und lesen darf. Deshalb ist die Debatte
irreführend. Für eine technologische Kommunikationsplattform sollte der einzige
einschränkende Rahmen der Rahmen der Gesetze sein.

Zuckerberg: Das ist zwar richtig, aber die öffentliche Stimmung ist eine andere.

Welt am Sonntag: Die Europa-Zentrale von Facebook ist in Irland. Weil Sie
Steuern in den europäischen Märkten vermeiden wollen?

Zuckerberg: Nein. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb Dublin ein ziemlich
guter Ort ist. Einer davon ist, dass wir immer noch ein überwiegend
englischsprachiges Unternehmen sind, also dort einen Firmensitz haben wollen, wo
die Mehrheit der Leute englisch spricht. Wir haben in Irland erheblich in mehr
als 1000 Mitarbeiter und eine neue Zentrale investiert, und im Moment bauen wir
dort ein nachhaltiges Rechenzentrum nach neuestem Stand der Technik.

Welt am Sonntag: Im letzten Jahr zahlte Facebook in Großbritannien 4327 Pfund


Steuern. Sie verstehen schon, dass die Steuerthematik ein Problem ist?
Zuckerberg: Ich finde, dass die Steuersituation zwischen den Ländern selbst
geregelt werden muss. Nach meiner Erfahrung hat jeder eine andere Meinung davon,
welches nun der richtige Steuersatz ist. Die Regierungen sollten also klare
Richtlinien aufstellen, in Anlehnung an einige internationale Standards, die von
allen Regierungen akzeptiert werden. Wie jedes andere verantwortliche,
internationale Unternehmen - ob nun europäisch oder amerikanisch - halten auch
wir diese Regeln ein und befolgen das Steuerrecht der Länder, in denen wir tätig
sind. Aber ich denke, es ist auch wichtig, einen Blick auf unseren Beitrag und
unsere Investitionen in Europa zu werfen. Erst in diesem Monat haben wir in
Deutschland ein neues Büro eröffnet, eine Partnerschaft zum Thema künstliche
Intelligenz mit der Technischen Universität Berlin angekündigt und überdies in
eine Community-Zentrale mit Sitz in Deutschland investiert. All das hilft uns,
Facebook für unsere Nutzergemeinschaft zu verbessern - insbesondere für die
kleineren und größeren deutschen Unternehmen, die Facebook nutzen, um zu wachsen
und neue Kunden zu gewinnen.

Welt am Sonntag: Wie reagieren Sie auf die europäischen Sorgen zum Thema
Datenschutz und Privatsphäre? Ist das ein Kulturkampf zwischen den USA und
Europa?

Zuckerberg: Ich glaube, das ist sehr schwierig. Ein Teil davon ist tief
kulturell verwurzelt. Und ich glaube, dass die Geschichte Europas die Menschen
für viele dieser Sorgen sehr empfindlich gemacht hat.

Welt am Sonntag: Sie meinen den Holocaust und die Art, wie die Nazis und der
Kommunismus mit persönlichen Daten umgingen.

Zuckerberg: Absolut.

Welt am Sonntag: Amerika hat diese historischen Traumata nicht.

Zuckerberg: Richtig. In Europa ist das jüngere Vergangenheit und nicht Hunderte
Jahre her. Deshalb denke ich, dass das kulturell einfach sensibler behandelt
werden muss. Wir können das anerkennen und versuchen, diese Sensibilität zu
verstehen. Aber ohne hier zu leben, ist es schwer, diese Ansicht zu
internalisieren.

Welt am Sonntag: Ist das nur eine historische Prägung oder auch eine Reaktion
auf ganz aktuelle Entwicklungen?

Zuckerberg: Ja. Ich glaube, es geht auch um sehr gegenwärtige Konflikte zwischen
Regierungen. Einige der Themen rund um die Snowden-Veröffentlichungen zu den
Aktivitäten der NSA haben die Menschen rund um die Welt verängstigt - in
vielerlei Hinsicht zu Recht, wie ich meine. Das hat ganz konkrete Fragen
aufgeworfen. Da segelt man in rauem Gewässer. Ein Unternehmen wie Facebook
befindet sich im Fadenkreuz vieler dieser Fragen, und wir tun einfach unser
Bestes, um verantwortlich damit umzugehen.

Welt am Sonntag: Die "Armee der Söhne des Kalifats" des IS hat ein Hassvideo
gegen Sie und den Twitter-Erfinder Jack Dorsey veröffentlicht. Wie fühlt es sich
an, ein Opfer dieser Terroristen zu sein, wenn auch nur verbal?

Zuckerberg: Ich weiß nicht genau. Ich mache mir große Sorgen. Aber nicht wegen
dieses Videos. Da gab es schlimmere Bedrohungen. Vor ein paar Jahren wollten
mich Leute in Pakistan zum Tode verurteilen lassen. Denn ein Mitglied unser
Community hatte tatsächlich eine Gruppe eingerichtet, in der Menschen ermutigt
wurden, Bilder des Propheten Mohammed zu zeichnen, wobei die Abbildung des
Propheten in Pakistan illegal ist. Die pakistanische Regierung verlangte von
uns, den Content weltweit herauszunehmen, was wir natürlich nicht taten. Ich
glaube, die größere Aufgabe - und das, wofür Facebook weltweit steht - ist es,
den Menschen eine Stimme zu verschaffen und Ideen und Rationalismus zu
verbreiten.

Zwei Fragen und Antworten dieses Interviews zum Thema Steuern sind nachträglich
in diesen Text eingefügt worden. Die Fragen waren Bestandteil des ursprünglichen
Interviews, doch die Freigabe der Antworten durch Facebook hatte sich verzögert,
so dass sie in der ersten Fassung nicht enthalten sein konnten.

UPDATE: 28. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 1. März 2016 10:26 AM GMT+1

Früherer US-Außenminister;
Ist Kissinger in Wirklichkeit ein radikaler Linker?

AUTOR: Hannes Stein

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1202 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Historiker beschreibt, wie Henry Kissinger die USA auf den
Kriegspfad führte. Wichtig dabei war nach Meinung von Greg Grandin Kissingers
besondere Auffassung von Wirklichkeit.

Natürlich ist Henry Kissinger, der in diesem Jahr 93 wird, längst eine Popfigur.
Mit seinem Gesicht, das geradezu danach schreit, karikiert zu werden -
Hornbrille, hohe Stirn, Schmollmund - hat er Künstler des Underground
inspiriert. Sein orgelnder Bass, sein fränkischer Akzent, wenn er Englisch
spricht (er ist im Alter eher noch breiter geworden) machen ihn in Amerika
vollends unverwechselbar. Auch Leute, die in jungen Jahren wütend gegen seine
Politik demonstriert haben, bezeichnen ihn mittlerweile als Freund und fragen
ihn um Rat, wenn es um Außenpolitik geht. Hillary Clinton ist das berühmteste
Beispiel.

Grandin lässt Kissingers Handeln Revue passieren


Dem linken Historiker Greg Grandin, der sich sehr gut in Lateinamerika auskennt,
lässt all dies keine Ruhe. Soeben ist sein essayistisches Pamphlet auf Deutsch
erschienen, in dem er noch einmal die Untaten des Henry Kissinger vor uns Revue
passieren lässt.

Kissinger, schreibt Grandin, habe sich 1969 ins Amt des Nationalen
Sicherheitsberaters gemogelt, indem er Richard Nixon, als der sich noch im
Wahlkampf befand, geheime Informationen über die Friedensverhandlungen mit
Nordvietnam steckte - dies habe zur Folge gehabt, dass der Vietnamkrieg, der
eigentlich schon verloren war, sich noch ein paar Jahre länger hinzog.

Er habe lateinamerikanische Regimes wie jenes von Augusto Pinochet in Chile


unterstützt und sei tief in die "Operation Condor" verstrickt gewesen, bei der
Geheimdienste von sechs lateinamerikanischen Militärdiktaturen
zusammenarbeiteten, um Linke zu verfolgen und zu ermorden. Kissinger habe den
indonesischen Diktator Suharto ermutigt, in Osttimor einzumarschieren, er habe
Pakistan unterstützt, als es einen genozidalen Krieg gegen die Bengalen führte,
die sich gerade ihren unabhängigen Staat Bangladesch erkämpften.

Doch all diese Verbrechen verblassen laut Greg Grandin im Vergleich mit dem
eigentlichen Skandal: dem amerikanischen Bombardement des neutralen Kambodscha,
einem kriegerischen Akt, über den der amerikanische Kongress vorsätzlich hinters
Licht geführt wurde. Hier könne man nicht mehr beschönigend sagen, Kissinger
habe ja nur diplomatische Kontakte mit Ungeheuern im Ausland gepflegt; man könne
auch nicht behaupten, diese Ungeheuerlichkeit wäre - wie im Falle von
Bangladesch - wahrscheinlich auch ohne Kissingers Mitwirken passiert. Hier waren
die Vereinigten Staaten der unmittelbare Akteur, und 100.000 Menschen kamen ums
Leben. Und das Prinzip, dass Nationalstaaten (neutrale zumal) unverletzlich
seien, wurde brutal verletzt.

Henry Kissinger gilt seinen vielen Gegnern wie seinen Bewunderern als Realist.
Hier macht Greg Grandin eine interessante Entdeckung: Dieser Realist schert sich
nicht viel um die Realität. Wenn die Tatsachen seinem Weltbild im Wege stehen,
hält er es mit Hegel und sagt: "Umso schlimmer für die Tatsachen!" Laut
Kissinger ist die Wirklichkeit, wie man sie vorfindet, nicht bedeutsam - viel
wichtiger sei die Wirklichkeit, die man durch sein Handeln schafft. Hier darf
man an Karl Marx und seine elfte These zu Feuerbach denken: "Die Philosophen
haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu
verändern."

Henry Kissinger, schreibt Greg Grandin, sei eigentlich ein radikaler Linker.
Allerdings habe dieser hegel-marxistische Kopf seinen revolutionären
Enthusiasmus für rechte Ziele eingesetzt. Und das Mittel zur Weltveränderung sei
für Kissinger immer der Krieg gewesen. Deswegen lässt Greg Grandin die üblichen
Argumente, die zugunsten Kissingers vorgebracht werden, nicht gelten: Er habe
durch den von ihm eingefädelten Überraschungsbesuch bei Mao Tse-tung die
Entspannungspolitik mit der Sowjetunion möglich gemacht, er habe die
Verhältnisse im großen Ganzen mit machiavellistischen Methoden befriedet. Nein,
schreibt Grandin: Kissinger habe Amerika auf den Pfad des ewigen Krieges
geführt, und auf diesem Kriegspfad wandle es mit Obamas Flugzeugdrohnen heute
noch.

Es gab schon einmal ein wütendes Anti-Kissinger-Buch: "The Trial of Henry


Kissinger" des britischen Journalisten Christopher Hitchens, das seinerzeit zum
Bestseller wurde. Dort stand, Kissinger sei ein Kriegsverbrecher und gehöre
hinter Gitter.

Ein Gegenentwurf zu "The Trial of Henry Kissinger"


Es habe bestimmt "viel Spaß" gemacht, jenes Buch zu schreiben, meint Greg
Grandin ein wenig gönnerhaft - sein Pamphlet versteht sich als Gegenentwurf zu
Hitchens' Anklageschrift. Denn eigentlich geht es ihm gar nicht um Kissinger. Es
geht ihm um die Folgen von Kissingers Politik, um den "Kissingerismus". Auch
Kissingers Gegner betreiben laut Grandin längst Kissingers Politik - Grandin hat
hier vor allem die "neocons" im Auge. Und nun darf der aufmerksame Leser zum
ersten Mal eine skeptische Augenbraue lüpfen: Macht es denn wirklich keinen
Unterschied, ob man, wie Henry Kissinger, viele autoritäre Regime gut findet
(und sogar noch ein Monster wie Mao bewundert) oder ob man, wie der "neocon"
Reuel Marc Gerecht, die Demokratie der Diktatur allemal vorzieht, auch wenn sie
die Muslimbrüder an die Macht spült? Ist es wirklich unerheblich, ob man, wie
Kissinger, zum großen Heer der Putin-Versteher gehört oder ob man, wie die
"neocons", Putin für einen Feind hält, der bekämpft werden muss?

Die andere skeptische Augenbraue hebt der Leser, wenn er sich klar macht, dass
Amerikas Feinde in Greg Grandins Buch entweder keine Rolle spielen oder schlicht
nicht vorkommen. Eigentlich beschreibt er nur die Verbrechen der Roten Khmer
halbwegs detailliert - denn er hält es für die Schuld Kissingers, dass sie an
die Macht kamen. Das nordvietnamesische Regime dagegen firmiert als "Einiger
Vietnams" und Kämpfer gegen den Kolonialismus. Halten zu Gnaden: Ho Chi Minh und
Genossen haben die Südvietnamesen nach ihrem Sieg über Amerika der üblichen
kommunistischen Behandlung unterzogen - künstliche Hungersnot,
Konzentrationslager, Terror. 800.000 Vietnamesen haben ihr Leben damals lieber
dem Südchinesischen Meer anvertraut, als sich von den Kommunisten ermorden zu
lassen; viele von ihnen sind ertrunken.

Das Ajotollah-Regime wird nicht einmal erwähnt

Vollends grotesk wird Greg Grandins Geschichtsklitterung aber, wenn man den
Nahen Osten betrachtet: Solche Kleinigkeiten wie das Regime der Ajatollahs im
Iran werden von diesem Historiker mit keinem Wort erwähnt. Der gesamte
nahöstliche Schlamassel ist laut Grandin einzig und allein die Schuld von
Kissinger und Konsorten.

Vor allem aber stellt sich die Frage: Was lernen wir daraus? Ja, Amerika hat im
kalten Krieg - den die Sowjetunion eine Zeitlang zu gewinnen schien -
entsetzliche und brutale Regimes unterstützt. Ja, amerikanische Soldaten haben
oft und mit Lust Kriegsverbrechen begangen. Das ist vielfach dokumentiert und
erforscht. Und weiter? Amerika hat seine Truppen aus dem Irak und Afghanistan
weitgehend zurückgezogen. Es hat einen Deal mit einem erklärten Feind, der
"Islamischen Republik Iran", abgeschlossen. Es hat den von ihm unterstützten
Diktator - Ägyptens Präsidenten Mubarak - bei der ersten Gelegenheit im Stich
gelassen und den von ihm nicht unterstützten Diktator - Syriens Präsidenten
Baschar al-Assad - gewähren lassen. Als Resultat sind rund um den Globus
bekanntlich blühende Landschaften entstanden. Nicht wahr?

UPDATE: 1. März 2016

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Donnerstag 3. März 2016 11:38 AM GMT+1

Flüchtlinge;
Mit Omar, Arasch und Özgür in die Kreisklasse

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 838 Wörter

HIGHLIGHT: Beim ESV Neuaubing war der Fußball schon so gut wie tot. Bis der
Trainer auf die Idee kam, mit Flüchtlingen eine neue Mannschaft aufzustellen.
Heute spielt das Team erfolgreich in der Kreisklasse.

Grelles Flutlicht erhellt den Fußballplatz des ESV Neuaubing ganz im Westen
Münchens - eine Insel der Helligkeit an diesem dunklen und eiskalten Abend. Rund
25 junge Männer machen sich auf Kommando warm, während im Hintergrund die S-Bahn
vorbeirattert. "Ruhig ein bisschen schneller, Leute", schallt es über den Platz.
Es ist kein besonders wirtlicher Ort, doch hier beim ESV gemeinsam mit
Einheimischen und anderen Flüchtlingen kicken zu können - "das hat mich so
glücklich gemacht", sagt Amar Omar Yado und strahlt. "Im Irak durften wir keinen
Fußball mehr spielen."

Der 21-Jährige kam bereits vor vier Jahren allein nach Deutschland. Schon nach
wenigen Wochen trat er in die von Olaf Butterbrod trainierte Mannschaft ein.
Damals traf man sich noch im Englischen Garten. Seit der Saison 2015/16 tritt
mit dem Eisenbahnersportverein Sportfreunde München-Neuaubing (ESV) die erste
bayerische Flüchtlingsmannschaft im Ligabetrieb an. C-Klasse im Kreis München,
wie der Bayerische Fußball-Verband (BFV) bestätigt.

Im Training wird möglichst Deutsch gesprochen

Eigentlich sei die Bezeichnung Integrationsmannschaft ja besser, erläutert


Butterbrod vor dem Training. Die Tür zu seinem Büro ist dabei offen, immer
wieder kommen junge Männer herein, manche sprechen englisch, andere schon gut
deutsch. Integration auch deshalb, weil auch einige - wenn auch wenige -
deutsche Spieler dabei sind.

Einer der Einheimischen ist Özgür Demirel. Anfangs sei das Zusammenspiel mit den
Männern so vieler unterschiedlicher Nationalitäten gewöhnungsbedürftig gewesen,
erinnert er sich. Die Kommunikation bereitete Schwierigkeiten, dadurch wurde
auch das Training schwieriger. "Aber es gab die Anweisung vom Trainer, deutsch
zu sprechen." Wenn das nicht klappte, halfen Gesten und Körpersprache.

Die Flüchtlinge haben die Fußballabteilung gerettet

Die Flüchtlinge haben letztlich die Fußballabteilung des ESV gerettet: Mangels
Spielern "war die Abteilung eigentlich tot", sagt ESV-Vizepräsident Christian
Brey. Dann traf er Butterbrod. Es gab ein Sichtungsturnier - "wir sind keine
Sozialromantiker", betont Brey -, und nun steht die Mannschaft auf Platz Fünf,
nachdem sie lange Tabellenführer war.
Für den ESV, der etwa mit Weltmeister Manfred Nerlinger eine glorreiche
Vergangenheit im Gewichtheben hat, war der Fußball immer das "Schmuddelkind".
Jetzt hingegen gebe es aufgrund der Flüchtlingsmannschaft eine Chance auf einen
Neuanfang. Der Leistungsgedanke zähle, betont Trainer Butterbrod, und doch sei
das Spiel "mehr als reiner Sport". Und er selbst auch mehr als nur Spielleiter -
ein bisschen Seelsorger, ein bisschen Vaterersatz für die jungen Männer um die
20, das muss er auch sein. "Er tut alles für uns", findet Amar Omar Yado.

Zuhause herrschen Hunger, Erpressung und Unterdrückung

"Wie eine große Familie" empfindet auch der 26-jährige Arasch Khan aus
Afghanistan den Zusammenhalt. Am Anfang habe er nichts gewusst von Deutschland -
eine fremde Sprache, eine fremde Kultur. "Jetzt ist das schon mein Zuhause." In
seinem Heimatland dagegen gebe es keine Freiheit, sagt Khan und erzählt von
Schutzgelderpressung, Kinderarbeit und Hunger.

Mehreren Spielern drohten bereits Abschiebeverfahren, doch bislang sind


Butterbrod alle Spieler erhalten geblieben. Dramatische Momente gab es dennoch,
wie er erzählt: "Einer hat sich im Flugzeug die Pulsadern aufgeschnitten."
Inzwischen bediene der betroffene Afghane an einer Supermarkttheke in München.
Auch andere Schicksale sind oft nicht leicht. So kann ein Spieler vermutlich aus
psychischen Gründen nur ganz leise sprechen. Ein anderer aus Syrien wurde von
einem Bombensplitter getroffen und hat eine gelähmte Hand - macht aber trotzdem
inzwischen eine Lehre als Kfz-Mechaniker.

Die Mannschaft erhielt einen Preis für Fairplay

Respekt, Fair Play, eine gute Zeit miteinander zu verbringen - darauf kommt es
Butterbrod an. "Ich habe ihnen gesagt, ihr seid auch Botschafter, für
Integration, für euer Land." Die meisten Spieler stammen aus Afghanistan. Sie
seien "sehr weit, was Umgangsformen angeht", findet der Mittvierziger. Dass die
Mannschaft bereits einen Preis als die fairste auf dem Platz bekommen habe,
macht den Trainer stolz. Inzwischen unterrichten einige Spieler selbst den
Fußballnachwuchs - und coachen eine Mannschaft aus Grundschülerinnen.

"Eines der Leuchtturmprojekte" sei die Mannschaft, sagt Thomas Müther,


Pressesprecher des BFV. Was die Einbindung von Flüchtlingen angehe, machten
inzwischen viele Vereine in Bayern Ähnliches. "Dem Ball ist es egal, wer gegen
ihn tritt." Nachahmer gebe es etwa in Dornach im Landkreis München, aber auch
anderen Kreisen, berichtet Bernhard Slawinski, Kreis-Vorsitzender München des
BFV. "Bayernweit ist ganz, ganz viel in Bewegung." Neuaubing habe "fast schon
einen Hype" ausgelöst und "ein ganz tolles Zeichen gesetzt".

Für die Integration der Flüchtlinge ist der gemeinsame Sport von großem Wert.
"Ich sehe da keine Kriegsopfer auf dem Platz", resümiert Trainer Butterbrod
etwas außer Atem in einer kurzen Pause am Spielfeldrand. "Nur Fußballer."

UPDATE: 3. März 2016

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Donnerstag 3. März 2016 1:08 PM GMT+1

Diadochenkriege;
Der Grieche, der die ganze Welt erobern wollte

AUTOR: Berthold Seewald

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 1354 Wörter

HIGHLIGHT: Nach dem Tod Alexanders des Großen führten seine Generäle endlose
Kriege um das Erbe. Eumenes kämpfte als Einziger für die Dynastie und den Erhalt
des Reiches. Er war kein Makedone.

Flexibel, innovativ, belastbar und loyal: Eumenes von Kardia war ein Beamter,
wie man ihn sich nur wünschen kann. Er leitete die Kanzlei eines Weltreichs mit
der gleichen erfolgsorientierten Effizienz, wie er Heere in die Schlacht führte
und, wenn es Not tat, ihren Anführer im Zweikampf erschlug. Aus Sicht seiner
Zeitgenossen hatte Eumenes allerdings einen Makel: Er war Grieche.

Als Alexander der Große 323 v. Chr. in Babylon im Alter von nur 32 Jahren
gestorben war, teilten die Generäle sein Reich unter sich auf. Unter lauter
Makedonen gab es nur einen Griechen, der in diesem illustren Kreis Ansprüche
anmelden konnte: Eumenes. Über mehr als 40 Jahre hinweg überzogen die Diadochen
einander mit Krieg und legten die Welt buchstäblich in Trümmer. Nur Eumenes
kämpfte bis zuletzt für den Erhalt des Alexandererbes. Nach seinem gewaltsamen
Tod 316 wurde das größte Reich, das die Welt bis dahin gesehen hatte, eine Beute
ehrgeiziger Generäle.

Obwohl Eumenes von Kardia zu den wichtigsten Protagonisten der frühen


Diadochenzeit gehört, ist er weitgehend vergessen. Keine zeitgenössische
Darstellung hat sich erhalten, auch spätere Epochen haben sich kein Bild von ihm
gemacht. Das ist umso erstaunlicher, als doch zwei antike Autoren, der Römer
Cornelius Nepos und der Grieche Plutarch, Lebensgeschichten von Eumenes verfasst
haben. In seinen berühmten Doppelbiografien stellt ihn Plutarch dem Römer
Sertorius an die Seite - beides Beispiele vergeblichen Heldenmuts. Dieser führte
einen vergeblichen Kampf gegen Sulla und Pompejus wie jener gegen die Diadochen
scheiterte. Wie das geschah, hat der Historiker Stefan E. A. Wagner jetzt in der
Fachzeitschrift "Militärgeschichte" rekonstruiert.

"Da sein Leben in die Blütezeit der Makedonen fiel, beeinträchtigte ihn, da er
unter diesen lebte, wesentlich der Umstand, dass er ein Fremder war, und es
fehlte ihm nichts, als von makedonischem Adel zu stammen", erklärt Cornelius
Nepos die Hypothek, mit der Eumenes in den Kampf um die Macht eintrat. Umso
mehr, als er die Makedonen an "Sorgfalt, Wachsamkeit, Ausdauer sowie an
Schlauheit und Gewandtheit des Geistes übertraf".
Die Passage widerspricht der heute von Griechen gern vertretenen Ansicht,
Makedonen und Griechen seien im Grunde zwei Seiten einer Medaille gewesen. Wie
der Sprachwissenschaftler Harald Haarmann darlegt, gehörte das Mazedonisch der
Antike zu den alten Balkansprachen und unterschied sich deutlich vom
Griechischen. Die Elite des Reiches hatte zwar die hellenische Kultur und
Sprache angenommen, wusste um die kleinen Unterschiede aber sehr wohl.

Eumenes wurde Ende der 360er-Jahre in der griechischen Stadt Kardia am Nordende
der Gallipoli-Halbinsel am Marmarameer geboren. Da seine Familie in Opposition
zu dem Tyrannen der Stadt stand, musste sie emigrieren. Als Sekretär fand
Eumenes eine Anstellung bei Philipp II., Alexanders Vater, der Makedonien aus
einem verschlafenen Randgebiet der griechischen Welt zu dessen Hegemon gemacht
hatte.

Nach Philipps Ermordung 336 wechselte Eumenes in Alexanders Dienst und stieg
bald zum Archigrammateus auf, zum Leiter der Königlichen Kanzlei. In dieser
Funktion machte er den gesamten Eroberungszug mit und zeichnete für Befehle,
Akten und diplomatische Korrespondenz verantwortlich. Als Kallisthenes, Neffe
des Aristoteles und Verfasser des Feldzugtagebuches, der Verschwörung
beschuldigt und hingerichtet wurde, überstand Eumenes die Affäre ohne Blessuren.
Mehr noch: 326 übertrug Alexander seinem Spitzenbeamten in Indien erstmals ein
selbstständiges militärisches Kommando, das er offenbar so gut führte, dass er
auf dem Rückmarsch nach Babylon zum hohen Offizier der Flotte ernannt wurde.

Kurz vor seinem Tod fällte Alexander eine Entscheidung, die Eumenes endgültig zu
einem Mitspieler im Kampf um die Nachfolge machte. Der Kanzleichef wurde
Kommandeur der Hetairenreiterei, einem Teil der Garde. Damit hatte der Grieche
den Befehl über einen der schlagkräftigsten Verbände des Reichsheeres erhalten,
in dem auch zahlreiche Adlige dienten. Die makedonischen Generäle mussten diese
Machtstellung zähneknirschend zur Kenntnis nehmen.

Bei der Reichsordnung nach Alexanders Tod schälten sich schnell zwei Positionen
unter den führenden Gefolgsleuten heraus. Eine kleinere Gruppe wollte das
Riesenreich ungeteilt im Namen von Alexanders Familie erhalten, die Mehrheit
gierte nach einem möglichst großen Stück aus dem Kuchen für sich selbst. Eumenes
schlug sich auf die Seite des Perdikkas, der den Rang eines Großwesirs sowie den
Siegelring Alexanders erhalten hatte und als Vormund für Alexanders gerade erst
geborenen Sohn sowie seinen regierungsunfähigen Bruder auftrat.

Während Perdikkas die Invasion Ägyptens vorbereitete, machte sich Eumenes daran,
die Pläne der abgefallenen Diadochen in Kleinasien zu durchkreuzen. Welche
militärischen Fähigkeiten in dem Bürokraten steckten, musste zunächst der
Krateros erfahren. Dieser alte Haudegen, der zahlreiche Veteranen unter seinem
Kommando gehabt hatte, forderte Eumenes im Frühjahr 320 siegessicher am
Hellespont zur Schlacht. Der Sieger aber hieß Eumenes, der eigenhändig auch noch
einen gegnerischen General erschlagen haben soll.

Nachdem Perdikkas in Ägypten umgekommen war, blieb Eumenes in Asien der einzige
Diadoche, der sich als Anwalt der Alexandererben verstand. In doppeltem Sinne:
Nicht nur trat er weiterhin für die Reichseinheit ein, sondern er inszenierte
sich regelrecht als Stellvertreter des toten Weltherrschers. Dafür hielt er die
Besprechungen mit seinen Unterführern in einem königlichen Zelt ab. Darin war
ein goldener Thron aufgebaut, auf dem Diadem, Zepter und Schmuck Alexanders
drapiert wurden. Vor jedem Kriegsrat wurden dem vergöttlichten König Opfer
gebracht, Beschlüsse wurden in seinem Namen gefasst, so als ob er noch unter
ihnen leben würde.

Die letzte Garde Alexanders


Mit dem Kult des leeren Thrones konnte Eumenes tatsächlich den Makel seiner
griechischen Geburt überspielen. So gelang es ihm, die Argyraspiden
(Silberschilde), die letzte Gardetruppe Alexanders zu Fuß, in seinen Dienst zu
nehmen. Ihnen folgten zahlreiche Makedonen und Griechen, sodass er mit 35.000
Infanteristen, 6000 Reitern und 125 Kriegselefanten in die Offensive gehen
konnte. Diesmal war sein Gegner Antigonos Monophtalmos (der Einäugige), der sich
in Kleinasien und Syrien ein eigenes Reich erobern wollte.

Obwohl auch die übrigen Diadochen Eumenes und seinem Programm, die Einheit des
Reiches und die Rechte der Alexandererben zu wahren, feindlich gegenüberstanden,
gelang es dem Griechen in verschiedenen Schlachten, Antigonos auf Distanz zu
halten. Auch in dem Treffen bei Gabiene in Persien (unweit des heutigen Isfahan)
im Winter 316 durchbrachen die "Silberschilde" die gegnerische Phalanx.
Antigonos aber gelang es, sich in den Besitz von Eumenes' Lager zu setzen und
Familien und Besitz der Argyraspiden in die Hand zu bekommen.

Das war eine zu große Probe für ihre Loyalität: Sie lieferten Eumenes aus. "So
ließ denn Antigonos den Mann töten, da auch die Makedonen beharrlich auf die
Bestrafung des Eumenes drangen", schreibt der Historiker Diodor. "Doch um der
vormaligen Freundschaft willen verbrannte er den Leichnam und übersandte die
Gebeine den Angehörigen." Auch die "Silberschilde" erhielten ihre Quittung. Ihre
Anführer wurden hingerichtet, sie selbst als Einheit aufgelöst.

Außenseiter in einer monströsen Welt

Mit Eumenes starb der letzte von Alexanders Generälen, der vielleicht die
Fähigkeiten gehabt hätte, dessen Weltreich fortzuführen. "So war ein Grieche der
letzte ernsthafte Vorkämpfer der legitimen makedonischen Dynastie", resümiert
der Historiker Hans-Joachim Gehrke, um allerdings einzuschränken: "dies
wahrscheinlich auch nur, weil sich ihm als Griechen nicht die Gelegenheit zum
Herrschaftsgewinn auf eigene Rechnung bot".

Dass Eumenes dies erkannte, sagt einiges aus über seine Fähigkeit zur
Selbstkritik. Auch dass er als einer der wenigen Diadochen zudem der Frau die
Treue hielt, die ihm Alexander 324 auf der berüchtigten Massenhochzeit von Susa
zugedacht hatte, stempelt ihn zu einem Außenseiter in dieser von Ehrgeiz,
Skrupellosigkeit und Größenwahn gezeichneten Welt.

UPDATE: 3. März 2016

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Montag 7. März 2016 10:17 AM GMT+1


Frankenreich;
Nordafrikaner schlossen sich muslimischen Armeen an

AUTOR: Berthold Seewald

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 801 Wörter

HIGHLIGHT: Der Fund von drei Gräbern bei Nîmes fasziniert Archäologen. Die
Berber, die darin bestattet wurden, gehörten wohl zu den islamischen Heeren, die
Anfang des 8. Jahrhunderts Mitteleuropa angriffen.

Im Jahr 718 n. Chr. schien der Untergang des christlichen Europa nur noch eine
Frage der Zeit. Unter dem Befehl des Kalifenbruders Maslama hatte ein Heer von
vielleicht 200.000 Muslimen die byzantinische Kaiserstadt Konstantinopel
eingeschlossen. 1800 Schiffe sorgten dafür, dass die Metropole auch zur See
abgeschnitten war. Zur gleichen Zeit bereitete sich 2200 Kilometer weiter
westlich ein Heer aus Arabern und Berbern auf die Invasion Frankreichs vor. Als
erste christliche Bastion fiel 719 die alter Römerstadt Narbonne.

Aus dieser Zeit stammt eine Entdeckung, die Archäologen jetzt unweit der Stadt
Nîmes in der Provence gelang. Es handelt sich um drei Gräber samt den
sterblichen Überresten ihrer Inhaber. Radiometrische Untersuchungen datieren die
Knochen auf das Ende des 7. oder Anfang des 8. Jahrhunderts. Eine weitere Spur
eröffnet die Lage der Skelette. Sie wurden offenbar ganz bewusst so beerdigt,
dass die Gesichter der Toten in Richtung Mekka zeigen.

Eine Genanalyse schließlich legt verwandtschaftliche Beziehungen nach Nordafrika


nahe. Bei Nîmes, so die Schlussfolgerung des Forscherteams im Online-Journal
"PLOS One", wurden im frühen 8. Jahrhundert offenbar Berber begraben, Angehörige
der Armeen, mit denen die Omayyaden-Kalifen von Damaskus den Maghreb und
anschließend die Iberische Halbinsel erobert hatten. Viele Berber aus Nordafrika
nahmen damals den Islam an und machten sich zu seinem Vorkämpfer.

Dass die Toten keine Anzeichen von Gewalteinwirkung aufweisen, muss dieser
Deutung nicht widersprechen. Im Gegenteil. Bis zur Erfindung des modernen
Maschinenkrieges starben die meisten Menschen auf Feldzügen an Krankheiten und
nicht in der Schlacht. Ob sich die drei toten Berber allerdings einem konkreten
historischen Ereignis zuordnen lassen, darf bezweifelt werden.

Im Jahr 710 hatte ein erstes muslimisches Kommando von Marokko aus über die
Straße von Gibraltar gesetzt. Im Jahr darauf folgte der Feldherr Tariq Bin
Ziyad, ein zum Islam übergetretener Berber, mit einem Heer. Am Fluss Guadalete
zwischen Cádiz und Sevilla stellte sich ihm der Westgotenkönig Rodrigo entgegen.
Er verlor Schlacht und Leben. In wenigen Jahren nahmen die Muslime weite Teile
der Halbinsel für den Kalifen in Damaskus in Besitz. Nur der äußerste Norden und
das Baskenland blieben frei.

Noch während die Statthalter der Omayyaden dabei waren, al-Andalus, wie sie es
nannten, zu organisieren, überschritten muslimische Truppen die Pyrenäen und
fielen in Südfrankreich ein. Zwar erlitten sie 721 vor Toulouse einen
Rückschlag, eroberten aber kurz darauf Carcassonne und Nîmes, Bordeaux wurde
geplündert, selbst bis Burgund drangen die arabisch-berberischen Truppen vor.

732 rückte schließlich der fähige Feldherr Abd ar-Rahman mit einem großen Heer
nach Norden vor. Ob ihm dabei die Eroberung des Frankenreiches vor Augen
gestanden hatte oder nur die reichen Klöster von Tours, ist bis heute nicht
geklärt. Zwischen Tours und Poitiers verlegte der fränkische Hausmeier Karl
Martell, der eigentliche Herrscher der Franken, zusammen mit Langobarden und
Sachsen den Arabern den Weg. Ihre Verluste, darunter ihr Anführer, waren so
groß, dass das Treffen als "Schlacht an der Straße der Märtyrer" in die
muslimische Erinnerung eingegangen ist.

Auf den großen britischen Gelehrten Edward Gibbon (1737-1794) geht das Bonmot
zurück, dass ohne den Sieg Karls in Oxford statt der Bibel der Koran gelehrt
worden wäre. Moderne Historiker halten den Feldzug Abd ar-Rahman dagegen eher
für einen groß angelegten Beutezug ohne strategische Bedeutung. Ganz anders
dagegen ist der Abwehrerfolg zu bewerten, den die Byzantiner 718 vor
Konstantinopel errangen. Er sicherte die Ostflanke Europas über Jahrhunderte
hinweg.

Zeugnis für das friedliche Zusammenleben?

Der Fund von Nîmes wirft in diesem Zusammenhang Fragen auf. Da die Analyse der
Knochen auch eine Datierung in die Mitte des 8. Jahrhunderts zulässt, könnte es
durchaus sein, dass noch nach der Katastrophe von Tours/Poitiers Muslime in der
Provence lebten. Zwar berichten die Quellen, dass die Statthalter von al-Andalus
das Gros ihrer Truppen 738 hinter die Pyrenäen zurückzogen. Aber Narbonne und
Umgebung blieben weiterhin unter ihrer Kontrolle. Könnte es also sein, dass von
dort aus Kontakte bis in die Provence weiterbestanden? Und waren diese womöglich
friedlicher Art?

Aus der Lage der muslimischen Gräber von Nîmes wollen die Ausgräber keineswegs
auf eine scharfe Trennung der Glaubensgemeinschaften schließen. Zwar wurden die
toten Berber offenbar bewusst außerhalb eines christlichen Friedhofes bestattet.
Das muss aber nicht als Akt der Feindschaft interpretiert werden, schreiben die
Wissenschaftler. Vielmehr könnte es auch ein Beleg für die Achtung sein, die die
Menschen des 8. Jahrhunderts den religiösen Gefühlen Andersgläubiger
entgegenbrachten.

UPDATE: 7. März 2016

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Donnerstag 10. März 2016 9:50 AM GMT+1

Terror in Israel;
"Diese Anschläge schaden den Arabern am meisten"
AUTOR: Gil Yaron, Tel Aviv

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1151 Wörter

HIGHLIGHT: Die Menschen in Jaffa sind schockiert vom Attentat in ihren Straßen.
Denn sie leben tagtäglich die friedliche Koexistenz zwischen Israelis und
Arabern vor - und sehen ihr Lebenswerk in Gefahr.

Jardena Manor bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Auch diesen Freitag hat die
israelische Reiseleiterin wie jede Woche wieder vor, eine Gruppe von Israelis
durch Jaffa zu führen. Der südliche Stadtteil Tel Avivs, der sich selbst als
älteste Hafenstadt der Welt anpreist, ist normalerweise ein beliebtes
Ausflugsziel ausländischer Touristen und hungriger Israelis. An Wochenenden
füllen sie die arabischen Restaurants dieses Viertels. Andere nutzen den
Umstand, dass Araber im Judenstaat den Sabbat nicht einhalten müssen - und gehen
am arbeitsfreien Tag shoppen.

Doch nun könnte das vorbei sein. Denn Dienstagabend fand hier ein blutiges
Attentat statt, bei dem ein Palästinenser zwölf Menschen niederstach und einen
amerikanischen Touristen tötete. Am Tag darauf waren die sonst gut gefüllten
Gassen der Altstadt fast leer - abgesehen von Polizisten, die beritten und zu
Fuß patrouillierten und dabei von Journalisten begleitet wurden. Über Nacht ist
der sonst so malerische Wohnort von Arabern, Künstlern und Neureichen zur
Parabel der andauernden palästinensischen Terrorwelle geworden, in der seit
vergangenem Oktober bei rund 250 Attentaten 30 Israelis getötet wurden.

All das ändert nichts an der Tatsache, dass Manor am Freitag wieder nach Jaffa
fahren wird: "Meine Tochter will das zwar nicht. Sie hat Angst um mich", sagt
Manor. "Aber ich arbeite seit Jahrzehnten dort und hatte nie ein Problem. Ich
glaube nicht, dass jemand mich ersticht." Sie fürchtet etwas anderes: "Dass
meine Klienten mir absagen, weil sie Angst haben."

Sowohl Araber als auch Israelis fürchten die Attacken

Genau dieselbe Furcht teilt Doris Hiffawi, eine christliche Araberin aus Jaffa.
Sie wohnt nur ein paar 100 Meter von dem Ort entfernt, an dem ein 22 Jahre alter
Palästinenser aus dem Westjordanland seinen blutigen Amoklauf begann. Sie und
ihr Mann betreiben eine kleine Kaffeerösterei samt Kaffeehaus auf dem Dach ihres
Hauses, Meerblick inklusive. In traditioneller arabischer Kleidung serviert sie
hier aromatischen Mokka und erklärt Touristen oder israelischen Besuchern, was
es bedeutet, Araberin im Judenstaat zu sein: "Am Wochenende hat die
Stadtverwaltung von Tel Aviv mein Dach für eine Gruppe gebucht. Ich weiß nicht,
ob sie jetzt noch kommen werden", sagt sie.

Sie kann die Angst der Israelis verstehen: "Einerseits sind wir diese Gewalt
gewöhnt. Es ist ja nicht die erste Attentatswelle. Aber diesmal war es sehr nah.
Der Schulweg meiner Kinder führt genau an den Tatorten vorbei. Gestern fragte
mich meine Tochter: Mama - wie weiß der Attentäter eigentlich, dass ich keine
Jüdin bin und er mich nicht erstechen soll?" Denn der Terrorist konnte den
Unterschied offensichtlich nicht ausmachen: Zwei der Verletzten waren arabische
Bewohner Jaffas.

Was nur einer der Gründe ist, weshalb die arabischen Bewohner Jaffas wütend auf
den palästinensischen Attentäter sind: "So ein Attentat bedroht die knifflige
Koexistenz, die Araber und Juden über Jahre miteinander aufgebaut haben", sagt
Kamal Akbaria, Vorsitzender des Bürgerrats von Jaffa, der "Welt". "Die
Ladenbesitzer fürchten einen weiteren Rückgang ihrer Einnahmen. Nicht, dass es
bislang so gut war ..." Im vergangenen Oktober, zu Beginn der Terrorwelle, kam
es in Jaffa zu gewaltsamen Ausschreitungen arabischer Jugendlicher - seitdem
meiden immer mehr jüdische Israelis den Stadtteil.

"Nach jedem Zwischenfall werden die Restaurants leerer. Im Internet haben manche
Israelis eine Kampagne gestartet und rufen zum Boykott der Araber in Jaffa auf.
Dabei kam der Täter gar nicht aus unseren Reihen", klagt Akbaria. "In Jaffa hat
niemand Verständnis für den Attentäter, niemand hat Sympathie, auch nicht die
Jugendlichen", beteuert er. Alle verstünden, dass solche Anschläge "den Arabern
am meisten schaden, weil sie im Land die Schwächeren sind".

Doch nicht alle sind dieser Meinung: "Natürlich gibt es in Jaffa Leute, die den
Attentäter für einen Helden halten", meint Hiffawi. Auch Ibrahim Abu Sindi, der
Leiter des Arabisch-Jüdischen Zentrums in Jaffa, einem Ort der Begegnung, wo
Juden und Araber gemeinsam Sprachen, Tanzen und Sport lernen, macht "auf beiden
Seiten Radikalisierung aus". Das ungezwungene Miteinander im Zentrum würde "zu
einer Insel der Normalität in einer See des Wahnsinns", meint Abu Sindi.
Arabische Jugendliche seien im Internet fürchterlichen Hetzkampagnen ausgesetzt.
Auch Israels Regierung trage nicht sonderlich zur Beruhigung der Lage bei.

Nach einer ganzen Reihe von Attentaten am Dienstag - das in Jaffa war nur einer
von vier schweren Zwischenfällen im Land - beschloss das Kabinett noch in der
Nacht eine Reihe von Maßnahmen. Die Strafen für die Helfer von Attentätern
sollen verschärft werden; Medien, in denen Hetze betrieben wird, geschlossen
werden. Die 790 Kilometer lange Barriere zwischen Israel und dem Westjordanland,
von der bislang nur ein Teil errichtet wurde, soll nun fertiggestellt werden -
ein Versprechen, das Premier Benjamin Netanjahu allerdings schon oft machte.

Doch es sind andere Schritte, die Abu Sindi besorgen: Heimatdörfer von
Terroristen sollen fortan abgeriegelt, die Häuser aller Attentäter abgerissen,
Arbeitsgenehmigungen von Angehörigen annulliert werden. Zugleich will Netanjahu
ein neues Gesetz erlassen, das ermöglichen soll, Verwandte von Terroristen
entweder in den Gazastreifen oder gar nach Syrien abzuschieben. "Solche Schritte
nehmen alle Araber in Sippenhaft und vertiefen nur die Gräben zwischen den
Bevölkerungsgruppen", meint Abu Sindi.

Wie tief der Graben ist, wird sich erst zeigen

Und so äußert ausgerechnet Doris Hiffawi, die ihre Kinder auf eine jüdische
Schule in Tel Aviv schickt, ein gewisses Maß an Verständnis für den Attentäter:
"Ich bin gegen Gewalt, aber die Israelis sind auch nicht in Ordnung. Ich habe
Familie im Gazastreifen, deren Leben ist unerträglich. Die Hälfte von ihnen ist
ausgewandert. Wenn man ein ganzes Volk jahrzehntelang an die Wand drückt, wenn
man keine Arbeit, keine Freiheit hat - irgendwann reagieren Menschen so wie die
Terroristen."

Ihre eigenen Kinder will sie vom Konflikt fernhalten: "Ich wuchs in einem Haus
auf, in dem man uns davon erzählte, wie meine Onkel im Krieg von Israelis
ermordet wurden. Wie Juden unser Haus und unser Geld stahlen. All das erzähle
ich meinen Kindern nicht. Sie sollen einfach nur gut leben." Auch mit jüdischen
Nachbarn spreche man nie über Politik: "Das führt am Ende nur zu Streit."

Wie tief der Graben nach dem Attentat geworden ist, wird man erst am Wochenende
sehen, meint der Vorsitzende des Bürgerrats Akbaria: "Das ist der Test, der
zeigt, ob Israelis sich wieder mehr fürchten herzukommen, oder ob sie zwischen
Arabern und Attentätern zu unterscheiden wissen." Die israelische
Touristenführerin Manor sieht das abgebrühter: "In einer Woche werden alle
wiederkommen, um in den guten Restaurants hier zu essen. Wer in Israel lebt und
normal bleiben will, muss sich ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis zulegen."

UPDATE: 10. März 2016

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Dienstag 15. März 2016 2:59 PM GMT+1

zu "Putins Glamour-Girl und ihr verlogenes Weltbild" vom 6. 1. 2016;


Gegendarstellung

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 140 Wörter

HIGHLIGHT: zu "Putins Glamour-Girl und ihr verlogenes Weltbild" vom 6. 1. 2016

Sie schreiben: "Richteten sich die Anwürfe der Linke-Politikerin doch


ausschließlich gegen die von den USA geführte Anti-IS-Koalition, der vorgeworfen
wird, bei ihren Angriffen auf Stellungen der Dschihadisten auch Zivilisten
getötet zu haben..... Dass jedoch seit dem Beginn der russischen
Militärintervention aufseiten des Assad-Regimes in Syrien eine noch weit höhere
Anzahl ziviler Opfer zu beklagen ist, verschweigt die ... Antimilitaristin."

Das ist falsch: Im Deutschen Bundestag habe ich am 4. 12. 2015 zu den russischen
Bombardements und den dadurch verursachten zivilen Opfern gesagt:
"Selbstverständlich sind diese Opfer genauso tragisch wie die Opfer der Bomben
der Franzosen, wie die Opfer der Bomben der Amerikaner, wie die Opfer aller
anderen Bomben."

Berlin, den 6.1. 2016

Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht hat recht. Die Redaktion

UPDATE: 16. März 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Freitag 18. März 2016 10:59 AM GMT+1

EU-Gipfel;
Jetzt kommt es beim Flüchtlingsdeal nur noch auf die Türkei an

AUTOR: Andre Tauber, Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1193 Wörter

HIGHLIGHT: Die EU hat sich auf die Grundzüge eines Abkommens geeinigt, wie sie
mit der Türkei die Flüchtlingsströme nach Europa reduzieren möchte. Eine Troika
soll es aushandeln - doch das wird schwierig werden.

Und dann ging es plötzlich schnell. Auf einmal strömten die Staats- und
Regierungschefs aus dem Brüsseler Gipfelgebäude. Die Autos, die sie abholen
wollten, stauten sich am Ausgang. Bis nach Mitternacht hatten sie über das
Angebot verhandelt, das sie der Türkei im Tausch gegen einen Stopp der
Flüchtlinge machen. Nun wollten sie schnell in ihre Hotels zurück - als ahnten
sie bereits, dass sie ihren Schlaf brauchen werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) blieb noch einen kleinen Moment. Die
Bundeskanzlerin, die nur mit "vorsichtigem Optimismus" in die Gespräche gegangen
war, wollte den Eindruck von Geschlossenheit vermitteln. Die Atmosphäre sei
"sehr konstruktiv" gewesen, sagte sie. Man habe sich auf einen "Zwischenbericht"
verständigt. Sie machte aber auch keinen Hehl daraus, dass "nicht ganz einfache
Verhandlungen" anstünden.

Der heutige Freitag wird damit zum entscheidenden Tag in den Verhandlungen mit
der Türkei werden. Dann wird eine Troika aus EU-Gipfelpräsident Donald Tusk,
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sowie dem niederländischen
Regierungschef Mark Rutte mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu über
das Abkommen verhandeln.

Das Geschäftsmodell der Schlepper zerstören

Das Ziel steht fest: Die Europäische Union möchte gemeinsam mit der Türkei die
Flüchtlingsströme nach Europa reduzieren. Nachdem darüber schon seit November
gesprochen wurde, präsentierte vergangene Woche der türkische Ministerpräsident
Davutoglu ein überraschendes, neues Angebot: Es sieht vor, dass Ankara alle
Flüchtlinge zurücknimmt, die es in Booten bis nach Griechenland schafften.

Oberstes Ziel: Das Geschäftsmodell krimineller Schlepperbanden soll so zerstört


werden. Die Flüchtlinge sollen das klare Signal erhalten, dass diejenigen, die
sich in der Türkei registrieren und sich um einen legalen Weg nach Europa
bemühen, bessere Chancen haben als diejenigen, die sich von Schleppern nach
Griechenland bringen lassen.

In der Europäischen Union geht man davon aus, dass schon allein die Ankündigung
reicht, um die Flüchtlingsströme zu stoppen. Im Entwurf einer Erklärung ist zwar
die Rede von einem Limit von 72.000 Umsiedlungen. Doch die Hoffnungen sind groß,
dass dieses Kontingent gar nicht erst ausgeschöpft werden muss, sondern einige
Tausend reichen werden, bis die irregulären Flüchtlingsströme zum Erliegen
kommen.

Ein Stopp der Flüchtlingszahlen soll vor allem Griechenland helfen. Nachdem
vergangene Woche die Balkanroute für die Flüchtlinge faktisch geschlossen wurde,
stauen sich die ankommenden Migranten in Griechenland. Viele hausen unter
katastrophalen Bedingungen an der Grenze zu Mazedonien in der Hoffnung, die
Grenze könnte sich doch noch öffnen.

Kein Blankocheck für die Türkei

Merkel möchte ihnen keine Hoffnungssignale aussenden. Doch sie sagte


Griechenland Hilfe dabei zu, den Ansturm der Flüchtlinge zu bewältigen. Die
europäischen Partner wollten das Land mit Personal unterstützen. Auch
finanzielle Hilfen soll es geben. Sie erklärte nicht, ob diese neuen Gelder über
die bereits beschlossenen 300 Millionen Euro an Nothilfe für dieses Jahr
hinausgehen sollten.

Viele EU-Partner waren mit großem Misstrauen nach Brüssel gefahren. Sie fragten
sich, ob man der Türkei nicht zu große Zugeständnisse mache und ob man dabei
nicht die Rechte der Flüchtlinge beschneide. "Das Paket ist kompliziert, schwer
umsetzbar und bewegt sich an der Grenze des internationalen Rechts", sagte
Litauens Regierungschefin Dalia Grybauskaité sehr deutlich. "Ein Abkommen mit
der Türkei kann kein Blankoscheck sein", warnte der belgische Regierungschef
Charles Michel.

Die Europäische Union reagierte auf diese Bedenken. Die EU-Kommission versprach,
dass es keine pauschalen Rückführungen geben werde, sondern jeder Einzelfall
geprüft werden soll. Darüber hinaus fügte EU-Gipfelpräsident Tusk während der
Beratungen auch den Hinweis in den Entwurf einer Erklärung ein, wonach das
UN-Flüchtlingswerk UNHCR auch bei der Rücknahme der Flüchtlinge eingebunden
werden soll.

Zypern, die Vetomacht

Die entscheidende Rolle in den anstehenden Gesprächen wird nun Zypern zufallen.
Das kleine Land, das gerade einmal so viele Einwohner wie die Stadt München hat,
agiert in den Gesprächen selbstbewusst als Vetomacht. Regierungschef Nicos
Anastasiades verlangt, dass die Türken den Staat anerkennen sowie die Häfen und
Flughäfen für die Schiffe und Flugzeuge aus Zypern öffnen - erst dann will er
einer Visa-Liberalisierung sowie mehr Tempo in den EU-Beitrittsverhandlungen
zustimmen.

Der EU-Staat wird von der Türkei nicht anerkannt. Die Mittelmeerinsel ist seit
1974 geteilt, als türkische Truppen den Nordteil der Insel als Reaktion auf
einen Putschversuch besetzten. Beide Inselteile verhandeln schon seit Monaten
über eine Wiedervereinigung. Es gab zuletzt die Hoffnung, die EU-Gespräche mit
der Türkei könnten diesen Gesprächen mehr Schwung verleihen.

Die Regierung in Nikosia war verärgert, dass sie nicht frühzeitig eingebunden
gewesen war, als vergangene Woche Merkel gemeinsam mit dem niederländischen
Regierungschef Rutte und dem türkischen Premier Davutoglu verhandelte. Umso
dankbarer war man, dass Tusk später betonte, die Interessen der Zyprioten
müssten geschützt werden.

Welche Überraschungen hat Davutoglu im Gepäck?

Am Freitag wird sich entscheiden, ob eine Einigung gelingen wird. Die


Verhandlungstroika wird um 8:30 Uhr mit dem türkischen Regierungschef Davutoglu
zusammentreffen. Die anderen Staats- und Regierungschefs wurden gebeten, sich
bereitzuhalten. Binnen einer halben Stunde sollten sie in der Lage sein, sich
wieder im Gipfelgebäude einzufinden.

Dann könnte auch Zeit für bilaterale Gespräche sein, um die Verstimmungen der
vergangenen Wochen auszuräumen. Nötig dürfte das sein: Österreichs
Regierungschef Werner Faymann forderte Merkel noch einmal auf, endlich
Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu nennen - ein Schritt, den die
EU-Kommission in Brüssel als Verstoß gegen die Regeln ansieht.

Wenn alles gut läuft, sollen sie am Ende das von der Troika verhandelte Abkommen
gemeinsam mit dem türkischen Premier nur noch absegnen müssen. Der allerdings
zeigt sich selbstbewusst. Der türkische Vorschlag sei "klar und ehrlich" und
liege "noch auf dem Tisch", gab er vor seinem Abflug aus Ankara nach Brüssel zu
verstehen.

Wie lange die Verhandlungen andauern werden, das ist damit noch völlig offen.
Zumal türkische Beobachter erklären, dass Davutoglu viele Einwände haben wird
und es EU-Diplomaten nicht ausschließen, dass die türkische Delegation mit
Überraschungsforderungen im Gepäck nach Brüssel reist.

Frankreichs Staatspräsident François Holland zeigte sich vorsichtig


optimistisch. "Wir sind auf dem richtigen Weg, aber wir sind noch nicht am
Ziel", sagte er. "Ich kann kein Happy End garantieren." Er warnte zudem, dass
die Migration so lange anhalten werde, wie in Syrien Krieg herrsche.

Einige spekulierten in Brüssel bereits, dass sich der Gipfel wegen der großen
Differenzen gar bis Samstag hinziehen könnte. Merkel hofft, dass eine Einigung
allerdings schon früher gelingt. "Bis heute hoffentlich", verabschiedete sie
sich nach dem Abschluss der ersten Beratungsrunde in die Brüsseler Nacht. "Man
weiß ja nie."

UPDATE: 18. März 2016

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Sonntag 20. März 2016 12:07 PM GMT+1

So ein Glück!;
Dieser Zustand der glorreichen Selbstvergessenheit

AUTOR: Peter Praschl

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1452 Wörter

HIGHLIGHT: Happy sein ist eine Option: Wir alle wären gerne glücklich, glauben
aber, uns fehlt im Alltag etwas. Das ist großenteils falsch. Und es gibt einen
Weg, die Chancen auf ein frohes Leben zu verbessern.

Prognostisch sind Menschen minderbegabt. Deswegen haben sie schon wieder nicht
damit gerechnet, dass an diesem Sonntag Weltglückstag ist, obwohl er seit 2013
jedes Jahr am 20. März begangen wird. Die UN-Generalversammlung hat es so
beschlossen, in der Resolution 66/281, in der es unter anderem heißt, dass "dass
das Streben nach Glück ein grundlegendes menschliches Ziel" sei.

Das ist einerseits total bescheuert, weil der UN-Generalversammlung bekanntlich


auch Nationen angehören, in denen man in Arbeitslagern oder unter
Krummschwertern landet, falls man nach einem Glück strebt, das Kim Jong-un oder
dem Propheten entbehrlich erscheint. Andererseits ist es auch total rührend.

Weil es einen daran erinnert, dass sich das Glücksstreben des Menschen, dieser
jämmerlichen, geschundenen und gepeinigten Kreatur, nicht ignorieren lässt. Es
steht eben nicht nur als Grundrecht in der amerikanischen Verfassung. Sondern
auch in einer UN-Resolution, die man jedem verrückten demokratisch gewählten
Diktator unter die Nase reiben könnte, wenn dessen Sittenüberwachungskommandos
Ehebrecherinnen steinigen oder Schwule an Kränen aufknüpfen.

Gut: Freiheit, hohe Lebenserwartung, wenig Korruption

Sorry für die Bitternis, hier soll's ja ums Glück gehen. Das lässt sich dank der
Glücksforschung mittlerweile einigermaßen solide statistisch erheben.

Natürlich hat jeder Mensch seine eigenen, ganz individuellen Glückserfahrungen,


der eine wird vom Geruch seines Hundes selig, die zweite, wenn sie sich von
einem Milliardär zärtlich mit Kabelbindern fesseln lässt, der dritte, wenn sie
in der Kölner Philharmonie Bach spielen statt dieses neumodische Zeugs aus dem
letzten Jahrhundert. Doch sobald man von solchen individuellen Besonderheiten
absieht, stößt man auf viele Gemeinsam- und Gesetzmäßigkeiten.

Glücklich ist man in Gesellschaften, in denen die Grundbedürfnisse wie Nahrung


und Obdach erfüllt werden, wo Menschen die Freiheit haben, ihre eigenen
Entscheidungen zu treffen, die Lebenserwartung hoch ist, ein Sozialsystem bei
Unglücksfällen hilft und die Korruption als gering wahrgenommen wird. Wenn all
diese Daten erhoben sind, lassen sie sich in einer Glücksweltrangliste - dem
"World Happiness Report" - sortieren, die überraschenderweise alljährlich vor
dem Weltglückstag veröffentlicht wird.

In diesem Jahr ist Dänemark, das den Spitzenplatz schon dreimal innehatte,
wieder ganz vorne, vor der Schweiz, dem Glücksweltmeister von 2015. Die besten
nicht europäischen Nationen sind Kanada (6.), Neuseeland (8.) und Australien
(9.), die USA belegen Platz 13, die letzten vier Positionen auf der 157 Staaten
umfassenden Liste werden von Afghanistan, Togo, Syrien und Burundi eingenommen.
Deutschland hat in diesem Jahr einen beeindruckenden Sprung um zehn Positionen
gemacht und liegt jetzt in der Weltglücksrangliste auf Platz 16, nur noch 45
Pünktchen hinter Puerto Rico.

Wie kommt es dann, dass man dennoch so häufig das Gefühl hat, von übel gelaunten
Mitmenschen und Miesepetern umgeben zu sein?

Neues von der Glücksforschung

Auch darüber kann die Glücksforschung Auskunft geben. Es liegt daran, dass die
Glücksempfindungen des Einzelnen sich eben doch nicht davon beeindrucken lassen,
dass es ihm, statistisch betrachtet, goldig geht. Sein Gemüt ist bockig. Er
lässt sich nicht davon aufheitern, dass ihm die Krankenversicherung auch Globuli
bezahlt, es zaubert ihm kein Lächeln ins Gesicht, dass er auch der Kirche des
Fliegenden Spaghettimonsters beitreten dürfte, ohne mit Sanktionen rechnen zu
müssen. Und es versöhnt ihn nicht mit dem Universum, sich in der glücklichen
Lage zu befinden, zwischen Angela Merkel und Frauke Petry entscheiden zu dürfen.

Dafür kann er möglicherweise dankbar sein, aber Glück hat wenig mit Dankbarkeit
zu tun. Es ist eine wählerische Zicke, die sich erst dann beseelt fallen lassen
kann, nachdem ihr alle möglichen Hindernisse aus dem Weg geräumt worden sind.

Zum Beispiel ist da diese evolutionäre Erblast: Für Menschen sind nämlich
angsteinflößende Informationen bedeutsamer als die Freude am Erreichten. Angst
geht gleich rein, Glücksgefühle kommen im Gehirn erst später dran. Das ist ein
durchaus intelligenter Mechanismus. Vor vielen Tausend Jahren war es hilfreich,
dass im Menschen Fluchtreflexe ausgelöst wurden, wenn ihm ein Mammut
entgegenkam, und es erhöhte seine Überlebenschancen beträchtlich, wenn er die
leuchtenden Beeren, die er noch nicht kannte, nicht alle sofort in sich
hineinstopfte, sondern erst mal zwei kostete, um abzuwarten, wie sein Gedärm
reagieren würde.

50 Prozent des Glücks hängen von den Genen ab

Mittlerweile haben die Mammuts Antiblockiersysteme, doch das Gehirn des Menschen
ist immer noch dasselbe. Und es schlägt ständig Alarm, weil es ständig Angst
hat. Vor dem Untergang des Abendlandes, Weimarer Verhältnissen, Glyphosat, einem
Facebook-Shitstorm, bloß weil man zeigt, wie wohl man sich mit seiner
Bikinifigur fühlt. Da kann man nicht so einfach glücklich werden, auch wenn die
objektiven Bedingungen dafür fantastisch sind.

Erschwerend ist auch, dass wir beim Glücklichwerden zu 50 Prozent von den Genen
abhängen. Ein pessimistisch geborener Mensch wird also gehörige Schwierigkeiten
haben, sich durch einen Lottogewinn aus seinem Stimmungskorridor werfen zu
lassen. Das macht ihn ein paar Monate lang glücklich, aber dann ist er so drauf
wie eh und je. Das hat durchaus seine Vorteile: Es gibt zum Beispiel eine
Studie, in der gezeigt wird, dass Menschen mit einer Querschnittlähmung einige
Monate nach ihrem Unfall nicht so deprimiert sind, wie man es erwarten sollte.

Die äußeren Umstände fließen nur zu zehn Prozent in jene Formel ein, deren
Ergebnis Glück ausmacht. Sobald ein paar Grundbedürfnisse erfüllt sind, hält
sich das Wohlbefinden auf recht stabilem Niveau.
Bleiben noch jene 40 Prozent, die den Eigenanteil beim Glücklichwerden
ausmachen. Einem sauertöpfischen Pessimisten - also dem ehrlichen Realisten -
signalisiert diese Zahl: Egal, was er tut, er hat die Sache mit dem Glück nie
wirklich unter Kontrolle, weil Gene und Umstände immer stärker sind. Den positiv
denkenden Glücksforscher ficht das nicht an. Er ist fest davon überzeugt, dass
der Mensch es selbst in der Hand hat, wie glücklich er wird. Er kann etwas tun.

Nicht zu viel Geld, nicht zu viele Optionen im Supermarkt

Aber was? Darauf gibt es viele wissenschaftlich abgesicherte Antworten. Um


glücklich zu werden, sollte man Freundschaften haben, verheiratet sein und am
besten so alt, dass die Kinder schon wieder aus dem Haus sind (die Mühen, die
man mit Kindern hat, wiegen in der Summe schwerer als die Glücksmomente, die man
ihnen verdankt).

Man sollte ungefähr so viel verdienen wie die Menschen in seiner Umgebung, damit
man sich nicht unterprivilegiert fühlen muss. Man sollte einigermaßen gesund
sein. Und man sollte in seinem Alltag zwar einerseits immer wieder die Freiheit
der Wahl haben, andererseits nicht mit zu vielen Optionen konfrontiert werden -
das führt nur dazu, dass man bei der Erwägung, was man denn nun tun solle,
wuschig wird und seine Entscheidung zu oft bereut, weil sie nicht die richtige
gewesen sein könnte.

Das alles sind tatsächlich die empirisch abgesicherten Ergebnisse der


Glücksforschung. Wenn man bei ihrer Lektüre denkt, darauf hätte man auch von
selbst kommen können, muss man darüber nicht unglücklich sein. Es bestätigt
einem ja, dass man mit seinem beschränkten unwissenschaftlichen Verstand nicht
immer danebenliegt.

Meistens aber leider doch. Der Verstand des Menschen ist unglücklicherweise so
gestrickt, dass er ständig Denkfehler begeht, und beim Streben nach dem Glück
wird es besonders schlimm. So existiert die unglückselige Neigung, das, was man
schon kennt, für besser zu halten als das, was man noch nicht kennt.

Mit dem "Flow" immer auf der sicheren Seite

Das führt beispielsweise dazu, dass man Ex-Partnern hinterhertrauert, obwohl man
doch eigentlich weiß, wie aussichtslos es ist, mit ihnen eine gute Beziehung zu
führen. Oder man tendiert dazu, zu vertrauensselig vom Jetzt auf die Zukunft
hochzurechnen - also etwa davon auszugehen, dass man den Menschen, den man
gerade toll lieb hat, auch in zwei Jahren noch so toll lieb zu haben, dass man
mit keinem anderen schlafen will. Und schon ist man unglücklich verheiratet.

Am Ende bleibt von der Glücksforschung nur ein einziger Befund, den man fürs
eigene Leben mitnehmen kann: Ganz besonders glücklich ist man immer dann, wenn
man etwas so gerne tut, dass man dabei vergisst, wer man ist - der berühmte
"Flow", von dem Psychologen sprechen.

In diesen Zustand der glorreichen Selbstvergessenheit gerät man allerdings


sicher nicht, sobald man darüber nachdenkt, wie man glücklich wird. Also
vergessen Sie, dass heute Weltglückstag ist. Sie haben diesen Text nie gelesen.

UPDATE: 20. März 2016

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Montag 21. März 2016 11:05 AM GMT+1

"Letter from Europe";


Die EU ist für die Schweiz wichtiger denn je

AUTOR: Pierre Ruetschi

RUBRIK: DEBATTE; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 803 Wörter

HIGHLIGHT: Die Sonderrolle der Schweiz als Partner, aber nicht Teil der EU hat
ihr mehr genutzt als geschadet. Trotzdem kann sie die Krise Europas keineswegs
mit Häme verfolgen - denn sie schadet auch ihr.

Auf glühenden Kohlen sitzend, beobachtet die Schweiz das desolate Spektakel
eines Europas, das durch die Migranten vollkommen aus der Fassung geraten ist.
1992 haben die Schweizer einen Beitritt in den Europäischen Wirtschaftsraum
(EWR) abgelehnt und damit einen einzigartigen Weg eingeschlagen, was ihren Platz
in Europa anbetrifft. Den der bilateralen Verhandlungen. An der Seite Europas,
aber nicht als Teil Europas.

Eine Methode, die sich als ausgesprochen profitabel herausgestellt hat.


Gesteigertes Wirtschaftswachstum, geringere Arbeitslosigkeit, bessere
Lebensqualität: Alle Anzeichen sprechen dafür, dass diese Entscheidung zugunsten
einer bis ins Kleinste und immer wieder neu abgestimmten Politik genau die
richtige war. Eine "Teflon-Schweiz", die sich aus allem heraushält, aber die es
dank der Fähigkeiten ihrer Unternehmer geschafft hat, sich auf dem europäischen
und dem internationalen Markt zu etablieren - und dabei ihre eigenen Werte zu
wahren.

Natürlich gleicht dieser Rückschluss einer Karikatur. Denn die Risse in diesem
schönen Scheingebilde werden immer zahlreicher - und tiefer. Der Machtanstieg
der Schweizerischen Volkspartei (SVP), einer populistischen Partei, die zur
stärksten im Land aufgestiegen ist, hat die Gegebenheiten Schritt für Schritt
verändert. Sie hat es geschafft, eine verunsicherte Bevölkerung, die um den
Verlust ihrer Errungenschaften besorgt ist, auf ihre Seite zu ziehen, und einen
Kampf nach dem anderen gewonnen, wenn es darum ging, sich gegen die europäischen
Nachbarn zu verbarrikadieren.

Und das geht so weit, dass heute, nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014
bezüglich der Festlegung von Quoten für ausländische Arbeitnehmer, ein Bruch mit
Europa droht. Und mit dem Infragestellen des Schengener Abkommens (Reisefreiheit
von Personen), an dem sich die Schweiz ja beteiligt hat, riskiert sie zur
gleichen Zeit auch den Verlust der wesentlichen Vorteile ihres Erfolgs, sei es
der ausreichende Zugang zu ausländischer Arbeitskraft zu europäischen
Wissenschaftsprogrammen, oder sei es der Austausch von Studenten (Erasmus). Und
all das ist schließlich eine Voraussetzung des "Schweizer Wunders".

Bislang hat die Einwanderungswelle die Schweizer Landesgrenzen kaum erreicht.


Doch nun hat die Regierung vergangene Woche eine Verdreifachung vorhergesagt,
was die Anzahl der 2016 zu erwartenden Einwanderer betrifft - also mehr als
120.000. Wenn die Route über den Balkan versperrt bleibt, drohen die Migranten
wieder über Italien zu kommen und damit an die südliche Grenze der Schweiz. Ein
weiteres Problem ist, dass die Verhandlungen mit der EU bezüglich einer
Beibehaltung des jetzigen Status an einem toten Punkt angelangt sind und die
Abstimmung der Briten bezüglich des Brexit am 23. Juni das Schlimmste befürchten
lässt.

Es sieht so aus, dass die Regierung in Großbritannien ein geografisch variables


Europa produzieren könnte, das wiederum eine Schweizer Annäherung möglich macht.
Doch von wegen. Ein britischer Exit hinsichtlich der Reisefreiheit würde die EU
zutiefst destabilisieren. Brüssel und die Mitgliedsstaaten hätten dann definitiv
Wichtigeres zu tun, als die Schweizer Ausnahmeregelung zu unterstützen und dabei
an einem ihrer grundlegenden und unantastbaren Prinzipien zu rütteln: eben jener
Reisefreiheit.

Die Schadenfreude der Anti-Europäer währt nicht lange

Die Anti-Europäer in der Schweiz sehen mit einer gewissen Schadenfreude zu, wie
die EU versucht, sich mit Diskussionen zu existenziellen Fragen aus dem
Schlamassel zu ziehen. Doch dieses stille Vergnügen wird nicht von langer Dauer
sein. Denn auch die Schweiz, das geografische Herz des Kontinents, wird dem
zerstörerischen Mahlstrom nicht entgehen, das ein aus dem Ruder laufendes Europa
nach sich ziehen würde. Der Krieg in Syrien, der Terrorismus, der Zufluss der
Migranten, all diese Dinge sind direkt miteinander verbunden. Gemeinsam haben
sie zu einer Bewegung tektonischen Ausmaßes geführt, die man uneinig nicht
meistern kann.

Deutschland war bislang der beste Garant für Stabilität. Doch auch wenn seine
Wirtschaft solide bleibt, politisch wird es schwächer. Es braucht Verbündete, um
das Ruder wieder herumreißen zu können. Sonst zerbricht diese historische und
natürliche Achse, die es bislang ermöglicht hat, sich allen Problemen der (zu
schnell) wachsenden Union zu stellen. Frankreich glänzt durch Abwesenheit.
Verstrickt in die eigenen internen Probleme, haben der Präsident und seine um
den Thron kämpfenden Gegner Europa aus den Augen verloren. Schließlich sind die
Flüchtlinge längst auch zu einer Waffe im Wahlkampf geworden.

Von der Schweiz aus betrachtet, ist die Europäische Union wirklich nicht
verlockend. Und doch ist sie wichtiger und notwendiger denn je. Auch für die
Schweiz.

Der Autor ist Chefredakteur der "Tribune de Genève"

Aus dem Französischen von Bettina Schneider

UPDATE: 21. März 2016

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Dienstag 22. März 2016 12:33 PM GMT+1

"Batman v Superman";
Warum Batman die AfD wählen würde

AUTOR: Jan Küveler

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1328 Wörter

HIGHLIGHT: Kinopremiere: In "Batman v Superman: Dawn of Justice" kämpfen die


Superhelden erstmals gegeneinander. Dabei muss man sich vor allem um den dunklen
Ritter Sorgen machen. Psychogramm eines Psychopathen.

Keine Frage, Batman würde AfD wählen. Nicht nur, weil er dort Leute träfe, die
auch nach fliegenden Tieren heißen wie Storch und Petry, was sich anhört wie der
Spitzname von Pterodactylus, dem bissigen Kurzschwanzflugsaurier, ein Favorit in
Naturkundemuseen. Vor allem fände er aber das Programm gut. Er ist ja strikt
regierungskritisch und gleichzeitig ein Anhänger von Law and Order, die man eben
selbst gewährleisten muss, weil die Polizei ja so unfähig ist, dass die Ganoven
und die Einwanderer machen, was sie wollen. Seine politische Einstellung ist
libertär-konservativ. Er setzt konsequent auf Eigenverantwortung.
Steuersenkungen für die Reichen und die Abschaffung von jeder
Sozialversicherungspflicht würde er als Multimilliardär begrüßen. Man soll ihn
dafür nicht schelten; er spendet großzügig. Womöglich hat Peter Sloterdijk ihn
vor Augen gehabt, als er sein Steuermodell der gebenden Hand entwarf.

Im neuen "Superman v Batman" von Zack Snyder legt er sich tatsächlich mit dem
mächtigsten Superhelden von allen an, dem Typen in den blauen Leggings und dem
roten Schlüpfer, der mit seinem Laserblick ganze Wohnblöcke in Schutt und Asche
legen kann. Neben ihm ist Nietzsches Übermensch ein trauriger Hänfling, die
Nazis waren so neidisch, dass sie ihn als Juden verunglimpften. Man muss schon
ein völlig durchgeknallter Superschurke wie Lex Luthor sein, um gegen ihn
anzutreten. War Batman nicht immer einer von den Guten? Was ist bloß in ihn
gefahren?

Bevor er vor 77 Jahren in Gotham auftauchte - Batman-Hauptstadt seit Mai 1939,


als die erste Story von Bob Kane bei DC Comics erschien -, war die Stadt
Sündenpfuhl, Moloch, totale No-go-Area. Bruce Wayne, dessen Eltern bei einem
Raubmord vor seinen Augen erschossen worden waren, zwängte sich traumatisiert in
ein hautenges Gummikostüm und stülpte sich die Fledermausmaske über. Er fuhr auf
keine Sexparty ins Berghain, wie man vermuten könnte, sondern ließ im Gegenteil
jahrzehntelang jeden abblitzen, der mit ihm intim werden wollte, egal ob Frauen
oder Männer. Nächtliche Sadomaso-Fetischorgien, bei denen er andere Psychopathen
verprügelte, gingen aber immer. Da nahm er gern seinen Kompagnon Robin mit, egal
ob das gerade, wie meistens, ein Junge war oder, wie in den Geschichten des
Autors und Zeichners Frank Miller, ein Mädchen.

Töten macht keinen Spaß

Am Anfang von Millers Epos "Die Rückkehr des dunklen Ritters", das 1986 seine
misanthropische Wende markiert, lauern Batman ein paar Mutanten auf, die im
Grunde aussehen wie unzufriedene Dresdner mit der Sonnenbrille von Geordi La
Forge in "Raumschiff Enterprise". Sie freuen sich schon, ihn gleich
aufzuschlitzen, sehen einerseits, dass er nicht mehr der Jüngste ist, haben bloß
Bedenken, weil er ihnen so groß und stark vorkommt. Das entscheidende Argument,
vom Überfall abzusehen, lautet allerdings: "Weiß nicht, Mann. Schau ihn dir an.
Der mag das. Töten macht so gar keinen Spaß." Die Perversen haben ihn
durchschaut. Als einen der Ihren, bloß ein schwererer Fall.

Dieser Batman war Frank Millers Erfindung. Er musste gar nicht viel machen. Die
sexuelle Verwirrung, die Paranoia, der Größenwahn, der Hass auf alles Lebendige,
Schöne, Sonnenbestrahlte wohnte der Figur von Anfang an inne. Nur hatte das
Potenzial keiner entfaltet. Nicht der "caped crusader", der maskierte
Kreuzzügler der Vierzigerjahre, immer ein Lächeln auf den Lippen, ohne einen
Schweißfleck unter den Achseln; als Technikfreak setzte er wahrscheinlich schon
auf Neopren, das gerade erfunden worden war. Nicht der grimmige Detektiv der
Siebziger von Dennis O'Neil und Neal Adams.

Erst Miller tauchte voll in den Albtraum ab, in dem diese Figur immer schon zu
Hause war. Man denke an die Bathöhle mit den tausend schwirrenden Fledermäusen,
die Stimme des knurrenden Biests, die sich als innerer Monolog durch die
Miller-Panels zieht, die ihn sich schlaflos im Bett wälzen lässt und dann
hinaustreibt in die Nacht, oder das Gas, das die Vogelscheuche in den
Christopher-Nolan-Filmen freisetzt und das jeden, der es einatmet, mit seinen
schlimmsten Ängsten konfrontiert.

Huren sind Emanzen

Nolans Batman, mit Grabesstimme gespielt vom völlig humorlosen Christian Bale,
wäre ohne Miller undenkbar. Die Härte, die Dunkelheit, der Regen, Gothams
unendliche Verrohung einerseits. Andererseits Batman selbst: die kurzen Ohren,
mehr Pitbull als Dobermann, das Vierschrötig-Muskulöse, Brutalität statt
Eleganz, überdeutliche Soziophobie. Bale brauchte einfach nur seinen
unterkühlten Investmentbanker/Frauenkiller aus Bret Easton Ellis' "American
Psycho" zu reaktivieren, zehn Jahre gealtert und im Karnevalskostüm: der
Gummianzug als klaustrophobischste Gummizelle der Welt. Außerdem hat Miller den
Namen "The Dark Knight" recycelt; es gab ihn schon mal, er war in Vergessenheit
geraten. Er ist zur zentralen Marke im seit 30 Jahren andauernden
Batman-Relaunch geworden, erst in den Comics, seit Nolan auch in den Filmen, die
spät dran waren, nach Tim Burtons verspieltem "Batman" mit Michael Keaton und
dem läppischen "Batman & Robin" mit George Clooney.

Man hat Miller Frauenfeindlichkeit vorgeworfen, rechtsextreme, gar faschistische


Tendenzen. Sein Batman killt zwar immer noch keinen, das ist eine Grundregel
seines Charakters, hat aber nichts dagegen, den Joker bis zur
Querschnittslähmung zu prügeln und ungerührt zuzusehen, wie er sich in einem
letzten Kopfschütteln sozusagen eigenhälsig das Genick bricht. Dieser Batman
stammt eindeutig aus dem New York von "Taxi Driver". Er ist Travis Bickles
fantastische Mutation. Faszinierend anzusehen, weil ja nicht im echten Leben,
sondern auf Hochglanzpapier.
Miller lässt alles raus, die Wut und Arroganz, mit der er Occupy als Bewegung
kleiner verwöhnter Kiddies verhöhnte und im Comic "300" den 11. September
vorwegnahm, nur dass ihn diesmal das Abendland in Gestalt edler Spartaner gewann
und nicht die degenerierten Perser mit einem schwulen Riesen an der Spitze. Die
Welt von "Sin City", die er selbst zusammen mit dem Tarantino-Buddy Robert
Rodriguez verfilmte, ist ähnlich schwarz-weiß, und Frauen sind vielleicht
emanzipiert, aber trotzdem Prostituierte.

Denken macht Freude

Über den neuen Film weiß man noch nicht viel, abgesehen von elf Minuten
Trailermaterial, das eifrige Fans auf YouTube zu einem eigenen kleinen
Meisterwerk zusammengeschnitten haben. Ben Affleck spielt eine Variante von
Millers Batman, in einem waffenstarrenden Batmobil, mit verspannten
Augenschlitzen, aus denen das Weiße blitzt, mit dem düsteren Fledermaussymbol
auf der Brust statt dem schwarz-gelben aus gemäßigteren Zeiten. Er schießt wohl
gar auf Superman. Das hätte er sich früher nie getraut. Vielleicht haben ihn
Petrys Ansichten zum Grenzschutz überzeugt. Superman kommt vom Planeten Krypton.
Das ist noch schlimmer als Syrien. Außerdem arbeitet er beim "Daily Planet",
also der Lügenpresse.

Im 30 Jahre alten Zyklus von "Die Rückkehr des dunklen Ritters" treffen die
beiden aufeinander. Superman ist Superbefehlsempfänger eines kaum kaschierten
Ronald Reagan. Amerikaner und Russen kämpfen um die Insel Corto Maltese vor der
südamerikanischen Küste. Superman lenkt eine Atomrakete in die Wüste um und
betrauert die Frösche, die sich von Regenzeit zu Regenzeit eingraben und nun
doch so sinnlos umkommen. Batman ist bekanntlich Team Fledermaus und hat weder
für Frösche noch für den stets super gegelten Superspießer Superman etwas übrig.

Zack Snyder ist großer Frank-Miller-Fan und drehte schon die Filmadaption von
"300", allerdings auch Alan Moores politisch cleverere "Watchmen". In Interviews
hat er durchblicken lassen, das Skript lehne sich an "Die Rückkehr des dunklen
Ritters" an. Also, Atombomben galore! Supermans Kryptonit gegen Batmans
Kryptofaschismus. Zum Glück ist ein Comic aber kein Parteiprogramm. Er will
nicht in die Praxis umgesetzt werden, sondern ist, wie es Nietzsche in seiner
Vorrede zum "Willen zur Macht" formulierte, "ein Buch zum Denken, nichts weiter:
es gehört denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter".

UPDATE: 22. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 9:40 AM GMT+1


Terrorgefahr;
Täglich Hinweise auf Anschlagsversuche in Deutschland

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 957 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Brüsseler IS-Anschlägen herrschen in Deutschland verschärfte


Vorkehrungen. Nach Auskunft der Sicherheitsbehörden ist die allgemeine
Terrorgefahr bereits "sehr, sehr hoch".

Im Liveticker: Alle wichtigen Informationen zu den Anschlägen in Brüssel.

Nach den Anschlägen in Brüssel werden auch in Deutschland die


Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Täglich erhalten die Sicherheitsbehörden
zwei bis vier ernst zu nehmende Hinweise auf mögliche Anschlagsversuche. Das
hatte Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nach Teilnehmerangaben bei der
sogenannten Sicherheitslage im Bundesinnenministerium im Januar gesagt.
Sicherheitsbehörden bestätigten der "Welt" am Dienstag diese Größenordnung.

Die allgemeine Anschlagsgefahr in Deutschland werde durch die Brüsseler


Bluttaten - zu denen sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekennt -
allerdings nicht steigen, hieß es nach Auskunft der Sicherheitsbehörden. Sie sei
aber ohnehin "bereits heute sehr, sehr hoch".

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte mit Blick auf die Anschläge
in Belgien: "Wir haben derzeit keinerlei Hinweise über einen Deutschland-Bezug.
Aber wir wollen natürlich sichergehen, und deswegen werden entsprechende
Maßnahmen lageabhängig durchgeführt."

Der Innenminister von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz (SPD), sagte: Obwohl bisher
nichts dafür spreche, dass mögliche Täter oder Hintermänner in Richtung
Deutschland geflüchtet sind, seien mehrere Spezialeinheiten im Einsatz. Die
Polizeihubschrauberstaffel und die Streifenpolizei wurden in erhöhte
Bereitschaft versetzt. Alle Polizisten haben mittlerweile Maschinenpistolen im
Wagen.

Am Frankfurter Flughafen kontrollierten Bundespolizisten mit Sprengstoffhunden


die Terminals und jeden Abfallbehälter. Aus einsatztaktischen Gründen wollte die
Bundespolizei am Nachmittag keine Details zu Maßnahmen nennen, aber ihre Präsenz
wurde sichtbar verstärkt. Eine aktuelle Bedrohung für die Sicherheitslage
bestehe aber nicht, sagte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU). Beamte aus
mehreren Polizeipräsidien sowie Bereitschaftspolizisten kontrollieren gemeinsam
mit der Bundespolizei verstärkt die Grenzregion von Rheinland-Pfalz zu Belgien
und Luxemburg.

Bislang entging die Bundesrepublik größeren Anschlägen

Durch die intensiven Anstrengungen von Polizei und Geheimdiensten konnten in


Deutschland bislang größere islamistische Terroranschläge verhindert werden. Der
Kosovo-Albaner Arid Uka ermordete vor fünf Jahren am Frankfurter Flughafen zwei
US-Soldaten und verletzte zwei weitere. Uka hatte sich durch Internetforen und
die salafistische Szene im Rhein-Main-Gebiet radikalisiert.
Für viele in den Sicherheitsbehörden gilt schon vor dem Abschluss der
Ermittlungen die jüngste islamistische Gewalttat in Hannover als zweiter
geglückter Terroranschlag in Deutschland: Am 26. Februar stach die 15-jährige
Safia S. in Hannover einem Bundespolizisten ein Messer in den Hals. Die
Deutsch-Marokkanerin verkehrte im vom Verfassungsschutz beobachteten
"Islam-Kreis". Schon als siebenjähriges Kind ließ ihre Mutter sie an der Seite
des Salafisten-Predigers Pierre Vogel Koranverse zitieren.

Insgesamt wurden durch die Bundesländer Ende Dezember 447 Personen als
islamistische Gefährder eingestuft. Ihnen wird die Durchführung einer
erheblichen Straftat zugetraut. Vor allem in Bremen, Berlin, Hamburg und
Nordrhein-Westfalen sind überproportional viele gemeldet, wie Recherchen der
"Welt am Sonntag" ergaben.

Wer sich in der Bundesrepublik aufhält, wird von den Sicherheitsbehörden im Auge
behalten. Der Aufenthaltsort dieser Personen wird regelmäßig festgestellt,
manchmal werden sie auch observiert. Was es allerdings fast nie gibt, ist eine
Rund-um-die-Uhr-Überwachung. Pro Gefährder wären dafür rund 30 Beamte notwendig.

Neben den Gefährdern gibt es die Kategorie der sogenannten relevanten Personen.
Auch sie gelten als stramm islamistisch, stehen im Gegensatz zu den Gefährdern
aber nicht im Verdacht, irgendwann selbst einen Anschlag oder einen Mord
auszuführen. Das gesamte "islamistisch-terroristische" Personenpotenzial in
Deutschland oder mit deutscher Staatsangehörigkeit wird von der Regierung mit
rund 1100 Personen angegeben.

Große Sorge bereiten auch die mehr als 800 Personen, die aus Deutschland nach
Syrien oder in den Irak ausreisten. Nach Auskunft der Sicherheitsbehörden ist
ein Drittel von ihnen bereits wieder zurückgekehrt.

Nach geltender Gesetzeslage ist die Ausreise aus Deutschland in ein


Bürgerkriegsgebiet allerdings nicht strafbar, sie ist auch kein hinreichender
Grund für eine Überwachung nach der Rückkehr. Selbst die Telefonüberwachung
eines Rückkehrers ist nur dann möglich, wenn es weitere Hinweise gibt.

Staat mahnt die deutschen Bürger zur Wachsamkeit

Der Verfassungsschutz weist darauf hin, dass die Terrorbekämpfung eine


gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Jeder Bürger solle sich beim dafür
eingerichteten "Hinweistelefon islamistischer Terrorismus" melden, wenn in der
Umgebung für Terror geworben wird oder sich Personen aus dem sozialen Umfeld
radikalisieren.

Die Bundesregierung rief nach den Anschlägen in Belgien zu "Entschlossenheit


gegen die Terroristen" auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte an, das
Kabinett werde sich am Mittwoch "vertieft" mit den Konsequenzen beschäftigen.
"Die Mörder von Brüssel sind Terroristen ohne Rücksicht auf die Gebote der
Menschlichkeit" und "Feinde aller Werte, für die Europa heute steht". Merkel
sagte weiter, die freien Gesellschaften würden sich "als stärker erweisen als
der Terrorismus".

Von einem "schwarzen Tag für Europa" sprach Bundesjustizminister Heiko Maas
(SPD). "Diese abscheulichen Taten treffen uns alle. Wir stehen an der Seite von
Brüssel und der Belgier."

Bundespräsident Joachim Gauck sprach dem belgischen König Philippe seine


Anteilnahme aus und verurteilte die Anschläge. Das Auswärtige Amt richtete einen
Krisenstab ein. Unklar war am Dienstag zunächst, ob auch Deutsche unter den
Opfern sind.

UPDATE: 23. März 2016

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Mittwoch 23. März 2016 10:22 AM GMT+1

Technikgeschichte;
Wie die Panzer das Fliegen lernten

AUTOR: Johann Althaus

RUBRIK: GESCHICHTE; Geschichte

LÄNGE: 764 Wörter

HIGHLIGHT: Die A-10 Thunderbolt II ist so etwas wie ein fliegender Panzer. Dem
mächtigen Erdkampfflugzeug widmet N24 jetzt eine Dokumentation. Es bildet den
Höhepunkt einer langen Entwicklung.

Auf dem Schlachtfeld zählen nur zwei Dinge: Den Gegner bekämpfen und selbst
überleben. Es geht also erstens um die eigene Feuerkraft und zweitens um die
Fähigkeit, feindliche Treffer zu vermeiden oder jedenfalls nicht verletzt zu
werden. Das kann man entweder erreichen, indem man sich möglichst massiv schützt
- oder indem man ein schwierig zu treffendes Ziel abgibt. Panzerung und
Geschwindigkeit aber sind Gegensätze: Je schwerer ein beliebiges Fahrzeug ist,
desto unbeweglicher muss es sein. In diesem Dilemma stecken schon eine meist
wenig beachtete Kategorie von Waffen: die Erdkampfflugzeuge.

Mitten im Ersten Weltkrieg gab es die ersten speziell zum Einsatz gegen
Bodenziele ausgerüsteten Flugzeuge, zum Beispiel die Junkers J. I mit zwei fest
in den Rumpf eingebauten, abwärts schießenden MGs. Hundert Jahre später ist das
mächtigste Erdkampfflugzeug der Welt die amerikanische Fairchild-Republic A-10
Thunderbolt II. Diesem seit 1975 ununterbrochen eingesetzten "fliegenden Panzer"
widmet der Informationssender N24 jetzt eine sehenswerte Dokumentation.

Ihre Ahnenreihe ist lang. Schon die Junkers J. I verfügte 1917 über eine
wannenförmige Stahlpanzerung für Pilot, Bordschütze und Tank. In der Thunderbolt
II, besser bekannt unter ihrem Spitznamen "Warthog" ("Warzenschwein"), werden
der Pilot und die überlebenswichtigen Systeme wie die Flugelektronik und
natürlich der Schleudersitz von einer 400 Kilogramm schweren Titanwanne
geschützt.

Im Spanischen Bürgerkrieg und bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein bewährte
sich bei der Wehrmacht das leichte Erdkampfflugzeug Henschel Hs 123. Es war wohl
der letzte Doppeldecker (ganz korrekt: Anderthalbdecker), der auf deutscher
Seite im Einsatz war. Die Hs 123 konnte Ziele im Horizontal- wie im gemäßigten
Sturzflug bombardieren und mit Maschinengewehren angreifen.

Weitaus bekannter war und ist der Sturzkampfbomber Junkers Ju 87, der nur kurze
Zeit nach der Henschel in Dienst gestellt wurde. Doch schon seit 1940 wurde die
Maschine von strategischen Operationen abgezogen und als Erdkampfflugzeug
verwendet. An der Ostfront bewährte sie sich hervorragend, vor allem in der
Variante Ju 87G. Die Sturzflugbremsen waren ausgebaut worden; statt Bomben trug
die Junkers zwei 37-Millimeter-Schnellfeuergeschütze. Ihren Spitznamen
"Panzerknacker" verdiente sich diese Variante, die das erste fliegende
Panzerabwehrgeschütz war.

Deutlich größer war der zweimotorige, aber einsitzige "Büchsenöffner" Henschel


Hs 129. Sie hatte ein gepanzertes Cockpit und konnte verschiedene Waffen tragen,
unter anderem 20- oder 37-Millimeter-Schnellfeuergeschütze oder sogar eine
7,5-Zentimeter-Panzerabwehrkanone. Doch mit dieser Waffe erwies sich die
Henschel als kaum mehr beherrschbar.

Mehr als einige Hundert Ju 87G und Hs 129 waren bei der Wehrmacht nie
gleichzeitig im Einsatz. Dagegen verfügte die Rote Armee ab 1943 stets über
mehrere Tausend parallel kampfbereite Exemplare des Schlachtflugzeuges Iljuschin
Il-2. Die zumindest für den Piloten schwer gepanzerten Maschinen waren mit
MG-Feuer praktisch nicht zu zerstören und konnten sogar Treffer aus
20-Millimeter-Geschützen überstehen. Für sie bürgerte sich erstmals der
Spitzname "fliegender Panzer" ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Erdkampfflugzeuge weiter im Schatten der
Jagdflieger und der gewaltigen strategischen Bomber sowie der neuen Waffe
Kampfhubschrauber. Dabei gab es manchmal überaus gewagte Konstruktionen. So
montierte die Usaf während des Vietnamkrieges in viermotorige
Hercules-Transporter neben vielen anderen Waffen auch eine
10,5-Zentimeter-Haubitze in die Flugzeuge. Sie sind teilweise noch immer im
Einsatz, teilweise werden sie durch Neubauten gerade ersetzt.

Gerade im aktuellen Einsatz gegen die Miliz Islamischer Staat in Syrien erweist
sich, dass einfache Erdkampfflugzeuge wie die 49 Jahre alte OV-10 Bronco
modernen Düsenjets sogar überlegen sein können. Schon weil ihre Kosten weitaus
niedriger liegen.

Tatsächlich ist für die Jagd zum Beispiel auf bewaffnete Pickups die kampfstarke
Thunderbolt II bei Weitem überdimensioniert. Ihre 30-Millimeter-Mehrlaufkanone
zerstört jedes bekannte Militärfahrzeug - doch um solche Ziele geht es im
asymmetrischen Krieg des 21. Jahrhunderts nur noch selten. Gegen Terroristen
taugen fliegende Panzer ebenso wenig wie ihre Vorbilder auf Ketten.

"Air Warriors: A-10 Thunderbolt II - Der Erdkampf-Jet ", 20.05 Uhr, 23. März,
N24; die Reportage können Sie bis zum 30. März in der Mediathek von N24 sehen,
weitere Dokumentationen finden Sie hier.

Sie finden "Weltgeschichte" auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

UPDATE: 23. März 2016


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Donnerstag 24. März 2016 9:38 AM GMT+1

Brüssel-Anschläge;
"Dürfen uns keinen Glaubenskrieg einreden lassen"

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1198 Wörter

HIGHLIGHT: Der EVP-Chef im Europaparlament, Manfred Weber, fordert die


Einführung einer EU-Terrorwarndatei. Er mahnt vor pauschaler Verurteilung von
Muslimen: "Es ist ein Krieg zwischen Humanität und Barbarei."

Die Welt: Herr Weber, Sie sind Wahlbrüsseler. Haben Sie erwartet, dass etwas
passieren wird?

Manfred Weber: Brüssel war seit dem Pariser Anschlag im November im


Alarmzustand. Vor dem Europäischen Parlament stehen bewaffnete Soldaten ebenso
wie an vielen öffentlichen Gebäuden. Die Terror-Bedrohung war also für alle
deutlich spürbar. Zum einen gibt einem das das Gefühl, dass der Staat da ist,
für Sicherheit sorgt.

Andererseits darf es nicht normal werden, wenn überall Militär steht. Ich war am
Dienstag nicht in der Stadt, ich hatte aber Angst um Mitarbeiter und
Parlamentskollegen. Da kann ich Gott sei Dank Entwarnung geben.

Die Welt: Trotz der Präsenz von Polizei und Militär ist nun etwas passiert. Was
bedeutet das für das Vertrauen der Bürger in den Staat?

Weber: Das ist keine Frage, die nur Brüssel betrifft, sondern uns alle in
Europa. Dadurch ist deutlich geworden, dass der Staat keine hundertprozentige
Sicherheit gewährleisten kann. Trotzdem muss der Staat nun entschlossen handeln.

Die Welt: Wo liegen die entscheidenden Schwachstellen der europäischen


Sicherheitsarchitektur?

Weber: Kein Staat alleine kann diese Herausforderung lösen. Deshalb muss
Schluss sein mit den nationalen Egoismen, mit Wegducken und Schuldzuweisungen.
Wir müssen die europäische Sicherheit neu organisieren. Nach jedem Anschlag der
letzten Jahre gab es Sondertreffen der europäischen Innenminister. Aber passiert
ist nichts. Weiterhin ist auf jedem nationalen Dokument ein Top-Secret-Schild,
damit es nicht an andere Staaten weitergegeben werden kann.

Bei jedem Anschlag wurde aber deutlich, dass eine bessere Vernetzung der
Behörden mehr Sicherheit gebracht hätte. Daraus müssen wir endlich Konsequenzen
ziehen. Es geht um nichts Geringeres als die Selbstbehauptung Europas: Da ist
die gesamte EU gefordert. Die Terroristen standen in ihren Ländern teils auf
Fahndungslisten oder waren in einer Warndatei geführt, aber der Austausch über
die Landesgrenzen hinweg fand nicht statt.

Deshalb brauchen wir eine europäische Terrorwarndatei, eine Liste von Menschen,
die unter Terrorverdacht stehen. Wer kann sich noch vorstellen, dass es in
Deutschland lange keinen Austausch zwischen den Landeskriminalämtern gab? Das
ist heute selbstverständlich, und das muss es auf europäischer Ebene auch
werden.

Die Welt: Der nationale Egoismus müsste doch dahin gehen, seine Bürger zu
schützen. Das wäre ein Argument für mehr Austausch. Mit welchem Argument wurde
er bisher eigentlich verhindert?

Weber: Es gibt noch immer den alten Trott. Schuld ist das mangelnde Vertrauen
zwischen den Behörden. Es liegt an den Innenministern Europas, dieses Vertrauen
aufzubauen und die Behörden anzumahnen, den Kontakt zu suchen. Darüber hinaus
fehlt noch immer ein wirkliches Bewusstsein dafür, welches Machtinstrument man
mit Personendaten in der Hand hat. Da lassen wir uns von Internetkonzernen wie
Google oder Facebook vormachen, wie das geht. Daten bedeuten Macht, keine Daten
bedeuten Machtlosigkeit.

Wir brauchen auf europäischer Ebene zwei neue Dateien. Die eine enthält die
Fluggastdaten. In der letzten Sitzung des Europäischen Parlaments wollten wir
als Europäische Volkspartei über die Einführung dieser Datei abstimmen, doch
Rot-Grün ließ das Ganze noch einmal vertagen. Wir verlieren zu viel Zeit.

Darüber hinaus sind wir bei Informationen darüber, wie sich Terror finanziert,
auf die Hilfe der USA angewiesen. Die Amerikaner haben eine eigene Software, um
über Abrechnungen von Kreditkarten herauszufinden, wie die Geldströme gelenkt
werden. Wir brauchen schnell ein europäisches Auswertungssystem, um die
Finanzierung von Terror trockenzulegen.

Die Welt: Welche Länder erweisen sich in der Zusammenarbeit als kompliziert?

Weber: Es bringt nichts, einzelne Staaten herauszugreifen. Wir müssen alle mehr
machen. Die zentrale Behörde ist Europol. Sie muss gestärkt werden. Bisher kann
sie nur Daten auswerten, die sie freiwillig bereitgestellt bekommt von den
Staaten. Zukünftig muss Europol das Recht bekommen, Daten anzufordern und
automatisch auf sie zuzugreifen.

Die Welt: Datenschutz ist mittlerweile Sache der EU-Ebene. Was muss sich
ändern?

Weber: Wir Europäer müssen eine europäische Antwort auf den Terror geben. Aber
wir müssen auch eine europäische Art der Antwort formulieren. Die muss sich
deutlich unterscheiden von der, die die USA nach dem 11. September gegeben
haben. Konkret bedeutet das, dass hinter den gemeinsamen Dateien weiterhin ein
starker Datenschutz steht. Das Prinzip des Rechtsstaats müssen wir hochhalten.
Wir wollen keinen gläsernen Bürger. Wenn Menschen keine Straftaten begangen
haben, dürfen sie nicht unter Generalverdacht gestellt werden.

Die Grundregel muss lauten, dass etwa auf meine Fluggastdaten nur zugegriffen
werden kann, wenn ein Anfangstatverdacht vorliegt. Es darf keine
Massenauswertung stattfinden. Europäische Antwort heißt aber auch, dass wir in
der Außenpolitik Friedensmacht sein müssen. Die Amerikaner haben nach meinem
Dafürhalten die falsche Antwort gegeben, indem sie im Irak und in Afghanistan
interveniert haben.

Wir müssen alles daransetzen, dass das Gewicht der Europäischen Union dazu
führt, in den Krisenregionen Frieden zu schaffen. Die Friedensgespräche für
Syrien in Genf sind da ein hoffnungsvolles Zeichen, dass dies gelingen kann.

Die Welt: Sie sprechen von mehr Überwachung, aber was ist mit den
Hasspredigern, mit jenen, die erst für Radikalisierung sorgen?

Weber: Wer Hass predigt, den müssen wir als Staat mit aller Härte des
Rechtsstaates unter Kontrolle bringen, bis hin zur Ausweisung. Wir müssen aber
auch klarstellen, dass im Internet Hasspropaganda verboten und kontrolliert
wird. Appelle allein an Facebook und Co. reichen da nicht. Diese Inhalte müssen
gelöscht, ihre Urheber zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Welt: In wenigen Wochen startet die Fußball-EM in Frankreich. Wird diese EM
anders als andere davor?

Weber: Die Fußball-EM muss in jedem Fall stattfinden. Ein Zurückweichen würde
den Terroristen recht geben. Wir geben die beste Antwort, indem wir unsere
Freiheit weiter leben, auch in dem Bewusstsein, dass wir in Gefahr schweben. Die
Behörden werden das Notwendige tun. Das wird zu mehr Kontrollen führen. Europa
muss sich auf einen langen Kampf einstellen.

Die Welt: Die belgischen Moscheen wurden über Jahre durch Saudi-Arabien
gefördert. In Deutschland ist der türkische Staat zuständig. Können wir das
hinnehmen?

Weber: Wir müssen genau hinschauen. Die Moscheen kontrollieren, Exzesse


verbieten. Wir dürfen uns von den Terroristen aber nicht einreden lassen, dass
es sich um einen Glaubenskrieg handelt. Beim Anschlag auf "Charlie Hebdo" haben
die Terroristen einen muslimischen Polizisten erschossen. Es kommen viele
Muslime bei den Anschlägen um. Es ist ein Krieg zwischen Humanität und Barbarei.

Die Welt: Ist das ehrlich? Diese Terroristen fühlen sich von ihrem Gott und
ihrer Religion gesendet, die Ungläubigen zu töten. Was ist das anderes als ein
Glaubenskrieg?

Weber: Natürlich hat die Radikalität ihre Wurzeln in der politischen Ideologie
des Islamismus. Aber es gibt Millionen friedfertiger Muslime. Wenn wir jetzt von
Glaubenskrieg sprechen, betreiben wir das Geschäft der Hassprediger und
Terroristen.

UPDATE: 25. März 2016

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Donnerstag 24. März 2016 12:22 PM GMT+1

Mutmaßlicher Terrorist;
"Überall gejagt, nicht mehr sicher"

AUTOR: Alfred Hackensberger

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1017 Wörter

HIGHLIGHT: Zwei Brüder mit Kontakten zum organisierten Verbrechen und einen
weiteren Mann hat man als mutmaßliche Attentäter von Brüssel identifiziert.
Einer hat ein Testament verfasst. Es ist voller Angst.

Auf dem Video der Überwachungskamera ist er einer der drei Männer, die ihren
Gepäckwagen durch die Abflughalle des Brüsseler Flughafen schieben. Mit einem
Handschuh an der linken Hand scheint er den Zünder der Bombe zu verbergen, die
in seinem Koffer versteckt ist und wenig später explodiert. Elf Menschen sterben
und mehr als 90 werden verletzt. Der Attentäter ist Ibrahim El Bakraoui,
vermutlich Marokkaner, der in Belgien aufgewachsen ist. Fast zur gleichen Zeit
sprengt sich sein Bruder Khalid in der Metrostation in der Rue de la Loi in die
Luft, tötet dabei 14 Menschen und verletzt mehr als 130.

Im Liveticker: Alle wichtigen Informationen zu den Anschlägen in Brüssel.

Für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verkörpern beide eine Kombination,
die besser nicht sein könnte. Schwerkriminelle, die zu Dschihadisten mutierten.
Da braucht es wenig Schulung, und die richtigen Kontakte zu Waffen, Munition und
gefälschten Dokumenten sind bereits vorhanden.

Khalid und Ibrahim waren alte Bekannte der belgischen Polizei und hatten
langjährige Beziehungen zur organisierten Kriminalität. Der 30-jährige Ibrahim
war zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden, da er nach einem versuchten
Überfall auf eine Geldwechselstube 2010 mit einer Kalaschnikow auf Polizisten
geschossen und dabei drei Beamte verletzt hatte. Laut Ermittlungskreisen habe
man nun einen Computer mit seinem Testament sichergestellt. Der Rechner sei in
einem Müllbehälter in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek gefunden worden.

In dem Testament habe Ibrahim offenbar hastig geschrieben: "Ich weiß nicht mehr,
was ich tun soll, überall gejagt, nicht mehr sicher." Er habe angegeben, er
wolle "neben ihm nicht in einer Zelle" landen, offenbar in Bezug auf den am
Freitag festgenommenen Salah Abdeslam, der an den Anschlägen von Paris im
November mit 130 Toten beteiligt gewesen sein soll.

In Schaerbeek hatte es am Dienstagabend Razzien nach den Anschlägen gegeben.


Dort hatten die Ermittler auch eine Art Bombenfabrik gefunden. Staatsanwalt
Frédéric Van Leeuw sagte, es seien unter anderem 15 Kilogramm hochexplosives
Azetonperoxid (TATP), ein Koffer mit Nägeln und Schrauben sowie weiteres
Material für den Bombenbau sichergestellt worden.

Sein Bruder Khalid, der drei Jahre jüngere Bruder, war auf Autoklau
spezialisiert, hatte aber auch Beziehungen zum Waffengeschäft. Bei seiner ersten
Verhaftung war er im Besitz von Gewehren. 2011 verurteilte ihn ein Gericht zu
fünf Jahren Haft.

Warum wurden keine Fernzünder eingesetzt?

Es liegen offenbar zu beiden Brüdern Beweise vor, die sie direkt mit den
Attentaten von Paris im November in Verbindung bringen. Bei ihrer Vergangenheit
ist es kein Wunder: Khalid und Ibrahim sollen für die Attentäter in Frankreich
Waffen und Munition besorgt haben. Über ihre alten Beziehungen ins Milieu dürfte
das eine Kleinigkeit gewesen sein. Ebenso leicht könnten sie Sprengstoff oder
zum Bombenbau benötigte Utensilien beschafft haben. Das ist alles nur eine Frage
der Kontakte und des Geldes.

Seit dem 15. März waren sie zur Fahndung ausgeschrieben. An diesem Tag hatte es
im Brüsseler Stadtteil Forest eine Razzia in einer Wohnung gegeben, bei der
Mohammed Belkaid, einer der Paris-Attentäter, getötet worden war. Ibrahim und
sein Bruder Khalid, der die Wohnung angemietet haben soll, entwischten damals
der Spezialeinheit der Polizei. Seltsam ist, dass die belgischen Behörden nicht
sofort eine Großfahndung nach dem Bruderpaar einleiteten und ihre Fotos an die
Öffentlichkeiten gaben. Vielleicht wäre der Anschlag vom Montag so verhindert
worden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Mittwochabend, dass man
Ibrahim El Bakraoui im Juni 2015 in Gaziantep im Süden der Türkei festgenommen
habe. Er sei im Juli nach Belgien abgeschoben worden. Die belgischen Behörden
hätten jedoch "trotz Warnungen" der türkischen Behörden die Verbindungen des
Mannes zu Dschihadisten nicht bestätigt und ihn freigelassen.

Für den IS sind Khalid und Ibrahim als Selbstmordattentäter zu Helden geworden.
Denn eigentlich hätten sie sich nicht in die Luft sprengen müssen. Ibrahim hätte
den Gepäckwagen stehen lassen und nach dem Verlassen der Abflughalle über
Telefon zünden können. Die Frage ist, ob die beiden Brüder mit ihrem Tod
unbedingt ein Zeichen setzten wollten oder ob sie überhastet handeln mussten und
keine Zeit hatten, Fernzünder einzusetzen. Denn das sollte nach einer
IS-Ausbildung eine Kleinigkeit für Terroristen sein.

Der Bombenbauer des französisch-belgischen Netzwerks

Auf dem Überwachungsvideo des Flughafens von Brüssel ist noch ein weiterer Mann
zu sehen. Er ist, wie Ibrahim El Bakraoui, schwarz gekleidet und verbirgt
ebenfalls mit einem Handschuh an der linken Hand den Zünder seiner Bombe.
Polizeikreisen zufolge soll es sich um den zweiten Selbstmordattentäter vom
Flughafen handeln, Najim Laachraoui. Im Zusammenhang mit den Anschlägen von
Paris wird er seit Monaten gesucht. Laachraoui soll - zusammen mit Salah
Abdeslam, der am Freitag in Brüssel festgenommen wurde - einer der Drahtzieher
der Paris-Anschläge gewesen sein.

Seine DNA wurde in einem Haus in Auvelais im Süden Belgiens gefunden sowie in
einer Wohnung im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. DNA-Spuren von ihm sollen auch
an mindestens zwei Sprengstoffgürteln der Paris-Attentate gefunden worden sein.
Einer davon explodierte vor dem Bataclan-Theater, der andere vor dem Stade de
France. Laachraoui hat Elektromechanik studiert und wurde bisher für den
Sprengstoffbaumeister des französisch-belgischen Netzwerks gehalten.

Er war im Februar 2013 nach Syrien ausgereist und lernte dort das
Terrorhandwerk. Seit 2014 wurde er per Haftbefehl gesucht. Unter dem falschen
Namen Soufiane Kayal kam er wieder nach Belgien zurück, um Anschläge für den IS
auszuführen. Nach Auswertung der Kommunikation der Paris-Attentate mussten die
französischen Behörden feststellen, dass Laachraoui und der inzwischen getötete
Mohammed Belkaid alias Samir Bouzid von Brüssel aus ihre Männer in Frankreich
gesteuert hatten.

Unklar ist noch, wer der dritte Mann mit dem weißen Hemd und der beigen Jacke
auf dem Fahndungsbild vom Flughafen ist.

UPDATE: 25. März 2016

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Freitag 25. März 2016 6:25 AM GMT+1

Nach den Anschlägen;


Mehrere Terrorverdächtige in Frankreich und Belgien verhaftet

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 790 Wörter

HIGHLIGHT: Brüssel kommt nicht zur Ruhe: Sechs Verdächtige nahm die Polizei nach
Razzien in der Nacht fest. Auch in Paris schlugen die Behörden zu - und
vereitelten Terrorpläne im "fortgeschrittenen Stadium".

Nach den Bombenexplosionen in Brüssel und der Pariser Anschlagserie vom November
sind bei Anti-Terror-Razzien in beiden Ländern mehrere Verdächtige festgenommen
worden. Allein in der belgischen Hauptstadt gab es am Donnerstagabend gleich
mehrere Polizeiaktionen, bei denen laut Staatsanwaltschaft sechs Verdächtige
abgeführt wurden. Das französische Innenministerium teilte unterdessen mit,
einen Anschlagsplan im "fortgeschrittenen Stadium" vereitelt zu haben. In einem
Pariser Vorort lief zu später Stunde ein Anti-Terror-Einsatz.

Am Dienstag waren bei den Bombenanschlägen am Brüsseler Flughafen und in der


U-Bahn-Station Maelbeek mindestens 31 Menschen getötet und rund 300 verletzt
worden. Die Polizeiaktionen am Donnerstag betrafen die Innenstadt und die
Gemeinden Schaerbeek und Jette. Spezialkräfte und ein Hubschrauber der Polizei
waren im Einsatz, wie die Nachrichtenagentur Belga berichtete. Die Fahnder
nahmen drei Verdächtige fest, die in einem Auto in unmittelbarer Nähe des
Gebäudes der Staatsanwaltschaft im Stadtzentrum unterwegs waren.

Die Ermittlungsbehörde teilte am späten Abend mit, dass am Freitag entschieden


werden solle, ob gegen die insgesamt sechs Festgenommenen Haftbefehl erlassen
wird. Auch weitere Details würden erst im Laufe des Tages veröffentlicht. Über
die Identität der Verdächtigen war zunächst nichts bekannt. Ob unter den
Festgenommenen zwei von Überwachungskameras aufgenommene Komplizen der
Attentäter waren, war ebenfalls unklar.

Bei einer früheren Durchsuchung im Bezirk Schaerbeek hatte die Polizei nach den
Anschlägen vom Dienstag in einer Wohnung eine Bombenwerkstatt gefunden. Dort
sollen Terrorverdächtige Sprengsätze gebaut haben. Zu den Anschlägen bekannte
sich die Islamistenmiliz IS.

Erfahren Sie hier alle Entwicklungen in unserem Liveticker.

Frankreich verkündet "bedeutende Festnahme"

Kurz vor der belgischen Staatsanwaltschaft hatte Frankreichs Innenminister


Bernard Cazeneuve bereits einen Ermittlungserfolg verkündet: Am Donnerstagmorgen
habe es eine bedeutende Festnahme gegeben, durch die Terrorpläne im
"fortgeschrittenen Stadium" durchkreuzt worden seien. Die betreffende Person sei
Franzose und stehe im Verdacht, eine wichtige Rolle bei der Anschlagsplanung
gespielt zu haben. Sie habe sich in einem Terrornetzwerk bewegt, das in
Frankreich zuschlagen wollte. Der Festnahme durch den Inlandsgeheimdienst seien
wochenlange intensive Ermittlungen vorausgegangen.

Bislang gebe es keine greifbaren Hinweise auf einen Zusammenhang mit den
Anschlägen von Paris und Brüssel, sagte Cazeneuve. "Die laufende Untersuchung
wird die Umrisse dieses kriminellen Unterfangens und die möglichen
Komplizenschaften klären."

In Argenteuil nordwestlich von Paris durchsuchten Beamte in der Nacht zum


Freitag ein Apartment in einem Wohngebäude. Das Gebäude sei geräumt worden,
sagte Cazeneuve, Sprengstoffexperten seien vor Ort. Details zu dem
Anschlagsplan, der festgenommenen Person und dem Ziel der Operation in
Argenteuil nannte der Minister nicht.

Frankreich ist seit den Pariser Terroranschlägen am 13. November mit 130 Toten
und Hunderten Verletzten in höchster Alarmbereitschaft. Cazeneuve zufolge gab es
seit Beginn dieses Jahres bereits 75 Festnahmen, 28 Verdächtige seien inhaftiert
worden. Malaysia hat seine Sicherheitsstufe nach den Anschlägen im benachbarten
Indonesien am 14. Januar erhöht und in den vergangenen zwei Jahren mehr als 160
Menschen mit möglichen IS-Verbindungen festgesetzt.

Verbindungen zwischen Terroristen in Frankreich und Belgien

Die Brüsseler Attentäter sollen Verbindungen zu den islamistischen Drahtziehern


der Anschläge von Paris und Saint-Denis gehabt haben, bei denen am 13. November
130 Menschen ermordet wurden. In Frankreich gilt seitdem der Ausnahmezustand,
die Behörden warnen regelmäßig vor einer hohen Bedrohung.

Ein CNN-Bericht scheint diese Warnungen zu stützen: Demnach liegen


US-Sicherheitsbehörden Erkenntnisse über weitere Terrorpläne des IS in Europa
vor. Eine Auswertung von elektronischer Kommunikation und Aussagen von
Informanten deute auf mehrere mögliche Ziele hin, die der IS in den vergangenen
Monaten ausgewählt habe, berichtete der Sender unter Berufung auf
Sicherheitskreise in den USA. Die Rede war von Plänen in unterschiedlichen
Stadien mit mehreren Anschlagszielen.

Der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat führte auch in Malaysia zu
weiteren Festnahmen von Verdächtigen. Die Verdächtigen sollen nach
Behördenangaben Terrorangriffe im Inland geplant sowie versucht haben,
Chemikalien für den Bau von Sprengsätzen zu erhalten. Der nationale Polizeichef
Khalid Abu Bakar erklärte, unter ihnen seien vier Frauen. Die Festgenommenen
sollen Anweisungen von einem Malaysier in Syrien erhalten haben, Attacken in
ihrem Land zu verüben.

UPDATE: 25. März 2016

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Sonntag 27. März 2016 8:09 AM GMT+1

Ostern;
Spaziergänger und Flüchtlinge, Okzident und Orient

AUTOR: Eckhard Fuhr

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1101 Wörter

HIGHLIGHT: Mit Goethe einen Osterspaziergang zu wagen heißt, auf kulturelle


Traditionen zu verweisen, die von neugieriger Toleranz handeln. Und doch zu
wissen, dass das Böse des IS anders besiegt werden muss.

"Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten sich zu wiegen, lass'
ich gelten; also zwischen Ost und Westen sich bewegen sei zum Besten." Man
findet diese Verse im "West-östlichen Divan". In dem poetischen Selbstversuch
tritt Johann Wolfgang von Goethe in einen Dialog mit dem persischen Dichter
Hafis.

Ja, er versucht eine Art Selbstorientalisierung, eine Anverwandlung an die


"andere" Kultur. Und siehe da, es stellt sich heraus, dass im menschlichen
Fühlen, Denken, Trachten und Glauben die Differenzen, die Gegensätze
verschwinden und der Blick frei wird auf einen gemeinsamen Reichtum, zu dem auch
die Erotik, der Wein und der Rausch gehören. Goethe hielt sich da eher an den
mystischen Islam.

Mit der Idee der Geschwisterlichkeit von Okzident und Orient zeichnete Goethe
ein Grundmuster, welches in der Selbst- und Weltwahrnehmung des deutschen
Bildungsbürgertums höchst wirksam war.

In seiner popularisierten Form tritt es uns noch in Karl Mays Gespann Kara Ben
Nemsi und Hadschi Halef Omar entgegen, wobei allerdings in diesem west-östlichen
Geschwisterpaar der christlich-deutsche Edelmensch unverkennbar und ziemlich
penetrant als großer Bruder auftritt.

Endlich wieder Ruhe und Normalität

Sei's drum. Gemeinsam stehen sie den Jesiden bei. Und heute würden sie all ihren
Mut und all ihre List aufbieten, um den Islamischen Staat zu bekämpfen und
Prinzessinnen aus den Fängen von Schleusern zu befreien. Irgendwelche
kulturellen Berührungsängste hatten diese beiden Ausgeburten eines
superdeutschen Gehirns des späten 19. Jahrhunderts jedenfalls nicht.

Was hilft es, sich angesichts von Flüchtlingskrise und islamistischem Terror an
Goethe und Karl May zu erinnern? Ist das nicht reiner Eskapismus? Ist es jetzt
nicht Zeit, zu handeln und die Probleme zu lösen, damit endlich wieder Ruhe
einkehrt und "Normalität"? Darauf gibt es zwei Dinge zu sagen. Erstens: Es ist
Ostern. Zweitens: Es müssen keine Probleme gelöst werden, weil es keine lösbaren
Probleme gibt.

Mit Ostern sind wir erneut bei Goethe. Er hat den "Osterspaziergang" geschaffen
als Dichtung, in der sich ein weit verbreiteter Brauch verdichtet und
literarische Würde gewinnt. Der Frühling kommt von ganz allein. Er braucht
genauso wenig wie die Auferstehung menschliches Zutun. Deswegen geht man an
Ostern spazieren.

Der Spaziergänger geht um des Gehens willen und genießt mit allen Sinnen den
neuerlichen Aufbruch der Natur. Er ist damit als Fußgänger das genaue Gegenteil
des Flüchtlings, bei dem das Irgendwo-Ankommen eine Überlebensfrage ist. Im
Gedicht ergießt sich ein "buntes Gewimmel" aus dem Stadttor in die Flur.

Aus dem Einerlei des Alltags auferstehen

Die Menschen "feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selbst
auferstanden". Sie lösen sich aus "Handwerks- und Gewerbebanden", also aus dem
ewigen Einerlei ihres Alltags genauso wie aus den Begrenzungen ihrer
gesellschaftlichen Stellung. Denn draußen, da ist "des Volkes wahrer Himmel,
zufrieden jauchzet groß und klein; hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein".

Jeder darf an Ostern raus. Deshalb gehören zu einem solchen österlichen


Volksgewimmel heute auch die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften - Familien aus
Syrien, aus dem Irak oder Afghanistan. Mit nichts könnte man ihnen deutlicher
zeigen, dass sie ihre Flucht hinter sich und eine höchst ungewisse, aber
immerhin überhaupt eine Zukunft vor sich haben, als mit einer Einladung zum
Osterspaziergang.

Niemand weiß, ob das Jahr hält, was der Frühling verspricht. Aber wenn man
gemeinsam über die noch offene Flur geht, die morgen durch Flut und übermorgen
durch Dürre verdorben werden kann, dann macht man gleichwohl Pläne, dann redet
man darüber, was werden soll.
Was machen wir jetzt, da Orient und Okzident auf eine viel handgreiflichere
Weise nicht mehr zu trennen sind, als Goethe das meinte? Viele Flüchtlinge
werden bleiben, viele werden zurückkehren. Für beider Zukunft ist entscheidend,
ob es gelingt, den Feind zu besiegen, der Okzident und Orient gleichermaßen
bedroht.

Die Täter stammen aus Europa

Wir stehen nicht in einem Krieg der Kulturen, sondern in einem Krieg gegen einen
"islamistischen" Terrorismus, der nicht nur die westliche Kultur, sondern auch
die islamische Kultur bis aufs Blut hasst und unter sogenannten Glaubensbrüdern
die weitaus meisten Opfer fordert. Ein Osterspaziergang mit Flüchtlingen wäre
ein Zeichen, dass sie an unsere Seite und nicht hinter irgendwelche Absperrungen
gehören.

Nun zu den Problemen. Die sind, wie gesagt, vorderhand unlösbar. Niemand weiß,
ob die Integration, was immer das sein soll, gelingt. Immerhin zeigt das
europäische Terrorgeschehen der letzten Monate, was keinesfalls passieren darf.
Die Täter sind in Europa groß geworden, nicht in Bagdad oder Aleppo.

Es darf also keine Parallelgesellschaften muslimischer Einwanderer geben.


Muslimisches Leben aber gehört wohl zum österlichen Volksgetümmel, auch mit
Kopftuch. Aber, wie gesagt, das ist eine Sichtweise, eine Haltung, die auf
kulturelle Traditionen verweisen, doch natürlich nicht garantieren kann, dass
das Konzept neugieriger Toleranz am Ende wirklich Frieden stiftet.

Denn das Böse zeugt sich selbst fort. Es ist nicht nur die Folge des auf dumme
Weise Gutgemeinten, etwa von zu viel Toleranz und Aufnahmebereitschaft.

Gewalt entsteht auch aus sich selbst

Nein, Krieg, Gewalt und Grausamkeit entfalten aus sich heraus eine düstere und
für manche unwiderstehliche Faszination. Es wollen eben nicht alle Menschen ein
friedliches, ruhiges Leben. Es würden auch nicht alle Menschen ein westliches
Leben führen, wenn sie das könnten.

Es ist eine zivilisatorische Leistung, das humane Gewaltpotenzial staatlich


einzuhegen. In den reichen Gesellschaften des Westens ist das so weit gelungen,
dass die Menschen sich in der Illusion wiegen, Gewalt sei etwas Pathologisches,
das man therapieren könne und müsse.

Wenn Staaten zusammenbrechen, formiert sich aber die Gewalt neu und setzt sich,
wie der Islamische Staat, Ziele, die der moderaten Vernunft nur irrsinnig
vorkommen können. Es ist dieser wohlorganisierte, zielstrebige Irrsinn, gegen
den wir einen Krieg führen, von dem wir noch nicht wissen, wie wir ihn gewinnen
sollen.

Das gibt eine Menge Anlass, beim Osterspaziergang darüber nachzudenken, mit
welchen Gewohnheiten wir brechen müssen. Vielleicht erst einmal mit unseren
Erwartungen an die Politik: Sie kann uns mit noch so martialischen Grenzregimen
die Rückkehr zur "Normalität" nicht bescheren. Hilfsbereitschaft, Gottvertrauen
und Tapferkeit in diesen gefährlichen Zeiten müssen wir selbst aufbringen.

UPDATE: 27. März 2016

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Dienstag 29. März 2016 10:22 AM GMT+1

Anschläge in Brüssel;
Gabriel verurteilt "skandalöse" Terrorfahndung in Europa

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 678 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Terroranschlägen in Brüssel pocht SPD-Chef Gabriel auf eine
intensive Zusammenarbeit in der EU. Grund für den bisher fehlenden Austausch sei
die "Schlapphut-Mentalität" der Geheimdienste.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat eine intensivere Zusammenarbeit der EU-Staaten in


der Terrorabwehr gefordert.

Der Austausch von Daten über Terrorverdächtige sei unzureichend, kritisierte


Gabriel gegenüber der "Bild"-Zeitung. "Dass der eine Staat weiß, wer
Terrorverdächtiger ist, der Nachbarstaat, in dem der Verdächtige sein Unwesen
treibt, aber im Dunkeln tappt, ist wirklich ein Skandal."

Die EU-Staaten müssten beim Thema Terrorfahndung dringend handeln. Das Thema
solle "die gleiche Priorität bekommen wie vor Jahren die Bankenrettung oder die
Griechenlandkrise", forderte der Vizekanzler. "Die Staats- und Regierungschefs
müssen das Thema endlich ganz oben auf ihre Tagesordnung setzen."

Mit den bisherigen Bemühungen auf EU-Ebene zeigte sich Gabriel unzufrieden.
"Seit Jahren wird ein besserer Datenaustausch in Europa beschworen", sagte er.
"Statt dessen wird in der alten 'Schlapphut-Mentalität' der Geheimdienste weiter
gearbeitet und die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sitzen auf ihren Daten."

Gabriel betonte, dass die Anschläge von Paris und Brüssel keineswegs von
Zuwanderern verübt wurden: "Das waren alles keine Flüchtlinge", sagte er. "Die
Terroristen sind in Frankreich und Belgien geboren und aufgewachsen."

Das zeige vor allem eines: "Man muss viel mehr tun, um diese Ghettobildung zu
verhindern, die wir aus Paris und Brüssel kennen." Dort seien über Jahrzehnte
die Menschen ohne Bildung und Arbeit gelassen worden.

Wofür stand das "Fin" im Handy des Verdächtigen?

Bisher führt derweil keine Spur zu zwei in Deutschland festgenommenen Männern.


"Es gibt nach wie vor keine belastbaren Hinweise auf einen Zusammenhang der
beiden Beteiligten mit den Brüsseler Anschlägen", sagte eine Sprecherin der
Bundesanwaltschaft am Montag in Karlsruhe. Das betreffe vor allem einen
28-jährigen Marokkaner, der am Gießener Bahnhof festgenommen worden war.

Bei einer Identitätskontrolle durch die Bundespolizei war bei dem 28-Jährigen
festgestellt worden, dass er unter verschiedenen falschen Namen eingereist war
und Asyl beantragt hatte. Zwei Kurznachrichten auf seinem Handy sollen bei den
Ermittlern Verdacht erregt haben: Eine Nachricht soll den Namen des
U-Bahn-Attentäters von Brüssel, Khalid El Bakraoui, beinhaltet haben.

Eine weitere soll nur das Wort "fin" - französisch für "Ende" enthalten haben -
diese Nachricht soll kurz vor den blutigen Anschlägen gesendet worden sein.

Nach Informationen des Senders RBB unter Berufung auf Sicherheitskreise soll es
sich um eine Verwechslung gehandelt haben. Der Mann habe einen Bekannten, dessen
Namen fast identisch mit dem des Attentäters sei. Bei dem Wort "fin" werde davon
ausgegangen, dass es sich um das aus dem Arabischen transkribierte Wort "wo"
handele.

Bundespolizei kontrolliert verstärkt die Grenzen

Die Bundesanwaltschaft wollte zu dem Bericht keine Stellung nehmen. Die


Staatsanwaltschaft Gießen war an Ostern nicht zu erreichen.

In Düsseldorf war der 28 Jahre alte deutsche Staatsbürger Samir E. wegen


Terrorverdachts festgenommen worden. Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen
hatte mitgeteilt, dass bei der Durchsuchung der Düsseldorfer Wohnung des
Salafisten nichts Verdächtiges entdeckt worden sei.

"Es wurde nichts gefunden, was auch nur annähernd Bezüge zu Sprengstoff, Zündern
oder Ähnlichem hat", sagte ein Sprecher. Auch die Auswertung des Handys des
Verdächtigen habe keine Verbindungen zu Islamisten ergeben. Da die Ermittlungen
aber noch liefen, bleibe der 28-Jährige in Haft.

Samir E. gilt als Randfigur der salafistisch-dschihadistischen Szene in NRW. Er


war nach Informationen des Magazins "Der Spiegel" und der dpa ebenso wie der
Brüsseler Flughafen-Attentäter Ibrahim El Bakraoui im Sommer 2015 von den
türkischen Behörden im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien aufgegriffen
worden.

Beide seien gemeinsam in einem Flugzeug nach Amsterdam abgeschoben worden, dem
Ausgangspunkt ihrer Reise. Die Behörden untersuchen nun, ob sich E. und Bakraoui
näher gekannt haben und gemeinsam unterwegs waren.

Die Bundespolizei kontrollierte nach eigenen Angaben an der Grenze zu Belgien


weiterhin verstärkt.

UPDATE: 29. März 2016

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Donnerstag 31. März 2016 12:01 PM GMT+1

"Leichte Sprache";
Flüchtlinge brauchen einfache Sätze, Deutsche auch

AUTOR: Heiko Weckbrodt

RUBRIK: PANORAMA; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 748 Wörter

HIGHLIGHT: Millionen Deutsche können die meisten Bücher nicht lesen. Sie sind
mit den komplizierten Sätzen überfordert. Texte in "leichter Sprache" sollen
ihnen helfen, davon können auch Flüchtlinge profitieren.

"Romeo geht in der Stadt spazieren. Er schlendert über den Markt. In Verona ist
immer etwas los." Wem das bekannt vorkommt, liegt nicht falsch: Bei dem Buch in
einem neuen Regal der Hauptbibliothek Dresden, aus dem die Sätze stammen,
handelt es sich um Shakespeares "Romeo und Julia" - übersetzt in sogenannte
leichte Sprache.

Das heißt: Die Sätze sind kurz, aufgebaut nach dem Muster
Subjekt-Prädikat-Objekt. Verwendet werden nur einfache Wörter. Jeder Satz hat
nur eine Aussage. Es gibt nur das Aktiv, kein Passiv.

Seit 2006 gibt es Regeln

Bücher und andere Angebote in leichter Sprache gewinnen an Bedeutung, schätzt


die Geschäftsführerin des Vereins Netzwerk Leichte Sprache, Gisela Holtz. Dies
liege einerseits daran, dass Behörden mit Blick auf die
UN-Behindertenrechtskonvention ihre Bürokratensprache nach und nach in einfach
verständliche Sätze zu übersetzen versuchen.

Außerdem könnten Texte in leichter und einfacher Sprache, deren Regelwerk das
Münsteraner Netzwerk seit 2006 herausgibt, bei der Integration von Flüchtlingen
helfen. "Bücher in leichter Sprache sind für Menschen gedacht, die ernste
Probleme haben, 'normale' Texte zu lesen und zu verstehen", erklärt
Koordinatorin Lena Schulz von den Städtischen Bibliotheken Dresden.

"Wir haben für sie jetzt 50 Titel in einfacher und in leichter Sprache
angeschafft, darunter Romane, Sachbücher und Zeitschriften - so ziemlich alles,
was derzeit auf dem Buchmarkt zu haben ist."

Die in einfacher statt leichter Sprache verfassten Texte verwenden zwar


ebenfalls nur einfache Sätze und Wörter, sind aber schon etwas anspruchsvoller
und näher am Standarddeutsch. Sie können Nebensätze und gebräuchliche
Fremdwörter enthalten und bis zu 15 Wörter lang sein. Sätze in leichter Sprache
enthalten maximal acht Wörter.
Das Angebot der Dresdner Bibliothek ist noch jung. Seit Dezember 2015 steht das
extra gekennzeichnete Regal mit den leichten und einfachen Büchern neben den
Computerarbeitsplätzen.

Noch hält sich der Andrang dort in Grenzen. Zwei Frauen blättern durch die
Romane. "Ich find es gut, dass es so was hier gibt", meint Nadine Begu. "Wir
suchen hier was für unsere Tochter. Sie ist 13 Jahre alt und will etwas leicht
Verständliches, das aber auch interessant für Jugendliche sein soll."

Schulz kennt diesen Spagat gut: Manchen Klienten, besonders aus


Flüchtlingsheimen, seien selbst Bücher in leichter Sprache noch zu schwierig,
"da greifen dann doch viele lieber zum Bilderbuch". Andere wiederum empfänden
die "leichte" Sprache als lächerlich oder die Buchangebote als zu langweilig.
Sachbücher in leichter Sprache gingen ganz schlecht. "Gefragt ist vor allem
leichte Unterhaltung in leichter Sprache", sagt sie.

Millionen Deutsche sind Analphabeten

Auch andere Einrichtungen in Dresden verwenden leichte Sprache, um die


UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen. So hat zum Beispiel das Jugendamt
einige Merkblätter in leichte Sprache übersetzt. Das Deutsche Hygienemuseum
bietet seit 2009 einen leicht verständlichen Audioguide für die Dauerausstellung
an.

Und die Volkshochschule Dresden hat im vergangenen Semester 16 Kurse in leichter


Sprache ausgeschrieben. Sie wurden vor allem von Menschen mit
Lernschwierigkeiten besucht, wie die Stadtverwaltung Dresden auf Anfrage
mitteilte.

Auch wenn keine präzisen Erhebungen darüber vorliegen: Schätzungen zufolge


gehören Millionen Deutsche zur potenziellen Zielgruppe für einfache und leichte
Sprache. Etwa 14 Prozent aller Berufstätigen sind de facto Analphabeten und
können ihre Arbeitsverträge und schriftlichen Arbeitsanweisungen kaum verstehen,
schätzt das Netzwerk Leichte Sprache.

"Wie viele Menschen insgesamt auf Texte in leichter Sprache eigentlich


angewiesen wären, ist aber nirgends statistisch erfasst", sagt Gisela Holtz.
"Was wir auf jeden Fall merken: Das Interesse vor allem an schönen und
interessanten Büchern in leichter Sprache wächst." Auch gebe es verstärkt
Anfragen zu Texten in einfacher Sprache, die für die Arbeit mit Flüchtlingen
verwendbar sind.

Ähnlich ist es in Dresden, wo regelmäßig Asylbewerber aus


Flüchtlingsunterkünften in die Bibliotheken eingeladen werden. "Wir weisen in
den Führungen nun auch immer auf unsere Bücher in leichter und einfacher Sprache
hin", sagt Schulz. Womöglich helfe die Lektüre Flüchtlingen, schneller mit der
fremden Sprache zurechtzukommen. Manche würden "Romeo und Julia" ja noch aus
ihrer Schulzeit etwa in Syrien kennen. Für sie könnte die tragische
Liebesgeschichte in der leichten Version zur kulturellen Brücke werden.

UPDATE: 31. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Donnerstag 31. März 2016 1:21 PM GMT+1

Soziologe Heinz Bude;


"Merkel muss sagen: 'Ich schaffe es allein nicht!'"

AUTOR: Martin Ebel

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1856 Wörter

HIGHLIGHT: Verbitterungsmilieu, böswillige Rassisten und rechtspopulistische


Parteien: Die Stimmung in Deutschland ist nicht gut. Soziologe Heinz Bude
wünscht sich von der Bundeskanzlerin bessere Kommunikation.

Der Soziologe Heinz Bude fühlt Deutschland in Zeiten des Flüchtlingszustroms den
Puls. Dabei findet er das Gefühl einer verstellten Zukunft im Milieu der
"Verbitterten" und beim Dienstleistungsproletariat. Die AfD greift diese
Stimmung auf.

Die Welt: In ganz Deutschland kochen die Emotionen hoch: hier das ungelöste
Flüchtlingsproblem, dort die hohen Wahlergebnisse für die AfD. Was ist
schlimmer, die Lage oder die Stimmung?

Heinz Bude: Ich glaube, die Stimmung entspricht der Lage. Ökonomisch steht
Deutschland glänzend da. Das Land ist aus der Krise von 2008 am besten von allen
OECD-Volkswirtschaften herausgekommen. Gleichzeitig hat sich die deutsche
Gesellschaft ganz neu aufgestellt in den letzten 20 Jahren. Das hat sie
innerlich noch nicht nachvollzogen. Und es hat eine Kostenseite, die im
Gefühlsleben der Gesellschaft immer stärker ankommt.

Die Welt: Was meinen Sie damit?

Bude: Zum einen ist ein neues Proletariat entstanden: Menschen, die putzen oder
Pakete ausliefern oder in der Pflege tätig sind. Die arbeiten viel und hart, zum
Teil in mehreren Jobs, aber sie verdienen sehr wenig. Und sie haben keinerlei
Aufstiegsmöglichkeiten. Das sind immerhin etwa 15 Prozent der Beschäftigten. Zum
anderen ist in vielen Unternehmen das mittlere Management weggefallen. Gerade in
der Hochproduktivitätsökonomie führen sich die Arbeitsteams gewissermaßen
selber. Die Konsequenzen erkennen die Leute zuerst und zumeist in emotionaler
Hinsicht: Burn-out ist zu einer Wirklichkeit für Hoch- wie für
Niedrigqualifizierte geworden. Burn-out heißt: Erschöpfungsdepression. So ist
die Lage: Es geht uns unglaublich gut, und es geht uns gleichzeitig unglaublich
schlecht. Das führt zu einer Gereiztheit der Stimmung, die wir gerade haben und
in der sich die Lage reflektiert.
Die Welt: Stimmungen sind für viele etwas Flüchtiges, wenig Fassbares. Kann man
strenge Wissenschaft damit überhaupt betreiben?

Bude: Ja, kann man. Die akademische Psychologie forscht seit hundert Jahren
über Stimmungen. Die experimentell ausgerichteten Wirtschaftswissenschaften
untersuchen etwa empirisch, wie sich die Stimmung an den Börsen ändert.
Stimmungen sind, akademisch gesprochen, unspezifische Wertungszustände. Sie
ermöglichen uns ein "Gefühl der Welt", in der bestimmte Wertungen ihren Platz
haben: ob Sie alles, was Sie erfahren, auf eine Bedrohtheit der Welt auslegen
oder auf eine Veränderbarkeit der Welt. Entweder Sie machen das Fenster zu, wenn
etwas Neues kommt - oder Sie machen es auf.

Die Welt: Jetzt hat bei den Landtagswahlen die AfD gleich dreimal gewonnen,
also eine Partei, die das Fenster lieber zumacht. Was sagen Sie als
Stimmungsdiagnostiker dazu?

Bude: Die untergründige Stimmung der Gereiztheit, die wir seit sechs bis acht
Jahren haben, intensiviert sich gegenwärtig noch einmal. Viele Menschen haben
den Eindruck, die Zukunft sei verschlossen und verbaut, und die Gegenwart
entgleite ihnen. Es handelt sich um das, was ich Verbitterungsmilieu nenne,
immerhin zehn Prozent der Bevölkerung, mit relativ gutem Einkommen, relativ
hoher Bildung, aber dem Gefühl, unter ihren Möglichkeiten geblieben zu sein.
Zusammen mit dem neu entstandenen Dienstleistungsproletariat macht das 25
Prozent. Es sind diese Leute, die die Volksparteien verloren haben.

Die Welt: Warum hat die AfD gerade im Osten so stark gewonnen - dort gibt es
doch die wenigsten Flüchtlinge?

Bude: Es gibt immer eine Hierarchie des Hierseins. Der klassische Ostdeutsche
fühlt sich bis heute als Bürger zweiter Klasse. Er ist der Bundesrepublik ja
beigetreten.

Die Welt: ... und fühlt sich als Einwanderer, ohne sich überhaupt bewegt zu
haben.

Bude: Genau. Und wenn Flüchtlinge ins Land kommen, wendet sich die Hierarchie
des Hierseins gegen sie. Diese greift auch bei anderen Gruppen. Die
Spätaussiedler der 90er-Jahre sagen jetzt: Wer hat eigentlich damals für uns die
Arme ausgebreitet? Es wird auch den gut integrierten Deutschen mit türkischen
Wurzeln geben, der sagt: Die arabischen Muslime sind was völlig anderes als wir.

Die Welt: Ist die AfD nicht ein Zeichen für die Normalisierung des politischen
Spektrums? In anderen Ländern gibt es das doch längst. Und man kann es auch
begrüßen, dass eine Partei bestimmten Gruppen und Stimmungen einen politischen
Ausdruck gibt. Die Unzufriedenen haben jetzt eine Stimme.

Bude: Vollkommen richtig. Der Einzige, der das noch in der Wahlnacht gesehen
hat, ist Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er hat
sofort gesagt, die AfD-Wähler gehörten auch zur Demokratie. Rechtspopulistische
Parteien sind eine europäische Normalität. Wenn man sich von ihnen nicht treiben
lassen will, muss man ihnen einen Platz zuweisen innerhalb des politischen
Kosmos.

Die Welt: Was könnte so ein Platz sein?

Bude: Zuallererst die Anerkennung, dass es sie gibt. Natürlich gibt es unter
diesen Wählern fünf bis sieben Prozent böswillige Rassisten. Die kann man nicht
einbinden. Aber 20 Prozent Wähler kann man nicht ausgrenzen.
Die Welt: Braucht es mehr politische Partizipation? Direkte Demokratie?

Bude: Da bin ich sehr skeptisch. Ich halte es wiederum für einen populistischen
Reflex, mehr Volksabstimmungen vorzuschlagen. Die Frage ist vielmehr: Wie kann
man dieses Gefühl der verstellten Zukunft wenden? Das geht ja weit über das
AfD-Potenzial hinaus. Wir haben Zahlen, dass drei Viertel aller Eltern und
Großeltern der Meinung sind, dass es ihren Kindern und Enkeln nicht mehr so gut
gehen wird wie ihnen selbst.

Die Welt: S ehen Sie das denn nicht so?

Bude: Nein, ich finde diese Einstellung wirklichkeitsfremd. Schauen Sie sich
doch die Daten an: Das Verhältnis von Geburtenrate und Stellenverfügbarkeit ist
so günstig wie seit der glorreichen 68er-Generation nicht mehr.

Die Welt: Nun gibt es ernst zu nehmende Analysen, dass der nächste Schub der
Digitalisierung 30 Prozent aller Stellen hinwegfegen wird.

Bude: Richtig, aber diese Analysen kommen alle aus den USA und treffen auf
Deutschland so nicht zu. Hier hat es eine Zusammenführung von alten
industriellen mit digitalen Kompetenzen und ganz neuen
Dienstleistungskompetenzen gegeben, das ist gerade das Erfolgsgeheimnis des
deutschen Produktionsmodells. Die vielen "hidden champions" betreiben
Globalisierung durch Digitalisierung, indem sie diese in ihr klassisches
Produktangebot integrieren, wie das Beispiel VW zeigt, manchmal sogar in
betrügerischer Absicht.

Die Welt: Warum fehlt Deutschland eigentlich das Bewusstsein dieser eigenen
Stärke? Warum fehlt das Gefühl, die Zukunft ist interessant und bunt, und wir
sind vorne dabei?

Bude: Deutschland hat in der Griechenlandfrage mit Schrecken bemerkt, dass es


plötzlich die Nummer eins in Europa ist und den Griechen praktisch diktiert hat,
wie sie die Probleme zu lösen haben. Es gab so etwas wie Einflussangst: Wie
können wir denen etwas vorschreiben, womit wir selbst gar nicht so glücklich
sind? Und die Reaktion auf die Kälte gegenüber Griechenland war dann die Wärme
gegenüber Syrien. Das war eine Stimmungskompensation. Daran sehen Sie, dass
Stimmungen eine Eigendynamik in der Gesellschaft entwickeln, über die Köpfe der
Einzelnen hinweg.

Die Welt: Die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen hat sich ja verändert. Von
der Willkommenskultur zu dem Gefühl, so geht es nicht weiter. Wie könnte man sie
wieder ins Positive, Zuversichtliche drehen?

Bude: Sie müssen so etwas wie Erwartungssicherheit herstellen. Damit meine ich
nicht eine Obergrenze nach der Devise: Der nächste Flüchtling darf dann nicht
mehr rein. Es geht um Orientierungsgrößen. Der bayerische Innenminister Herrmann
hat das so ausgedrückt: Bayern hat jetzt Flüchtlinge aufgenommen in der
Größenordnung einer Stadt wie Würzburg. Ein Würzburg schaffen wir. Wir schaffen
auch zwei Würzburgs. Aber drei schaffen wir nicht.

Die Welt: Symbolische Zahlen also?

Bude: Nein, Dimensionen.

Die Welt: Wenn Sie Angela Merkels politischer Stimmungsberater wären - was
sollte sie tun?

Bude: Ich glaube, sie müsste sagen: "Ich habe mit dem Satz ,Wir schaffen das'
dem ,wir' zu viel zugemutet. Ich habe eigentlich gesagt: ,Ich schaffe das.' Und
ich bin jetzt in einer recht verfahrenen Situation, wo ich die Gesellschaft
brauche. Ich schaffe es allein nicht." Das muss sie kommunizieren.

Die Welt: Das könnte die Unsicherheit noch verstärken.

Bude: Ja, genau das wäre auch Angela Merkels Einwand, und deshalb wird sie es
nicht machen.

Die Welt: Wie sehen Sie das Potenzial der AfD? Wird sie wieder verschwinden,
oder könnte sie anschwellen zu einer Kraft wie dem Front National?

Bude: Ich glaube, verschwinden wird sie nicht. Das Potenzial ist groß. Wenn die
Verbitterten und das Dienstleistungsproletariat durch eine Figur
zusammengebracht werden, die sagt: Ich rede über euch, ich weiß, was ihr fühlt,
dann sind wir plötzlich bei gesamtdeutsch 25 bis 27 Prozent.

Die Welt: Fehlt also bloß ein charismatischer Führer, ein deutscher Donald
Trump?

Bude: Ganz so einfach ist das nicht. Wir haben diese erweiterte Hasskultur in
Deutschland nicht, die in den USA über zehn Jahre eingeübt worden ist. Dort ist
die Lage schlimmer, das Dienstleistungsproletariat größer, es gibt mehr
Verbitterte, die Mittelklasse fällt auseinander. So ist die Lage in Deutschland
beileibe nicht. Allerdings haben wir hier auch einen privilegierten Teil der
Mittelklasse und einen verletzlichen Teil, die auseinanderdriften. Umso
wichtiger ist die Frage, in welchem gedachten Ganzen wir uns bewegen wollen.

Die Welt: In einer Zivilgesellschaft, die sich als Ganzes begreift - als
Oberbegriff oder Obergefühl?

Bude: Jedenfalls mit einer Vorstellung von Zukunft. Nicht mehr eine mit acht
Prozent Wachstum. Aber mit qualitativem statt quantitativem Wachstum. Damit kann
man Geld verdienen, andere Lebensmöglichkeiten schaffen, und damit kann Europa
Ausstrahlung gewinnen.

Die Welt: Stimmung und "longue durée": Die Deutschen galten lange als
verkrampfte Ordnungsfanatiker, seit einigen Jahren plötzlich als cool und
entspannt. Könnte es sein, dass wir wieder an einem Kipppunkt sind?

Bude: Ja, aus den angestrengten Deutschen sind entspannte Deutsche geworden.
Das deutsche Team kann elegant Fußball spielen. Die Deutschen haben die Wende so
gut hinbekommen, die Wirtschaft grundsätzlich und erfolgreich umgekrempelt: Es
könnte sein, dass jetzt eine Periode des Innehaltens und der Beängstigung folgt,
sozusagen die nachgeholte Angst.

Die Welt: Angst auch vor der gewachsenen Verantwortung? Es steht ja mit der
neuen Führungsrolle auch viel auf dem Spiel.

Bude: Absolut richtig. Mein Optimismus gründet gerade in dieser Verantwortung.


Wir können uns weder hinter überholten Konzepten einer geschlossenen
Gesellschaft verbarrikadieren noch schulterzuckend sagen: Globalisierung
bedeutet halt Grenzenlosigkeit. Also weder zurück zu den 70er-Jahren noch die
Dinge einfach laufen lassen. Ich plädiere für eine dritte Variante, das ist das
reparative Bewusstsein: Unsere Welt muss behutsam repariert werden mit dem Blick
auf eine Zukunft, an die man glauben kann.

Die Welt: Und schaffen wir das?


Bude: Ich glaube, ja. Es wird kompliziert sein, aber die deutsche Gesellschaft
ist so vielfältig, dass sie es schaffen kann.

In Kooperation mit unserem LENA-Partner "Tages-Anzeiger"

UPDATE: 31. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Freitag 1. April 2016 8:24 AM GMT+1

Maybrit Illner;
Das "Saugefährliche" an der Religion

AUTOR: Verena Maria Dittrich

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1363 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Anschlägen wächst die Angst vor der islamistischen Bedrohung
aus der Mitte der eigenen Gesellschaft. Und bei Maybrit Illner zeigte sich: Die
EU hat ihr wenig entgegenzusetzen.

Wie verhält man sich in einem fremden Land? Ein Land, in dem man nicht nur zwei
Wochen Urlaub macht und dann wieder heimfährt, sondern in dem man vielleicht für
immer leben möchte? Man versucht, nicht allein zu bleiben, Anschluss zu finden,
neue Freunde. Man lernt seine Sprache und die Kultur und mit der Zeit merkt man,
dass dieses Land, das einem noch bis vor ein paar Monaten fremd war, immer
vertrauter und vielleicht sogar eine neue Heimat wird.

Eine solche, gelungene Integration kann keine Einbahnstraße sein. Das findet
zumindest Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag bei
Maybrit Illner: "Wenn ich in ein anderes Land gehe, das mir Schutz gibt, dann
muss ich mich auch selber integrieren, dann kann ich nicht verlangen, dass der
Staat mich integriert. Sie (die Flüchtlinge, Anm. der Redaktion ) sollen sich
bemühen, Teil unserer Gesellschaft zu werden."

Erneut drängt sich die Integration von Migranten bei Illners wöchentlichem
Politik-Talk in den Vordergrund, wobei das eigentliche Thema der Sendung:
"Feinde im eigenen Land - was tun gegen den IS-Terror?" fast nur gestreift wird.
Wie kann Deutschland dem Terrorismus wirksam entgegentreten? Was tut die
Gesellschaft gegen die Bedrohung in ihrer Mitte und aus der Mitte heraus?
Darüber diskutieren: der Terrorismusexperte Peter Neumann, der thüringische
Ministerpräsident Bodo Ramelow, die TV-Journalistin Düzen Tekkal, der Kölner
Pfarrer Franz Meurer, der eingangs erwähnte Bosbach sowie Dominic Musa Schmitz,
ein junger Mann, der sechs Jahre im harten Kern der deutschen Salafisten-Szene
verbrachte.

"Die Bedrohung ist allgegenwärtig"

Nach den letzten Terroranschlägen in Brüssel befürchtet nicht nur Bosbach, dass
"wir noch einen langen, zähen Kampf gegen den Islamismus führen müssen". Denn
Terrorismusexperte Neumann ergänzt: "Die Bedrohung ist allgegenwärtig und höher
als vor zehn Jahren bei al-Quaida." Immer wieder verweisen Sicherheitsexperten
darauf, dass der IS fest entschlossen sei, auch in Deutschland zuzuschlagen. Die
Frage sei nicht ob, sondern wann auch bei uns Anschläge verübt werden. Was also
tun? Wie sich schützen?

In einem Punkt ist sich die Diskussionsrunde schnell einig: Eines der
gravierendsten Probleme ist der ineffiziente Datenaustausch der europäischen
Geheimdienste. Denn nur fünf der 28 Mitgliedsstaaten liefern 90 Prozent aller
Daten über potenzielle Terroristen und ihre möglichen Anschlagspläne. "Um die
Gefahren abzuwehren, müssen alle besser zusammenarbeiten", sagt Bosbach und
kritisiert, dass die Sicherheitsbehörden ihre machbaren Abwehrmechanismen nur
ungenügend nutzen. "Das ist der Denkfehler", ergänzt Neumann. "Die EU-Grenzen
abzuschaffen, aber andererseits nicht dafür zu sorgen, dass die
Sicherheitsbehörden dementsprechend enger zusammenarbeiten."

Europäische Lösung bei der Gefahrenabwehr

Bei Europol seien von 6000 Kämpfern nur 2000 namentlich gespeichert. Viele dazu
laut Bosbach in den unterschiedlichsten länderabhängigen Schreibweisen, sodass
eine Abgleichung im Fall der Fälle zu keinem Treffer führen würde. Dass sich die
europäischen Behörden bei der korrekten Identifizierung mutmaßlicher Terroristen
so schlecht synchronisieren, mutet bizarr an. Die meisten Namen potenzieller
Gefährder seien zudem bei den Geheimdiensten und nicht bei der Polizei
gespeichert, erläutert Terrorismus-Experte Neumann.

Wenn die Geheimdienste nicht effizient kommunizieren, ist das dann nicht
vielmehr ein politisches Versagen als ein technisches, möchte Maybrit Illner
wissen. Laut Ramelow liegt das Dilemma eher daran, "dass jeder andere und eigene
Regeln hat". Doch Ramelow macht es sich hier etwas zu einfach. Denn wie die
Verbesserungen der Zusammenarbeit im Einzelnen aussehen soll, kann der Politiker
nicht genau benennen.

"Wenn wir nicht die Mindeststandards, die wir (als Land) selber hatten, auch in
der EU durchsetzen, dann haben wir ein Problem." Und weil "mit den Flüchtlingen
auch Terroristen gekommen sind", stellt Bosbach kühl fest, "müssen wir dringend
zu einer gemeinsamen europäischen Lösung bei der Gefahrenabwehr kommen".

Weil eine hohe Anzahl von Flüchtlingen innerhalb kürzester Zeit, größtenteils
auch ohne Papiere, gekommen ist, nimmt Ramelow Bezug auf die Verunsicherung in
der Bevölkerung. "Wir dürfen die Menschen, die mit einem islamischen Hintergrund
zu uns kommen und sich orientierungslos fühlen, nicht einfach sich selbst
überlassen." Integrationskurse stellen in dieser Hinsicht nur einen Anfang dar.
Pfarrer Meurer spricht in diesem Zusammenhang endlich ein klares Wort: Nicht
immer nur reden - machen sei die Devise. Auf die Flüchtlinge zugehen, aber auch
die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. "Die AfD ist momentan nur
deshalb so groß, weil sie den Eindruck erweckt, sie kümmere sich um die
Menschen."

Terroristen von morgen kommen aus dem Inland

Die Runde diskutierte jedoch nicht nur die Möglichkeit, dass unter den
einreisenden Flüchtlingen Terroristen über die Grenze kommen könnten, sondern
auch die Bedrohung von innen - durch Menschen, die hier geboren, hier
aufgewachsen, hier zur Schule gegangen sind und die eigentlich als vollkommen
integriert gelten. "Deutschland ist bedroht", sagt Düzen Tekkal dazu, "die
Spaltung der Gesellschaft betrifft uns alle. Der fanatische Islamismus,
gleichzeitig aber auch der Rechtsextremismus sind enorm angestiegen. Die großen
Volksparteien haben es verpasst, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen, Leuten
die Ängste haben und sich Sorgen machen, darf man nicht Populismus
unterstellen."

Aber sind die gewaltbereiten Fanatiker inmitten der Gesellschaft auf ein
Scheitern unserer Europäischen Gemeinschaft zurückzuführen? Auch hier ist die
Runde sich einig: Die Terroristen von morgen kämen meist aus unserer Mitte. Die
Gefahr komme nicht nur von außen. So waren beispielsweise über 750 Deutsche in
den Ausbildungslagern des IS im Irak und in Syrien. Rund ein Drittel ist
inzwischen wieder da. Deswegen appelliert Bosbach noch einmal, dass Europa
dringend eine einheitliche Schreibweise der potenziellen Gefährder brauche.

Pfarrer Meurer geht beim Thema Salafismus auf die Metaebene. Er fordert zunächst
eine Definition von Religion. Religion sei nämlich "saugefährlich". "Wenn du
willst, dass ein guter Mensch etwas Böses tut, führe ihn zur Religion." Und es
mutet etwas befremdlich an, wenn im Jahre 2016 ein Pfarrer darauf hinweisen
muss, dass die "Religion in unserem Land an zweiter Stelle kommt. Zuerst müssen
der Respekt und die Menschenrechte kommen. Wer das nicht begreift ..."

Laut Bosbach kommen die meisten Terroristen aus dem salafistischen Spektrum.
Auch die Mörderbande des IS berufe sich auf die Religion. Aber wie kann es sein,
dass deutsche Jugendliche sich radikalisieren, zu Salafisten werden und für ihre
Religion kämpfen, morden, und wenn es sein muss, sogar sterben wollen? Der aus
der Salafisten-Szene ausgestiegene Musa Schmitz hat darauf eine Antwort: "Weil
sie am Alltag verzweifeln, weil sie auf komplexe Fragen einfache Antworten
bekommen, weil sie endlich zu einer Gruppe gehören und sich als Brüder im Geiste
fühlen." Und so gut die Absichten von Pfarrer Meurer auch seien, man hilft
diesen verblendeten jungen Menschen nicht, indem man mit ihnen "Waffeln backt".

"Neuköln ist nicht Molenbeek"

Nach den Bildern aus Brüssel ging auch in Deutschland die Angst um vor
Islamistenhochburgen, vor Salafisten als Nachbarn im Multikultiviertel. Doch
Terrorexperte Neumann gibt Entwarnung: "Neukölln ist nicht Molenbeek. Dort hat
sich eine Szene gebildet, die es so in Deutschland nicht gibt!" Dies mag so
sein. Doch sollten die Warnungen der deutschen Polizei vor einer Überforderung
ihrer Kräfte ernst genommen werden. Denn auch im Berliner Neuköln gibt es
inzwischen ganze Häuserblöcke, die fest in der Hand von Familienclans sind und
wo die Polizei es schwer hat, entsprechend der Gefahrenlage rechtlich
durchzugreifen. Soziale und gesetzliche Unstimmigkeiten werden durch einen zur
jeweiligen Nationalität gehörenden Schlichter und nicht durch die deutsche
Justiz geregelt.

Einig ist sich die Runde, dass man mit den Menschen sprechen und sich ihren
Problemen widmen muss - bevor es jemand mit blutrünstigen und größenwahnsinnigen
Absichten tut.

UPDATE: 1. April 2016


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Freitag 1. April 2016 11:58 AM GMT+1

Rassismus;
Was geschah wirklich in der Brandnacht von Bautzen?

AUTOR: Kathrin Spoerr

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 1737 Wörter

HIGHLIGHT: Brandstiftung im geplanten Flüchtlingsheim. Umstehende klatschen.


Feuerwehrleute werden behindert. Wirklich? Wie ausgerechnet die Retter
versuchen, das ramponierte Image der Stadt zu retten.

Als am 21. Februar um 3.35 Uhr auf der Wache die Sirene losging, taten
Bergander, Stübner und Grubert das, was Feuerwehrleute tun, wenn sie Nachtdienst
haben. Sie schliefen.

Die Sirene schnitt in ihren Schlaf und löste bei den Männern eine heftige
Adrenalinausschüttung aus, die dazu führte, dass sie wie angeknipst waren. Zu
den Fahrzeugen rennen, losfahren. Schutzanzüge, Helme, Masken während der Fahrt
anziehen. Sie dachten nichts, sie funktionierten einfach.

Niemand denkt ans Warum des Feuers

Grubert fuhr im ersten Löschfahrzeug voran, dahinter das Hubfahrzeug, das


letztes Jahr für 580.000 Euro angeschafft worden war. Es hat eine hydraulische
Drehleiter, für Brände in großer Höhe.

Zehn Minuten nach dem Alarm erreichten die beiden Feuerwehrautos mit sechs
Feuerwehrleuten den "Husarenhof", ein leer stehendes Gebäude im Süden von
Bautzen. Es brannte großflächig. "Vollbrand Dachstuhl auf 50 m", ist für 3.46
Uhr im Protokoll verzeichnet. Es ist ein Szenario, das die meisten von ihnen vor
allem aus Übungen kennen.

Stunden später wird das erste Mal das Wort Brandstiftung fallen. Aber in diesem
Moment denkt niemand an das "Warum" und an das "Wie" dieses Feuers.
Einsatzort sichern, Hydranten anzapfen, Leitern und Hubfahrzeug in Position
bringen, die freiwilligen Feuerwehren der Nachbargemeinden alarmieren. Dann
Wasser.

Um 4.52 Uhr sind "68 Kameraden mit zwölf Fahrzeugen im Einsatz". Um 5.01 Uhr ist
der "Brand unter Kontrolle". Das Nachlöschen dauert bis in die Morgenstunden. Um
11.22 Uhr zieht die Feuerwehr ab. So steht es im Protokoll. Es war ein
Bilderbucheinsatz. Bis hier.

Noch am gleichen Tag wendete sich die befriedigende Bilanz ins Gegenteil. Ab
jetzt ging es in der medialen Darstellung nur noch darum, dass Bautzen ein aus
den Fugen geratenes Gemeinwesen sei.

Zweisprachige Straßenschilder

Was man wissen muss: Der Husarenhof war lange ein Hotel, es hatte mal vier
Sterne, lief schlecht und stand seit einer Weile leer. Stadt und Eigentümer
kamen überein, das Hotel ab März in ein Flüchtlingsheim umzuwandeln.

In Bautzen leben 40.000 Menschen. Die Stadt ist fast schuldenfrei. Sie lebt vom
Straßenbahnbau, vom Brückenbau, vom Tourismus und vom Senf. Der Ausländeranteil
liegt bei drei Prozent, überwiegend Kubaner und Vietnamesen, die zu DDR-Zeiten
kamen und geblieben sind. Zehn Prozent der Bevölkerung sind Sorben. Jedes
Straßenschild, jede Ladenaufschrift ist zweisprachig. Das Fremde ist sozusagen
alltäglich hier.

881 Flüchtlinge sind seit Beginn der Flüchtlingskrise dazugekommen. Der


Husarenhof wäre die sechste Flüchtlingsunterkunft der Stadt gewesen, mit Platz
für 300 weitere Flüchtlinge.

Es gab Proteste, wie eigentlich überall in Deutschland, wenn Flüchtlingsheime


eröffnet werden. Auch die Drohung, das ehemalige Hotel anzuzünden, tauchte im
Internet auf. Ein Sicherheitsdienst bewachte es rund um die Uhr.

Wenige Stunden nach Ende der Löscharbeiten stürzten sich die Medien auf Bautzen.
Nicht nur die Brandstiftung stand im Mittelpunkt, sondern die Zuschauer:
"Schaulustige bejubeln Brand in geplanter Asylunterkunft", war zu lesen.

Bürger hätten versucht, die Feuerwehr aufzuhalten. Von "massiven Behinderungen"


war die Rede. "Der Mob tobt in Sachsen", stand am nächsten Tag in der "Zeit".
Die Demokratie sei hier "im Niedergang".

Widerstand gegen Angela Merkel?

Wie immer postete die Feuerwehr den Einsatz auf Facebook, und wie immer wurden
die Feuerwehrleute in den Kommentaren gefeiert. Gefeiert wurde diesmal aber auch
das Feuer selbst und die Brandstifter.

Einige Kommentatoren bezeichneten die Vernichtung des Gebäudes als einen Akt des
Widerstandes gegen die Politik in Berlin und gegen Merkels "Wir schaffen das".
Ein großer Teil der Kommentare zeigte offenen Hass. Hass auf Politiker und Hass
auf Ausländer. Alle verfassungsfeindlichen Kommentare sind verschwunden, es
waren ungefähr 25. Die Feuerwehr selbst löschte sie.

Heidenau, Clausnitz, Hoyerswerda, Bautzen. Ein weiteres braunes Nest in einem


braunen Bundesland schien ausgemacht. Braun nicht nur am braunen Rand, sondern
braun bis in die Mitte? Braun bis in die Feuerwehr hinein?
Drei Wochen später sitzen die Feuerwehrleute Markus Bergander, Paul Stübner und
Jens Grubert nebeneinander an einem großen Holztisch im Rathaus von Bautzen. Sie
haben ihre Paradeuniformen an, das Haar ist gescheitelt, die Gesichter sind
konzentriert. Sie erzählen von ihrem Einsatz. Es soll in diesem Gespräch darum
gehen, wie sie denken, wenn sie nicht Feuerwehrleute sind, sondern Bürger von
Bautzen.

Sie sind vorsichtig, überlegen, bevor sie sprechen, ihre Sprache ist
Amtsdeutsch. Neben den Feuerwehrleuten sitzt André Wucht,
Öffentlichkeitsarbeiter der Stadt. Er sieht angestrengt aus, und er ist es auch.
Seit dem Brand ist sein Job nicht mehr, was er davor war. Er war es gewohnt,
gute Nachrichten zu verbreiten, nun muss er täglich schlechte Nachrichten
verhindern. Doch es gelingt ihm nicht.

Bautzener applaudieren? Kinder rufen "Kanaken raus"? Polizei und Feuerwehr


werden "massiv behindert"? "Brauner Mob", "rechtes Sachsen", "Hass in Bautzen" -
das klinge alles so, als wären das viele, als wäre es die Mehrheit. "Die
Wahrheit ist", sagt Wucht, "dass das nicht stimmt".

Er hat eine Kommission beauftragt, die untersuchen sollte, was in der Brandnacht
wirklich geschah. Heraus kam: drei Betrunkene und 50 Schaulustige. Die
Betrunkenen sind unter den Plastikbändern durchgekrabbelt. Zwei wurden
festgenommen. Die 50 Bautzener hätten vor allem ihre Autos in Sicherheit bringen
wollen, einige klatschen, weil es fast immer Leute gebe, die klatschten, wenn es
irgendwo brennt.

"Massive Behinderungen?" "Beifall der Bautzener?" "Nein, nein, nein", sagt


Wucht. "Die Presse!", sagt er. Die Presse sei wie elektrisiert von den "massiven
Behinderungen". Seine Kommission hat herausgefunden, dass es die massiven
Behinderungen nicht gab, und Grubert, Stübner und Bergander bestätigen es. Sie
sind nicht behindert worden. "Die Presse!", sagt Wucht. Niemand interessiere
sich für die Wahrheit.

Anfang März war der Bundespräsident da. Eine PR-Reise für Bürgerdialog, und
Bautzen wurde ins Programm aufgenommen, um seinen Ruf aufzubessern. 150 Leute
waren dabei. "Es lief wie geschmiert", sagt Wucht. Es wurde wunderbar diskutiert
- alles nach bester demokratischer Manier. Dann, beim Spaziergang durch die
Altstadt, standen plötzlich ein paar Rechtsradikale am Straßenrand und schrien
und pfiffen. Es dauerte nicht mal eine Minute, dann schritt der
Sicherheitsdienst ein. "Aber die Presse", sagt Wucht, die interessierte sich
nicht für die 150 friedlichen Bautzener und auch nicht für die herrliche
Diskussion.

Bergander sagt: "Wir waren noch nicht zurück in der Wache, da meldete eine
Nachrichtenagentur schon: 'Bundespräsident in Bautzen mit Hass empfangen'".
Bergander sagt: "Das tut weh."

Alle waren da, von "Sächsischer Zeitung" bis "Spiegel". Fernsehteams von überall
aus Russland, Frankreich, Polen. CNN war da. Al Dschasira war da. André Wucht
hat sich nicht geschont, der Bürgermeister hat sich nicht geschont. Der bat
jeden Journalisten einzeln in sein Büro, tagelang Einzelpressekonferenzen im
Halbstundentakt.

Böses Blut

Drei Betrunkene, 50 Schaulustige. André Wucht sagt, allmählich verstehe er, was
mit dem Wort "Lügenpresse" gemeint sei.

Jetzt sitzt Wucht neben den drei Feuerwehrleuten im Rathaus. Vielleicht, weil er
sie unterstützen will, vielleicht, weil er sie beschützen will. Die Frage war,
wie gesagt, wie es sich eigentlich mit der Gesinnung der Feuerwehrleute in
Bautzen verhält.

Brandmeister Paul Stübner, er war Führungsassistent beim Feuer im Husarenhof und


löschte am Tag danach die Hasskommentare auf Facebook. Er ist 24 Jahre alt. Was
er von Merkel hält? "Naja, würde ich unter den Kriegszuständen in Syrien leben,
würde ich ebenfalls versuchen, nach Deutschland zu kommen, um ein ungefährdetes
Leben zu führen."

Oberbrandmeister Jens Grubert, 40 Jahre alt. Er leitete den Einsatz. "Jeder wird
in Deutschland sozial aufgefangen, auch die Flüchtlinge, und das missfällt den
sozial Schwachen und bringt böses Blut. Aber jetzt ist die Situation da und wir
müssen versuchen, miteinander Lösungen zu finden."

Sie löschen ohne zu fragen

Brandoberinspektor Markus Bergander, 30 Jahre alt. Er ist der Chef der Bautzener
Feuerwehr. "Was richtig ist, kann ich nicht entscheiden. Es ist zu komplex. Es
wäre wichtig, denke ich, die Ursachen der Flüchtlingskrise zu beseitigen."

André Wucht sieht jetzt zufrieden aus. Die drei Feuerwehrleute haben, wie Wucht
selbst, alles getan, um das Image der Stadt wiederherzustellen. Das Gespräch im
Rathaus ist zu Ende. Nun liegt wieder alles in den Händen der Presse.

In der Wache, ohne André Wucht, haben die Feuerwehrleute das Image der Stadt
vergessen. Sie tragen zwar noch ihre Paradeuniform, aber die Steifheit ist in
Lockerheit übergegangen. Es wirkt, als hätten sie vergessen, dass die Person,
der sie ihre neueste Löschtechnik vorführen, von der Presse ist. Dort steht das
neue Hubfahrzeug. Hier hängen die Maschinen, mit denen Verunglückte aus ihren
Autos geschnitten werden. Sie sind schwer. Da hinten ist der Sportraum und oben
sind die Schlafräume.

Die Feuerwehr ist kein gewöhnlicher Arbeitsplatz. Hier kommen sich die Männer in
24-Stunden-Schichten so nah, wie sonst nur der eigenen Familie. Man hat keine
Hemmungen, man spricht über alles, ohne Angst. Es gibt einen Dienstplan, es gibt
Übungen, und es gibt Vertrauen und Zuverlässigkeit. Das ist die Grundlage der
Arbeit der Feuerwehr.

Einige finden Merkel toll, andere nicht

Es gibt keine Zensur, keine Lügenpresse und keinen André Wucht. Die Männer
nennen sich "Kameraden", was so etwas ähnliches ist wie Freund. Bergander,
Grubert und Stübner fühlen sich als Teil dieser Familie. In der Familie gibt es
einige, die Merkel toll finden und andere, die sie nicht leiden können. Es gibt
Kameraden, die die Flüchtlingspolitik richtig finden, andere finden sie falsch.

Würde in der Wache eine kleine Bundestagswahl stattfinden, wäre das Ergebnis
wahrscheinlich nicht viel anders als das Ergebnis der Sonntagsfrage im ZDF. Es
gibt links, Mitte und rechts. Die Mitte ist am stärksten. Es gibt auf der Wache
manchmal Diskussionen, ab und zu Streit, wahrscheinlich nicht mehr als anderswo
auch.

Wenn nachts die Sirene losgeht, springen sie auf und rennen los. Sie wissen
nicht, was brennt und warum. Es kann ein Krankenhaus sein oder ein
Flüchtlingsheim oder das Haus, in dem ihr Erzfeind wohnt, das ist ihnen egal.
Sie rennen einfach los und löschen das Feuer.

UPDATE: 1. April 2016


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Dienstag 5. April 2016 7:36 AM GMT+1

Neue Biografie;
Zur Einsicht ist Ströbele bis heute nicht bereit

AUTOR: Barbara Möller

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1149 Wörter

HIGHLIGHT: Für immer ein 68er: Eine Biografie zeigt den Grünen-Politiker
Hans-Christian Ströbele als Revoluzzer wie Opportunisten, dessen Ressentiments
gegen die USA und Israel bis heute in Stein gemeißelt sind.

Er ist das Relikt aus der grünen Urzeit. Eine Art zahnloser Velociraptor mit
akuten Magenproblemen. "Beim Gedanken an Schwarz-Grün", sagt Hans-Christian
Ströbele mit Blick auf die anstehende Regierungsbildung in Baden-Württemberg,
"wird mir schon anders." So was hätten die Grünen früher nicht gemacht:
politische Inhalte für eine Machtoption zu "verdealen". In der guten alten Zeit
sozusagen. Was auf retrograde Amnesie schließen lässt. Hat er nicht selbst
kräftig mitgedealt?

1989, als sich die Alternative Liste in Berlin zum Bündnis mit der SPD
durchrang? Keiner hatte die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik vorher
vehementer gegeißelt als Ströbele, keiner das staatliche Gewaltmonopol
erbitterter bekämpft. Bis die SPD ihre Bedingungen stellte. Da waren die
Prinzipien plötzlich keine mehr. "Das kostet uns nicht viel", hat Ströbele nur
lax gesagt, bevor er seine Unterschrift schwungvoll unter den Koalitionsvertrag
setzte. Für seine Partei war es politische Selbstverleugnung, für Ströbele war
es der Start in die politische Karriere.

Revoluzzer oder Opportunist?

Bei der Lektüre von Stefan Reineckes "Ströbele"-Biografie kann man durchaus auf
die Idee kommen, dass der vermeintliche grüne Revoluzzer über weite Strecken ein
Opportunist gewesen ist. Dieser Sohn aus fast schon großbürgerlichem Haus, der
seinem Vater, der immerhin leitender Chemiker in den Schkopauer Buna-Werken war,
die Fragen nach Zwangsarbeitern und Selektionen im Auschwitz-nahen Zweigwerk
Monowitz ersparte. Der gar nicht auf die Idee kam, den Wehrdienst zu verweigern.

Im Gegenteil, der auch zu Hause - das war nach 1945 das westfälische Marl - gern
in Uniform herumlief. Der sein Referendariat in der Kanzlei von Horst Mahler
machte, aber selbst nach dem Tod von Benno Ohnesorg nicht zur APO-Gesellschaft
gehören wollte, sondern lieber in die SPD eintrat, die von der APO wegen der von
ihr in Bonn mitbeschlossenen Notstandsgesetze verachtet wurde.

Der Biograf schreibt gar keine Biografie

Reinecke, Politikredakteur bei der von Ströbele 1979 mitgegründeten linken


"taz", nimmt das Wort Opportunismus nicht in den Mund, bei ihm arbeitet Ströbele
nur "mit doppeltem Netz". So läuft das unter Genossen. Reinecke hat auch schnell
den Vorhang vor Monowitz fallen lassen.

Eine Biografie - nimmt man die ersten siebzig Seiten aus - ist sein Buch nicht.
Eher eine Geschichte der linken Bundesrepublik. Vor 2003 hat Reinecke schon
einmal so ein Buch über Otto Schily gemacht, das andere anthroposophisch
geprägte Bürgerkind, das sich zum Anwalt der RAF aufschwang. Wie Schily damals
wird auch Ströbele auf die Rolle des RAF-Anwalts reduziert und wie Schily
verschwindet auch Ströbele hinter dieser Rolle.

Er verblasst sogar noch ein Stück hinter dem späteren Bundesinnenminister, der
damals der unbestrittene juristische Star der RAF-Prozesse war - arrogant,
eloquent, immer etwas zu spät, damit ihm die volle Aufmerksamkeit der Kollegen
und Medien sicher war. Auch das neue Buch lässt die von Ströbele offenbar als
an- und aufregend empfundenen RAF-Jahre, die andere eine bleierne Zeit nannten,
gründlich und detailliert Revue passieren.

Ströbele machte im April 1969 sein zweites Staatsexamen, am 1. Mai gründete er


mit Horst Mahler, Klaus Eschen und Ulrich K. Preuß das erste deutsche
"Rechtsanwaltskollektiv". Man ließ sich in einer feudalen
Achtzimmeraltbauwohnung an der West-Berliner Meierottostraße nieder und verstand
sich als "Dienstleister für die Politszene" (Reinecke).

Mahlers Terrortrip deklarierte er als Bildungsreise

Die Kanzlei war einer der Orte, an denen sich der gewalttätige Linksterrorismus
formierte. Und es dauerte nicht lange, bis der schillerndste Dienstleister die
Seiten wechselte: Im Juni 1970 reiste Mahler mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin
und Ulrike Meinhof über den Libanon und Syrien nach Jordanien aus, um sich in
einem Fatah-Camp von der PLO militärisch ausbilden zu lassen. Kollege Ströbele
hatte die Stirn, den Terrortrip zur Bildungsreise umzudeklarieren: "Mahler hatte
schon immer vor, eine längere Reise in die Dritte Welt zu machen ..."

Ströbeles Bewunderung für den nur drei Jahre älteren Mentor und Mitbegründer der
RAF ist bis heute ungebrochen. Auch wenn es Reinecke nicht gelingt, die Ursachen
von Ströbeles Sturheit zu ergründen, so glaubt man am Ende des Buches doch, ein
Charakterbild gewonnen zu haben: Es war und ist diesem letzten aktiven
Achtundsechziger in der deutschen Politik unmöglich, seine Perspektive auf die
Geschehnisse von damals zu verändern, sich Irrtümer, Fehleinschätzungen, Fehler
einzugestehen.

Die RAF tötete 34 Menschen, aber die Mörder blieben für Hans-Christian Ströbele
Mitglieder des mythisch überhöhten 68er-Kollektivs: "Genossinnen und Genossen".
Er hat sie vor dem Stammheim-Prozess hingebungsvoll besucht: Baader in
Schwalmstadt, Meins in Wittlich, Meinhof, Proll und Müller in Köln, Ensslin in
Essen.
Ströbele war Baaders Verteidiger, aber er ließ sich nicht nur von dem
("sozialdemokratische Ratte!"), sondern auch von den anderen bepöbeln. "Stroe",
schrieb ihm Meinhof, "Du Sau sitzt auf Deinem Arsch und tust nichts", Ensslin
versprach ihm "ein paar in die Fresse", Müller bezeichnete ihn als "ganz übles
bourgeoises Schwein".

Warum macht einer das mit? Aus Idealismus? Masochismus? Aus schlechtem Gewissen,
weil er als Sympathisant nicht tat, was sie taten? Und glaubte er wirklich, der
"Psychotherapeut" der RAF-Häftlinge sein zu können?

Die SPD hat Ströbele rausgeworfen, weil er die RAF-Leute mit "Liebe Genossen"
angeschrieben hat. Aus dem Stammheim-Prozess ist er wegen Missbrauchs seiner
Verteidigertätigkeit ausgeschlossen worden. Weil er sich maßgeblich am
Infosystem der RAF-Häftlinge beteiligt hatte, wurde er später wegen
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung
verurteilt.

Henning Spangenberg, der damals sein Referendariat in der Meierottostraße


absolvierte, sagt rückblickend: "Wir haben uns von den Gefangenen dazu bringen
lassen, die Hungerstreiks und die Prozesserklärungen für wesentlich zu halten -
anstatt die Gefangenen zu überzeugen, sich gegen die konkreten Tatvorwürfe zu
verteidigen. Wir hatten den falschen Schwerpunkt." Zu dieser Einsicht ist
Hans-Christian Ströbele bis heute nicht bereit.

Fahrrad ist nur Fassade

Wer Ströbele heute im Bundestag begegnet - 2013 hat er sich zum vierten Mal das
einzige grüne Direktmandat erkämpft -, erlebt einen im persönlichen Gespräch
sehr freundlichen, verbindlichen Mann, der so aussieht, als könnte er keiner
Fliege etwas zuleide tun.

Nie mit Krawatte, gern in Sandalen, das gehört zur Marke, genau wie das Fahrrad.
Gezeigt zu haben, dass hinter dieser Harmlosigkeit verströmenden Fassade der
ungebeugte linke Antinationalist steckt, der seine in Stein gemeißelten
Ressentiments gegen die USA und Israel pflegt, ist das Verdienst dieses Buches.
Den Panzer um die Privatperson Hans-Christian Ströbele hat Stefan Reinecke nicht
knacken können.

UPDATE: 5. April 2016

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Sonntag 10. April 2016 1:00 PM GMT+1


Staatsbesuch in Moskau;
Wie mir Putin einmal sehr tief in die Augen blickte

AUTOR: Joachim Lottmann

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1718 Wörter

HIGHLIGHT: Der Schriftsteller Joachim Lottmann ist im Tross des österreichischen


Außenministers nach Moskau gereist - und traf dort auf Lenins Leichnam, einen
ratlosen Präsidenten und Superluxus-Edeldirnen.

Wenn der junge österreichische Außenminister Sebastian Kurz ein Zimmer betritt,
ist es, als würde jemand das Licht anknipsen. Manche halten ihn bereits für den
Metternich des 21. Jahrhunderts oder zumindest für das größte politische Talent
unserer Zeit. Neben ihm im prunkvollen Saal des Kreml stehen letzten Mittwoch
Wladimir Wladimirowitsch Putin, Herrscher Russlands, und Dr. Heinz Fischer, der
Bundespräsident von Österreich. Das halbe Wiener Kabinett ist auch noch dabei -
man ist auf Staatsbesuch.

Die Präsidentenmaschine, eine Art "Airforce One", manche sprechen fein lächelnd
von der "Austrian One", ist prall gefüllt. Es gibt hier keine Betten,
Waschräume, Fernseher und Chill-Räume wie in Obamas Superflieger: Die Sitze
fühlen sich nur etwa halb so breit an wie bei Ryan Air. Hier fliegen Männer im
vorgerückten Alter. Es herrscht Bubenstimmung.

Fischer trifft Putin schon das siebente Mal. Die beiden mögen sich. Die
Wirtschaftssanktionen gegen Russland dürften beiden ein Ärgernis sein: so
undiplomatisch! Wien bekundet zwar seine Loyalität dazu, lässt aber hochrangige
Wirtschaftsvertreter mitfliegen. Ein Widerspruch.

Putin mag Österreich. Er fährt dort regelmäßig Ski und trifft dabei alte
Freunde. Der Bundespräsident weist auf das angeblich perfekte Deutsch des
Gastgebers hin. Gut möglich, dass das dezidiert feindlich gestimmte
Merkel-Deutschland kein Ort mehr für Putin ist, um zwanglos deutsch zu plaudern.
Umso lieber beschäftigt er sich mit Österreich, dem großen Verbündeten früherer
Jahrhunderte. Zusammen hat man Napoleon geschlagen und die Landkarte des
modernen Europas geschrieben. Die Rolle Wiens als Brücke zwischen Ost und West,
zwischen Russland und der EU wird gerade wiederbelebt .

Putin hatte darum gebeten, den Besuch noch vom alten Amtsinhaber Heinz Fischer
durchführen zu lassen, nicht vom neuen, der in zwei Wochen vom österreichischen
Volk gewählt wird. Man befürchtet dabei einen Rechtsruck. Beide Volksparteien
werden wohl die Stichwahl verpassen. Dann bleiben unwägbare Kandidaten übrig,
darunter eine Frau, die als ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes
besonders gesetzestreu auftritt: für Putin eine Horrorvorstellung.

Politik als Casting-Show

Nicht für Sebastian Kurz. Der Außenminister wäre der Profiteur der dann
ausbrechenden Regierungskrise, sagen die mitreisenden Journalisten. Aber die
offenbaren ein Politikverständnis, das wohl bei Casting-Shows gebildet wurde.
Immer geht es ihnen um Taktik und Strategie, vorteilhafte Darstellung,
geschicktes Verkaufen, ums "Gutrüberkommen". Wer sägt zum richtigen Zeitpunkt am
richtigen Stuhl? So denkt der Österreicher.

"In der Selbstinszenierung ist er wirklich gut", raunt anerkennend ein alter
Hase der - im Wortsinn - Hofberichterstattung. Dass Kurz es war, der maßgeblich
die Flüchtlingskrise löste, ist egal. Dass er besser spricht als jeder Politiker
und deshalb womöglich auch besser denkt - egal. "Der hat doch nur gute Berater
gehabt", hört man. Mit denselben Beratern ist sein Vorgänger eine Null
geblieben. "Der wollte einfach nur was für sein Image tun. Deshalb hat er die
Balkanroute geschlossen."

Sein Image war aber schon vorher gut. Achtzig Prozent Zustimmung in den
Umfragen. Die setzte er aufs Spiel, als er den berühmten Satz sagte, er werde
seine Politik nicht von hässlichen Bildern bestimmen lassen. Er schloss die
Grenze, die hässlichen Bilder kamen, und einige unterstellten ihm nun sofort, er
sei Rechtspopulist. Doch während diese immer in die Vergangenheit gucken, sieht
Kurz schon jetzt die Welt der nächsten Jahre, ihre Probleme - noch mehr
Anschläge, FailedStates und Flüchtlingswellen - aber auch noch mehr Chancen. Man
wird die Muslime gewinnen und lieben, wenn man sie vor dem politischen Islam
schützt.

"House of Cards" auf Russisch

An den ersten beiden Tagen lernt der deutsche Reporter das geradezu demütigende
Leben eines offiziellen Pressebegleiters kennen. Das besteht aus zwei Dingen:
Warten und von Sicherheitsleuten gecheckt werden. Wer glaubt, während eines
Staatsbesuches in Moskau werfe man einen Blick auf die Stadt, irrt. Man befindet
sich in der Welt der Security-Leute, die nicht anders aussehen als die
tätowierten Disco-Türsteher von Hamburg-Rahlstedt . Früher sprach man vom Reich
des Bösen. Heute wäre Reich der Kontrolle passender: des Wachpersonals, der
verdunkelten, schmutztriefenden Mittelklasse-Autos mit steinharter Federung, der
Metalldetektoren, Sicherheitsschleusen, der schlecht gelaunten Chauffeure,
Soldaten, Ausweise, Listen, der schweren Kameraausrüstungen, die von fetten
Mitarbeitern der Fernsehsender tagelang herumgeschleppt werden. Gefühlt 122 Mal
wird man überprüft, 80 Prozent des Tages gehen mit Warten verloren. Wartet man
auf Putin, ist man zurückversetzt in den Zustand eines 13-Jährigen, der vor dem
Eingang einer Rock-Arena campiert, um einen sekundenkurzen Blick auf seinen Star
zu erhaschen, am Ende gar Justin Bieber .

Nein, so schlimm kann es dann doch nicht kommen. Putin zu sehen entschädigt für
vieles. Direkt nach dem Besuch des Lenin-Mausoleums, dem einzigen touristischen
Ereignis der mehrtägigen Reise, fällt das Wächserne und scheinbar Ausgestopfte
an ihm natürlich besonders auf. Dem widerspricht allerdings seine gar nicht
"tote" Körpersprache. Erst hängt er schief im Stuhl, die Beine breit von sich
gestreckt, wie ein sich langweilender Bub beim Festbankett. Wenn er aufsteht,
bleibt er breitbeinig und fast vulgär, wie Lars Mikkelsens Putin in "House of
Cards". Er hat kleine Äuglein, aus denen er eher bedripst guckt. Überhaupt wirkt
er nicht schlitzohrig, sondern, wie gesagt, eher sorgenvoll. Erst Stunden ist es
her, dass die Panama Papers mit den Namen seiner besten Freunde veröffentlicht
wurden. Sicher macht ihm der Zustand seines Landes noch mehr Kopfzerbrechen.

Manchmal wirkt er nur frustriert, dann wieder wie der kleine Junge, der etwas
ausgefressen hat. Rotgesichtig und pausbäckig lässt er die aussagelosen Floskeln
seines Gastes über sich ergehen. Man sieht förmlich den dicken Viertklässler vor
sich, der im Sommer immer auf dem Schulhof geärgert wurde. Dann wagt er einen
Protokollbruch und spricht, gegen die Absprache, die Sanktionen an, die seinem
Land so schadeten. Dafür redet der Bundespräsident von Syrien, der Ukraine und
damit indirekt auch von der Annexion der Krim. Fast atmet man auf: doch noch ein
Wort außerhalb der Es-war-eine-freundschaftliche-Atmosphäre-Selbstverstä
ndlichkeiten .
Ein Macho, dieser schwer belastete Mann?

Wieder fallen Putins Sorgenfalten auf, sein fast ängstliches Gesicht. Auch
seiner Stimme fehlt alle führerhafte Rhetorik. Ein Macho, dieser schwer
belastete Mann? Im Gegensatz zu Heinz Fischer, der sich wie auf Rollen durch die
Räume bewegt und in sich ruht wie eine Glasmurmel, sieht sich Putin die
mediokren Gäste genau an. Sein Blick bleibt auch beim deutschen Reporter hängen.
Ein paar Sekunden lang sehen sich zwei ratlose Zeitgenossen in die Augen. Putin,
der die Geschichte genau kennt und weiß, dass die Krim so russisch ist wie die
Wartburg deutsch, hat sich von den vergangenheitsverliebten Österreichern etwas
versprochen. Ob er es bekommen hat?

Die Karawane zieht weiter. Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten.


Empfang zu Ehren des Bundespräsidenten in der österreichischen Botschaft mit der
gesamten Delegation sowie Auslandsösterreichern und "russischen
Persönlichkeiten". Arbeitsgespräch mit dem Vorsitzenden der Staatsduma.
Arbeitsgespräch mit Premierminister Dmitri Medwedew. Die Presse wartet
währenddessen immer in einem heillos überfüllten Nebenraum, stundenlang
schwitzend und nach Luft schnappend, um danach ein paar Formelsätze in die
Redaktion kabeln zu dürfen. "Das Treffen verlief herzlich", "Es herrschte
Einigkeit darüber, dass es besser sei, miteinander zu reden, als es nicht zu
tun". Gähn!

Der Große Staatsempfang ist auch nicht mehr so glanzvoll wie der Wiener
Kongress. Die vielen Uniformen irritieren, aber nur, weil ihre Träger darin so
unpassend aussehen. Die sitzen einfach nicht, diese Stoffe. Irgendwie müssten
sich die Militärs anders bewegen, schneidiger, fitter, selbstbewusster. Nicht
wie Heinz Erhardt in den Sechzigerjahren. Und es gibt keine Musik, keinen
Walzer, keine Tanzpaare. Wo sind die Frauen der angeblich so wichtigen Männer?
Aber, immerhin, haargenau in der Mitte des Saals, wie vom Computer ausgerechnet,
steht dann wieder höchst wirkungsvoll der Außenminister. Selbst Ronaldo würde
dagegen verblassen. Die großen freundlichen, manchmal schwermütigen Augen, die
gesunde Babyhaut, die scharf geschnittenen Lippen, die vitalen, üppigen, in der
strengen Frisur gebändigten Haare, der perfekte schwarze Anzug: "Liftboy", ätzen
die Neider.

Bordellwitze im Zuckerbäckerbau

Die Radisson-Kette hat sich das ehrwürdigste und größte Hotelgebäude geschnappt
und mit allem verfügbaren Geld veredelt. Der nachts angestrahlte
Zuckerbäcker-Prachtbau funkelt nun wie der Sitz eines Lustgottes. Schon im Lift
rennt der Schmäh, und die ersten Bordellwitze fallen. "Ich war schon vor 15
Jahren da, und die Huren standen rauf bis zum fünften Stock", gluckst einer der
späten Buben. Nun wird klar, warum keine Frauen mitreisen.

Im 31. Stock trifft man sich in der "Mercedes Bar". Der Blick auf Moskau ist
herrlich, auch auf die verstreut herumsitzenden Superluxus-Edeldirnen. Auf den
Satz "Darf ich Ihnen etwas Geld geben?" würde so eine wohl sagen "Ich will kein
Geld. Ich will eine Yacht!" Der Bundespräsident geht früh zu Bett, der
Außenminister nicht. Man kann mit ihm zwanglos über alles reden. Aber nicht zu
zweit. So macht Kurz den Vorschlag, am nächsten Tag gemeinsam zum Flughafen zu
fahren. So geschieht es. Eine Stunde, die Spaß macht.

Auf dem Rückflug in der "Austrian One" ist endlich auch der Bundespräsident reif
für einen intimen Gedankenaustausch. Er sagt zum Beispiel, er habe mit Putin die
Tour d'horizon gemacht, zwanzig, dreißig Mal sei das Gespräch hin- und
hergesprungen, spontan und lustvoll, über Länder, Mächte, Interessen, Themen,
über Asien, Europa und Amerika. Putin sei da zum Glück "nicht so sehr
strukturiert" wie andere Staatsoberhäupter.

Das hat der gute Putin wohl mal wieder gebraucht, so eine Tour d'horizon. Wie
übrigens alle Menschen, auch arme, wartende Journalisten.

Joachim Lottmann ist ein deutscher Schriftsteller, der in Wien lebt. Dieser Tage
erscheint sein Roman "Hotel Sylvia".

UPDATE: 10. April 2016

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Mittwoch 13. April 2016 12:28 AM GMT+1

Mentale Erkrankungen;
Weltweit leiden 615 Millionen Menschen an Depressionen

RUBRIK: GESUNDHEIT; Gesundheit

LÄNGE: 201 Wörter

HIGHLIGHT: Weltweit leiden fast zehn Prozent der Menschen an Depressionen und
Angstzuständen. Das teilt die WHO mit. In Krisenzeiten könne der Anteil weiter
steigen. Der wirtschaftliche Schaden ist enorm.

Fast zehn Prozent der Menschen leiden laut der Weltgesundheitsorganisation unter
Depressionen oder starken Angstzuständen. Im Jahr 2013 seien rund 615 Millionen
Menschen betroffen gewesen, teilten die WHO und die Weltbank am Mittwoch in
Washington vor Beginn einer zweitägigen Konferenz über mentale Krankheiten mit.

Depressionen verursachten wirtschaftliche Schäden in Höhe von 1.000 Milliarden


US-Dollar jährlich, etwa durch Fehlzeiten im Job, Produktionsausfälle von
Unternehmen und Unfälle der Mitarbeiter. WHO-Generaldirektorin Margaret Chan
verlangte bessere Behandlungsmöglichkeiten der Betroffenen. Allen Männern,
Frauen und Kindern mit Depressionen müsse medizinisch geholfen werden. Im Jahr
1990 hätten schätzungsweise 416 Millionen Menschen Depressionen durchlebt oder
sie seien von Angstzuständen geplagt gewesen.

Die Länder wendeten im Durchschnitt nur drei Prozent ihres Gesundheitsbudgets


für die Behandlung mentaler Krankheiten auf. In armen Ländern liege der Anteil
oft nur bei weniger als einem Prozent, hieß es. In Krisen und Konflikten wie in
Syrien steige die Zahl der betroffenen Menschen. In diesen Situationen litten
bis zu 20 Prozent der Bevölkerung unter Depressionen und Angstzuständen.

UPDATE: 13. April 2016

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Montag 18. April 2016 6:30 AM GMT+1

Asylanträge in Deutschland;
Noch immer kommen Zehntausende vom Westbalkan

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 902 Wörter

HIGHLIGHT: Über 40.000 Asylanträge von Menschen vom Westbalkan sind 2016
möglich. Zwar sind das deutlich weniger als zuvor - doch nach wie vor befeuern
finanzielle Anreize den Wunsch, nach Deutschland zu kommen.

Trotz geringer Chancen auf Asylanerkennung zieht es noch immer Zehntausende


Menschen vom Westbalkan nach Deutschland. Nach Angaben des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) stammten im ersten Quartal des laufenden Jahres
10.206 Asylanträge von Menschen aus dieser Region.

Daraus lässt sich ableiten: Auf das Jahr hochgerechnet könnten auch 2016 wieder
mehr als 40.000 Asylanträge von Bürgern der sechs Staaten (Albanien, Kosovo,
Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro) in Deutschland gestellt
werden. Das wären rund 100.000 weniger als im vergangenen Jahr.

Allerdings liegen die Antragszahlen 2016 noch deutlich über dem Niveau der Jahre
nach dem Kosovokrieg 1999 bis 2013. Die Staaten des Westbalkans sind ein
zentrales Herkunftsgebiet von Schutzsuchenden in Deutschland. 1994 war die
Bundesrepublik das Hauptzielland der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und
Herzegowina mit etwa 350.000 Personen.

1998 und 1999 hatte der Kosovokrieg zu jeweils fast 60.000 Asylanträgen geführt.
Nach Ende der Kampfhandlungen sanken die Antragszahlen vom Westbalkan bis 2008
und 2009 in Deutschland mit jeweils unter 5000 auf das geringste Niveau seit
Jahrzehnten. Allerdings schnellten sie infolge der Aufhebung der Visumpflicht
für Bürger Mazedoniens, Montenegros und Serbiens (2009) sowie Albaniens und
Bosnien-Herzegowinas (2010) wieder in die Höhe.

Existenzminimum in der Höhe des Hartz-IV-Satzes

Eine direkte Verbindung zwischen Visumliberalisierung und Anstieg der


Asylantragszahlen sah auch die EU-Kommission, die die betreffenden
Westbalkanstaaten aufforderte, ihre Bürger über die Situation aufzuklären, um
den Missbrauch der Visumfreiheit zu vermeiden.

Seit 2010 ist Deutschland durchgängig mit weitem Abstand vor Frankreich das
beliebteste Ziel von Asylbewerbern aus diesen Ländern. Insbesondere gilt dies
seit Herbst 2012. Vorangegangen war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
Juli 2012, mit dem Asylbewerbern unter Berufung auf die Menschenwürde ein
Existenzminimum in der Höhe des Hartz-IV-Satzes zugesprochen wurde.

Weil sich in den darauffolgenden Monaten die Zahl dergestellten Asylanträge aus
Westbalkanstaaten vervielfachte, argumentierten die Bundesregierung und die
kommunalen Spitzenverbände, dass die Erwartung höherer Geldleistungen infolge
des Verfassungsgerichtsurteils für die Zunahme verantwortlich sei.

Stieg die Zahl 2013 auf rund 38.000 Anträge, waren es 2014 schon rund 63.000,
bis die Situation im vergangenen Jahr eskalierte und mehr als 144.000
Asylanträge gestellt wurden. Besonders extrem war die Auswanderung von Albanern,
deren Asylanträge stiegen im Vergleich zu 2014 um 584 Prozent.

Doch offensichtlich blieben die deutlichen Signale aus Deutschland nicht


ungehört: Schnelle Asylverfahren in speziellen Aufnahmezentren, die Erklärung
der Westbalkanländer zu sicheren Herkunftsstaaten, mehr Abschiebungen wie auch
die Kontrollen an den Binnengrenzen führten zu einem starken Rückgang.

Im ersten Quartal 2015 stellten Bürger der Westbalkanstaaten noch rund 60


Prozent der Asylbewerber, in diesem Jahr waren es im Vergleichszeitraum noch
rund fünf Prozent. Verglichen mit der Situation im vergangenen Jahr, hat sich
die Lage beruhigt. Im Vergleich zu den Jahren vor 2013 käme man zu einem anderen
Urteil.

Auch die ethnische Zusammensetzung hat sich verändert. Bis Ende 2014 stellten
Roma die Mehrzahl der Asylbewerber. Hauptgründe für ihre Abwanderung waren der
oft niedrige Lebensstandard und die gesellschaftliche Marginalisierung. Im
vergangenen Jahr suchten dann vermehrt Angehörige anderer Volksgruppen Asyl.

Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland

Interessant ist auch der besonders hohe Anteil von Asylfolgeanträgen (etwa jeder
siebte) unter den Bürgern des Westbalkans. Ein Grund liegt in der niedrigen
Schutzquote, nicht einmal jeder hundertste Asylantrag dieser Staatsangehörigen
ist erfolgreich, weswegen sie eine geringe Bleibeperspektive haben. Mit dem
Stellen eines Folgeantrags nach Ablehnung des Erstantrags verlängert sich der
Aufenthalt in Deutschland.

Außerdem sind die vielen Asylfolgeanträge auch in dem hohen Zuzug aus diesen
Herkunftsländern in der Vergangenheit begründet. Das BAMF teilte der "Welt" mit:
"Wenn Personen damals einen Erstantrag in Deutschland gestellt haben, nach
einiger Zeit zurück ins Herkunftsland ausgereist sind, jetzt wieder nach
Deutschland kommen, um einen Asylantrag zu stellen, dann zählt dieser als
Folgeantrag."
Weitere wichtige Herkunftsländer von Asylsuchenden waren von 1986 bis 1994
osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Die Türkei
zählte durchgängig von 1986 bis 2011 zu den Staaten, aus denen die meisten
Schutzsuchenden nach Deutschland kamen. Die Russische Föderation war von 2000
bis 2013 ein Hauptherkunftsland - besonders aus den nordkaukasischen
Teilrepubliken Tschetschenien und Dagestan kamen viele Asylbewerber.

Von den asiatischen Staaten sind seit Mitte der 80er-Jahre Afghanistan, Iran und
ab 1995 auch der Irak fast durchgängig unter den Hauptherkunftsländern. Auch
Syrien, das im vergangenen Jahr mit 163.000 und im ersten Quartal 2016 mit
89.000 Asylanträgen mit großem Abstand die Liste anführt, gehört schon seit 1998
nahezu ununterbrochen zu den Hauptherkunftsländern.

In Afrika und der arabischen Welt verteilten sich die Asylantragssteller auf
viele verschiedene Staaten. In den vergangenen Jahren kamen besonders viele
Asylbewerber aus Somalia und Eritrea.

UPDATE: 18. April 2016

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Montag 18. April 2016 9:34 AM GMT+1

Salafismus;
Schulen im Visier islamistischer Verführer

AUTOR: Philipp Woldin

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 925 Wörter

HIGHLIGHT: Bei Schülern auf Sinnsuche greifen die simplen Botschaften und die
Unterteilung in Gut und Böse des islamistischen Extremismus bestens. Hamburgs
Linke fordert ein aktiveres Gegensteuern der Schulen.

Jungs, die andere auf ihr "unislamisches" Verhalten hinweisen und in Pluderhosen
in den Unterricht kommen. Mädchen, die sich voll verschleiern und Gräuelvideos
per WhatsApp tauschen. Schüler, die mit ihrem bisherigen Leben brechen und in
den Krieg zum IS ziehen. Das sind Extremfälle, die aber wieder vorkommen.
Jugendliche stehen im Fokus der islamistischen Verführer; bei Schülern auf
Sinnsuche greifen ihre simplen Botschaften und die Unterteilung in Gut und Böse
bestens. Immer öfter werden solche Fälle bekannt. Die Linksfraktion hat an
Hamburger Schulen ein Problem mit islamistischen Extremismus ausgemacht. "Wenn
sich Schülerinnen und Schüler radikalisieren, muss das Problem auch in Schulen
angegangen werden", sagt Cansu Özdemir, sozialpolitische Sprecherin der
Fraktion. Der Senat habe bis heute kein Erfolg versprechendes Konzept vorgelegt,
um Schulen bei der Auseinandersetzung mit dem Salafismus zu helfen. Deshalb
bringt die Fraktion einen Antrag, der der "Welt" vorab vorliegt, in die nächste
Bürgerschaftssitzung am 27. April ein. Ein Paket aus Maßnahmen soll helfen, den
Radikalismus an Schulen zurückzudrängen.

Dschihadismus als Unterrichtsthema

Im Antrag heißt es: Aufklärungen und Schulungen sowohl für Lehrer und Schüler
finden lediglich punktuell statt, das für solche Fälle zuständige Landesinstitut
für Lehrerfortbildung (LI) werde lediglich in Einzelfällen oder bei konkretem
Verdacht einbezogen. Die Linke dagegen fordert "verbindlich stattfindende
Fortbildungen und Weiterqualifizierungen des gesamten Lehrkörpers" zum Thema.
"Lehrerinnen und Lehrer müssen sowohl für den Umgang mit der Thematik
flächendeckend geschult werden, als auch den Schülerinnen und Schülern mehr
Gelegenheiten einräumen, über Probleme wie strukturelle Benachteiligung zu
sprechen", sagt Özdemir.

Es fehle das geeignete Forum in der Schule, um über das Thema intensiv zu
diskutieren. Deshalb sei es sinnvoll, das Thema Radikalisierung und
Dschihadismus in Unterrichtseinheiten der Fächer Ethik, Philosophie und Religion
zu behandeln, damit zum einen die Debatte versachlicht werde, und zum anderen
Schülerinnen und Schüler eine ethische Einordnung dieser Ideologie vornehmen
könnten.

Der Hamburger Senat hat im Oktober 2014 ein breites Maßnahmenpaket gegen
Salafismus beschlossen, das bekannteste Projekt ist die Deradikalisierungsstelle
legato, die seit Juli 2015 Angehörige von radikalisierten Jugendlichen betreut.
Die Beratungsstelle Gewaltprävention der Schulbehörde bietet Beratung bei
Einzelfällen beziehungsweise Unterstützung in der konkreten Fallarbeit.

Trotz aller Maßnahmen: In Drucksachen beschreiben die Behörden eine ihnen


unbekannte Zahl von jungen Menschen, die zwar noch keine Straftaten begangen
hätten, sich aber in einem Prozess der Entfremdung und der Radikalisierung
befänden - mit unbekanntem Ausgang. "In der Schule fallen diese Jugendlichen
etwa dadurch auf, dass sie sich im Unterricht über angeblich unislamische
Verhaltensformen ereifern, Angehörige spüren oftmals eine zunehmende
Distanzierung gegenüber der Familie", heißt es da. Und manchmal reichen dann
auch alle Angebote nicht aus, wie im Fall Bilal.

269 gewaltbereite Dschihadisten leben in Hamburg

Das Schicksal des Hamburger Salafisten war Ende März öffentlich geworden, der
Verfassungsschutz veröffentlichte eine letzte Audiobotschaft des 17-Jährigen,
die dieser über das Internet an seine Glaubensbrüder in Hamburg geschickt hatte.
Es war eine Abrechnung mit dem IS, eine Warnung. Für ihn kommt die Einsicht zu
spät, zwei Monate nach seiner Ausreise ist Bilal tot.

Laut Verfassungsschutz hatte Bilal bereits mit 14 Jahren Kontakt zur


salafistischen Szene bekommen. Auch in diesem Fall hatten die Behörden viel
versucht, um ihn zu retten. Bereits im Frühjahr 2012 hätten Bilals Lehrer "ein
Verhalten beobachtet, das eine hohe Affinität zu radikalem religiösen
Gedankengut vermuten ließ", heißt es in der Antwort des Senats auf eine
AfD-Anfrage. Die Schulleitung sei darüber informiert worden. Im April habe man
Kontakt zu einem Jugendhilfeträger aufgenommen, es gab Gespräche mit der Mutter,
dazu Workshops in der Klasse, außerdem habe man einen Runden Tisch eingerichtet,
es gab eine Fortbildung des Lehrerkollegiums.

Nachdem Bilal im August 2014 oft im Unterricht gefehlt hatte, habe man "umgehend
Gespräche mit ihm geführt", heißt es in der Senatsantwort. Dann reißt der
Kontakt ab, ab April 2015 ist er nicht mehr erreichbar. "Aufgrund der Vielzahl
unterschiedlicher, zum Teil nicht beeinflussbarer Faktoren" sei es nicht in
jedem Einzelfall möglich, eine Radikalisierung zu verhindern, heißt es in der
Antwort weiter. 269 gewaltbereite Dschihadisten leben aktuell in Hamburg, das
ergibt sich aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Abgeordneten Anna
von Treuenfels von Anfang März. Darunter sind fünf Jungen und drei Mädchen unter
18 Jahren. Seit 2015 sind laut Senat elf Personen nach Syrien und in den Irak
ausgereist, nur eine Person ist zurückgekehrt.

Unterdessen hat Hamburgs Schulbehörde auf eine Reihe von Anfragen zum
Schulbesuch reagiert. "Keine Schülerin und kein Schüler darf in Hamburg aus
religiösen Gründen dem Unterricht fernbleiben. Wer es dennoch tut, verstößt
gegen die Schulpflicht und bekommt entsprechende Konsequenzen zu spüren", stellt
Ties Rabe klar. Dazu zählen für den Schulsenator Elterngespräche,
disziplinarische Maßnahmen, Bußgelder und Gerichtsverfahren. Eine Abfrage an
Hamburgs Schulen zeigt, dass es aber keine auffälligen Unterschiede zwischen dem
Schulbesuch muslimischer und nichtmuslimischer Kinder und Jugendlichen gibt.

UPDATE: 18. April 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Dienstag 19. April 2016 10:59 AM GMT+1

Kriminalpolizei;
"Gated Communitys beobachten wir mit Sorge"

AUTOR: Manuel Bewarder

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1383 Wörter

HIGHLIGHT: Nicht einmal 20 Prozent der Einbrüche werden in Deutschland


aufgeklärt. Reiche schließen sich nun häufiger in sicheren Wohnanlagen zusammen.
Kriminalbeamte warnen davor und erklären ihre Ohnmacht.

Die Welt: Herr Schulz, wurde bei Ihnen schon einmal eingebrochen?

André Schulz: Nein, zum Glück noch nicht. Auch in meinem Freundes- und
Bekanntenkreis wurde bisher niemand Opfer eines Einbruchs.

Die Welt: Die Zahl der Wohnungseinbrüche und -versuche ist im vergangenen Jahr
erneut gestiegen. Warum bekommt man das Problem nicht in den Griff?

Schulz: Eine Vorbemerkung zur Einordnung: In den 90er-Jahren hatten wir


deutlich höhere Zahlen als heute. Ich will damit aber das Problem nicht
kleinreden. In Deutschland gibt es 41 Millionen Haushalte und damit 41 Millionen
mögliche Tatobjekte.

Ein großes Problem ist, dass dieses Delikt schwer aufzuklären ist, weil es am
Tatort oft nur wenige Spuren und selten Zeugen gibt. Es passiert zudem nur sehr
selten, dass man Täter auf frischer Tat erwischt und festnehmen kann.

Die Welt: Gibt es den einen Einbrechertyp?

Schulz: Es gibt nicht den einen Täter. Es gibt Jugendliche, die einbrechen.
Dann haben wir Berufseinbrecher, die teilweise seit Jahrzehnten professionell
einsteigen. Groß ist auch das Feld bei der Beschaffungskriminalität. Hier gibt
es nicht nur Drogensüchtige, die Geld für Rauschgift brauchen, sondern
interessanterweise auch Spielsüchtige, die mit Einbrüchen ihre Sucht
finanzieren. Dazu kommen dann noch Täter, die aus dem Ausland zu uns kommen und
dabei von der Freizügigkeit in Europa profitieren.

Die Welt: Die Politik will das Problem angehen. Vor allem setzt man darauf, den
Einbau von Einbruchsschutz finanziell zu fördern. Was halten Sie davon?

Schulz: Die Politik tut lediglich so, also ob sie das Problem aufgegriffen hat.
Das ist aber leider nicht so.

Die Welt: Einbruchsschutz bringt nichts?

Schulz: Doch. Es ist natürlich ein erheblicher präventiver Faktor, ob Fenster


und Türen gut geschützt sind. Es ist für Täter verlockend, wenn sie
voraussichtlich nur wenige Sekunden brauchen, um einzudringen. Wenn sie dagegen
für das Aufbrechen zwei oder drei Minuten benötigen, dann lassen sie es.

Viele Einbruchsversuche werden nach ein paar Sekunden bereits wieder


abgebrochen. Besserer Schutz der Eigenheime ist übrigens auch ein Grund für die
steigenden Zahlen, da viele Taten bereits im Versuchsstadium enden.

Die Welt: Die Kreditanstalt für Wiederaufbau fördert den besseren Schutz
bereits mit 200 bis 1500 Euro - insgesamt müssen aber mindestens 2000 Euro
investiert werden, um eine Förderung zu erhalten. Was denken Sie darüber?

Schulz: Weil die finanzielle Schwelle so hoch ist, kommt der normale Bürger,
der nachrüsten will, in der Regel nicht in den Vorzug dieser Förderung. Das
Angebot lohnt eher bei Neubauten oder Komplettsanierungen.

Die Welt: Viele Einbruchsopfer haben das Gefühl, dass die Polizei mehr
unternehmen könnte, um die Täter zu fassen.

Schulz: Das könnte sie auch, wenn die personellen und materiellen Ressourcen
vorhanden wären. Gerade in Flächenländern passiert meist nicht viel mehr als der
sogenannte Beileidsbesuch. Der Streifenwagen kommt und bestätigt lediglich, dass
eingebrochen wurde. Ein oder zwei Wochen später bekommen viele Opfer dann ein
Schreiben von der Staatsanwaltschaft, dass kein Täter ermittelt werden konnte
und das Verfahren eingestellt wurde.

Kriminalistisch hätte man davor viel mehr unternehmen können, ja müssen. Polizei
und Justiz unternehmen weniger, als sie sollten, da die Rahmenbedingungen für
erfolgreiche Arbeit nicht stimmen. Selbstverständlich könnte man die
Aufklärungsrate von nicht einmal 20 Prozent deutlich in die Höhe schrauben. Dazu
braucht man allerdings mehr Personal und eine bessere Ausbildung.

Die Welt: SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt mit Blick auf die innere Sicherheit: Nur
die Reichen können sich einen armen Staat leisten. Er wolle nicht, dass sich in
Deutschland Gated Communitys etablierten, also hermetisch abgeschlossene
Viertel. Wie klingt das in Ihren Ohren?

Schulz: Es gibt in Deutschland bereits Gated Communitys für Wohlhabende. Man


verspricht sich davon Prestige, aber auch einen Gewinn an Sicherheit. Wir
beobachten diese Entwicklung mit Sorge.

Es darf nicht sein, dass sich nur Reiche Sicherheit einkaufen können. Wer kein
Geld hat, muss sich trotzdem sicher fühlen können. Hier muss der Rechtsstaat
aufpassen und zeigen, dass er handlungsfähig ist. Der Staat darf sich nicht noch
weiter aus dem Leben der Bürgerinnen und Bürger herausziehen.

Die Welt: Die Regierung hat umfangreiche Maßnahmen beschlossen, um die


Sicherheit zu erhöhen und den Kampf gegen den Terror erfolgreich zu führen.
Richtig so?

Schulz: Trotz der hohen Terrorbedrohung dürfen wir nicht in Panik verfallen,
auch wenn sich Europa derzeit im Krisenmodus befindet. Bei
Gesetzesverschärfungen müssen wir ganz genau abwägen, was sinnvoll ist - und wo
der Eingriff in die Grundrechte der Bürger zu weit geht. Es ist wichtig, dass
wir den Austausch von Daten, die oftmals bereits vorhanden sind, in Europa
verbessern.

Wenn wir andere Nationen aber kritisieren, sollten wir nicht vergessen, dass der
Datenaustausch derzeit selbst zwischen den deutschen Behörden nicht gut
funktioniert: Landesgrenzen sind für uns bislang auch Informationsgrenzen.

Die Welt: Was halten Sie davon, dass künftig gleich mehrere Namensvarianten von
Verdächtigen gespeichert werden. Etwa Schulz, Schultz oder Scholz. Geraten damit
nicht auch Unverdächtige ins Visier?

Schulz: Ich sehe das gelassen. Bereits heute werden in einer Kriminalakte
durchaus Alias-Namen aufgeführt. Ich halte den Vorschlag, diese Informationen
auszutauschen, für sinnvoll. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Person
verschiedene Namen benutzt, dann sollten wir sie auch unter verschiedenen Namen
suchen.

Die Welt: Am Mittwoch entscheidet das Bundesverfassungsgericht über das


BKA-Gesetz. Die Beamten dürfen gegen mutmaßliche Terroristen derzeit Wohnungen
verwanzen oder mit Trojanern auf Computer zugreifen. Die Grünen sprechen von
einem Bürgerrechtskiller. Sie auch?

Schulz: So weit gehe ich nicht. Der Bürger hat einen verfassungsrechtlichen
Anspruch darauf, dass der Staat in der Lage ist, Straftaten zu verfolgen und die
Bevölkerung zu schützen. Ich halte es für hysterisch, wenn immer gleich mit der
Keule "Überwachungsstaat" geschwungen wird. Die Polizei ist kein Ausspähorgan!

Wir unterscheiden derzeit vielmehr noch zu sehr zwischen analoger und digitaler
Welt, wo vieles nicht erlaubt ist. Wir machen uns hier künstlich blind. Ich bin
mir aber sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auch in der
digitalen Welt solche Maßnahmen ergreifen, die in der analogen Welt schon längst
erlaubt sind.

Die Welt: Sind einschneidende Gesetze zu rechtfertigen, wenn ein Bundestrojaner


kaum etwas kann, wie gerade herausgekommen ist?

Schulz: Die Sicherheitsbehörden dürfen vieles in der analogen Welt, was sie in
der digitalen nicht dürfen. Wir dürfen bei entsprechender Verdachtslage
Telefonüberwachungen durchführen, das gesprochene Wort aufzeichnen,
Videoaufnahmen fertigen und sogar Post beschlagnahmen. Warum dürfen wir das in
der digitalen Welt nicht?

Ich wundere mich immer, dass die Justiz dieses Zwei-Klassen-Rechtssystem duldet,
und warte auf den längst überfälligen Aufschrei. Wir brauchen in Deutschland die
längst überfällige Grundsatzdiskussion in Sachen Datenschutz in einer
digitalisierten Gesellschaft. Ich möchte die notwendigen Daten und Informationen
offen und transparent durch die Vordertür und nicht mittels selbst gebasteltem
Trojaner im Graubereich durch die Hintertür erlangen.

Die Welt: Inwieweit steht die Flüchtlingskrise vor allem im vergangenen Jahr
mit der Terrorgefahr in Verbindung?

Schulz: Man neigt dazu, alles zu vermengen. Aber: Grundsätzlich darf man beide
Dinge nicht vermischen. Wir haben es auf der einen Seite mit einer humanitären
Katastrophe zu tun, wenn Millionen vor dem Bürgerkrieg in Syrien, Irak und
Afghanistan flüchten.

Dass sich auch Terroristen unter die große Masse von Flüchtlingen gemischt
haben, was nachweislich der Fall war, stellt die Sicherheitsbehörden vor eine
besondere Herausforderung. Wir sollten daraus aber nicht schließen, dass sich
die Terrorgefahr durch den Flüchtlingsstrom erhöht hat.

Die Welt: Warum?

Schulz: Täter radikalisieren sich oftmals in ihrer Heimat. Sie werden zu


Terroristen, ohne Europa jemals verlassen zu haben. Und spätestens mit Schaffung
des Schengen-Raumes haben wir die Kontrolle darüber verloren, wer sich bei uns
wo genau aufhält.

UPDATE: 19. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Samstag 2. Januar 2016

Neue deutsche Härte;


Noch nie kamen so viele Asylsuchende in die Bundesrepublik wie 2015. Das soll
nicht so weitergehen. Deshalb plant die Union schärfere Regeln

AUTOR: Manuel Bewarder

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 1

LÄNGE: 993 Wörter

Das Wort-Ungetüm, das vielen auch als das wichtigste Gesetz des Jahres gilt, ist
35 Buchstaben lang: "Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz" heißt es im
Bundesgesetzblatt. Viel lässt sich bereits aus dem Namen schließen: Asylgesuche
sollen viel schneller als bisher entschieden werden. Dahinter steht eine
Absicht: Die Zahl der Flüchtlinge soll zurückgehen.

Noch nie kamen so viele Asylsuchende nach Deutschland wie 2015. Rund eine
Million in einem Jahr. Einen genauen Überblick hat noch niemand. Beiden
Regierungsparteien aber ist klar, dass eine ähnliche Größenordnung an Personen
nicht Jahr für Jahr aufgenommen werden kann - jedenfalls dann nicht, wenn die
Menschen ordentlich untergebracht und integriert werden sollen.

Weil eine Obergrenze in der Praxis kaum ohne Anwendung von Gewalt (will niemand)
oder eine Änderung des Asylrechts (will kaum jemand) umzusetzen ist, haben sich
Union und SPD für deftige Asylverschärfungen entschieden. Maßnahmen, die sonst
wohl kaum eine Aussicht auf Umsetzung gehabt hätten, wurden im Eiltempo auf den
Weg gebracht. Deutschland soll den Flüchtlingen madig gemacht werden. Wenn das
gelingt, wäre selbst die löchrige EU-Außengrenze kein großes Problem mehr, hofft
man. Das ist deshalb Plan A. Ihn kann man wenigstens selbst bestimmen. Aber
funktioniert er auch?

Die Asyl- und Einwanderungspolitik ist eines der großen Streitthemen zwischen
Union und SPD. Schon in den Koalitionsverhandlungen flogen 2013 die Fetzen. Die
Sozialdemokraten wollten den Doppelpass erheblich ausweiten. Die Union dagegen
wollte abgelehnte Asylbewerber schneller loswerden und Asylanträge vom
Westbalkan im Regelfall ablehnen. Wie üblich in der Politik einigte man sich
irgendwo in der Mitte.

Meist klappt dieses Durchwurschteln ja auch. Doch nun haben wir es mit den
größten Flüchtlingszahlen seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Auch wenn niemand
mit diesem Ausmaß gerechnet hat - im Nachhinein sieht es wie ein Punktsieg für
die Union aus. "Es war bereits vor zwei Jahren klar, dass wir die Anreize für
Einwanderer ohne Aussicht auf Asyl deutlich senken müssen", sagt Armin Schuster
(CDU), Obmann der Unionsfraktion im Innenausschuss, im Rückblick. Mit dem
sogenannten ersten Asylpaket habe man umgesetzt, was die Union schon lange
gefordert habe.

Die Liste der sicheren Herkunftsstaaten vom Westbalkan wurde zum Beispiel
erweitert und viele Asylbewerber erhalten zunächst vor allem Sachleistungen und
kein Bargeld. "In den ersten drei Quartalen hat sich bitter gerächt, dass wir
das mit der SPD nicht schon längst anpacken konnten", sagt Schuster. Es sei
schade, dass SPD und Grüne "nur über Schmerzen gelernt haben".
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zum Beispiel
habe "erst zugestimmt, als das Problem unmittelbar vor seiner Haustür
auftauchte".

Schuster legt damit den Finger in die Wunde der Grünen. Nach langen
Verhandlungen hatte Kretschmann im vergangenen Jahr das für viele in seiner
Partei Unmögliche getan: Er stimmte der Ausweitung der Liste der sicheren
Herkunftsstaaten zu. Vor allem das Kanzleramt hat lange darum gerungen und viele
Versprechungen gemacht, zum Beispiel die flächendeckende Einführung einer
Gesundheitskarte für Flüchtlinge. Damit sollte der Aufwand für einen Arztbesuch
drastisch reduziert werden. Erst wenige Stunden vor der entscheidenden
Abstimmung im Bundesrat gab Kretschmann seine Entscheidung bekannt.

Doch nicht nur viele Grüne, sondern auch Sozialdemokraten haben Bauchschmerzen
angesichts der Verschärfungsoffensive. "Ich glaube, dass es uns gelungen ist,
trotz für uns als SPD durchaus schmerzlicher Verschärfungen, das deutsche
Asylsystem auf die besonderen Herausforderungen anzupassen", sagt
SPD-Innenexperte Uli Grötsch. Er verweist darauf, was seine Partei im Gegenzug
erreichen konnte: Die Übernahme des Löwenanteils der Kosten für die Kommunen bei
Unterbringung und Versorgung sei notwendig gewesen, sagt Grötsch.

Eine erste Bilanz der Asylverschärfungen fällt durchwachsen aus: Es stimmt, dass
die Zahl der Zuwanderer vom Westbalkan im Laufe des Jahres drastisch
zurückgegangen ist. Doch selbst im November, als das "Asylpaket I" bereits in
Kraft getreten war, kamen etwa 200.000 Asylsuchende - und damit etwa 20.000 mehr
als im Vormonat.

Die große Koalition hat bereits Gesetzespaket Nummer zwei geschnürt. Unter
anderem sollen abgelehnte und unmittelbar ausreisepflichtige Asylbewerber
schneller und ohne vorherige Ankündigung abgeschoben werden. Doch das Kabinett
hat noch nicht darüber entschieden. Die SPD will eine bessere Unterbringung und
Versorgung für einen Teil der Flüchtlinge durchsetzen. Die Union wiederum hat
Porzellan zerschlagen, weil sie ohne vorherige Absprache verkündete, dass der
Familiennachzug für Syrer eingeschränkt werden soll.

In der Koalition schaut man sich derzeit misstrauisch an: SPD-Innenexperte


Grötsch setzt darauf, dass nun erst einmal die Maßnahmen umgesetzt werden
sollen. Es wäre "absolut kontraproduktiv", wenn die Union alles infrage stelle,
was längst beschlossen sei. "Deshalb haben wir beim ,Asylpaket II' auch keine
Eile", sagt Grötsch. "Ich meine, dass die Union von unsinnigen Vorschlägen wie
etwa der Finanzierung der Integrationskurse durch die Flüchtlinge und
Asylbewerber Abstand nehmen sollte und sich aufs Wesentliche konzentrieren
soll."

Die Union wiederum sieht die SPD in der Pflicht. "Jetzt geht es darum, dass die
SPD mitmacht, wenn wir den Familiennachzug einschränken und die Residenzpflicht
verschärfen", erklärt CDU-Innenexperte Schuster. "Ich kenne keinen Amtsleiter
einer Ausländerbehörde, der nicht sagt, wir müssten statt mit einer mit drei
Millionen Flüchtlingen rechnen." Die gültige Rechtsordnung müsse eingehalten
werden.

Die Zukunft möglicher neuer Asylverschärfungen ist somit ungewiss. Angesichts


derzeit sinkender Flüchtlingszahl geht der Handlungsdruck zurück. Aus
Parteikreisen heißt es, dass die nächste Bundestagswahl näher rückt und man sich
bereits kritisch beäugt.

UPDATE: 2. Januar 2016


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Die Welt

Samstag 2. Januar 2016

Terroralarm ist der neue Normalzustand;


Die Gefahr durch Islamisten ist hoch. Weil es oftmals schwer ist, die vielen
Warnungen schnell und gründlich zu überprüfen, gehen die Sicherheitsbehörden
lieber an die Öffentlichkeit. So wie vor einigen Wochen in Hannover und jetzt in
München

AUTOR: Manuel Bewarder; Florian Flade; Peter Issig

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 1

LÄNGE: 1123 Wörter

Der Bundesinnenminister meidet dieses Wort mittlerweile. Noch vor einem Jahr
sprach Thomas de Maizière von einer hohen "abstrakten" Gefahr durch Terroristen.
Seit ein paar Monaten aber kommt der CDU-Politiker auf den Punkt: Die Lage in
Europa und auch in Deutschland sei ernst, sagt de Maizière nun. Die
Sicherheitsbehörden gingen weiterhin von einer hohen Gefährdung durch den
internationalen Terrorismus aus, erklärte de Maizière jetzt auch am Neujahrstag.
Jeder soll verstehen, dass ein Anschlag auch vor seiner Haustür passieren
könnte. Und zwar jederzeit.

Das ist zumindest die Auffassung der deutschen Sicherheitsbehörden. Die


Terrorgefahr ist demnach zum neuen Normalzustand geworden - und damit wohl auch
der Alarm. Jedenfalls dann, wenn drei Dinge so wie nun in München
zusammenkommen: konkrete Informationen, zu wenig Zeit für eine Überprüfung und
Verantwortliche, die kein unnötiges Risiko eingehen wollen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erhielt bereits vor Weihnachten den ersten Hinweis
eines ausländischen Geheimdienstes zu einer erhöhten Terrorgefahr für
europäische Haupt- und Großstädte. In Österreich löste das eine verstärkte
Polizeipräsenz in Wien aus. In Deutschland hielten sich die Behörden eher
bedeckt, im Hintergrund aber arbeiteten Staatsschützer der Landeskriminalämter
und des BKA daran, sich ein konkreteres Bild der Lage zu verschaffen. Die
islamistischen Gefährder wurden intensiver unter die Lupe genommen. Jedoch ohne
Ergebnis.

Im Laufe der Woche gab es einen weiteren Hinweis. Nach Informationen der "Welt"
meldete eine Polizeiquelle aus Süddeutschland einen möglichen Anschlagsplan für
München. Konkret ging es um ein Anschlagsszenario im Zeitraum zwischen dem 5.
und dem 8. Januar. Am Donnerstag schließlich bekam das BKA eine weitere Meldung
eines ausländischen Geheimdienstes. Diesmal mit sehr vielen Details. Fünf bis
sieben Terroristen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), darunter mindestens
zwei Selbstmordattentäter, sollten in Bahnhöfen der Stadt Anschläge verüben,
nämlich im Hauptbahnhof sowie im S-Bahnhof Pasing im Westen der Stadt, der auch
als ICE-Halt dient. Sogar Namen der mutmaßlichen Attentäter wurden übermittelt.
Dabei sollte es sich um Iraker und Syrer handeln, die - so meldete es jedenfalls
ein ausländischer Dienst - möglicherweise als Flüchtlinge getarnt eingereist
waren. Zusammengefasst ergab sich ein Anschlagsszenario für die bayerische
Hauptstadt, dass so konkret zuvor nicht vorgelegen hatte.

Der Polizei in München blieb in der Silvesternacht nach eigenen Angaben nicht
viel Zeit zum Abwägen. Zwischen der entscheidenden Warnung und dem angekündigten
Zeitpunkt des Anschlags um 24 Uhr lagen genau vier Stunden. "Eine recht kurze
Vorlaufzeit", wie Polizeipräsident Hubertus Andrä sagte. Wenn zwei Wochen bis zu
einem angekündigten Attentat Zeit bleiben, können die Beamten ruhig und
sorgfältig alle Datenbanken abfragen und umfassend ermitteln, erklärte der
Polizeipräsident. Dann geht auch die bayerische Polizei in der Regel damit nicht
so schnell an die Öffentlichkeit. Oft löst sich die Gefahr in Luft auf. Aber
wenn es eilt, geht die Sicherheit vor.

"Die Entscheidung war professionell und richtig", findet Stephan Mayer,


innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Der CSU-Politiker
fügte im Gespräch mit dieser Zeitung an: "Wenn etwas passiert wäre und man hätte
auf die Hinweise nicht reagiert gehabt - das wäre unverantwortlich gewesen." Die
Sicherheitsbehörden stecken in einem Dilemma. Wann schreiten sie ein? Wie lange
können sie zuschauen? Bei entsprechender Gefahr müssen sie warnen, ohne Panik zu
schüren. Allerdings dürfen sie nicht zu oft alarmieren, damit sich der Effekt in
der Bevölkerung nicht abnutzt.

Vor etwa eineinhalb Jahren soll die Gefahr europaweit spürbar angestiegen sein.
So heißt es jedenfalls in Sicherheitskreisen. Das sogenannte Grundrauschen hat
seither deutlich zugenommen. Hinter dem sperrigen Wort verbergen sich etwa
überwachte Gespräche zwischen Islamisten über mögliche Gewalttaten. Anfang des
vergangenen Jahres drangen schließlich Terroristen in die Redaktion der
Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" ein und erschossen zwölf Personen. Ende des
Jahres nahm das gefährliche Grundrauschen kurz vor den koordinierten Anschlägen
mit 130 Toten in Paris noch einmal zu.

Bislang ist Deutschland von einem großen islamistischen Anschlag verschont


geblieben. Anders als etwa Spanien, Großbritannien oder Frankreich. Doch die
Gefahr scheint größer geworden zu sein. Im vergangenen Jahr sind die
Sicherheitsbehörden mehrmals eingeschritten: In Braunschweig wurde im Februar
der Karnevalsumzug abgesagt. Im Mai fiel das große Radrennen in Frankfurt am
Main aus, nachdem in der Wohnung eines Deutschtürken und seiner Ehefrau eine
funktionsfähige Rohrbombe gefunden wurde. Im November schließlich - vier Tage
nach den Anschlägen von Paris - wurde in Hannover das Fußball-Länderspiel
zwischen Deutschland und den Niederlanden abgesagt. Die Sicherheitsbehörden
befürchteten Sprengstoffexplosionen im Stadion und in der Stadt.

Auf den ersten Blick gibt es gleich mehrere Ähnlichkeiten zwischen den
Bedrohungslagen in Hannover und jetzt in München: Beide Male lagen erstaunlich
genaue Hinweise zu möglichen Anschlagsplänen vor. In beiden Fällen hatten die
Sicherheitsbehörden nach eigenen Angaben nicht mehr genug Zeit, um die
Informationen ausreichend prüfen zu können - in Hannover etwa traf die
entscheidende Warnung erst zwei Stunden vor dem geplanten Spielbeginn ein.

Hinzu kommt eine dritte Gemeinsamkeit: Je länger die Ermittler den jeweiligen
Hinweisen nachgegangen sind, desto diffuser wurde die Bedrohungslage. In München
gab es keine Treffer, nachdem die übermittelten Namen der Verdächtigen mit
Datenbanken von Bund und Ländern abgeglichen wurden. Es bleibt somit unklar, ob
diese Personen tatsächlich existieren. Ähnliches in Hannover. Auch Wochen nach
der Warnung in der Landeshauptstadt heißt es aus Sicherheitskreisen, dass sich
der Verdacht nicht erhärtet hat.

So schnell wie die Sicherheitsmaßnahmen in der bayerischen Hauptstadt


hochgefahren wurden, so schnell wurden sie übrigens auch wieder reduziert.
Bereits gegen vier Uhr in der Silvesternacht fuhren Züge und S-Bahnen wieder
normal. Die sichtbare Polizeipräsenz war schnell zurückgefahren. Die Ermittler
in München gehen den Hinweisen dennoch weiter nach. In der islamistischen Szene
gab es nach Informationen der "Welt" auch Hausdurchsuchungen. Dabei stießen die
Ermittler unter anderem auf dschihadistisches Propagandamaterial. Verbindungen
zu möglichen Anschlagsplänen konnten den verdächtigen Personen allerdings nicht
nachgewiesen werden.

Die lage in Europa und auch in Deutschland bleibt ernst Thomas de Maizière ,
Bundesinnenminister

UPDATE: 2. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Sven Hoppe


Am Morgen nach dem Terroralarm: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann
(CSU) versichert in einer Pressekonferenz, dass es keine ganz konkrete
Anschlagsgefahr mehr gibt
Sven Hoppe

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Die Welt

Montag 4. Januar 2016

Alle Flüchtlinge auf die Schulbank;


Hierzulande gilt die Schulpflicht im Grunde nur für Minderjährige. Aber
angesichts der Flüchtlingskrise sollten auch Erwachsene dazu verpflichtet
werden. Sonst wird es nichts mit der Integration

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: FORUM; Leitartikel; S. 3 Ausg. 2

LÄNGE: 1118 Wörter


Schulpflicht - das ist ein schauerliches Wort. Nun gut, es stammt aus einer
Zeit, als es Eltern und Gesellschaft noch nicht selbstverständlich erschien,
Kinder überhaupt zur Schule zu schicken. Die Jungen und Mädchen waren gut zu
gebrauchen, auf dem Hof, im Handwerksbetrieb, auf dem Feld, in der Fabrik, im
Haushalt. Der Begriff ist also von den Eltern her gedacht, die oft selbst nicht
lesen, schreiben, rechnen konnten. Die Schulpflicht war eine Errungenschaft. Zum
ersten Mal stand Kinderrecht über Elternrecht. Aus Sicht der Kinder war die
Schul-Pflicht deshalb immer auch und in erster Linie ein Schul-Recht.
Eingeschrieben war diesem die Möglichkeit, ja das Versprechen, es weiter zu
bringen als ihre Eltern. Bildung bedeutet Emanzipation. Die
Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2014, Malala Yousafzai, hat die Welt
gelehrt, dass es jeden Preis und Einsatz wert ist, dieses Recht zu verteidigen.
Sie wäre in Pakistan auf dem Weg zur Schule von Taliban fast umgebracht worden,
weil diese die Bildung von Mädchen für gotteslästerlich halten. Nachdem sie sich
von ihren Verletzungen erholt hatte, kämpfte sie für das Recht auf Schulbesuch
für alle Kinder, egal welcher Abstammung und Religion. Malalas Schicksal hat uns
den Wert des Schulbesuchs ein erstes Mal vor Augen geführt.

Mit Blick auf die vielen Asylbewerber ist nun erneut ständig von der Bedeutung
des Schulbesuchs die Rede. Die Kultusministerkonferenz rechnet vor, dass 2015
rund 325.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche kamen. Auch 2016 werden
Zehntausende, vielleicht Hunderttausende kommen. Ob sie schulpflichtig sind,
entscheidet sich auch bei Asylbewerbern am Lebensalter. Die meisten Bundesländer
definieren nämlich die Volljährigkeit als Ende der Schulpflicht, in einigen gilt
das 21. Lebensjahr. Eine 25-Jährige oder gar einen 35-Jährigen zur Schule zu
schicken, kommt deshalb keinem in den Sinn. Selbst wenn er oder sie nie oder nur
ein paar Jahre eine Schule besucht hat. Ein Fehler, ein vielleicht nie
wiedergutzumachender Fehler. Es ist Zeit für ein Umdenken, wenn die Integration
der vielen Menschen gelingen soll und man sie - im Sinne des Schul-Rechts -
wirklich emanzipieren will.

In der Bundesrepublik galt die Schulpflicht anfangs nur für Kinder mit deutscher
Staatsangehörigkeit. Es dauerte bis in die 1960er-Jahre, bis sich dies änderte.
Die Schulpflicht für Asylbewerberkinder ist noch jünger. In Nordrhein-Westfalen
gilt sie erst seit 2005. Dieser Geist weht noch, wenn auch nicht mehr so rau.
Die Politik tut aber so, als gäbe es einerseits die schulpflichtigen Kinder und
andererseits die Erwachsenen, die schon eine Schule besucht haben. Für die
Kinder ist gesorgt, für sie gibt es Tausende Willkommensklassen. Für die
Erwachsenen, darunter sehr viele junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren, gibt
es die Integrationskurse, wo weniger Deutsch als Deutschland gelehrt wird. Doch
dafür braucht es auch Schulbildung.

Die Quote der Analphabeten werde mit der Zuwanderung der Asylbewerber steigen,
heißt es lapidar von offizieller Seite. Wollen wir das einfach hinnehmen? Wie im
Fall des Arbeitsmarkts eine eigene Statistik einführen, damit es besser
aussieht? Diese Menschen werden wohl im Lauf der Zeit irgendeine Form von
Deutsch lernen. Aber wie sollen sie zu einem selbstbestimmten Leben ermächtigt
werden, Steuerzahler werden, wenn es an grundlegenden Techniken dieser
Gesellschaft mangelt? Die rund 7,5 Millionen Bürger, die bereits heute gar nicht
oder nicht richtig schreiben und lesen können, wissen, was das in Beruf und
Alltag bedeutet.

Unter den Flüchtlingen liegt die Quote der Analphabeten weit höher. Unter den
Syrern zwischen 14 und 24 Jahren sind laut Weltbank rund vier Prozent
Analphabeten, bei den Irakern sind es schon 18 Prozent, bei den Afghanen 53
Prozent. Dazu kommen jene, die nur rudimentäre Kenntnisse haben. Es ist naiv zu
glauben, dass sich nur die höher Gebildeten auf den Weg nach Europa gemacht
haben. Die Politik hat für diese Menschen bisher keine überzeugenden Ideen.
Sollen die Erwachsenen im einige Monate dauernden Integrationskurs auch noch die
Grundrechenarten lernen? Von Lehrern, die so lausig bezahlt werden, dass man
ihre Motivation schon jetzt bewundern muss? Es ist Zeit, dass man sich über eine
neue Volksschule Gedanken macht. Eine Volksschule für alle Altersgruppen. Eine
Volksschule, deren Besuch sich daran orientiert, was jemand kann, wie viele
Jahre er Schulbildung genossen hat und nicht danach, welches Alter er oder sie
erreicht hat. Was nützt es festzustellen, dass jemand mit 30 Jahren nicht mehr
in die Schule muss, wenn er nicht eins und eins zusammenzählen und seinen Namen
in keiner Schrift und Sprache schreiben kann.

Die meisten Asylbewerber, die für eine solche Volksschule infrage kommen, würden
das Angebot unabhängig von ihrem Alter wohl annehmen. Denn sie stammen oft aus
Regionen, in denen die Schulpflicht wirklich als Schul-Recht verstanden wird. In
denen Lernen ein Privileg ist. Nur ein winziger Teil der Asylbewerber leitet
daraus ab, für die eigenen Kinder keinen Schulbesuch zu fordern. War es doch
gerade die Aussicht, dass ihre Kinder Bildung und Ausbildung erfahren, für die
sie nach Deutschland gekommen sind. Sie sollen es schließlich einmal besser
haben als sie selbst. Ein Ethos, das in Deutschland nach dem Krieg zu einer
gewaltigen Bildungsexpansion führte, von der das Land bis heute zehrt. Dass sie
zur Schule gehen müssen, um Versäumtes nachzuholen, das kann man aber auch jenen
vermitteln, die schon längst oder gerade eben erwachsen geworden sind. Zur
Schule zu gehen, das muss klargemacht werden, gehört in Deutschland zu den
Grundrechten und -pflichten jedes Bürgers.

Nun wird man fragen, wie das zu organisieren und zu bezahlen ist? Nun, in den
60er-, 70er-Jahren war die Bildung für alle auch nicht gratis zu haben. Hat es
sich nicht gerechnet? Und verpflichteten sich nicht schon mehrere
Bundesregierungen, das lebenslange Lernen zu fördern? Das wäre mal ein Anlass,
Taten folgen zu lassen. Vielleicht bieten sich die Schulen selbst an, wenn man
ihnen mehr Lehrer bezahlt, vielleicht die Volkshochschulen, die Akademien,
Berufsschulen. Wie wäre es mit einem Praxisjahr für Lehrer im Studium? Die neue
Volksschule kann zudem auch deutschen Analphabeten nutzen.

Wenn ein Land in der Lage ist, das logistisch zu stemmen, dann Deutschland. Der
Lohn wären mündige Bürger und Steuerzahler. Für den Fall, dass die Menschen
zurückkehren in ihre Heimat, wäre unser Beitrag zur Entwicklungshilfe ebenfalls
schon mehr als geleistet.

Die Quote der Analphabeten wird mit der Zuwanderung der Asylbewerber steigen.
Wollen wir das einfach hinnehmen?

thomas.vitzthum@weltn24.de (mailto: thomas.vitzthum@weltn24.de)

UPDATE: 4. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Massimo Rodari

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Die Welt

Dienstag 5. Januar 2016

Schüsse auf Flüchtlingsheim in Hessen

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 8 Ausg. 3

LÄNGE: 223 Wörter

Nach den Schüssen auf eine Flüchtlingsunterkunft in Dreieich (Kreis Offenbach)


rekonstruieren Experten des hessischen Landeskriminalamts (LKA) vor Ort die Tat.
Die Tatortgruppe sei mit einer besonderen Technik ausgerüstet, die Flugbahn und
Abschussort von Geschossen mit 3-D-Technik nachstellen kann, sagte ein Sprecher
in Wiesbaden.

Bei den Schüssen war in der Nacht zum Montag ein 23-jähriger Bewohner im Schlaf
getroffen und leicht verletzt worden. Nach kurzer ärztlicher Behandlung konnte
er wieder aus der Klinik entlassen werden. Ein Vermummter, so ein Augenzeuge,
habe gegen 2.30 Uhr "mehrere Schüsse" auf ein Fenster des Gebäudes abgegeben.

In der Unterkunft wohnen laut Stadtverwaltung derzeit 30 Flüchtlinge, die Hälfte


davon in dem beschossenen Gebäudeteil - 14 Syrer und ein Afghane. Insgesamt
leben in Dreieich rund 430 Flüchtlinge, vorbildlich dezentral untergebracht in
zwölf größeren Unterkünften für jeweils 15 bis 30 Flüchtlinge und 50 kleineren
Einheiten für jeweils eins bis sieben Personen. In der Stadt sei es bisher nicht
zu Angriffen oder Missfallensbekundungen gegen Asylbewerber gekommen, sagte die
Stadtsprecherin. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt wertet die Schüsse als
gezielten Angriff. Die Hintergründe waren den Ermittlern zufolge zunächst
unklar. Ermittelt werde "in alle Richtungen".

UPDATE: 5. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Mittwoch 6. Januar 2016

Das Grauen danach;


Die sexuellen Übergriffe und Diebstähle in der Silvesternacht in Köln haben
großes Entsetzen ausgelöst. Obwohl die Täter noch nicht bekannt sind, überbieten
sich Politik und Polizei mit Vorschlägen

AUTOR: Dirk Banse; Kristian Frigelj; Claudia Kade; Martin Lutz

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 4

LÄNGE: 1480 Wörter

Köln und Berlin

Einem Eindruck wollte die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos)


unter allen Umständen die Wucht nehmen. Dem Eindruck, dass die Gewalttaten in
der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof mit der Flüchtlingssituation verknüpft
sind. Es gebe keinen Hinweis, dass es sich bei den Tätern um Menschen handle,
die in der Domstadt Unterkunft als Flüchtling erhalten hätten, erklärte Reker.
Sie halte diese Vermutungen für "absolut unzulässig". Gleichwohl: Die Ereignisse
seien "nicht tolerierbar".

Bei einem kurzfristig einberufenen Krisentreffen in Köln seien Maßnahmen


entwickelt worden, "damit es solche Vorfälle hier nie wieder gibt". Konkret soll
Reker zufolge an den Karnevalstagen die Polizeipräsenz erhöht werden. Die
Oberbürgermeisterin betonte, es sei "ebenso wichtig, dass wir uns das
Karnevalfeiern in Köln nicht nehmen lassen". Es könne allerdings sinnvoll sein,
Menschen aus anderen Kulturkreisen den Karneval genauer zu erklären. Außerdem
wolle die Stadt Verhaltenshinweise ins Internet stellen, wie sich junge Frauen
in solchen Situationen besser schützen können.

Nach Polizeiangaben hatten sich am Silvesterabend rund um den Hauptbahnhof mehr


als 1000 junge Männer versammelt, überwiegend aus dem nordafrikanischen Raum.
Aus der Menge bildeten sich demnach Gruppen, die Frauen umzingelten, bedrängten
und ausraubten. Die Afrikaner und Araber seien alkoholisiert gewesen, enthemmt
aufgetreten und hätten viel Feuerwerk gezündet. 100 bis 150 von ihnen bildeten
ein Spalier, eine Gasse. Allein dort kam es zu 44 Diebstählen, acht
Körperverletzungen, zwei Landfriedensbrüchen und drei Raubtaten. Der Polizei
lagen bis Dienstagnachmittag insgesamt 90 Anzeigen vor, ein Viertel wegen
Sexualdelikten, eine wegen Vergewaltigung. Ähnliche Vorfälle gab es laut
Polizeigewerkschaft in Hamburg und Stuttgart.

Bislang wenig beachtet: Am 3. Januar ereignete sich im Kölner U-Bahnhof


Breslauer Platz/Hauptbahnhof ein ähnlicher Vorfall: Dort gab es Strafanzeigen
wegen sexueller Belästigung und dem Diebstahl mehrerer Handys. Fünf
Tatverdächtige wurden gestellt: ein Syrer, zwei Marrokaner, zwei Algerier (alle
zwischen 20 und 24). Die Polizei fand zwei an dem Tag gestohlene Mobiltelefone,
die den Opfern dieses Falles zugeordnet werden konnten. Politiker verschiedener
Parteien verurteilten die Geschehnisse und fordern eine lückenlose Aufklärung
sowie konsequente Strafen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) kündigte denn
auch intensive Ermittlungen an: "Das, was in Köln am Hauptbahnhof und an anderen
Plätzen in Deutschland geschehen ist, ist nicht hinnehmbar und darf sich nicht
wiederholen. Die Täter müssen bestraft werden. Dabei wird zu klären sein, ob
das, was sich dort ereignet hat, eine neue Form organisierter Kriminalität ist,
gegen die die staatlichen Stellen auch Mittel ergreifen müssen", erklärte Maas
in Berlin. Mit Bezug auf die mögliche nordafrikanische Herkunft der
beschriebenen Täter betonte der Justizminister, vor dem Gesetz seien alle
gleich. Es komme nicht darauf an, welchen Pass jemand besitze.

NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) droht den Tätern mit konsequenten


Abschiebungen. "Straftäter haben keinen Anspruch auf ein Bleiberecht. Zu einer
erfolgreichen Integration gehört auch, die Werte und Normen unserer Gesellschaft
zu akzeptieren", sagte er dem "Kölner Stadt-Anzeiger".

Neben Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker äußerte sich auch


Polizeipräsident Wolfgang Albers (SPD) nach dem Sicherheitstreffen. Er kündigte
eine starke Präsenz von Beamten in Uniform und in Zivil an. Es sei ein Einsatz
von mobilen Videoanlagen geplant. Die Stadt wolle Örtlichkeiten besser
ausleuchten, Sprachmittler einsetzen und Verhaltensempfehlungen für
Karnevalsgäste anbieten. So soll man sich in Gruppen aufhalten und durch die
Feierlaune nicht voneinander trennen lassen. Es werde auch "dazugehören, den
Karneval und die Zuwendung, die im Karneval ja einmal erfolgt, auch den Menschen
aus anderen Kulturkreisen vielleicht besser erklären zu müssen" und dass dies
nicht gleich als Einladung verstanden werden könne.

Albers präzisierte bisherige Angaben und erklärte, dass die Polizei bereits in
der Silvesternacht gegen ein Uhr nachts erste Hinweise auf sexuelle Übergriffe
bekommen hätte. Daraufhin seien die Kräfte auf dem Bahnhofsvorplatz konzentriert
worden. Es sei im Laufe des 1. Januar sofort die Ermittlungskommission
eingerichtet worden. 143 Polizeibeamte waren in der Neujahrsnacht im Einsatz,
zunächst im Stadtzentrum, dann fast nur noch am Bahnhof. Ihnen standen 70
Bundespolizisten zur Seite. Albers bedauerte, dass in einer ersten
Pressemitteilung am Neujahrstag kein Hinweis auf sexuelle Übergriffe enthalten
und von einer "entspannten" Einsatzlage die Rede ist. Diese Darstellung sorgt in
den sozialen Netzwerken immer noch für große Empörung. "Diese erste Auskunft war
falsch", sagte Albers. Man habe Informationen "nicht sicher zusammengeführt".
Der Polizeipräsident warnte mit Hinblick auf die Ansammlung von etwa 1000
Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz vor Pauschalisierungen: "Es gibt keine 1000
Täter." Es hätten sich Gruppen herausgebildet, die die Taten begangen hätten.

Die Arbeit der "EG Neujahr" steht noch ganz am Anfang: Die Ermittler, die auch
aus anderen Kriminalkommissariaten abgezogen wurden, wissen bisher kaum etwas
Genaues. Denn es gibt nur wenige Zeugen. Die Polizei ruft deshalb dazu auf, dass
sich weitere melden. Von den rund 80 Geschädigten, die sich bislang gemeldet
haben, waren die meisten zu Besuch oder auf der Durchreise in der Domstadt.
Polizeipräsident Albers geht davon aus, dass sich noch weitere Betroffene melden
werden. Ein Ermittler sagte der "Welt": "Die Aufklärung wird uns schwerfallen.
In der Menge am Hauptbahnhof ist es sehr schwierig, anhand der vorhandenen
Videoaufnahmen gerichtsfest herauszufiltern, wer welche Straftaten begangen
hat."

In einem internen Schreiben wandte sich Albers zu dem Vorfall laut Angaben aus
dem Polizeipräsidium an seine Mitarbeiter. Darin spricht er von einer "nie da
gewesenen Begehungsweise der Straftaten". Die Täter, die sonst zu zweit oder
dritt agieren würden, hätten sich "zusammengerottet", um größtenteils Frauen zu
berauben. "Mehr noch: Schamlos wurden die Opfer begrapscht und verhöhnt. Es kam
gar zu einer Vergewaltigung. Diese Silvesternacht hat eine neue Qualität der
Antänzermasche hervorgebracht, die wir so zuvor noch nicht kannten."

Mit dieser Antänzermasche ist gemeint: Mehrere Personen tanzen um ein Opfer,
sprechen und singen dabei. Plötzlich wird dann eine Tasche oder das Portemonnaie
gestohlen. "Diese Tatverdächtigen sind für die Polizei meist alte Bekannte, die
sich oft schon länger in Deutschland aufhalten und ein Bleiberecht haben", sagt
ein Ermittler.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) nimmt die Taten von Silvester zum
Anlass, erneut eine kommunale Sicherheitskonferenz mit der Stadtverwaltung, der
Kölner Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Amts- und Landgericht zu fordern.
Die Justiz müsse Straftäter zügig spürbar bestrafen, ausländische Kriminelle
sollten schnell und konsequent abgeschoben werden.
Solche Forderungen hat der BDK angesichts steigender Kriminalitätszahlen in der
Stadt allerdings schon mehrfach erhoben. Nachdem inzwischen nordafrikanische und
arabische Täter fast täglich bei zahlreichen Delikten (Taschen- und
Trickdiebstahl, Raub, Wohnungseinbruch oder Autoklau) mit steigender Tendenz
auffallen würden, ist diese Forderung aus Sicht der Kriminalbeamten aktueller
denn je. Die Wiederholung dieser Taten, das fehlende Unrechtsbewusstsein und der
mangelnde Respekt vor Polizei und Justiz "machen deutlich, dass es an der Zeit
ist, deutliche Signale zu setzen", sagt Rüdiger Thust, Kölner BDK-Chef.
Integrationswilligen und Bedürftigen müsse man die Hand reichen,
Integrationsverweigerer und Wiederholungsstraftäter aber konsequent in die
Schranken weisen.

Nach den sexuellen Übergriffen in Köln fordern Muslime aber auch personelle
Konsequenzen bei der Polizei. "Gerade als Frau fragt man sich, wie die
Sicherheitsbehörden so etwas zulassen konnten. Wenn sich herausstellt, dass 1000
Männer sich gezielt sammelten, um Frauen zu belästigen, erwarte ich personelle
Konsequenzen bei den Sicherheitsbehörden oder der Polizei", sagte Lamya Kaddor,
Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes der "Welt". Ähnlich äußerten sich der
Beauftragte für interreligiösen Dialog des größten Verbandes Ditib, Bekir
Alboga, sowie Ismail Tipi, Integrationsexperte der hessischen CDU-Fraktion.

Die Polizeibehörden in Berlin, München, Hannover und Frankfurt am Main erklärten


auf Anfrage der "Welt", dass dort keine Vorfälle wie in Köln bekannt geworden
seien. Am Dienstagabend demonstrierten Kölner vor dem Dom gegen Sexismus.

Es kann sinnvoll sein, Menschen aus anderen Kulturkreisen den Karneval genauer
zu erklären Henriette Reker, Kölner Oberbürgermeisterin

UPDATE: 6. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Trübes Wetter in Köln, der weltberühmte Dom liegt hinter Nebelschwaden.
Genauso nebulös sind die Vorfälle, die die Stadt in der Silvesternacht
erschüttert haben. Dutzende Migranten haben Frauen sexuell attackiert. Über die
Täter ist wenig bekannt
picture alliance/dpa; Reuters/WOLFGANG RATTAY (2); DPA/AP/Oliver Berg;
Bildbearbeitung: die Welt
Die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker und Polizeichef Wolfgang Albers bei
der Pressekonferenz zu den Vorfällen am Hauptbahnhof
Am Dienstagabend wird in Köln nach den Übergriffen gegen Sexismus demonstriert.
Am Hauptbahnhof warnt ein Schild vor Taschendieben
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Die Welt

Donnerstag 7. Januar 2016

Tricks und Maschen;


Sexuelle Übergriffe sind die brutale Eskalationsstufe eines bekannten
kriminellen Vorgehens: Diebstahl durch unfreiwilligen Körperkontakt. Die Täter
sind oft jung und stammen vor allem aus zwei Gruppen

AUTOR: Florian Flade

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 5

LÄNGE: 1114 Wörter

Ein junger Mann ist auf dem Weg zur Diskothek in der Kölner Innenstadt. Zwei
nordafrikanische Jugendliche tauchen auf. Einer wirft dem Partygänger einen
Papierball vor die Füße, fängt an, mit ihm wie mit einem Fußball zu dribbeln.
Und ruft: "Podolski! Los, Podolski!" Nichts ahnend geht der Passant auf das
Spiel ein, es kommt zu einem engen Körperkontakt. Der vermeintliche Fußballer
zieht seinem Opfer dabei unbemerkt das Portemonnaie aus der Hosentasche. Sofort
gibt er es an seinen danebenstehenden Komplizen weiter, der umgehend
verschwindet. Bemerkt das Opfer den Diebstahl, ist es schon zu spät.

Die Polizei hat einen Namen für diese Trickdiebe: "Antänzer" werden sie genannt.
Egal, ob der Täter versucht, sich über ein zufälliges Ballspiel einem Passanten
zu nähern oder mittels einer plötzlichen, unerwarteten Umarmung: Die
Vorgehensweise ist immer gleich. Der Täter sucht den Körperkontakt zum Opfer,
lenkt es mit einer Masche ab und versucht mit diesem Trick Handy oder
Portemonnaie zu erbeuten. Es ist eine der ältesten Methoden der Taschendiebe.
Entstanden sein soll sie in England. Hierzulande sind es vor allem
Nordafrikaner, Kosovaren, Rumänen und Bulgaren, die so auf Raubzug gehen.

Mit den dramatischen Vorfällen in Köln, Hamburg und Stuttgart in der


Silvesternacht hat das Phänomen Antanztrick hierzulande nun eine neue Dimension
erreicht: Hier war es nicht mehr nur ein harmloses Ballspielchen, mit dem sich
die Täter Zugang zu der gewünschten Beute zu verschaffen suchten. Um an Geld
oder Telefone zu kommen, machten sie diesmal auch vor massiver sexueller
Belästigung der Opfer nicht halt.

Eigenen Angaben zufolge wurden viele junge Frauen von Dutzenden, vielleicht
sogar Hunderten nordafrikanischen oder arabischstämmigen Männern am Kölner
Hauptbahnhof körperlich bedrängt, im Intimbereich und an den Brüsten begrapscht.
Währenddessen wurden viele der schockierten, verängstigten Opfer bestohlen. "Die
feigen und abscheulichen Übergriffe werden wir nicht hinnehmen", sagte
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) angesichts der Gewalteskalation in Köln.
"Das ist offenbar eine völlig neue Dimension organisierter Kriminalität."

Für die Polizei stellt insbesondere das Ausmaß der sexuellen Belästigung zwar
ein Novum dar. De facto sind jene "tanzenden Diebe" aber für die Ermittler
vielerorts alte Bekannte, denen sie im Umgang mit den verschiedenen Facetten der
Alltagskriminalität immer wieder begegnen. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen,
Bremen, Baden-Württemberg und Berlin kam es in den vergangenen Monaten vermehrt
zu Antanzüberfällen. Sei es in Fußgängerzonen, an Bahnhöfen oder in
Einkaufszentren. Kleinkriminelle gehen oft am Wochenende mit der Masche auf
Beutezug. Opfer sind nicht selten alkoholisierte Partygänger auf dem
Nachhauseweg.

Vor allem in Nordrhein-Westfalen ist diese Form der Kleinkriminalität offenbar


auf dem Vormarsch, zumindest nimmt die Zahl der Taschendiebstähle seit Jahren
zu. Im Jahr 2014 etwa wurden insgesamt 53.759 derartige Delikte registriert -
was einem Anstieg von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Wie
viele dieser Straftaten auf die Kappe von Antänzern gehen, wird dabei allerdings
nicht gesondert erfasst. Auch ob es bei den Diebstählen zu Körperverletzungen
oder sexueller Belästigung kam, ist nicht vermerkt.

Die Polizei gibt zwar Ratschläge, wie man sich präventiv vor dieser Form von
Trickdiebstahl schützen kann. Ein umfassendes Lagebild des Phänomens fehlt den
Ermittlern allerdings bislang. Die Einblicke in die Netzwerke hinter den
Diebesbanden sind beschränkt.

Fest steht, dass es sich bei den Tätern auffällig oft um Jugendliche aus
Nordafrika oder dem Balkan handelt. Viele stammen aus Marokko, Tunesien,
Algerien, dem Kosovo oder Rumänien. Viele leben als Asylbewerber oder als
Ausländer mit Duldungsstatus in Deutschland. Einige sind jünger als 16 Jahre.
"Wir vermuten, dass die Banden teilweise gezielt durch die Bundesrepublik
reisen, um Laden- und Taschendiebstähle zu begehen", sagt Ulf Küch, Leiter der
Kriminalpolizei Braunschweig, der "Welt". Die Beute, etwa Mobiltelefone, werde
entweder noch in Deutschland zu Geld gemacht oder per Luftpost in die
Heimatländer verschickt.

In Düsseldorf hat die Polizei vom Juni 2014 bis November vergangenen Jahres im
Zuge des Projekts "Casablanca" die Antanzbanden genauer durchleuchtet. Die
Ermittler kamen laut "Bild" dabei zu dem Ergebnis, dass es allein in Düsseldorf
wohl mindestens 2244 Verdächtige gibt, die derartigen Diebesbanden angehören.
Mehrheitlich soll es sich dabei um Marokkaner im Alter von unter 30 Jahren
handeln. Als "zentrale Kontaktpersonen" der Düsseldorfer Cliquen gelten die
Marokkaner Khalid N., 28, und Taouf M., 32, die als Asylbewerber gemeldet sind.

"Was Flüchtlinge als Täter betrifft, sind Syrer und Iraker bislang nicht als
besonders kriminell aufgefallen", erklärt Kriminaldirektor Küch aus
Braunschweig. Problematisch seien einige wenige Flüchtlinge aus Nordafrika, dem
Kaukasus und dem Balkan. "Die Gefahr besteht allerdings, dass diese Banden
frustrierte, gelangweilte Jugendliche in Flüchtlingsheimen rekrutieren."

Nicht nur die wachsende Zahl der Antanzdiebstähle bereitet den Ermittlern
zunehmend Sorge. "Die Täter werden aggressiver", sagt ein Polizist aus
Norddeutschland. Nicht selten würden Opfer mit Messern bedroht oder geschlagen.
Es sei zudem bekannt, dass sich einige Antänzer vor ihren Raubzügen mit Drogen
und Medikamenten aufputschen, wie etwa dem schmerzhemmenden Antiepilepsiemittel
Rivotril.

Im vergangenen Oktober wurde in Bremen ein 25-jähriger Student bei einem


Überfall verletzt. Zunächst beklaute ihn ein Antänzer. Als sich der Student zur
Wehr setzte, rissen ihn vier Angreifer zu Boden und verprügelten ihn. Der junge
Mann erlitt schwere Verletzungen, eine Arterie wurde durchtrennt. Erbeutet
hatten die Antänzer fünf Euro.

Wenige Tage später ging die Bremer Polizei bei einer Razzia gegen eine bekannte
Antänzerbande vor. Die rund 50 Jugendlichen aus Marokko und Algerien leben als
minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in einer Asylunterkunft in Bremen und
gehen insbesondere rund um den Hauptbahnhof regelmäßig auf Beutezug. "Sie haben
pro Person zwischen elf und 54 Straftaten innerhalb eines Jahres begangen",
sagte Jens Körber, Vizechef der Schutzpolizei Bremen. Einer der am häufigsten
straffällig gewordenen Antänzer ist ein gerade einmal 15 Jahre alter
Nordafrikaner.

"Wir müssen diese Straftäter konsequent verfolgen und ihnen Grenzen aufzeigen",
fordert Ermittler Ulf Küch. Und dabei Stigmatisierung und Pauschalisierung
vermeiden. Die Mehrzahl der Flüchtlinge sei nicht kriminell, betont der
Polizist. "Es sind einige wenige, die sehr große Probleme bereiten."

UPDATE: 7. Januar 2016

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1760 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Freitag 8. Januar 2016

"Viele Verdächtige sind Asylbewerber";


Kölner Polizisten kontrollierten etwa 100 Personen nach den Übergriffen und
widersprechen ihrem Präsidenten. Merkel: Widerwärtige Taten

AUTOR: Wolfgang Büscher; Martin Lutz

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 6

LÄNGE: 424 Wörter

Wesentliche Aussagen der Kölner Polizeispitze zu den sexuellen Übergriffen in


der Silvesternacht sind offenbar unwahr, wie am Einsatz beteiligte Kölner
Polizisten der "Welt am Sonntag" berichteten. Der Polizeipräsident der Domstadt,
Wolfgang Albers, hatte am Dienstag gesagt, man wisse nicht, um wen es sich bei
den Tätern handele, die Passanten beraubt und Frauen sexuell belästigt hatten.

Die Kölner Polizisten sagten der Zeitung, sie hätten durchaus zahlreiche
Personen kontrolliert und zum Teil festgenommen. Daher sei der Polizei auch
bekannt, um welche Personengruppen es sich handele. Die Überprüfung von etwa 100
Personen ergab den eingesetzten Beamten zufolge: "Nur bei einer kleinen
Minderheit handelte es sich um Nordafrikaner, beim Großteil der Kontrollierten
um Syrer." Das habe sich aus vorgelegten Dokumenten ergeben. Bislang zielen
Vermutungen darauf, dass es sich bei den Tätern um nordafrikanische junge Männer
handelt, die schon länger als Kleinkriminelle bekannt sind. Viele der
Kontrollierten hielten sich aber erst seit wenigen Monaten in Deutschland auf.
Die Beamten berichten: "Die meisten waren frisch eingereiste Asylbewerber. Sie
haben Dokumente vorgelegt, die beim Stellen eines Asylantrags ausgehändigt
werden."
In einem weiteren Punkt widersprechen die eingesetzten Beamten der offiziellen
Darstellung. Es heißt, den Tätern sei es primär darum gegangen, Passanten zu
bestehlen. Die sexuellen Belästigungen seien nebenbei passiert. "In Wirklichkeit
verhielt es sich genau umgekehrt", sagen Beamte. "Vorrangig ging es den meist
arabischen Tätern um die Sexualstraftaten oder, um es aus ihrem Blickwinkel zu
sagen, um ihr sexuelles Amüsement. Eine Gruppe von Männern umkreist ein
weibliches Opfer, schließt es ein und vergreift sich an der Frau."

Nicht nur die Aussagen der Beamten widersprechen Polizeipräsident Albers -


sondern auch die Darstellung in der "Einsatznachbereitung" der Führungsstelle.
Aus dem Papier ergibt sich nämlich ebenfalls, dass es sich bei den Tätern zu
einem Großteil um Asylbewerber handelte: "Bei den durchgeführten
Personalienfeststellungen konnte sich der überwiegende Teil der Personen
lediglich mit dem Registrierungsbeleg als Asylsuchender des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge ausweisen. Ausweispapiere lagen in der Regel nicht
vor."

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine harte Reaktion angekündigt. Sie sagte,
die "widerwärtigen kriminellen Taten" seien völlig inakzeptabel und würden vom
deutschen Staat nicht hingenommen. Siehe Kommentar, Seiten 4, 5 und 21

UPDATE: 8. Januar 2016

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1761 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Freitag 8. Januar 2016

Mädchen von vier Tätern vergewaltigt;


Zwei Teenager zu Silvester mehrfach missbraucht

RUBRIK: PANORAMA; Panorama; S. 24 Ausg. 6

LÄNGE: 293 Wörter

Drei Jugendliche und ein Mann sollen in der Silvesternacht in einer Wohnung in
Weil am Rhein zwei junge Mädchen vergewaltigt haben. Die vier Verdächtigen
werden beschuldigt, die 14 und 15 Jahre alten Teenager in einer Wohnung mehrfach
sexuell missbraucht zu haben, wie Polizei und Staatsanwaltschaft am Donnerstag
mitteilten. Die Stadt reagierte entsetzt auf den Fall.

Die Opfer und einer der Beschuldigten kannten sich oberflächlich. Den Angaben
zufolge trafen die Mädchen den 21-Jährigen am Silvesterabend und folgten ihm in
seine Wohnung im sozial schwachen Stadtteil Friedlingen. Dort sei es zunächst zu
einvernehmlichen Zärtlichkeiten gekommen, berichtete die Polizei. Dann jedoch
hätten der junge Mann, sein 15-jähriger Bruder und zwei 14-Jährige die Mädchen
mehrfach vergewaltigt. Die beiden Opfer alarmierten später die Polizei, die die
Verdächtigen festnahm. Gegen den Mann und die beiden 14-Jährigen wurde kurz nach
der Tat Haftbefehl erlassen.

Der 15-Jährige kam zunächst in staatliche Obhut. Als er sich jedoch von dort
entfernte, wurde auch gegen ihn Haftbefehl beantragt. Die Hauptamtsleiterin der
Stadt, Annette Huber, sagte, man sei schockiert.

Der Fall wurde erst am Donnerstag bekannt, zunächst hatte der SWR darüber
berichtet. Offenbar standen unter anderem Belange des Jugendschutzes einer
Veröffentlichung direkt nach der Tat entgegen. Dem SWR zufolge handelt es sich
bei den Tatverdächtigen um Syrer. Die beiden 14-Jährigen wohnen demnach in der
Schweiz und den Niederlanden. Die Nationalität der Tatverdächtigen spiele bei
der Tat aber eine "untergeordnete Rolle", zitierte der SWR Polizei und
Staatsanwaltschaft. Ein Zusammenhang mit den Silvestervorfällen in Köln und
anderen deutschen Städten sei nicht erkennbar.

UPDATE: 8. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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1762 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Freitag 8. Januar 2016

Das Protokoll zur Kölner Chaos-Nacht zum Nachlesen;


Weinende Frauen und Spott von den Tätern: Die "Welt" dokumentiert einen
Polizeibericht

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 6

LÄNGE: 1124 Wörter

Im Folgenden der Wortlaut des als "Einsatzerfahrungsbericht" bezeichneten


Protokolls eines Oberkommissars aus der Nacht von Silvester auf Neujahr am
Kölner Hauptbahnhof. Geschwärzt sind vor allem Namen (im Text kursiv):

"Am 31.12.15 war (Schwärzung) bei der BPOLI Köln anl. Der
Silvesterfeierlichkeiten in Köln HBF eingesetzt.
Schon bei der Anfahrt zur Dienststelle an den HBF Köln wurden wir von
aufgeregten Bürgern mit weinenden und geschockten Kindern über die Zustände im
und um den Bahnhof informiert. Am Vorplatz (Domprobst-Ketzer-Str.) angekommen,
wurden unsere noch nicht abgestellten Fahrzeuge mit Böllern beworfen.

Am Vorplatz und der Domtreppe befanden sich einige tausend meist männliche
Personen mit Migrationshintergrund, die Feuerwerkskörper jeglicher Art und
Flaschen wahllos in die Menschenmenge feuerten bzw. warfen.

Am Parkraum angekommen, liefen viele aufgewühlte Passanten auf die Einsatzkräfte


zu und berichteten u.a. über die oben beschriebenen Zustände und über
Schlägereien, Diebstähle, sex. Übergriffe auf Frauen usw.

Die Einsatzkräfte befanden sich somit sofort in pol. Maßnahmen.

Selbst das Erscheinen der Polizeikräfte und getroffenen Maßnahmen hielten die
Massen nicht von Ihrem Tun ab, sowohl vor dem Bahnhof als auch im Bahnhof Köln.

Gegen 22.45 Uhr füllte sich der gut gefüllte Bahnhofsvorplatz und Bahnhof weiter
mit Menschen mit Migrationshintergrund. Frauen mit Begleitung oder ohne
durchliefen einen im wahrsten Sinne "Spießroutenlauf" durch die stark
alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann.

Da der nicht sachgemäße massive Pyrogebrauch in Form von Werfen und Abschießen
in die Menschenmenge zunahm, kontaktierte mich der Zugführer der Landespolizei
(Schwärzung).

Wir kamen beide zu der Bewertung, dass die uns gebotene Situation (Chaos) noch
zu erheblichen Verletzungen, wenn nicht sogar zu Toten, führen würde.

Der zuständige Hundertschaftsführer (Schwärzung) war nun vor Ort und bestätigte
unsere Beurteilung der Lage.

Nach Rücksprache mit der Gesamteinsatzleitung der Landespolizei entschlossen wir


uns aufgrund der erheblichen Gefährdung aller Personen und Sachen, den Bereich
der Domtreppe über den Bahnhofsvorplatz in Richtung Domprobst-Ketzner-Str. zu
räumen.

(Schwärzung) fragte nach anlassbezogener Unterstützung bei der Räumung, welche


durch (Schwärzung) zugestimmt wurde. (Schwärzung) übernahm die Sperrung des
Bahnhofes und hielt sich für eine lageangepasste Unterstützung am Hauptausgang
bereit.

Die Räumung begann ca. 23.30 Uhr oberhalb der Domtreppe in Richtung des
Vorplatzes. Als die Räumkräfte auf Höhe (Schwärzung) waren, sperrten die den HBF
Köln am Hauptausgang des A-Tunnels für jeglichen Personenverkehr.

Im Laufe der Räumung wurden die Einsatzkräfte Land und Bund immer wieder mit
Feuerwerkskörpern beschossen und mit Flaschen beworfen.

Aufgrund dieser Situation unterstützten wir neben der Absperrung die Räumung des
Einsatzraumes mit massivem Zwangseinatz in Form von einfacher körperlicher
Gewalt. Erschwerend bei der Räumung waren neben der Verständigung die
Körperlichen Zustände der Personen aufgrund des offensichtlichen massiven
Alkoholgenusses und anderer berauschender Mittel (z.B. Joint)

Ende der Räumung gegen ca. 00.15 Uhr

Im weiteren Einsatzverlauf kam es immer wieder zu mehrfachen körperlichen


Auseinandersetzung vereinzelter Personen wie auch Personengruppen, Diebstählen
und Raubdelikten an mehreren Ereignisorten gleichzeitig.

Im Einsatzverlauf erschienen zahlreiche weinende und schockierte Frauen/Mädchen


bei den eingesetzten Beamten und schilderten von sex. Übergriffen durch mehrere
männliche Migranten/-gruppen. Eine Identifizierung war leider nicht mehr möglich
(sieh Punkt 8 u.a.)

Die Einsatzkräfte konnten nicht allen Ereignissen, Übergriffen, Straftaten usw.


Herr werden, dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit.

Aufgrund der Vielzahl der o.a. Taten beschränkten sich die Einsatzkräfte auf die
Lagebereinigung mit den notwendigsten Maßnahmen. Da man nicht jedem Opfer einer
Straftat helfen und den Täter dingfest machen konnte, kamen die eingesetzten
Beamten an die Grenze zur Frustration. Zu Spitzenzeiten war er den eingesetzten
Kräften nicht möglich angefallene Strafanzeigen aufzunehmen.

Neben den oben geschilderten Situationen kamen noch folgende Ereignisse/


Vorfälle, die hier nicht alle aufgeführt werden, hinzu:

1. Zerreißen von Aufenthaltstiteln mit einem Grinsen im Gesicht und der Aussage:
"Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen."

2. "Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich
eingeladen."

3. Platzverweise wurden meist mit Zwang durchgesetzt. Betreffende Personen


tauchten immer wieder auf und machten sich einen Spaß aus der Situation. Ein
Gewahrsam kam in dieser Lage aufgrund der Kapazitätsgrenze in der Dienststelle
nicht in Betracht.

4. Bahnsteigsperrung aufgrund der Überfüllung. Reaktion: auf den Nebenbahnsteig,


über das Gleis auf den überfüllten/ abgesperrten Bahnsteig. Dies führte zu
Gleissperrung, da sich Personen im Gleis befanden, welches die Situation auf den
Bahnsteigen nicht entschärfte

5. Zustieg in die Züge nur über körperliche Auseinandersetzungen - Recht des


Stärkeren.

6. Im ganzen Bahnhof überall "Erbrochenes" und Stellen, die als Toilette genutzt
wurden.

7. Viele männliche Personen (Migranten), die ohne Reiseabsichten in allen


Bereichen des Bahnhofes ihren Rausch ausschliefen (Bankschalter, Warteraum
usw.).

8. Wurden Hilferufe von Geschädigten wahrgenommen, wurde ein Einschreiten der


Kräfte durch herumstehende (Mitglieder?), z.B. durch Verdichten des
Personenringes/ Massenbildung daran gehindert, an die Betreffenden
(Geschädigte/Zeugen/Täter) zu gelangen.

9. Geschädigte/Zeugen wurden vor Ort, bei Nennung des Täters, bedroht oder im
Nachgang verfolgt, usw.

Aufgrund der ständigen Präsenz der Einsatzkräfte und aufmerksamer Passanten im


Bahnhof konnten vollendete Vergewaltigungen verhindert werden.

Auffällig war zudem die sehr hohe Anzahl an Migranten innerhalb der
polizeilichen Maßnahmen der Landespolizei und im eigenen Zuständigkeitsbereich.
Maßnahmen der Kräfte begegneten einer Respektlosigkeit, wie ich sie in 29
Dienstjahren noch nicht erlebt habe.

Der viel zu geringe Kräfteansatz, fehlende FEM (war im Vorfeld so nicht zu


erwarten brachte alle eingesetzten Kräfte ziemlich schnell an die
Leistungsgrenze.

Die Einsatzkräfte absolvierten den ganzen Einsatz in schwerer Schutzausstattung


und behelmt von 21.45 Uhr bis 07.30 Uhr, ohne die Leistungsbereitschaft und den
Leistungswillen zu verlieren.

Diese chaotische und beschämende Situation in dieser Silvesternacht, führte zu


einer zusätzlichen Motivation innerhalb der BFE der BFHu St. Augustin, dem
Regeldienst der BPOLI Köln und den eingesetzten Einsatzkräften der
Landespolizei."

UPDATE: 8. Januar 2016

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GRAFIK: Polizei Köln/-


Scan einer Stelle des Polizeiberichts
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1763 of 1849 DOCUMENTS

Die Welt

Montag 11. Januar 2016

Multikulti ganz neu denken

AUTOR: Alan Posener

RUBRIK: FORUM; Leitartikel; S. 3 Ausg. 8

LÄNGE: 1063 Wörter

Wieder einmal ist Multikulti gescheitert. Die Bundeskanzlerin hat das öfter
gesagt, und sie wird es wiederholen. Die Rechtspopulisten werden ihr dieses
Negativbekenntnis angesichts der realen Migrationszahlen nicht abnehmen, zu
Recht. Man wird von den Migranten die Annahme der deutschen Leitkultur
verlangen, ohne genau zu sagen, was damit gemeint und wie die vollzogene
Akzeptanz festzustellen wäre. Die kleiner werdende Zahl derjenigen, die am
Multikulturalismus festhalten, gerät unter Druck: Wollt ihr überall Verhältnisse
wie in Köln? Stehen Werte der Aufklärung wie die Gleichberechtigung der Frau und
die Akzeptanz von Schwulen zur Disposition? Soll im Namen der Toleranz
Unterwerfung unter den intoleranten Islam geübt werden?

Die Antworten lauten: Nein, nein und nein. Aber es wäre naiv zu leugnen, dass es
eine Form des Multikulturalismus gibt, der in der Tat westliche Werte zur
Disposition stellt. Wenn Multikulti nicht scheitern soll, dann müssen dessen
Anhänger auch sagen, was er nicht sein darf. Vorher allerdings sollten sie
darauf hinweisen, dass weder die Emanzipation der Frau noch die
Gleichberechtigung von Minderheiten zu den Urwerten der Aufklärung, geschweige
denn des Abendlands gehören. Das Christentum kam lange ohne sie aus. Viele
Denker der Aufklärung waren Antisemiten, und die französischen Revolutionäre
verfolgten Katholiken. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung proklamierte
die Gleichheit aller Männer, die Verfassung schloss aber Schwarze davon aus, und
die Frauen hatten nichts zu sagen. Für den aufgeklärten Kolonialismus war die
Mehrheit der Menschheit "unterentwickelt".

Für aufgeklärte Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts waren Geisteskranke


und "Perverse" auszumerzende Schwachstellen im Sozialgefüge. Der Antisemitismus
ist bis heute in Teilen Europas gesellschaftsfähig. Schwul sein war in der
Bundesrepublik bis 1971 strafbar. Dass wir es, um mit Fausts Famulus Wagner zu
reden, so herrlich weit gebracht haben, ist eine Folge des richtig verstandenen
Multikulturalismus. Der falsche Multikulturalismus kann all das gefährden. Der
Multikulturalismus entstand in Amerika - wo sonst? - als Antwort auf die Theorie
des "Schmelztiegels", wie sie Israel Zangwill 1908 in seinem gleichnamigen Stück
formulierte. Zangwills Held David entkommt in Russland einem Pogrom und heiratet
in Amerika eine Christin, deren Vater das Pogrom geleitet hatte. "Kelte und
Lateiner, Slave und Teutone, Grieche und Syrer, Jude und Heide, Ost und West,
Halbmond und Kreuz - sie alle schmilzt der große Alchemist zusammen!", schwärmt
David. "Hier vereinen sie sich, um die Republik des Menschen und das Königreich
Gottes zu bauen!"

Sechzig Jahre später fragten sich Frauen und Schwule, Schwarze, "Indianer" und
andere, ob nicht der Schmelztiegel als Ideologie benutzt würde, um die Anpassung
an die Normen "toter weißer Männer" zu erzwingen, in denen andere Erfahrungen,
Narrative, Sichtweisen nicht vorkamen. Gleichzeitig verschwammen in den
Kulturkämpfen der 60er-Jahre die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur,
Hochsprache und Dialekt, Zentrum und Peripherie. Zur Zweihundertjahrfeier der
USA 1976 sprach man nicht mehr vom "Schmelztiegel", sondern von der
"Salatschüssel", in der die verschiedenen Zutaten ihre Besonderheit beibehalten.
Das ist progressiver Multikulturalismus.

Dieser Multikulturalismus nimmt das Versprechen der Aufklärung ernst, alle


Menschen seien gleichberechtigt und gleichwertig - und lehnt gerade deshalb die
Gleichmacherei ab. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich die
eurozentrische, männerdominierte Schulweisheit träumen lässt. Auch die Aufklärer
müssen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit heraustreten und die
Konsequenzen ihrer Theorie anerkennen. Mischt man alle Farben zusammen, erhält
man Grau. Oder schlimmer, Braun. Anhand der Diskussion über die Beschneidung sah
man zuletzt, wie die verbissene Verabsolutierung emanzipativer Gedanken - in
diesem Fall des Rechts unmündiger Kinder auf körperliche Unversehrtheit -
umschlagen kann in die Unterdrückung von Minderheiten. Und doch bleibt es
richtig, dass nicht jeder religiöse oder kulturelle Brauch von einer toleranten
Gesellschaft toleriert werden kann.

Manche Formen von Multikulti machen es allerdings unmöglich, solche Diskussionen


überhaupt zu führen. Denn sie stellen jede Aussage unter Verdacht, die nicht von
den "richtigen" Leuten kommt. Der Gelehrte Edward Said, selbst ein Produkt
britischer Bildung, tat alle Leistungen der Europäer auf dem Gebiet der
Kulturwissenschaften des Nahen und Mittleren Ostens als rassistischen und
interessengeleiteten "Orientalismus" ab. Seine Epigonen in den ehedem
kolonisierten Ländern begründeten die "subalternen" Studien, die das westliche
Narrativ nicht bloß korrigierten, sondern verwarfen. In den Hochschulen des
Westens wurde der Anspruch auf universelle Bildung von den Propagandisten der
"Black Studies" ebenso wie diverser Gender-Theorien verworfen. In seiner
banalsten Form läuft dieser Relativismus auf die alte vulgärmarxistische These
hinaus, das Sein bestimme das Bewusstsein. In seinen hinterhältigsten
Ausprägungen erklärt der Dekonstruktivismus alles Wissen für verdächtig, alle
Verallgemeinerungen für falsch, alle Identitäten für konstruiert, alle
Wissenschaft zur Ideologie.

Aus dem bunten Multikulturalismus macht diese perverse Theorie eine


nihilistische Nacht, in der alle Fakten grau sind. In seiner Leugnung jeglicher
Normen, jeglichen Kanons, jeglicher Wahrheit außer dem Kampf ist sie dem Denken
des Nationalsozialismus näher als dem Multikulturalismus, der aus der
Selbstkritik der Aufklärung hervorgeht. Richtig verstanden ist Multikulti
allerdings die wichtigste Waffe gegen die Intoleranz der Zugewanderten. In
seinem Roman "Unterwerfung" lässt Michel Houellebecq einen Konvertiten darlegen,
dass der Islam kompatibel sei mit den Aussagen der Naturwissenschaften und vor
allem Charles Darwins. Das mag sein. Darauf kommt es nicht an. Sondern darauf,
dass der Islam lernt, eine Sichtweise unter vielen zu sein. Nicht mehr, aber
auch nicht weniger. Das gilt auch für diejenigen, die behaupten, "das Volk" zu
sein. Als ob Volk und Kultur je übereingestimmt hätten! Dass die Gesetze für
alle gelten, auch für jene, die sie für übertrieben liberal halten, steht dabei
nicht zur Debatte.

alan.posener@weltn24.de (mailto:alan.posener@weltn24.de)

UPDATE: 11. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Michael Brunner

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Die Welt

Dienstag 12. Januar 2016

Brandmauer für Ralf Jäger;


Der NRW-Innenminister wirft der Kölner Polizei totales Einsatz- und
Kommunikationsversagen vor - um seine eigene Haut zu retten

AUTOR: Kristian Frigelj


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 9

LÄNGE: 1241 Wörter

Düsseldorf

Im Saal E3D01 des nordrhein-westfälischen Landtags entsteht eine große


Brandmauer. Sie ist unsichtbar, und es droht auch kein richtiges Feuer. Es geht
um Fehler und schwere Vorwürfe, die auch für Nordrhein-Westfalens Innenminister
Ralf Jäger (SPD) brandgefährlich werden können. Eigentlich tagt hier die
SPD-Landtagsfraktion, doch am Montag beschäftigen sich die Abgeordneten des
Innenausschusses in einer Sondersitzung mit den Silvester-Übergriffen am
Hauptbahnhof in Köln. Jäger will verhindern, dass ihm eine Mitverantwortung
zugeschanzt wird.

In der Not tut der Innenminister etwas Ungewöhnliches: Er grenzt sich als
Dienstherr ganz hart von einer seiner unteren Behörden ab, anstatt sie, wie
sonst eher üblich, gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Jäger spricht im
Innenausschuss ein vernichtendes Urteil über das Polizeipräsidium Köln: "Das
Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht
akzeptabel." Man dürfe das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht aufs Spiel setzen.
"Wegen fehlender Informationen und mangelhafter Kommunikation wurde die dringend
benötigte Verstärkung für diese unerwartete Lageentwicklung nicht angefordert
und die angebotene Verstärkung nicht abgerufen", sagt der Innenminister.

Er kritisiert, dass die beteiligten Stellen "nicht auf dem gleichen


Informationsstand" gewesen seien. "Die Kräfte vor Ort waren zu wenige, um den
Straftätern Einhalt zu gebieten. Die Strafverfolgung ist schleppend angelaufen
und die Informationspolitik über den Fortgang der Ermittlungen war unvollständig
und zögerlich", erklärt Jäger. Deshalb sei es notwendig gewesen, den
Polizeipräsidenten Wolfgang Albers in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen.
Jägers Fazit: "Die Kölner Polizei hätte aber auf die Entwicklung reagieren
müssen und auf zusätzliche, in der Silvesternacht verfügbare Kräfte,
zurückgreifen müssen." Silvester waren insgesamt 142 Polizeibeamte und 70 Beamte
der Bundespolizei, die für das Innere des Hauptbahnhofs zuständig ist, im
Einsatz.

Im Grunde genommen verwirft Jäger mit seiner Generalkritik das gesamte


Einsatzkonzept in der Silvesternacht und diskreditiert damit nicht nur den
geschassten Behördenchef, sondern auch die Einsatzleitung. Erst später in seiner
Einlassungsrede dankt er den Beamten, die im Einsatz gewesen seien und ihre
"Köpfe hingehalten" hätten. Der Tenor ist unmissverständlich: Die Einsatzführung
trägt Schuld an dem Einsatzdesaster, nicht die einfachen Polizeibeamten.

Vor allem merkt der Ministeriumsbericht kritisch an, dass am Silvesterabend aus
Köln keine Verstärkung auf Landesebene angefordert wurde. Mit diesem Argument
verbreitert man die beabsichtigte Brandmauer um Jäger. Es habe eine
Rufbereitschaft für die Bereitschaftspolizei bereitgestanden. Der Bericht weist
darauf hin, dass sich gegen 20.30 Uhr bereits bis zu 500 alkoholisierte,
aggressive und enthemmte Männer auf dem Bahnhofsvorplatz aufhielten, und deutet
damit an, dass die Einsatzleitung schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine sich
verschärfende Situation hätte erkennen müssen. Als die Leitstelle der
Landespolizei gegen 23.30 Uhr telefonisch informiert wurde, weil sich inzwischen
bis zu 1500 Personen auf dem Bahnhofsvorplatz befanden, bot man personelle
Verstärkung an, doch Kölns Polizei verzichtete darauf.

Es wäre eine "zeitnahe Unterstützung" möglich gewesen, betont der


Ministeriumsbericht. "Unterstützungskräfte hätten die Behörde in die Lage
versetzt, Straftaten zu verhindern, früher Kenntnis von sexuellen Straftaten in
den Personengruppen zu erhalten, konsequenter und entschiedener gegen die
Straftäter und Störer vorzugehen, strafprozessuale Maßnahmen durchzuführen",
heißt es in dem Bericht. An anderer Stelle wird das Führungsversagen zu
Silvester noch krasser ausgedrückt: "Die Einschätzung des PP Köln am Einsatztag,
mit den vorhanden Kräften polizeiliche Maßnahmen umfassend durchführen zu
können, wird als gravierender Fehler bewertet."

Jäger konzentriert sich darauf, dass die Polizei Köln alleinverantwortlich


gehandelt hat, dass die Lage so nicht vorhersehbar gewesen sei und es sich bei
den zahlreichen erfolgten sexuellen Übergriffen mit Diebstahl um ein neues
"Phänomen" handelt.

Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt Jägers an der Kölner Polizei ist die
falsche Darstellung der Geschehnisse. An diesem Punkt versucht die Opposition,
ein großes Loch in seine Brandmauer zu reißen. Abgeordnete von CDU und FDP
fragen ihn, wann Jäger vollständig informiert worden sei und warum er die
falsche Darstellung des Polizeipräsidenten zu den Silvester-Übergriffen nicht
öffentlich korrigiert habe.

Jäger beantwortet diese Frage in der mehrstündigen Ausschusssitzung nicht und


sagt lediglich, sein Ministerium habe darauf gedrängt, dass die Polizei Köln
alles über die Herkunft der Störer und Tatverdächtigen benenne. Er muss sich
anhören, wie die Opposition einen "rechtsfreien Raum" am Silvesterabend in Köln
beklagt, dass es generell eine "Erosion des Rechtsstaates" gebe und dass Jäger
Mitverantwortung an dem Versagen in Köln trage, auch weil er zu lange am
umstrittenen Polizeipräsidenten festgehalten habe. Doch einen Rücktritt will im
Ausschuss niemand fordern. Später teilte die CDU mit, Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft müsse sich "überlegen", ob Jäger seinen Aufgaben "noch gewachsen
ist". Der Innenminister pariert im Ausschuss die Vorwürfe und sagt, es habe
keine Weisung aus seinem Haus gegeben. Es sei "ausgeschlossen", dass sein
Ministerium bei einer operativen Einsatzlage einer Polizeidienststelle
eingreife. Jäger wagt einen Vergleich: Die Gesundheitsministerin würde ja auch
keine Blinddarmoperation durchführen.

Der bewertende Bericht des NRW-Innenministeriums bestätigt die bereits


kursierenden Polizeiprotokolle und die Schilderungen der betroffenen Frauen. Der
mitgelieferte Bericht der Polizei Köln offenbart auch noch weitere Details, die
brisant wie unbequem sind. So taucht bei den bisher 19 Tatverdächtigen kein
Deutscher auf; zehn von ihnen sind Asylbewerber und neun vermutlich illegal
eingereist, heißt es in dem Ministeriumsbericht. Alle 19 Tatverdächtigen
besitzen keinen festen Wohnsitz. Auch wenn sie am Ende keine Täter sein sollten,
macht dies die Defizite bei der Registrierung von Asylbewerbern deutlich. Der
spektakuläre Fall des Asylbewerbers Walid Salihi aus Recklinghausen kam dabei
nicht zur Sprache. Nachdem "Welt am Sonntag" exklusiv über Salihi berichtet
hatte, kam heraus, dass dieser reihenweise Straftaten begangen und mehrere
Identitäten besessen hatte. Am 7. Januar, dem Jahrestag der Terroranschläge auf
die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", wurde er in Paris erschossen, als er
Polizisten mit einem Schlachtbeil bedrohte.

Der beigefügte Bericht der Polizei Köln zeigt, dass bei den Taschendiebstählen
innerhalb eines Jahres lediglich 0,5 Prozent der überführten Täter Syrer sind
und über 40 Prozent Nordafrikaner. Mittlerweile sind 516 Strafanzeigen wegen der
Silvester-Übergriffe eingegangen: In 237 Fällen handelt es sich um
Sexualdelikte; 107-mal wurde ein Diebstahl angezeigt; in den übrigen 279 Fällen
geht es um Raub und Körperverletzung. Dies ist die noch vorläufige juristische
Statistik nach dem Silvesterchaos, das der Innenminister so umschreibt: "Nach
dem Alkohol- und Drogenrausch kam der Gewaltrausch. Und es gipfelte in der
Auslebung sexueller Allmachtsfantasien."
Das Bild, das die Kölner Polizei Silvester abgegeben hat, ist nicht akzeptabel
Ralf Jäger, NRW-Innenminister

UPDATE: 12. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Federico Gambarini


Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) will verhindern, dass
man ihm eine Mitschuld für das Versagen am Silvesterabend zuschanzt
Federico Gambarini

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Die Welt

Mittwoch 13. Januar 2016

Österreich, Sigmar Gabriel und die Türkei

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 10

LÄNGE: 188 Wörter

In Österreich sind im vergangenen Jahr mehr als dreimal so viele Asylanträge


gestellt worden wie im Jahr zuvor. 2015 gingen bei den dortigen Behörden 90.000
Asylanträge ein, wie das Innenministerium in Wien bekannt gab. Die größten
Gruppen bildeten demnach die Afghanen mit rund 25.200 Anträgen, die Syrer mit
gut 25.000 Anträgen und die Iraker mit rund 13.500 Anträgen.

Gemessen an der Einwohnerzahl ist das 8,5 Millionen Einwohner zählende


Österreich nach Schweden und Deutschland eines der EU-Länder, die im vergangenen
Jahr die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. 2014 wurden in Österreich 28.000
Asylanträge gestellt.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihren
Gesprächen mit der Türkei zu einer schnellen Einigung aufgerufen. Teilnehmern
der SPD-Fraktionssitzung in Berlin zufolge sagte Gabriel weiter: "So etwas darf
nicht an den drei Milliarden Euro scheitern. Notfalls müssen wir es alleine
machen." Die EU hatte der Türkei im November drei Milliarden Euro zugesagt, um
die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Deutschland soll davon gut 500 Millionen
Euro tragen.

UPDATE: 13. Januar 2016


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Dienstag 19. Januar 2016

Kann Mazedonien helfen, die EU-Außengrenze zu schützen?;


Die Kritik an Athen wächst, nun soll Skopje eine aktivere Rolle beim Grenzschutz
übernehmen. Doch das Land steckt in einer schweren Krise

AUTOR: Silke Mülherr; Michael Stürmer

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 15

LÄNGE: 961 Wörter

Die Hoffnung, dass die Winterstürme über der Ägäis die Flüchtlinge von der
gefährlichen Überfahrt abhalten würden, hat sich nicht erfüllt. Trotz des
schlechten Wetters sind nach den neuesten Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks
(UNHCR) in den ersten 16 Tagen des Jahres 29.088 Migranten und Flüchtlinge aus
der Türkei nach Griechenland gekommen. Immer häufiger nehmen sie von dort aus
ungehindert den Weg über das angrenzende Mazedonien weiter in Richtung Norden.

Die Kritik an Griechenland, das immerhin Mitglied des Schengenraums ist und die
Flüchtlinge deshalb kontrollieren und registrieren müsste, wächst. "Es gibt
keine Sicherung der Außengrenze", beschwerte sich Österreichs Außenminister
Sebastian Kurz am Montag über Athen. Griechenland reiche die Flüchtlinge so
schnell wie möglich an Mazedonien weiter. Der slowenische Premier Miro Cerar
bringt deshalb eine aktivere Rolle des Balkanstaats bei der Kontrolle der
Flüchtlinge ins Spiel (siehe Interview). Doch kann Mazedonien, das Stiefkind
Europas inmitten des Westbalkans, dieser zentralen Rolle überhaupt gerecht
werden?

Zuletzt war es an der mazedonisch-griechischen Grenze zu erheblichen Spannungen


gekommen, weil die Regierung in Skopje eine neue Regelung anwendet. Danach
dürfen nur noch Syrer, Afghanen und Iraker durchgelassen werden. Alle anderen
Flüchtlinge stuft Mazedonien als Wirtschaftsmigranten ein. Um die Grenze besser
kontrollieren zu können, haben mazedonische Soldaten Ende 2015 mit dem Bau eines
drei Meter hohen Metallzauns begonnen. Es gibt seither an der Grenze regelmäßig
Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den dort gestrandeten Menschen.
Ein Mann aus Marokko war Ende Dezember durch einen Stromschlag an den
Bahngleisen ums Leben gekommen.

Dabei ist der Umgang mit den Flüchtlingen derzeit gar nicht die größte
Herausforderung für Skopje. Das Land von etwas mehr als zwei Millionen
Einwohnern, darunter der Großteil muslimische Albaner, steckt in einer schweren
innenpolitischen Krise. Am Freitag vergangener Woche ist Regierungschef Nikola
Gruevski zurückgetreten, um vorzeitige Neuwahlen im April zu ermöglichen. Die
Opposition hatte zuvor über Monate das Parlament boykottiert, weil die Wahlen im
Vorjahr von der Regierung manipuliert gewesen sein sollen. Daneben hatte die
Opposition illegal abgehörte Telefonate führender Regierungsmitglieder
veröffentlicht, mit denen groß angelegte Korruption bewiesen werden sollte.

Am Freitag war auch EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn nach Skopje


gereist, um die Vorsitzenden der vier wichtigsten Parteien zur Einhaltung von
Abmachungen zu bewegen. Die EU hatte im Sommer ein Abkommen vermittelt, mit dem
die innenpolitische Blockade überwunden werden sollte. Doch der Österreicher
Hahn musste am Samstag sein vorläufiges Scheitern eingestehen: "Es war nicht
möglich, zwischen den Parteien ein Abkommen für Wahlen am 24. April zu
erzielen", sagte der EU-Kommissar nach stundenlangen Verhandlungen. Der Chef der
oppositionellen Sozialdemokraten, Zoran Zaev, begründete seine Ablehnung der
Neuwahlen im April so: "Es gibt keine Garantie, dass diese Wahlen frei und fair
werden."

In Berlin verfolgt man die Lage mit Sorge. "In der ehemaligen jugoslawischen
Republik Mazedonien geht es zunächst darum, die innenpolitische Krise rasch und
nachhaltig zu überwinden. Im Vordergrund stehen dabei Reformen, die eine
Durchführung der vereinbarten Neuwahlen nach europäischen Standards
sicherstellen", forderte Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen
Amt. Roth verweist darauf, dass die EU und auch Deutschland Mazedonien bereits
bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise unterstützen. So habe die
Bundesregierung im Jahr 2015 für die beiden Transitstaaten Mazedonien und
Serbien insgesamt 2,1 Millionen Euro humanitäre Hilfe sowie zusätzlich 1,3
Millionen Euro Unterstützung für strukturbildende Maßnahmen zur Verfügung
gestellt.

Die Fortsetzung der Blockade in Skopje dürfte eine noch engere Zusammenarbeit
der EU mit Mazedonien beim Grenzschutz jedoch erschweren. "Es ist trotzdem sehr
wahrscheinlich, dass der Chef der Übergangsregierung den Europäern Zusagen
machen wird", glaubt Dusan Reljic, Balkan-Experte der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP). "Nur wird Mazedonien diese Versprechen angesichts der
innenpolitischen Krise gar nicht einhalten können." Die Annäherung an die EU
wird außerdem von einem Namensstreit blockiert. Seit dem Zerfall Jugoslawiens
vor bald 25 Jahren versucht Skopje wenigstens den Namen des Landes aus eigener
Wahl zu bestimmen: Mazedonien. Man will damit an eine ruhmreiche Vergangenheit
anknüpfen, die allerdings einer genaueren historischen Prüfung kaum standhält.
Die Mazedonier verweisen stolz auf ihre Wurzeln im klassischen Griechenland -
doch nicht zuletzt die historische Eroberung der Region durch den militanten
Islam und die fortdauernden Kämpfe mit der Republik von Venedig erzeugten ein
Völkergemisch einzigartiger Art, ein Klein-Balkan in der Mitte des großen
Balkan.

Die Griechen ziehen deshalb die gemeinsamen Wurzeln in Zweifel, außerdem fühlen
sie die eigene nordgriechische Provinz gleichen Namens bedroht durch den
Kleinstaat im Norden. Es machte die Sache nicht besser, dass die Mazedonier den
Flughafen der Hauptstadt Skopje nach Alexander dem Großen benannten, den die
Griechen doch als Schüler des Aristoteles, als Weltengründer und hellenistischen
Halbgott in Anspruch nehmen. Die griechische Blockade mag von außen wie eine
Narrenposse erscheinen, ist aber Unruhefaktor ersten Ranges, der jeder
Dauerlösung im Wege steht und die Stabilisierungs- und Assoziationspolitik der
Europäischen Union nachhaltig erschwert. Ein regionaler Namensstreit wird nun
weiter aufgeladen durch die Flüchtlingskrise, die nicht nur Mazedonien
überfordert.
UPDATE: 19. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Mittwoch 27. Januar 2016

Leipzig und Erfurt sind das neue Berlin;


Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern wächst wieder, vor allem in den
Metropolen. Sogar das Landleben ist für eine Altersgruppe attraktiv

AUTOR: Claudia Ehrenstein

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 22

LÄNGE: 970 Wörter

Die Abwanderung aus den neuen Ländern ist gestoppt. Das ist die gute Nachricht
der Studie "Im Osten auf Wanderschaft". Das Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung hat für die Jahre 2008 bis 2013 alle Zuzüge und Abwanderungen in
2695 ostdeutschen Gemeinden ausgewertet und analysiert, wie die Umzüge die
demografische Entwicklung in Städten und auf dem Land beeinflussen.

Dabei zeigt sich, dass die großen Metropolen auch für junge Zuwanderer aus
Westdeutschland und dem Ausland attraktiv sind. Die positive Entwicklung dieser
Städte geht vor allem zulasten der ländlichen Regionen, die zum Teil regelrecht
veröden. Das sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

1. Fünf Städte boomen

Leipzig, Dresden, Jena, Erfurt und Potsdam sind die großen Zuwanderungsgewinner
im Osten. Gezielte Städtebauförderung hat die Städte so attraktiv gemacht, dass
heute mehr Menschen zuziehen als abwandern. Die neuen Bewohner kommen aus Ost-
und Westdeutschland, aber auch aus dem Ausland. Wo Unternehmen,
Forschungseinrichtungen und kluge Köpfe zusammenkommen, entstehen neue
Arbeitsplätze, kommen junge Leute zum Studieren - was diese Städte nur noch
anziehender macht. Aus Sicht von Reiner Klingholz, dem Direktor des
Berlin-Instituts, ist dieser Trend ein Beleg dafür, dass die Förderpolitik von
Bund und Ländern erfolgreich war. Die ostdeutschen Flächenländer hätten damit
endlich wieder national und international wettbewerbsfähige Städte.

2. Die Provinz verödet


Beim Wettbewerb um neue Einwohner gibt es auch Verlierer: Rund 85 Prozent der
ostdeutschen Kommunen schrumpfen. Die Menschen zieht es aus den Dörfern in die
größeren Städte. Es gibt auf dem Land kaum noch Arbeit - was vor allem auch am
Strukturwandel in der Landwirtschaft liegt. Nach der Wiedervereinigung haben die
ostdeutschen Bundesländer unterm Strich 1,8 Millionen Einwohner verloren.

Seit 2010 ist diese Abwanderung dank der boomenden Großstädte zwar gestoppt. Die
Studie zeigt aber: Es gibt Regionen vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen-Anhalt, die so wenig zu bieten haben, dass die Menschen ihren Wohnort
aufgeben und auch niemand dorthin ziehen will - zum Beispiel wenn die
Fahrdistanz zur nächsten größeren Stadt mehr als 45 Minuten beträgt. Dann gibt
es kaum eine Chance, den "Schrumpfkurs" aufzuhalten oder gar umzukehren.

3. Einzelne Dörfer sind beliebt

Es gibt natürlich auch Menschen, die gern fernab der großen Zentren auf dem
Lande leben wollen. Sie suchen sich aber Dörfer aus, die etwas zu bieten haben.
Als Beispiel nennt die Studie die Thüringer Gemeinde Bösleben-Wüllersleben, die
etwa ein halbe Stunde von Erfurt entfernt ist.

Das Dorf hat etwas mehr als 600 Einwohner und ist mit einem Abenteuerspielplatz,
einem Volleyballplatz, einem Bürgerhaus, einem Jugendklub mit Kegelbahn und
einem Kindergarten für Familien besonders attraktiv. Das gilt auch für die
Gemeinde Hinrichshagen vor den Toren Greifswalds in Mecklenburg-Vorpommern.
Schon wenige Zuzügler können laut Studie dazu beitragen, dass Dorfleben
aufrechtzuerhalten oder sogar neu zu beleben. "Auf dem Lande müssen sich die
Menschen mehr um ihre eigenen Belange kümmern", sagt Demografieexperte
Klingholz. Die Vereinsdichte sei ein Indikator für Stabilität und ein Zeichen
dafür, dass sich die Einwohner wohlfühlen.

4. Die Alten wollen noch was erleben

Neu ist, dass auch die ältere Generation 64 plus noch sehr mobil ist. Diese
Ruhestandswanderer ziehen vom Land in die nächste größere Gemeinde, wo sie sich
bereits gut auskennen. Dort sind die Wege zum nächsten Supermarkt oder zum
Hausarzt kürzer, was den Alltag bequemer macht. Gleichzeitig haben gerade auch
mittelgroße Städte ein kulturelles Angebot.

Wenn erst einmal die Babyboomer in dieses Alter kommen, wird die Zahl der
Ruhestandswanderer noch zunehmen. Der Bildungsstand in dieser Generation ist
höher als früher, und die Menschen wollen auch im Alter noch etwas erleben.
"Eine alternde Gesellschaft wird damit zwangsläufig zu einer urbaneren
Gesellschaft", heißt es in der Studie.

5. Die Jungen zieht es in die lebendigen Metropolen

Es ist vor allem die Generation der 18- bis 24-Jährigen, die dem Landleben den
Rücken kehrt. Die Studie spricht von "Bildungswanderern". Sie suchen sich in den
größeren Städten eine Lehrstelle oder einen Studienplatz. Um als
Berufseinsteiger einen Arbeitsplatz zu finden, müssen sie jedoch oft in den
Westen gehen. Diese "Berufswanderer" sind nach Angaben der Studie "die einzige
Altersgruppe, die unterm Strich auch 2013 die neuen Bundesländer noch verlassen
hat". Das aber ändere sich gerade. Haben die jungen Erwachsenen erst einmal
einen Job gefunden und eine Familie gegründet, ziehen sie mit ihren Kindern oft
in die Speckgürtel der Städte - was am ausgeprägtesten rund um Berlin zu
beobachten ist.

6. Mit 50 noch einmal etwas Neues anfangen


Sind die Kinder aus dem Haus, entscheiden sich immer mehr Ehepaare, den Wohnort
zu wechseln und zugleich in eine kleinere Wohnung umzuziehen. Die Studie spricht
von "Empty-Nest-Wanderern". Vor allem in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen ist dieser Trend zu beobachten.

7. Flüchtlinge als Chance für den Osten

Von der Willkommenskultur vor Ort hängt es ab, ob Flüchtlinge sich in den
ländlichen Regionen des Ostens wohlfühlen und sich entscheiden zu bleiben.
Derzeit zieht es Flüchtlinge bundesweit zwar noch vor allem in die Großstädte:
Syrer nach Berlin, Iraker nach München, Afghanen nach Hamburg und Pakistaner in
das Rhein-Main-Gebiet. In der Studie heißt es jedoch: Die Gemeinschaft in den
Dörfern, vom Bürgermeister über die Vereine und die freiwillige Feuerwehr bis zu
den Anwohnern, müsste alles daransetzen, um Kontakte zu den Flüchtlingen
aufzubauen und damit die Integration zu fördern. Dann könnte der Osten von einer
kurzfristigen Durchgangsstation für viele zu einer neuen Heimat werden.

UPDATE: 27. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 28. Januar 2016

Härtere Linie gegen Migranten;


Koalition erleichtert Ausweisungen von Straftätern als Reaktion auf Vorfälle in
Köln

AUTOR: Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 23

LÄNGE: 1002 Wörter

Fast einen Monat nach der erschreckenden Silvesternacht mit Gewalttaten gegen
zahlreiche Frauen hat das Bundeskabinett beschlossen, die Ausweisung
ausländischer Straftäter zu erleichtern. Die von Bundesinnenminister Thomas de
Maizière (CDU) und Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vor zwei Wochen
gemeinsam vorgeschlagene Verschärfung des Ausweisungsrechts wurde "eins zu eins"
angenommen, wie das Justizministerium mitteilte - ein Erfolg der beiden
Kabinettskollegen, deren Ressortinteressen häufig in Konflikt geraten.
Nach den Übergriffen in Köln und anderswo hatten Politiker aus Union und SPD
einen Überbietungswettbewerb um die härteste Asyl- und Migrationspolitik
veranstaltet: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD)? Forderte die Streichung
der Entwicklungshilfe für Länder, die ihre aus Deutschland abgeschobenen
Staatsbürger nicht zurücknehmen. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer?
Straffällige Flüchtlinge gleich ganz ohne Prozess abschieben! "Nicht erst das
Strafmaß nach einer Verurteilung soll Grundlage für eine mögliche Abschiebung
sein, sondern bereits ein Delikt", polterte der Bayer. Die Bundeskanzlerin
kündigte am Tag sieben nach Köln in ihrem ganz eigenen Ton an zu prüfen, "ob
wir, was Ausreisenotwendigkeiten anbelangt, schon alles getan haben, was
notwendig ist, um hier auch klare Zeichen zu setzen an diejenigen, die nicht
gewillt sind, unsere Rechtsordnung einzuhalten". Ein Zwischenergebnis dieser
Prüfung ist der vom Bundeskabinett verabschiedete Gesetzentwurf: Im Kern soll
erstens künftig ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bereits dann vorliegen,
wenn ein Ausländer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Das gilt für
Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle
Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte
- unabhängig davon, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Bisher muss eine
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vorliegen.

Zweitens soll nach dem Beschluss ein besonders schwerwiegendes


Ausweisungsinteresse gegeben sein, wenn ein Ausländer zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens einem Jahr verurteilt wird. Auch dies soll künftig unabhängig
davon gelten, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Bisher bedarf es für
die Kategorisierung besonders schwerwiegend einer Strafe von mehr als zwei
Jahren.

Drittens wird auch die Grenze, ab der eine Verurteilung die Anerkennung als
Flüchtling verhindert, abgesenkt. Dies soll künftig bei einer Freiheitsstrafe
von einem statt drei Jahren der Fall sein. Rechtsexperten bezweifeln allerdings,
dass durch diese Verschärfung kriminelle Ausländer schneller außer Landes
gebracht werden. "Mit der Ausweisung ist noch längst nicht gesagt, dass auch
tatsächlich eine Abschiebung erfolgt", sagt der renommierte Ausländerrechtler
Kay Hailbronner der "Welt". Er verweist darauf, dass auch ein besonders
schwerwiegendes öffentliches Interesse immer mit dem Interesse des Ausländers am
Verbleib in der Bundesrepublik abgewogen werden muss. "Der gesetzlichen
Bewertung als schwerwiegend oder besonders schwerwiegend kommt keine allzu große
rechtliche Bedeutung zu, weil der Gesetzgeber keinen Zweifel daran gelassen hat,
dass es sich hierbei nur um Anhaltspunkte handelt, die am Erfordernis der
individuellen Abwägung nichts ändern. Vieles spricht dafür, dass sich im Grunde
an der bisherigen Praxis nichts ändern wird", sagt der Professor.

Der innenpolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Stephan Mayer (CSU),


bezeichnete die Verschärfung des Ausweisungsrechts hingegen als "großen Schritt
nach vorne". Nicht nur die Strafbarkeitsschwellen für die Ausweisung würden
stark abgesenkt, auch das Asylrecht werde künftig leichter verwirkt, wenn ein
Asylbewerber straffällig werde. "Dies hat die Union seit langer Zeit gefordert.
Jetzt müssen die Länder dafür sorgen, dass mit zügigen Verurteilungen und
schellen Ausweisungen und Abschiebungen diejenigen Deutschland schnell
verlassen, die ihr Gastrecht verwirkt haben", sagte Mayer der "Welt".

Ausländerrechtler Hailbronner kann - trotz aller Kritik - der gesetzlichen


Änderung "einen rechtspsychologischen Wert abgewinnen, weil sie verdeutlicht,
dass Straftaten entsprechend gewichtig angesehen werden, um eine
Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen zu können". Es sei allerdings falsch
anzunehmen, dass wegen der herabgesetzten Schwelle die Gerichte das
Ausweisungsinteresse des Staates künftig höher gewichten als das Bleibeinteresse
oder das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Ausländers. Grundsätzlich
gelte: "Ein absolutes Abschiebungshindernis ist die Gefahr unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe. Absolut ist dieses Hindernis, weil hier
die Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht greift", sagt Hailbronner. "Auch
ein Terrorist, der allgemein seine Unterstützung für den Islamischen Staat
erklärt, darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm unmenschliche
Haft- oder Lebensbedingungen drohen." Dabei sei zu beachten, dass unmenschliche
Lebensbedingungen auch angenommen worden seien, wenn keinerlei ökonomische
Existenz möglich sei. Entsprechendes gelte auch für einen Straftäter, der wegen
schwerer sexueller Straftaten abgeschoben werden solle. Bei Syrern oder Afghanen
etwa müssten "sichere Landesteile" vorhanden sein.

Auch wenn es sich nicht um straffällig gewordene anerkannte Flüchtlinge handelt,


sind Abschiebungen schwer durchzusetzen, etwa 200.000 ausreisepflichtige
Ausländer leben in Deutschland. Häufig tauchen die Betroffenen unter oder
quartieren Kinder bei Bekannten ein, sodass am Rückführungstermin die Familie
nicht vollständig ist. Oft scheitern Abschiebungen auch an Krankheiten, einer
anstehenden Elternschaft oder mangelnder Kooperation der Herkunftsstaaten. Das
führt dann zu einer Duldung von Personen, die eigentlich schon ausgewiesen
wurden. Auf den Abbau von Abschiebehindernissen richtete sich das seit November
geplante Asylpaket II, auf das sich die Koalition vielleicht heute endlich
einigt.

UPDATE: 28. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 28. Januar 2016

Beim Familiennachzug gibt es Bewegung

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 23

LÄNGE: 79 Wörter

Im Koalitionsstreit über den Familiennachzug von Flüchtlingen gibt es


offensichtlich einen Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und
SPD-Chef Sigmar Gabriel. Beide wollen sich heute mit CSU-Chef Horst Seehofer
treffen. So soll der Anspruch auf das Nachholen der sogenannten Kernfamilie für
ein Jahr ausgesetzt werden. Dies gelte dann für Flüchtlinge mit eingeschränktem
Aufenthaltsstatus - auch für Syrer. Das war eine Forderung der CSU.

UPDATE: 28. Januar 2016


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Die Welt

Dienstag 2. Februar 2016

Zippert zappt

RUBRIK: TITEL; Zippert zappt; S. 1 Ausg. 27

LÄNGE: 187 Wörter

Die Topjuristin und Spitzen-AfD-Politikerin Beatrix von Storch hat den gerade
ergangenen Schießbefehl gegen Kinder wieder zurückgenommen. Doch auf Frauen darf
weiterhin geschossen werden, jedenfalls wenn es Flüchtlinge sind, die unsere
Grenzanlagen und antidemokratischen Schutzwälle überklettern wollen.
Voraussetzung ist natürlich, dass vorher ein Warnschuss ins Bein abgegeben
wurde. Es ist die Frage, ob uns Frau von Storch mit diesem feigen Rückzieher
einen Gefallen getan hat. Jetzt werden sich Flüchtlinge verstärkt als Kinder
verkleiden oder sich im Schutz größerer Kindergruppen vorwärtsbewegen. Schon
hört man aus türkischen Lagern, dass fluchtbereite Syrer den Satz "Nicht
schießen, ich bin ein Kind" auswendig lernen. Damit beweisen sie zwar einerseits
eine recht ordentliche Integrationsbereitschaft, aber andererseits natürlich
auch eine ziemliche Heimtücke. Nein, wir können es unseren tapferen
Grenzschützern nicht zumuten, erst zu überprüfen, ob sie es wirklich mit einem
Kind zu tun haben, bevor sie reagieren - sie müssen auf alles schießen dürfen,
was sich auf Deutschland zubewegt.

UPDATE: 2. Februar 2016

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Die Welt

Donnerstag 4. Februar 2016

Was ist denn nun deutsch?;


Auf alle Fälle die Negierung des Nationalen. Aber auch die Willkommenskultur.
Hingegen Pegida ganz und gar nicht. Vermessungen in einem verminten Gelände, in
dem auch der linksliberale Mainstream seine Irrlichter setzt

AUTOR: Tilmann Krause

RUBRIK: FORUM; Leitartikel; S. 3 Ausg. 29

LÄNGE: 1148 Wörter

Der Flüchtlingskrise hätte es gar nicht bedurft. Ohnehin legen wir uns alle paar
Jahre wieder, wenn irgendwo am Horizont ein Problem auftaucht, die Frage vor:
"Was ist deutsch?" Was der linksliberale Mainstream dazu sagt, ist klar: Erst
diskreditiert er unter Aufbietung erheblichen Scharfsinns die Frage als solche.
Dann kommt er anhand von vielen Beispielen zu dem Schluss: Das Deutsche gibt es
nicht. Es ist eine Fiktion der Rechten, Ewiggestrigen, Konservativen, Pedigisten
und wie die Feinde alle heißen.

Und eben dies ist schon mal auf alle Fälle sehr, sehr deutsch. Diese Negierung
nationaler Eigentümlichkeiten bei gleichzeitiger Verächtlichmachung derjenigen,
die glauben, sagen zu können, was deutsch ist und was nicht, ist in Europa
absolut einzigartig. Und gerade weil das Deutsche daran den Negierern nicht
bewusst ist, ist es, wie alles Verdrängte, Uneingestandene, ungut. Man kann hier
auch getrost von negativem Nationalismus sprechen, denn auf eine Inanspruchnahme
intellektueller oder moralischer Höherwertigkeit läuft es bei den Verfechtern
der These "Das Deutsche gibt es nicht" meist hinaus.

Diese Koketterie mit der Inexistenz des Deutschen hat hierzulande Tradition.
Unsere geografische Zersplitterung, das verspätete nationale Zu-sich-selber-
Kommen spielen dabei eine große Rolle. "Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß
das Land nicht zu finden", orakelte schon Friedrich Schiller, der sich
tatsächlich in erster Linie als Württemberger, dann aber auch als Weltbürger
sah. Auch sehr deutsch: Man macht sich gerne kleiner oder größer, als man ist.
Balance, Mitte, realistische Einschätzung des eigenen Ortes gelten wenig. Und
angesichts des in Auflösung befindlichen Reiches und der Herrschaft Napoleons
über Europa wird man es Schiller auch nicht übel nehmen, dass er sich schwer tat
zu bestimmen, was deutsch und Deutschland seien. Auch sein Nachsatz zu dem viel
zitierten Diktum ist interessant: "Wo das gelehrte beginnt, hört das politische
(Deutschland) auf." Genau!

Und man kennt selbstverständlich auch die Missbrauchsgeschichte der


Deutschzuschreibungen. Sie beginnt nicht erst mit dem Nationalsozialismus.
Deutsch ist also auch, mit entsprechenden Zuschreibungen vermintes Gelände zu
betreten. Zu unserem Nationalcharakter gehört es, dass wir uns mit uns selber
schwertun. Dazu hat Goethe das Entscheidende gesagt. Thomas Mann ging noch einen
Schritt weiter und brachte den Ambivalenzbegriff ins Spiel. Er, der in seiner
epochalen Vergangenheitsbeschau, dem Roman "Doktor Faustus", eine groß angelegte
nationale Fantasie über "Deutschsein als Verhängnis" schrieb, behauptete, dass
noch in den schönsten Hervorbringungen der deutschen Kultur eine "barbarische
Unterströmung" zu finden sei.
Aber bleiben wir für einen Moment bei diesen Hervorbringungen. Hier kommt nun
regelmäßig die deutsche Musik, Literatur, Philosophie ins Spiel - und zwar in
jener Epoche, die der Germanist Heinz Schlaffer als den zweiten
Kreativitätsausbruch des deutschen Geistes (nach der Sattelzeit um 1200)
bezeichnet hat: Klassik und Romantik. Beide sind übrigens ebenfalls sehr
deutsche Erscheinungen, vor allem wenn man bedenkt, dass sich mit der Klassik
ein humanistisches Erziehungsprogramm und mit der Romantik ein das Vorrationale
und Imaginäre rehabilitierendes ästhetisches Großprojekt verband. Das haben
andere Europäer mit ihrem Schmalspur- Klassizismus und ihrer
Gefühlsseligkeits-Romantik nicht. Man vergleiche André Chénier mit Friedrich
Hölderlin. Rossini mit Schubert.

Aber ist das nicht alles sehr rückwärtsgewandt und noch dazu auf einen
kulturellen Höhenkamm bezogen, an dem schon immer nur sehr wenige Deutsche
Anteil hatten? Ja und nein. Ja insofern, als man eine Nation natürlich nicht in
eins setzen kann mit ihren künstlerischen Gipfelleistungen. Nein aber auch, weil
gerade die spirituell-philosophisch-moralische Aufladung von Kunst, die für
Deutschland typisch ist (Stichwort Kunstreligion) dazu geführt hat, dass diese
Gipfelleistungen und ihre geistige Ausrichtung tief in unsere mentalen Muster
eingesickert sind. Diese Dynamik, die man auch als Säkularisierung bezeichnen
kann, hat vor allem Max Weber sehr eindringlich am Beispiel des
"Kulturprotestantismus" beschrieben.

Und damit sind wir auch schon in der Gegenwart. Was haben wir denn in der
Flüchtlingskrise (bisher) erlebt? Ein geradezu bilderbuchmäßig anschauliches
Erwachen aller deutschen Geister in ihrer ganzen Ambivalenz. Als Erstes das
glühende humanistische Pathos, auf das wir uns so gut verstehen, eine
Willkommenskultur, die sich fast rauschhaft und ganz im Sinne Schillers ("Seid
umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!") in beseeligende
Erfahrungen der Hilfeleistung gießt. Dann eine Kanzlerin, die endlich einmal
ihre christliche Barmherzigkeitsprägung voll ausspielen kann und im Hochgefühl
der Begeisterung ein optimistisches "Wir schaffen das" ausstößt, mit dem sie ja
nicht zuletzt auch Goethes "Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, nimmer sich
beugen, kräftig sich zeigen rufet die Arme der Götter herbei" fortschreibt und
variiert. Kann da verwundern, dass im Taumel des nationalen Alleingangs sich
nahezu unser ganzer Kontinent, zumindest alle Nachbarn verprellt zeigen? Auch
unser altes Bedürfnis nach Erlösung aus dem Deutschsein, dieser heiße Wunsch,
alles niedrig Nationale hinter uns zu lassen, im Weltbürgertum aufzugehen und
uns in der Verschmelzung mit anderen Kulturen zu reinigen - auch dies feiert
fröhliche Urstände.

Es rückt durch die Zuwanderung der Syrer und anderer Menschen, von denen wir
sagen, sie sähen so "nordafrikanisch" aus, in greifbare Nähe. Und ist es nicht
ein ganz besonderer Reiz, dass sich in ihnen das Gewalttätige mit dem Fremden,
ja Exotischen mischt, mit der Dynamik junger Völker, junger Männer? Der
Angstlust sind keine Grenzen gesetzt. Nein, diese ganze hoch emotionale Bejahung
eines "anderen", zukünftigen Deutschland mit stark muslimischen Anteilen, das
sich seit dem letzten Sommer schemenhaft abzeichnet, ist ein ganz und gar
deutsches Selbstgenuss- Abenteuer, es fehlt eigentlich nur noch ein Komponist
vom Schlage Richard Wagners, der es in ganz große Oper überführt.

Die skizzierten Reaktionen sind im Übrigen auch viel deutscher als die des
hasserfüllten "Dunkeldeutschland", das durch die nächtlichen Gassen Dresdens
zieht. Pegida muss man eher als ein europäisches Phänomen betrachten, in seiner
Ressentimentkultur vergleichbar den trüben Volksfesten des Front National, der
wahren Finnen oder wie diese Bewegungen alle heißen. Was also ist deutsch? Nicht
zu wissen, dass man es ist. Ein Jahr im Ausland, in das man wirklich eintaucht,
hilft da viel. Denn anhand der Wahrnehmung durch andere können gerade wir
Deutsche am besten lernen, wer wir sind.
Anhand der Wahrnehmung durch andere können wir am besten lernen, wer wir sind

tilmann.krause@weltn24.de (mailto: tilmann.krause@weltn24.de)

UPDATE: 4. Februar 2016

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Die Welt

Samstag 6. Februar 2016

Jung, unbegleitet und oft auch kriminell;


In Köln wurden seit 2013 mehr als 22.000 Straftaten von Flüchtlingen aus
Maghreb-Staaten begangen. Die Polizei hat mit den Tätern ein Problem

AUTOR: Kristian Frigelj; Florian Flade

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 31

LÄNGE: 1201 Wörter

Die Polizei tauchte wieder einmal in Kalk auf. Der Stadtbezirk in der
viertgrößten deutschen Stadt Köln gilt einerseits als alternatives, junges
Szeneviertel mit vielen Migranten und günstigen Wohn- und Lebenshaltungskosten.
Doch Kriminalisten beklagen längst, dass das sozial schwächere Viertel als
"Rückzugsraum" für Kleinkriminelle dient.

Am vergangenen Dienstag, zwei Tage vor Weiberfastnacht, kontrollierte ein


Großaufgebot von Beamten über einhundert Personen und eine ähnliche Anzahl an
Mobiltelefonen. Es ging um die "Bekämpfung von Eigentums-, Raub- und
Körperverletzungsdelikten im Bereich Kalk und Humboldt-Gremberg", erklärte die
Polizei Köln. Sie stießen auf eine größere Menge Rauschgift, und konfiszierten
verdächtiges Bargeld aus Drogengeschäften. Die Beamten waren in den vergangenen
zwei Wochen zum dritten Mal in Kalk aufgekreuzt. Hier wähnt die Polizei viele
nordafrikanische Kleinkriminelle. Seit den massenhaften sexuellen Übergriffen
und Diebstählen in der Silvesternacht hat die Polizei in Köln ihr Vorgehen
verschärft.

Ihre Klientel kennen sie schon viel länger. Die Ermittler haben im Januar 2013
unter der Abkürzung "Nafri" für "Nordafrikanische Intensivtäter" ein aufwendiges
Analyse- und Maßnahmenprojekt unter Federführung des Kriminalkommissariats KK 41
gestartet. Bisher war die Rede von 17.000 registrierten Tatverdächtigen aus den
Maghreb-Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien. Inzwischen aber wurden
insgesamt 18.311 Personendaten sowie fast 22.000 Straftaten in ihren Datenbanken
erfasst. Dies geht aus mehreren Berichten der Polizei Köln hervor, die der
"Welt" vorliegen.

Wie sich die Zahl 18.311 genau auf die einzelnen Jahre aufschlüsselt, bleibt
bisher unklar. Die Pressestelle des Polizeipräsidiums konnte auf telefonische
Anfrage am Freitagabend nichts Näheres dazu sagen. Klar ist nur, dass nur ein
geringer Teil der Tatverdächtigen auch seinen Wohnsitz im Großraum Köln hat. Den
Unterlagen nach kam der Großteil von außerhalb, registriert wurden die Vergehen
aber in der Domstadt.

Insgesamt sieben Kriminalkommissariate werden im Bericht erwähnt, die


zusammenarbeiten und sich auch in Abstimmung mit der Bundespolizei um die
Auswertung und Maßnahmen kümmern. Sie stellen sämtliche Fälle und Erkenntnisse
in eine sogenannte "Case-Datenbank", die als "Herzstück des Projekts" bezeichnet
und täglich aktualisiert wird. Eines ist alarmierend und so bisher in der
Öffentlichkeit nicht bekannt gewesen: Es fallen vor allem minderjährige
Flüchtlinge als Kriminelle auf, die allein eingereist sind. 2015 waren das vor
allem Marokkaner und Algerier, dahinter rangieren Tunesier, aber auch ein
sichtbarer Anteil an Syrern und Staatsbürgern anderer arabischer Nationen.

"Hierbei handelt es sich zum großen Teil um sogenannte unbegleitete


minderjährige Flüchtlinge (UMF), die nicht dem normalen Asylverfahren
unterliegen und daher durch das Jugendamt betreut werden. Sie werden örtlichen
Jugendschutzeinrichtungen überstellt, von wo sie in aller Regel innerhalb
weniger Stunden wieder abgängig sind", heißt es in einem polizeilichen
Abschlussbericht 2015, der vom 13. Januar 2016 datiert. Neben den Minderjährigen
gibt es zudem einen Anteil junger Männer im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, die
in Deutschland juristisch als Heranwachsende gelten und bei denen das
Erwachsenenstrafrecht nicht angewendet wird.

Die registrierten Tatverdächtigen verfügen zwar über eine offizielle Adresse,


doch ihr tatsächlicher Aufenthaltsort ist in der Regel unbekannt. Von den in
Köln erfassten über 18.000 Personen konnten lediglich 3800 eine Adresse in Köln
oder der Nachbarstadt Leverkusen angeben, die ebenfalls in den
Zuständigkeitsbereich der Polizei Köln fällt. Eine Feststellung ist in diesem
Zusammenhang ernüchternd wie beunruhigend, zumindest für die Tatverdächtigen aus
dem vergangenen Jahr: "Zum Aufenthaltsstatus liegen derzeit keine belastbaren
Zahlen vor", heißt es im Abschlussbericht 2015.

Die vorliegenden Dokumente verdeutlichen einmal mehr, wie lange die Problematik
der nordafrikanischen Straftäter polizeiintern bekannt ist. Die Polizei Köln hat
demnach bereits vor vier Jahren festgestellt, dass Täter aus Nordafrika
besonders auffällig sind. "In der täglichen Lagedarstellung und Auswertung ließ
sich seit 2012 feststellen, dass Straftäter im Bereich Raub-,
Körperverletzungs-, BtM- (Anm. d. Red. Betäubungsmittel) und
Taschendiebstahlsdelikte in zunehmendem Maße algerischer, marokkanischer,
tunesischer oder libyscher Nationalität beziehungsweise Herkunft sind", heißt es
in einem ergänzenden Papier der Kölner Polizei vom 8. Januar 2016.

Die Brisanz der Lage unterstreicht der Abschlussbericht 2015, den die
Polizeibehörde eine Woche später fertiggestellt hat. Demnach seien "fast täglich
polizeilich noch nicht bekannte und meist jugendliche Täter nordafrikanischer
Herkunft" bei Straftaten involviert. "Sie bedienen sich außergewöhnlicher
Methoden (z. B. Antanzen, Fußballtrick) um Taschendiebstähle zu begehen, werden
arbeitsteilig mit mehreren tätig oder nutzen die hilflose Lage von Geschädigten
aus", heißt es in dem neunseitigen Bericht für 2015. Die Täter würden sich
verstärkt an Wochenenden und in den frühen Morgenstunden an Haltestellen und vor
Bars sowie Diskotheken aufhalten, "um nach alkoholisierten Opfern zu suchen".
Die Ermittler haben die Annahme hineingeschrieben, das Dunkelfeld "dürfte hoch
sein", das heißt, dass es sich offenbar um noch mehr Straffälle handeln könnte,
die allerdings bisher weder angezeigt noch aufgedeckt wurden.

Die Ermittler erkennen anhand ihrer Datenbank auch, dass die Strafhäufigkeit
einzelner Täter zunimmt, und zwar von 92 Taten (2014) auf 129 in 2015. Die Zahl
der Körperverletzungen ist stark gestiegen, die Delikte mit Taschendiebstählen
haben ebenfalls zugenommen, wenn auch nicht so drastisch. Die Polizei weist
darauf hin, dass sie seit Jahresbeginn 2014 drei geografische Schwerpunkte bei
ihren verdeckten und offenen Einsätzen setzt und sich vor allem um die im
Bereich der Kölner Ringe, des Studentenviertels um die Zülpicher Straße und die
Altstadt kümmert, also dort, wo viele Menschen zusammenkommen. In einem weiteren
Bereich, der Partyzone "Halle Tor 2", konnten im vergangenen Jahr noch keine
Maßnahmen durchgeführt werden: "Hierzu reichte die Personalstärke aufgrund
vorrangiger Maßnahmen nicht aus". Im vergangenen Jahr nahm die Polizei 366
nordafrikanische Täter fest, 2014 waren es noch 286. Nach wie vor sieht die
Polizei keine Möglichkeit, eine feste Bandenstruktur nachzuweisen.

Wie schwierig solche Ermittlungsarbeiten sind, verdeutlicht das Auswerteprojekt


"Casablanca" der Düsseldorfer Polizei. Über mehrere Jahre haben die Beamten
versucht, die nordafrikanischen Kleinkriminellen systematisch zu erfassen und
Bandenstrukturen im sogenannten "Maghreb-Viertel" aufzuklären. Es gelang den
Ermittlern dabei zumindest, einige mutmaßliche Hintermänner der Diebesbanden
ausfindig zu machen. In Köln erhofft sich die Polizei Ähnliches und plädiert
daher für eine Fortsetzung des Nafri-Projekts. Das Fazit der
Kriminalhauptkommissarin, die den Kölner Abschlussbericht angefertigt hat:
"Gerade aufgrund der aktuellen Ereignisse ist die Fortführung des Projektes
unerlässlich."

UPDATE: 6. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Ein Großteil der Straftaten in der Domstadt wird laut Ermittlern von
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verübt
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Die Welt

Samstag 6. Februar 2016


Schiwkow kommt nicht mehr;
Albena Dimitrovas kühler Abgesang auf die Volksrepublik Bulgarien

AUTOR: Marko Martin

RUBRIK: LITERARISCHE-WELT; Literarische Welt; S. 2 Ausg. 31

LÄNGE: 615 Wörter

Sozialismus als Krankheitsgeschichte: Ein Regierungshospital am Rande der


bulgarischen Hauptstadt Sofia, in der Spätphase des kommunistischen Regimes. Der
dritte Stock ist den siechen Mitgliedern des Politbüros, vorbehalten, die hier
jene "Revolution" von 1989 erwarten, die der Schriftsteller Ilija Trojanow
später eine "fingierte" nennen wird.

In diesen Kosmos aus Dämmer und Kunstlicht führt der Debütroman von Albena
Dimitrova, die 1969 in Sofia geboren wurde und seit Ende der Achtzigerjahre in
Frankreich lebt. "Wiedersehen in Paris" erzählt aus der Perspektive der
17-jährigen Alba von einer Art erotischer Mesalliance, denn als das elternlose
Mädchen aufgrund einer rätselhaften Oberschenkellähmung in eben jenes
Krankenhaus kommt, beginnt sie eine Affäre mit dem 55-jährigen Politbüromitglied
Guéo, einem sogenannten Reformer. Das zum medizinischen Versuchskaninchen
gemachte Kind ist dabei alles andere als naiv, sondern mustert die banalen
Mächtigen bei jedem unter Silberhauben servierten Abendessen gnadenlos. "Ihre
Stimmen waren nicht zu hören und ihre Gesichtszüge erreichten mich verzerrt vom
Oval der Haube, die ich absichtlich vor mich stellte, wenn ich sie vom Teller
nahm. Ich sah merkwürdige Gestalten an mir vorbeiziehen. Der Ernst ihrer
milchigen Gesichter litt unter dem verzerrten Widerschein auf meiner Haube. Er
ließ Gesten und Ausdrücke komisch wirken, und manchmal lachte ich, ohne dass
jemand meine Anwesenheit bemerkte."

Mit diesem unfrohen Gelächter endet wohl auch ein Genre, das in den Sechziger-
und Siebzigerjahren den hinfälligen Realsozialismus quasi vor Ort sezierte: Von
Solschenizyns "Krebsstation" über Kunderas "Abschiedswalzer" bis zu Stefan Heyms
"Collin", wo in einem Ost-Berliner Elitekrankenhaus das mentale Duell zwischen
einem Dissidenten und dem Stasi-Chef stattfindet. Von all jenen Debatten ist in
Dimitrovas Roman freilich nichts mehr geblieben und so mag man hier durchaus
einen Mangel an intellektueller Tiefenschärfe bedauern. Andererseits: Was gäbe
es noch zu reflektieren, wenn aus der Perspektive des Mädchens doch
offensichtlich ist, dass ihr Geliebter nicht nur Erektionsprobleme hat, sondern
vor den Scherben seiner hochdekorierten Mitmacherexistenz steht? Dennoch
verfällt sie ihm und beginnt sogar mit seinem Sohn eine Affäre, um so dem Vater
nahe zu sein.

"Wir lebten abseits der Wirklichkeit, abseits einer Geschichte, die innerhalb
kürzester Zeit 'historische Vergangenheit' werden sollte." Wenn es hier
Entwicklungen gibt, dann vor allem mechanische: Alba überwindet ihre Lähmung,
folgt Guéo in ein weiteres Sanatorium und wird in einer eigentlich Parteichef
Schiwkow vorbehaltenen Präsidentensuite eines Provinzhotels geschwängert: "Das
Schlafzimmer der Suite - ein King Size-Bett, dessen Matratze unter den zu
knappen Laken hervorragte. Die Ölheizung knisterte, an den Wänden rings um die
Fenster saß Schimmel." Zurück in Sofia, wird dann tränenlos eine Abtreibung
organisiert.

Doch der Abgesang auf ein sterbendes System weist auch ins Zukünftige. Obwohl
Guéo, KGB-sozialisiert und polyglott, das Versprechen einer gemeinsamen Existenz
in Paris nichthalten kann und sich nach 1989 eine Kugel in den Kopf jagt, geht
die Geschichte weiter. Zumindest für seine "Geschäftsfreunde", die Alba in einem
Restaurant in Warna beobachtet hat: "Merkwürdig dickbäuchige Syrer und
Jemeniten, die dünn wie Reispapier waren." Man verhandelte Waffendeals unter
sowjetrussischer Beteiligung. Die präzise Beiläufigkeit, mit der dies notiert
wird, zeugt von der Qualität dieses kühlen, ja kalten Romans.

Albena Dimitrova: Wiedersehen in Paris. Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Wagenbach, Berlin. 189 S., 19,90 .

UPDATE: 6. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: RomaricVinet-Kammerer
Albena Dimitrova lebt in Paris
RomaricVinet-Kammerer

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Die Welt

Donnerstag 18. Februar 2016

"Wir brauchen einen nationalen Abschiebeplan";


Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) fordert eine bessere Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern. Kritik an den Osteuropäern hält er für
unverhältnismäßig. Auch Deutschland müsse seine Grenze wieder sichern

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 41

LÄNGE: 1259 Wörter

Skepsis ist die vorherrschende Gemütslage im Vorfeld des Treffens der EU-Staats-
und Regierungschefs. Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) sieht Europa kurz
vor dem Scheitern. Er ist überzeugt, nur ein nationaler Grenzschutz kann die
europäische Lösung forcieren.

Die Welt:

Herr Söder, entscheidet sich beim EU-Gipfel die Zukunft der Gemeinschaft?

Markus Söder:

Der Gipfel ist eine ganz wichtige Weichenstellung. Wir hoffen, dass die
Kanzlerin Erfolg hat. Ein Mehr an Europa in der Flüchtlingsfrage wäre sehr
wünschenswert. Bislang hat Brüssel wenig geliefert. Europa ist näher am
Scheitern, als die meisten wahrhaben wollen.

Hat die "Festung Europa" einen zu schlechten Ruf?

Der Kontinent muss sicherer werden. Europa wird nur dann funktionieren, wenn der
Schutz der Außengrenzen dauerhaft gewährleistet wird. Europa ist nicht nur ein
Binnenmarkt, sondern auch eine Werte- und Schutzgemeinschaft. Viele Bürger
empfinden den Begriff "Festung Europa" nicht negativ.

Angela Merkel (CDU) hat angekündigt, nach dem Gipfel eine "Zwischenbilanz"
ziehen zu wollen. Welche Maßstäbe müssen gelten?

Die Wahrheit liegt an der Grenze. Wir haben nach wie vor in Bayern jeden Tag
2000 bis 3000 Flüchtlinge. Das sind seit Jahresbeginn bereits über 100.000
Menschen. Es wird zu einer europäischen Lösung erst dann kommen, wenn wir
nationale Maßnahmen ergreifen. Das würden unsere Partner in der EU als das
richtige Signal auf-fassen.

Was ist eine "spürbare Reduzierung"?

Die Bundesregierung rechnet dieses Jahr mit 500.000 Flüchtlingen. Worauf sich
dieser Optimismus gründet, ist mir schleierhaft. Dazu bräuchte es schon
bedeutende Entscheidungen in Brüssel, die dann auch umgesetzt werden. Das sehe
ich bisher nicht. Bayern hat eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen gefordert.
Das muss der Maßstab sein.

Immer mehr Staaten legen sich auf Obergrenzen fest. Brauchen wir eine
EU-Obergrenze?

Natürlich. Denn ohne eine wirksame EU-Obergrenze werden unsere Partner nicht
einmal bereit sein, über Flüchtlingskontingente zu reden. Niemand will derzeit
einen Blankoscheck unterschreiben.

Welche Zahl schwebt ihnen vor?

Die Zahl der Flüchtlinge muss deutlich reduziert werden. Ganz Europa wird sicher
nicht so viele Menschen aufnehmen wollen, wie Deutschland allein im letzten
Jahr.

Österreich und Tschechien haben sich mit der Slowakei, Ungarn und Polen
verständigt, Mazedonien beim Grenzschutz zu Griechenland zu helfen. Haben Sie
dafür Verständnis?

Diese Länder handeln nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie an eine Sicherung
der Außengrenze der Europäischen Union durch Griechenland nicht mehr glauben.
Sie wollen die Zukunft Europas auch nicht allein der Türkei anvertrauen. Dafür
habe ich Verständnis. Belehrungen oder Druck gegenüber den Osteuropäern helfen
nicht weiter.

Und wie bringt man sie dann dazu?

Wir müssen ihre Bedenken ernst nehmen. Das bedeutet Sicherung der Außengrenzen,
Begrenzung der Zuwanderung und Ausweisung derer, die kein Bleiberecht haben. Das
Konzept Bayerns zur Lösung der Flüchtlingskrise ist in der EU mehrheitsfähig.

Die Bundesregierung kritisiert die genannten Staaten für ihren Alleingang.


Empfinden Sie das als scheinheilig?
Die Politik in Warschau, Budapest, Prag und Bratislava muss einem nicht in allen
Einzelheiten gefallen, aber wir sollten respektieren, dass es sich um
demokratisch gewählte Regierungen handelt. Es gibt keine Staaten erster oder
zweiter Klasse in Europa. Alle sind gleichberechtigte Partner. Mir leuchtet es
auch wenig ein, warum man Polen und Ungarn wegen ihrer Innenpolitik unter Druck
setzt, aber gleichzeitig die Türkei einlädt, nach Europa zu kommen. Da stimmen
die Relationen nicht.

Bald könnten sich alle Flüchtlinge in Griechenland stauen. Wir müssten


Griechenland doch dann wieder helfen wie vor einem Jahr.

Es darf keinen Asylrabatt auf die Stabilitätsziele geben. Die Euro-Frage darf
nicht mit der Grenzsicherung in der Ägäis vermischt werden. Athen muss seine
Verpflichtungen in beiden Bereichen erfüllen. Sollte sich Griechenland
verweigern, wird man über Konsequenzen nachdenken müssen.

Eine dieser Konsequenzen wäre der Ausschluss aus dem Schengenraum. Schafft das
nicht mehr Probleme?

Das hat Griechenland selbst in der Hand. Es wurde schon vieles im Verlauf des
vergangenen Jahres als undenkbar und unmöglich apostrophiert und ist heute
Realität. Als ich als Erster Grenzkontrollen gefordert habe, war der Aufschrei
groß. Jetzt gibt es sie überall in Europa.

Wenn wir die Grenzen dicht machen, welche Gruppe sollte man noch einlassen?
Syrer, Afghanen und Iraker?

Das Wichtigste ist die Wiederherstellung des europäischen und nationalen Rechts.
Dazu brauchen wir Kontrollen nicht nur an wenigen Grenzübergängen, sondern an
allen sowie an der grünen Grenze. Zudem müssen wir Flüchtlinge an der Grenze
zurückweisen können, die schon aus einem sicheren Drittstaat kommen. Eine
Zurückweisung an der Grenze zu Österreich löst keine humanitäre Katastrophe aus.
Außerdem hat Wien bereits mit der massiven Sicherung seiner eigenen Grenzen
begonnen.

Aus der bayerischen Wirtschaft gibt es Bedenken, die Grenzen zu schließen. Kann
sich Bayern das leisten?

Die Maßnahmen sollen nicht für hundert Jahre gelten, sondern nur bis die
Kontrolle der Außengrenzen wieder funktioniert. Sicherheit ist Basis für
ökonomische Stabilität.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge will in diesem Jahr alle Altfälle
entscheiden. Es wird deshalb Zehntausende zusätzliche Abschiebungen brauchen.
Was muss sich an der Praxis ändern?

Wir brauchen einen nationalen Abschiebeplan - eine Vereinbarung zwischen Bund


und Ländern. Wenn wir die derzeitigen Anerkennungsquoten zur Grundlage machen,
müssten 350.000 Menschen abgeschoben werden. Das muss konsequent und schnell
geschehen. Es darf keine unterschiedliche Abschiebepraxis in Deutschland geben.
Das Verfahren muss zwischen den Bundesländern harmonisiert werden. Es kann nicht
sein, dass Flüchtlinge vielleicht sogar bewusst in die Bundesländer reisen, in
denen das geringste Abschieberisiko besteht.

Aus Frankfurt wird von einem Marokkaner berichtet, der schon zehnmal abgeschoben
wurde, zehnmal wieder eingereist und darüber hinaus straffällig geworden ist.
Die Behörden sagen, sie sind da machtlos.

Solche Fälle machen nicht nur die Bürger, sondern auch mich als Politiker
fassungslos. Wir brauchen einen Effizienz-TÜV, ob unsere Instrumentarien in der
Praxis wirken.

Die Koalition hat entschieden, Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren


Herkunftsstaaten zu erklären. Reicht das aus?

Diese Liste muss erweitert werden, wenn es geboten ist. Das ist eine der
effektivsten Maßnahmen überhaupt. Wir haben heute quasi keine Zuwanderung aus
den Balkanstaaten mehr. Das war vor einem Jahr noch komplett anders, als diese
Länder noch nicht sichere Drittstaaten waren.

Fällt Afghanistan darunter?

Es gibt laut Bundesinnenministerium in Afghanistan Regionen, die als sicher


gelten und in die eine Abschiebung möglich ist.

Ist das nicht zynisch? Die UN haben 2015 rund 11.000 zivile Opfer in dem Land
gezählt.

Ich kann mich nur auf die Expertise der Bundesregierung verlassen.

Die SPD sperrt sich mit Blick auf die Grünen, die nordafrikanischen Staaten als
sicher einzustufen. Sie fordert, Altfälle vor 2014 auszunehmen. Wäre dies ein
Kompromissvorschlag?

Keine falschen Kompromisse an dieser Stelle. Die SPD ist in einem ständigen
Verzögerungsmodus. Der Partei wäre zu wünschen, dass sie in der Flüchtlingsfrage
endlich zu einer klaren Haltung findet. Die SPD hat offenbar Angst, Wähler an
die Grünen abzugeben. Aber Verwässern und Verzögern löst kein Problem, es
schafft nur neue.

UPDATE: 18. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: dpa/Armin Weigel


"Es müssten 350.000 Menschen abgeschoben werden": Markus Söder (CSU), hier auf
dem Berchinger Rossmarkt, gehört zu den Hardlinern der großen Koalition
Armin Weigel

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Die Welt

Freitag 19. Februar 2016

Mal wieder ein Ultimatum für Griechenland;


Seit 2002 könnte Athen abgelehnte Asylbewerber zurück in die Türkei schicken,
was fast nie geschieht. Das liegt auch an Ankara - und soll sich ändern

AUTOR: Marcel Leubecher; Andre Tauber

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 42

LÄNGE: 1208 Wörter

Berlin/Brüssel

Die wichtigen Gespräche in Europa, das hat gute Tradition, sie werden im kleinen
Kreis geführt. In einem schmucklosen Sitzungssaal in der Ständigen Vertretung
der Republik Österreich in Brüssel wollten sich elf Staats- und Regierungschefs
der EU am Donnerstag mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davuto lu treffen,
um über einen Aktionsplan zu beraten, den die Europäische Union mit der Türkei
abgeschlossen hat. Das Ziel: Die Begrenzung der Flüchtlingszahlen.

Die griechische Regierung ruft nun, trotz der Absage von Ministerpräsident
Davuto lu wegen der Terroranschläge von Ankara, zum Tempo bei den anstehenden
Arbeiten auf. "Wir müssen alle unsere Kraft darin investieren, die Türkei dazu
zu bringen, dass der Aktionsplan funktioniert", sagt der griechische
Europaminister Nikos Xydakis der "Welt". "Die Europäische Union hat bereits viel
Geld und noch mehr politisches Kapital investiert."

Für Griechenland wird es eng. Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs
auf diesem "Mini-Gipfel" Bilanz ziehen, ob der Flüchtlingsstrom gemeinsam mit
der Türkei reduziert werden konnte. Sollte das nicht gelingen, drohen einige
EU-Staaten die Grenzen in Europa zu schließen. Hinter Griechenland. Das Land
wäre damit vom Schengenraum faktisch abgetrennt. Der Aktionsplan zwischen EU und
Türkei sieht vor, dass die Regierung in Ankara den Kampf gegen die
Schlepperbanden verstärkt und die Menschen von der Überfahrt nach Griechenland
abhält. Gleichzeitig sollen sich die Türken verpflichten, illegale Migranten,
die keinen Anspruch auf Asyl haben, zurückzunehmen. "Das würde das deutlich
Signal aussenden: Riskiert nicht euer Geld und euer Leben. Geht nicht diesen
Weg", erklärt Europaminister Xydakis.

Bei der Umsetzung gibt es Fortschritte, wird in Brüssel stets betont. Die Türkei
verschärfte den Kampf gegen Schlepperbanden. Sie verlangt Visa von Syrern, die
aus Drittstaaten einreisen wollen. Sie stimmte auch einem Nato-Einsatz in der
Ägäis zu - und der Rücknahme der Bootsflüchtlinge, die von den Nato-Schiffen
künftig aufgefischt werden.

Nun wird verhandelt, inwiefern die Türkei bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen,
die es trotz allem nach Europa schafften. Zwar erklärte sich im vergangenen
November das Land bereit, das Rücknahmeabkommen mit der EU schon ab Juni, und
damit früher als geplant, vollständig umzusetzen. Doch der Vertrag hat
Schlupflöcher, sagen die Migrationsexperten der Europäischen
Stabilitätsinitiative (ESI). Sie verweisen darauf, dass es nur jene betrifft,
die "direkt das Gebiet eines Mitgliedsstaaten betraten, nachdem sie aus der
Türkei kamen", so steht es im Abkommen.

Das könnte zu Problemen führen, sollten über die Türkei eingereiste Migranten
aus anderen EU-Ländern als Griechenland abgeschoben werden. Die Türkei könnte
etwa argumentieren, dass das letzte Land, durch das Flüchtlinge bei ihrer
Ankunft zogen, Balkanstaaten waren, die nicht dem Schengen-Raum angehören. Falls
eine solche Deutung die Rückübernahme blockieren sollte, gewänne das
Rücknahmeabkommen zwischen Griechenland und der Türkei besonders an Wert, so die
ESI-Experten.

Ein solches Abkommen zwischen beiden Ländern gibt es bereits seit dem Jahr 2002.
Doch Kritikern zufolge ist es allerdings zu schwerfällig, um wirklich wirksam zu
sein. Es sei auf wenige Hundert Menschen angelegt, heißt es in
EU-Diplomatenkreisen. Es müsse dringend erneuert und effizienter gemacht werden.
Tatsächlich hat der bilaterale Vertrag bislang wenig bewirkt. Zwar stellt Athen
jährlich Tausende Anträge auf Rückführungen, doch die Türkei nimmt die meisten
Anträge nicht an. Und wenn, dann wird nur in Ausnahmefällen wirklich
abgeschoben. Während Athen zwischen Januar und Oktober vergangenen Jahres 8727
Anträge stellte und die Türkei 2395 annahm wurden nur acht Personen tatsächlich
ausgewiesen. Die übrigen waren für die Behörden nicht mehr zu erreichen und
längst nach Norden weitergezogen. Im gesamten Jahr 2014 stellte Athen laut einer
ESI-Auswertung von Daten der griechischen Polizei, die der "Welt" vorliegt, fast
10.000 Anträge auf Rücknahme, davon wurden allerdings nur sechs umgesetzt.

Das wird auch in Athen verbal beklagt. "Hinter jedem Abkommen muss der
politische Wille stehen, es auch umzusetzen", sagt Xydakis. Und eben an diesem
Willen scheint es aus seiner Sicht noch zu mangeln. Athen sieht vor allem die
Türkei in der Pflicht. Ein neues bilaterales Abkommen müsse dafür nicht
geschlossen werden. Unterstützung erhält Athen von der EU-Kommission, die
bereits seit zwei Jahren Druck unter Berufung auf das griechisch-türkische
Rücknahmeabkommen auf die Türkei ausübt. Doch neben der türkischen Zurückhaltung
ist auch ein Problem, dass Griechenland, entgegen seiner Verpflichtung, nur
wenige Migranten einem Asylverfahren unterzieht und damit auch wenige abgelehnte
Asylanträge verzeichnet - das Abkommen mit der Türkei bezieht sich nur auf
abgelehnte Asylbewerber.

Vor zwei Wochen hat sich allerdings an diesem Punkt entscheidendes getan:
Griechenland kündigte die Einstufung der Türkei als "sicheren Drittstaat" an.
Wenn dies wirksam wird, ist es den Griechen zumindest rechtlich möglich, die
Asylanträge von Flüchtlingen und anderen Migranten nach formaler Prüfung
umgehend als unbegründet abzulehnen. Griechenland könnte also die Antragsteller
unter Berufung auf das griechisch-türkische Rücknahmeabkommen direkt in den
"sicheren Drittstaat" Türkei zurückschicken.

Alexandra Stiglmayer, die leitende Analystin der European Stability Initiative


fordert: "Griechenland könnte auf dieser Grundlage die Migrationsroute über den
Balkan schließen, Athen könnte sofort mit der Rückführung beginnen", das seit
2013 geltende Asylverfahren in der Türkei genüge immerhin weitgehend den
Ansprüchen der Flüchtlingskonvention. Im Gegenzug müssten die Europäer
allerdings die Türkei bei der Umsetzung rechtsstaatlicher Asylverfahren
unterstützen und dem Staat großzügige Flüchtlingskontingente abnehmen, sagte sie
der "Welt".

Doch der von Merkel herbeigesehnte "Klub der Willigen", der mit der Türkei über
eine permanente Aufnahme von Flüchtlingskontingenten verhandeln soll, wenn sich
nicht alle 28 EU-Staaten auf eine gemeinsame Linie einigen können, scheint sich
aufzulösen, bevor er Gestalt angenommen hat: Nach Ansicht des österreichischen
Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner "kann jeder ableiten, dass die Koalition der
Willigen in der Form offensichtlich nicht mehr besteht", sagte der konservative
Politiker am Donnerstag. Ausdruck dessen seien auch die von seinem Land
beschlossenen Tagesobergrenzen für Migranten.

Wann sich die nächste Gelegenheit für einen "Mini-Gipfel" bietet, ist noch
vollkommen offen. Und die Zeit ist knapp. Die Visegrad-Gruppe gab der Türkei nur
einen Monat Zeit, um die Flüchtlingszahlen wie vereinbart zu reduzieren. "Wenn
der Zustrom von 1500 bis 2000 Menschen am Tag bis Mitte März andauert, wird klar
sein, dass die Türkei ihre Versprechen nicht erfüllt hat und wir andere
Maßnahmen brauchen, um die europäische Grenze zu schützen", sagte der
tschechische Europastaatssekretär Tomas Prouza. Es ist ein klares Ultimatum.
Auch an Griechenland.

Griechenland könnte die Migrationsroute über den Balkan schließen Alexandra


Stiglmayer, leitende Analystin der European Stability Initiative

UPDATE: 19. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: AP/Santi Palacios


Ankunft eines Bootes auf der griechischen Insel Lesbos. Die Türkei soll in der
Flüchtlingsfrage künftig als "sicherer Drittstaat" gelten
Santi Palacios

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Die Welt

Samstag 20. Februar 2016

Basketball-Märchen: 99 Spiele ohne Niederlage;


Die Westfalen Mustangs spielen erst seit 2010. Bilanz: Fünfmal Meister, fünfmal
Aufstieg

AUTOR: Adrian Rehling

RUBRIK: SPORT; Sport; S. 23 Ausg. 43

LÄNGE: 731 Wörter

Der 24. Dezember ist alljährlich der Tag der großen Bescherung. Heiligabend, das
Fest der Nächstenliebe. Das dachte sich wohl auch Florian Eichstädt, 32, am 24.
Dezember 2010, als er den Basketball-Verein Westfalen Mustangs gründete. "Es ist
wie ein eigenes Baby. Irgendwann hat es im Kopf klick gemacht", sagt der heutige
Teammanager des Oberligisten. Aus dem kleinen Baby wurde sehr schnell eine große
Nummer, nur sechs Monate später hatte Eichstädt im Sommer 2011 mit der U12, U14,
U16, U18, U20 und zwei Herrenmannschaften gleich sieben Teams zu betreuen. "Die
Resonanz war und ist überragend. Aber versuchen Sie mal, von jetzt auf gleich
für sieben Mannschaften Trikotsätze zu besorgen", schmunzelt er.

Alles begann in der 2. Kreisklasse, der damals tiefsten Liga im Basketball. Und
schon bei der Gründung hatte Eichstädt nur eines im Sinn: In zehn Jahren -
sprich 2020 - solle der Verein ein Erstligist sein. Für das äußerst
ambitionierte Ziel müsste der Verein neun Aufstiege in neun Jahren schaffen.
Verrückt? Ja! Utopisch? Scheinbar nicht. Denn inzwischen sind die Westfalen
Mustangs bereits fünfmal Meister geworden - und vor allem seit 99
Meisterschaftsspielen ungeschlagen. Am Samstag soll der 100. Sieg in Serie
gefeiert werden. Fünf Jahre ohne Niederlage, eine Wahnsinnsbilanz, die auch
Trainer Ilijas Masnic (58) schwärmen lässt: "Viele der Erfolge sind vor meiner
Amtszeit eingefahren worden. Ein verdienter Respekt an die Mannschaft und den
gesamten Verein. Ich denke nicht, dass wir in dieser Saison noch verlieren
können", zeigt er sich selbstbewusst. Masnic kennt den Profi-Basketball. Er
spielte selbst für Bosnien-Herzegowina bei der EM-Endrunde 1993 in Deutschland,
hat mit seiner Mannschaft noch eine Menge vor. Ob es sogar bis in die Bundesliga
gehen kann? "Im Basketball ist alles möglich. Ich bin nicht mehr so jung, aber
Svetislav Pesic (Coach beim FC Bayern Basketball, d. Red.) ist fast zehn Jahre
älter als ich und trainiert eines der besten Teams in Europa", sieht Masnic
immer noch Luft nach oben. Auch Teammanager Eichstädt schielt schon auf die
großen drei des deutschen Basketballs: Alba Berlin, Brose Baskets Bamberg und
die Bayern. "Man mag sich gar nicht ausmalen, wenn die mal hier in
Rheda-Wiedenbrück auftauchen sollten. Dann platzt das Dorf aus allen Nähten."

Einen anderen prominenten Gast würde Eichstädt besonders gerne in der Halle
begrüßen: "Vielleicht mag Herr Tönnies mal bei uns vorbeikommen. Mit Schalke hat
es noch nicht regelmäßig hingehauen, die Bayern zu ärgern. Vielleicht klappt es
ja im Basketball?" Clemens Tönnies ist Aufsichtsratsvorsitzender bei Schalke 04,
zudem Firmenchef von Tönnies Lebensmittel mit Sitz in Rheda-Wiedenbrück.

Ohnehin wollen die Westfalen Mustangs durch ungewöhnliche Maßnahmen auf sich
aufmerksam machen. Eichstädt nennt es "den Hollywood-Faktor" und erklärt: "Wir
gehen mit unseren Amis in die Schulen, wollen die Kids damit begeistern. Das
zieht." Auch der Rest des Kaders kann als verrückte Ansammlung bezeichnet
werden. Robert Huelsewede (25) spielte für die Paderborn Baskets bereits in der
Bundesliga, der Syrer Majid Alsharaby (19) kam als Flüchtling zum Verein und
überzeugte direkt. Auch die Geschichte um Cyrille Makanda klingt nach einer
Sportschnulze aus Hollywood. Der Nationalmannschaftskapitän Kameruns hat auch
die russische Staatsbürgerschaft, bekam diese persönlich von Staatschef Putin
unterzeichnet und sollte für die russische Nationalmannschaft auflaufen.
Aufgrund seiner Hautfarbe kam es immer wieder zu Diffamierungen, sodass Makanda
in die westfälische Provinz wechselte, anstatt in Europa das große Geld zu
verdienen.

Jetzt jagen Makanda, Masnic und Eichstädt mit ihrem Team die magische
100er-Marke. Einem Sieg gegen Citybasket Recklinghausen 2 steht wohl nichts im
Wege, das Hinspiel gewannen die "Wildpferde" mit 107:66. Was auf die Spieler
beim 100. Triumph in Folge wartet? Der Teammanager gibt sich ausnahmsweise
bescheiden: "Schampus? Ich trinke keinen Alkohol. Aber natürlich werden wir mit
unseren Fans ein wenig im Klubhaus feiern. Dann als Team pokern und eine
Familienpizza bestellen." Um am Heiligabend 2020 vielleicht die ganz große
Bescherung zu feiern: die Bundesligazugehörigkeit. "Natürlich wollen wir auch
die nächsten zwei, drei Jahre kein Spiel verlieren. Die 1. Liga bleibt das große
Ziel", haut Eichstädt dann doch noch einen raus.

UPDATE: 20. Februar 2016

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Die Welt

Samstag 20. Februar 2016

"Inhuman, gemein, unchristlich";


Harte Bundestagsdebatte über geplantes Asylpaket II

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 43

LÄNGE: 440 Wörter

Als "angemessen und nötig" bezeichnete Bundesinnenminister Thomas de Maizière


(CDU) das geplante zweite Asylpaket. "Inhuman" und "unchristlich", so fiel das
Urteil von Oppositionsvertretern aus. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) sich in Brüssel um eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise bemühte,
lieferten sich Regierung und Opposition am Freitag einen heftigen Schlagabtausch
über die nationalen Regelungen Deutschlands.

Die Opposition kritisierte vor allem die geplante zweijährige Aussetzung des
Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte. Diese Regelung wird
wahrscheinlich auch viele Syrer betreffen. Auch Minderjährige mit subsidiärem
Schutz dürften ihre Eltern nach der neuen Regelung nicht nach Deutschland holen.
Eine Ausnahme soll in humanitären Härtefallen gemacht werden. Humanität könne
nicht zwei Jahre pausieren, sagte die Grünen-Flüchtlingspolitikerin Luise
Amtsberg in der ersten Lesung des Gesetzes. Die Aussetzung sei "gemein und
verantwortungslos". Auch die geplanten weiteren Verschärfungen stießen auf
Widerspruch. Zudem bemängelt die Opposition den straffen Zeitplan: Schon in der
nächsten Woche soll das Asylpaket vom Parlament verabschiedet werden.

Das Gesetz sieht neben der Aussetzung des Familiennachzugs besondere


Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive vor. Ihre
Asylverfahren sollen dort innerhalb von maximal drei Wochen abgeschlossen
werden. Außerdem setzt der Gesetzentwurf die Hürden bei der Abschiebung Kranker
niedriger als bisher. Nur noch eine "lebensbedrohliche" Erkrankung soll dem
entgegenstehen. Geregelt wird zuletzt auch eine Eigenbeteiligung von
Flüchtlingen an Sprach- und Integrationskursen. Ihre Sozialleistungen sollen
dafür pauschal um zehn Euro pro Monat gekürzt werden.

De Maizière sagte, man müsse nicht lange darum herumreden, dass es sich um
Verschärfungen handele. Sie seien aber notwendig, auch um die
Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung zu erhalten. An sie wolle er die Botschaft
senden, dass die Bundesregierung "hart" an einer Begrenzung der
Flüchtlingszahlen arbeite.

Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, warf der


Bundesregierung dagegen vor, sie produziere "Zweifel und Ängste, die der
Nährboden für Populisten" seien. Auch Konstantin von Notz, stellvertretender
Fraktionsvorsitzender der Grünen, kritisierte, mit dem Gesetz werde
Ressentiments Vorschub geleistet. Die Linke-Innenpolitikerin Ulla Jelpke
kritisierte mit Blick auf den Zeitplan, es sei undemokratisch, wenn die
Koalition lange über die Regelungen streite, das Parlament dann aber nur wenig
Zeit für die Beratungen habe.

UPDATE: 20. Februar 2016

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Die Welt

Mittwoch 24. Februar 2016

Mit treudeutschen Grüßen!;


In der DDR schrieb das Volk Wutbriefe an höchste Stellen in Ost und West. Der
Ton: völkisch rustikal. Vor allem in Sachsen. Alles wie heute

AUTOR: Michael Pilz

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 21 Ausg. 46

LÄNGE: 1557 Wörter

Im Frühjahr 1980 schreibt ein anonymer Dresdner der "Sächsischen Zeitung": "Der
heutige Staat, als einzelnes Individuum betrachtet, gehört ins Zuchthaus und
zwar lebenslänglich. Alle Kommunisten gehören aufs Schafott oder an den Galgen,
mit dem Kopf nach unten und darunter schwelendes Feuer. Wir brauchen einen
starken Mann, Bismarck müsste nochmal da sein, der würde das ganze
kommunistische Gesindel zum Teufel jagen." Alles Schwerverbrecher, Lumpen,
Schweine. Heute käme solche Leserpost bei ihren Adressaten an. Um 1980 in der
DDR landeten Wutbriefe wie dieser bei der Hauptabteilung XX des Ministeriums für
Staatssicherheit, sie wurden untersucht und abgeheftet und sind nun, nach 36
Jahren, pünktlich wieder da als Zeugnisse einer erregten Volksseele, die sich
noch immer nicht beruhigt hat. In Heidenau und Freital, Clausnitz oder Bautzen.

Siegfried Suckut hat die alten Briefe durchgesehen und ausgewertet, 45.000
Seiten in 200 Akten, bei seiner Behörde, dem Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. "Auffällig ist die
Fortexistenz von aus obrigkeitsstaatlicher Vergangenheit tradierten Mentalitäten
und Einstellungen", resümiert der 70-jährige Politologe in seinem Buch "Volkes
Stimmen". Er stellt es dem Leser frei, seinen Befund auch für die Zeit nach 1990
für sich fortzudenken. Seither herrscht ja auch kein Mangel an Erklärungen,
warum man sich im deutschen Osten schwerer tut mit allem Fremden und in Wort und
Tat gegen die Fremden umso leichter: Es gebe zu wenig Fremde dort. Der
kulturelle Gleichheitswahn sei eine Folge des sozialen. Der antifaschistische
Staat habe alles Faschistische verdrängt. Die DDR-Forschung, schreibt Suckut,
werde überwiegend als Astrologie betrieben. Als Geschichtsschreibung von oben,
von Historikern, die jede strenge Quellenkritik fahren lassen.

Jetzt sind also reichlich Quellen da zum Leben und zur Stimmung in der DDR. Hier
schreibt das Volk an die Regierungen und Medien in Ost und West. Die Postkarten
und Briefe wurden zwar nie zugestellt, dafür erzählen und verraten sie uns heute
umso mehr. Im Frühjahr 1984 gratuliert ein Dresdner anonym Richard von
Weizsäcker zur Bundespräsidentenwahl: "Bislang war unsere Hoffnung immer Ihre
Tätigkeit für uns in Sklaverei lebende Bürger in der Zone, dieses von russischen
Bajonetten gebildete Gebiet. Die Russen sollen ruhig weiter bei uns ihre
Atombomben aufstellen; es wird Wege geben, diese im gegebenen Moment in die
richtige Richtung zu drehen. Millionen, die den Glauben an Deutschland nicht
verlieren." Viele schreiben an den deutschen Westen, ihre geistige Heimat. An
"Bundeskanzler Willy Brandt, Bonn a. Rhein". An alle freien Wähler, ihre Stimmen
nicht den Linken und das ganze Land nicht der Sowjetunion zu überlassen. An den
Sender Rias 1968 mit der Forderung, gegen die protestierenden Nestbeschmutzer
drüben härter durchzugreifen. Es hagelt Beschwerden, nicht das "Tor des Monats"
pünktlich auf dem Postweg mitwählen zu können, über Hottentottenmusik und über
die unmännlichen Reden Willy Brandts.

Der deutsche Osten fühlt sich in seinen Erwartungen ständig enttäuscht vom
deutschen Westen. 1979 wendet sich ein "Deutscher Patriotischer Bund" an Gerhard
Löwenthal vom ZDF mit der Bitte, die Europawahl zu boykottieren: "Deutschland
ist in höchster Gefahr!" 1972 wird ein anonymer Brief nach Köln zum
Deutschlandfunk verschickt: "Leider haben wir so gut wie gar nicht hier in
Ostsachsen Westempfang. In diesem Zusammenhang wäre es angebracht, dass das
westdeutsche Fernsehen seine Ausstrahlungen verstärkt." Womöglich ist die
Tal-der-Ahnungslosen-These, die besagt, Pegida wäre auch die Folge des bis 1990
abwesenden Westfernsehens im Großraum Dresden, doch nicht ganz so abwegig und
albern. Vielleicht hat es in der DDR dann doch die Medienkompetenz und
Meinungstoleranz in Gegenden geschult, wo Menschen regelmäßig mit Konflikten
konfrontiert wurden, wie Strauß und Wehner sie im Bundestag austrugen oder Ernie
und Bert in der Sesamstraße.

Nicht dass keine "Hetzschriften", wie sie die Stasi nannte, auch aus Ost-Berlin
und Rostock bei ihr eingetroffen wären. Die Sachsens aber waren damals schon
empirisch die bei Weitem Eifrigeren und Empörteren. Aus ihren alten Briefen
spricht bereits der Hang zum Landsmannschaftlichen und der unerschütterliche
Glaube, nicht nur für sich selbst zu sprechen, sondern für die schweigende
Mehrheit: "Seien Sie versichert, dass hinter diesem Brief hunderttausende
Menschen aus Dresden und Umgebung stehen", schreibt ein anonymer Dresdner 1989
an den Botschafter der UdSSR, der plötzlich kein Kolonialist mehr ist, sondern
bereits ein Hoffnungsträger aus dem Osten.

Siegfried Suckut, der Herausgeber der Briefe, nennt die vorgebrachten Ansichten
seiner Autoren, die durchaus nicht alle anonym sind, "teilrepräsentativ". Sie
sind die Stimmen einer Stimmungslage. So wie in der DDR nicht jeder, der die DDR
nicht mochte, einen braunen Brandbrief an die SED in Ost-Berlin oder die CDU in
Bonn aufsetzte, läuft heute nicht jeder, dem die Zeiten nicht behagen, bei den
Montagsdemos der Pegida mit, dem Dresdner Hochamt der deutschen Hysteriker.

Im Sächsischen wirkten die Bürger immer schon betroffener als jenseits ihrer
heute blühenden Landschaften. Dort ist der Ruf "Wir sind das Volk" entstanden,
1989 vor der Leipziger Nikolaikirche, daraus wurde "Wir sind ein Volk" in
Leipzig auf den Straßen und in Dresden beim Besuch vom Helmut Kohl. In Dresden
wurde daraus 25 Jahren später wiederum "Wir sind das Volk", wobei sich die
Betonung auf das Wir verschoben hat, das Wir der letzten wahren Deutschen tief
im deutschen Osten. Ein so lautes Wir, dass man ein ganzes Bundesland als
zwangskollektiviert wahrnimmt - was jedem unrecht tut, der dieses Wir aus
menschlichen, moralischen, ästhetischen Erwägungen, die eine längere Tradition
in Sachsen haben als der Hass auf Fremde, meidet.

Es ist der Ton, der einem aus der Post gegen das Dasein in der DDR
entgegenschlägt, es sind die gleichen Worte, die einen heute bei Facebook und
aus Mails anbellen, sobald man sich öffentlich zu den Geschehnissen ist
Clausnitz oder Bautzen äußert und dem Bürgersinn dort keinen Beifall spendet. In
der DDR und BRD waren schon alle Volksverräter, Schmierfinken und Ungeziefer,
außer allen, die als stolzer oder echter Deutscher unterzeichnen durften. Die
Geschichte des verschwundenen deutschen Nachkriegsstaates ist eine Geschichte
der Versorgungskrisen, vor allem im vorher wohlhabenden Sachsen.

Hier herrscht auch ein rauer Sound wie nirgends sonst: Die Parasiten in Berlin
sind schuld oder der arbeitsscheue Untermensch in Russland. Weil der Pole alles
aufkauft in den Warenhäusern, während er die deutschen Ländereien bei sich
verkommen lässt, gibt es im deutschen Osten keine Bettwäsche. Das Geld fließt
über Solidaritätskonten nach Afrika, wo die Maschinen aus der DDR im Busch
verrosten. Arbeiter beklagen sich über das Aussterben des Arbeiters durch eine
allgemeine Intellektualisierung; Intellektuelle formulieren ihren
Führungsanspruch aufgrund ihrer besseren Gene. "Der Sozialismus ist für uns
Deutsche menschenfeindlich, was schon mit der Schwangerenunterbrechung
beurkundet ist. Also soll Deutschland personenmäßig geschwächt werden, damit die
Polen und Russen noch mehr Land von uns verlangen können", schreibt ein Absender
aus Leipzig 1971.

Es gibt eindeutige Formulierungen wie Hitlergrüße und Bekenntnisse wie


Hakenkreuze. Radiohörer wünschen sich statt Negermusik deutsche Volkslieder und
Märsche, Fernsehzuschauern gefallen keine ausländischen Filme. Post schickt auch
die "Hitlerjugend Altenburg". Als aufmerksamer Quellenkritiker weist der
Herausgeber der Briefe aber vollkommen zu Recht auf das provokative Potenzial in
einem Staat hin, dessen Propaganda auf einem Antifaschismus balanciert, den
niemand straflos hinterfragt. Auch der wutbürgerliche Überschwang reicht weit
zurück. Abzüglich dessen herrscht ein überwiegend nationalkonservativer Sound,
dramatisch und apokalyptisch, selbstgerecht und selbstmitleidig.

Als habe es keinen kulturellen Bruch gegeben nach dem Krieg im neuen Land, wo
die Protestbewegungen das Volk erst dann ergriffen, als das Land bereits
verschwand. Der kleine Mann fühlt sich zu kurz gekommen und schreibt groß und
lang dagegen an. Entweder kleinlaut wie ein Leipziger Betriebskollektiv: "Wir
als DDR sind nur der Hinterhof der BRD." Oder großspurig wie der Verfasser eines
Leserbriefs ans "Neue Deutschland": "Die Deutschen waren von jeher in ihrer
Entwicklung weiter als der Russe!!!" Immer "Ehrlich, aber deutlich", wie das
Buch im Untertitel aus der Post zitiert. Die Lügenpresse gab es auch schon. Es
gab sie tatsächlich, aber dass einem, der etwas anderes sagt und schreibt, als
es ein Hörer hören oder Leser lesen will, die Zunge verdorren und die Finger
abfaulen mögen, wird noch heute gern gewünscht. Der Tscheche, der einem den
letzten Farbfernseher vor der Nase wegkauft, ist heute der Syrer mit dem
Smartphone. Deutscher Wohlstand in einer geschlossenen Gesellschaft.

1970 schreibt eine Dresdnerin: "Wir wollen ein deutsches Vaterland, wo Ruhe,
Ordnung und Sauberkeit herrschen." "Greift bitte mehr durch! Wir lieben unsere
Heimat und wollen hier leben", schreibt ein Kollektiv aus Sachsen 1985 an den
Ministerpräsidenten der DDR.

Siegfried Suckut (Hg.): "Volkes Stimmen". dtv, München. 576 S., 26,90 Euro

UPDATE: 24. Februar 2016


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GRAFIK: Eine Deutsche aus Dresden schrieb 1970 nach Erfurt, wo sich Willy Brandt
und Willi Stoph trafen
Siegfried Suckut (2); SWR/UFA FICTION/Hardy Brackmann
Siegfried Suckut
Siegfried Suckut

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Die Welt

Mittwoch 24. Februar 2016

Lage auf dem Balkan kritisch;


Athen räumt Grenzstation zu Mazedonien. Flüchtlinge aus Afghanistan dürfen nicht
weiter

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 46

LÄNGE: 367 Wörter

Die strikten Einreisebestimmungen einzelner Länder haben die Flüchtlingskrise


auf dem Westbalkan verschärft. Der Beschluss Österreichs, tägliche Obergrenzen
zur Aufnahme von Asylbewerbern einzuführen, löste eine Reihe weiterer Maßnahmen
entlang der sogenannten Balkanroute aus. So begann die griechische Polizei mit
der Räumung eines Grenzübergangs zu Mazedonien, nachdem das Nachbarland nur noch
Syrer und Iraker passieren lässt, die weiter nach Österreich, Deutschland oder
Skandinavien wollen.

In der Grenzstadt Idomeni befanden sich rund 1200 Migranten, die die Grenze nach
Mazedonien nicht passieren durften. Die meisten von ihnen stammen aus
Afghanistan oder haben keine Reisedokumente. Sie hatten zwischenzeitlich
versucht, die Grenze gewaltsam zu überqueren. Die griechische Polizei begann
schließlich damit, den Grenzübergang zu räumen, und brachte vor allem
Flüchtlinge aus Afghanistan ins Landesinnere. Slowenien setzt zur Sicherung
seiner Grenze mittlerweile die Armee ein.

Ungeachtet der widrigen Wetterbedingungen im Winter reißt der Flüchtlingsstrom


nicht ab. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM)
kamen in diesem Jahr bereits mehr als 100.000 Menschen in Griechenland und
Italien an. Allein am Dienstagmorgen erreichten weitere 1250 Flüchtlinge per
Fähre von drei griechischen Inseln Athen.

Der Bürgermeister der Hafenstadt Piräus, Jannis Moralis, sagte: "Es kommen immer
mehr Schiffe." Die Hafenterminals seien bereits voll, überwiegend mit Frauen und
Kindern. Die Entwicklungen in der Region ließen vor allem in Griechenland eine
humanitäre Krise befürchten, hieß es in einer Erklärung von
EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos.

Österreichs Haltung in der Flüchtlingspolitik sorgt für anhaltende Verärgerung


in Deutschland. Führende Unionspolitiker riefen das Nachbarland dazu auf, das
"Durchwinken" von Migranten nach Norden zu stoppen. Sowohl
CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt als auch
Unionsfraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer kritisierten die
Entscheidung der Regierung in Wien, nur noch 80 Asylbewerber pro Tag zu
akzeptieren, aber 3200 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland weiterzuleiten.
Seiten 5 und 6

UPDATE: 24. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Freitag 26. Februar 2016

"Wir können die Menschen nicht gefangen nehmen";


Griechenland verzweifelt an Flüchtlingsströmen. Mazedonien lässt nur wenige über
die Grenze. SPD warnt vor einem "Absaufen" des EU-Partners. Athen zieht
Botschafterin aus Österreich ab

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 48

LÄNGE: 479 Wörter

Nachdem Mazedonien nur wenige Hundert Flüchtlinge täglich auf ihrem Weg gen
Norden einreisen lässt, herrscht Panik unter den Migranten in Griechenland.
Hunderte von ihnen brachen am Donnerstag aus Auffanglagern aus und machten sich
zu Fuß auf den Weg zur mazedonischen Grenze. "Wir können die Menschen nicht
gefangen nehmen", sagte der Bürgermeister von Thessaloniki, Giannis Boutaris.
"Rund 230 haben sie heute Vormittag durchgelassen. Jetzt ist die Grenze wieder
zu", sagte ein Polizist am Grenzübergang bei Idomeni. Das Fernsehen zeigte
Hunderte Menschen, Frauen mit Kinderwagen, Ältere und auch Behinderte, die
entlang der Autobahnen nach Norden zogen. In einigen Fällen unterbrachen sie
vorübergehend den Verkehr.

Schlepperbanden hätten in den vergangenen sieben Tagen mehr als 12.000 Menschen
aus der Türkei über die Ägäis zu den griechischen Inseln gebracht, teilte die
Küstenwache mit. Viele Afghanen, die von Mazedonien abgewiesen wurden,
verbrachten die Nacht auf zwei Plätzen im Zentrum Athens. Dort werden Kontakte
mit Schleusern geknüpft, die den verzweifelten Menschen neue Routen für die
Reise nach Mitteleuropa versprächen, berichteten griechische Medien. Die neuen
"Tarife" für Alternativwege über Albanien oder in Containern an Bord von Fähren
nach Italien lägen zwischen 2500 und 3000 Euro pro Kopf.

Aus Ärger über das Vorgehen Österreichs in der Flüchtlingskrise hat die
griechische Regierung ihre Botschafterin in Wien zurückgerufen. Nach einer
Entscheidung von Außenminister Nikos Kotzias sei die Botschafterin zu Beratungen
nach Athen bestellt worden, "um die guten Beziehungen zwischen den Staaten und
Völkern Griechenlands und Österreichs aufrechtzuerhalten", erklärte das
griechische Außenministerium. Athen ist verärgert über den Beschluss Österreichs
und neun weiterer Länder auf einer Westbalkankonferenz, weniger Flüchtlinge
passieren zu lassen. "Griechenland wird es nicht hinnehmen, Europas Libanon zu
werden", sagte Innenminister Ioannis Mouzalas mit Blick auf das Land, das ein
Viertel aller geflohenen Syrer beherbergt.

Die SPD warnte die EU-Staaten davor, die Folgen der Flüchtlingskrise allein auf
Griechenland abzuladen. Wenn elf Millionen Griechen stellvertretend für 500
Millionen Europäer die Krise lösen sollten, "ist das eine Verschiebung auf den
Schwächsten", sagte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Auch Parteichef Sigmar
Gabriel betonte, ein "Absaufen" Griechenlands müsse verhindert werden.

Bayerns ehemaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hat eine Kehrtwende in


der deutschen Flüchtlingspolitik als zwingend bezeichnet. Er sagte der "Welt":
"Die Politik offener Grenzen hat dazu geführt, dass es in vielen Ländern
Europas, zum Beispiel in Osteuropa, aber auch Italien und Frankreich, möglich
war, das Problem in erster Linie als deutsches Problem zu verstehen."

Siehe Kommentar und Seiten 3 bis 5

UPDATE: 26. Februar 2016

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Die Welt

Montag 29. Februar 2016

Nur ein Gedanke: Weiterkommen;


Seit die Balkanroute in weiten Teilen dicht ist, sitzen viele Flüchtlinge in
Griechenland fest. Die Gestrandeten sind verzweifelt, ihre Lage wird jeden Tag
schlimmer

AUTOR: Chrissi Wilkens


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 50

LÄNGE: 868 Wörter

Athen

Wir müssen weiter nach Mitteleuropa. Wir fliehen vor dem Krieg, wir haben
während unserer Flucht Familienmitglieder verloren. Wir können nicht aufgeben",
sagt ein Familienvater aus Afghanistan. Er steht erschöpft auf dem
Viktoria-Platz in Athen. Nebenan blicken seine Frau und die anderen
Familienmitglieder in die Leere.

Hilfsorganisationen und Freiwillige versorgen sie mit dem Notwendigsten: Wasser,


Milch, Brot, Decken. "Wir haben so viel Angst davor, dass wir nicht
weiterkommen", sagt die Frau. Seitdem Mazedonien am Sonntag vor einer Woche
beschlossen hat, keine afghanischen Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen, sitzt
die Familie in Griechenland fest - wie Tausende andere Schutzsuchende. Auch
Syrer und Iraker kommen nur weiter, wenn sie sich mit Pass oder Personalausweis
ausweisen können.

Die Lage der Flüchtlinge in Griechenland wird jeden Tag schlimmer. In einer
Konferenz in Wien haben Österreich und die Balkanstaaten beschlossen, den
Zustrom an Flüchtlingen aus Griechenland massiv zu senken. Mazedonien soll dabei
viel mehr Flüchtlinge abweisen. Weil sie auf der Balkanroute nicht mehr
weiterkommen, sitzen in Griechenland nach Schätzungen der Behörden mehr als
25.000 Menschen fest. Und täglich kommen neue Flüchtlingsboote an.

Treffpunkt der Flüchtlinge ist der Viktoria-Platz. Sie tauschen dort


Informationen aus und planen ihre Weiterreise. Die Stimmung ist angespannt. Auf
dem Zementboden liegen Decken. Pappkartons sind ausgebreitet. Mehrere
Flüchtlinge haben die vergangenen Nächte mit ihren Kindern hier übernachtet mit
der Hoffnung, an die griechisch-mazedonische Grenze weiterzureisen. "Wir wissen,
dass uns hier nicht geholfen werden kann, das Land steckt doch selbst in einer
schweren finanziellen Krise", sagt ein junger Mann aus dem Iran, der nach
Deutschland weiterreisen will. Viele verlieren sich in Hoffnungslosigkeit. Am
Donnerstag versuchten zwei Flüchtlinge, sich an einem Baum auf dem Platz zu
erhängen, vor den Augen Dutzender Flüchtlingskinder. Sie konnten rechtzeitig
gerettet werden.

Auf dem Platz herrscht Lebensmittelnot. Als am Samstag ein älterer Grieche
versucht, Biskuits zu verteilen, stürmen hungrige Flüchtlingskinder und
Erwachsene auf ihn zu. Obwohl er nur 420 Euro Rente monatlich bekommt, hat er
sich entschieden, 30 Euro für die Flüchtlinge auszugeben. "Ich kann dem Leid
nicht einfach nur zusehen", sagt Rentner Nikos. Immer noch steht die Mehrheit
der Griechen den Flüchtlingen solidarisch gegenüber - trotz der eigenen
finanziellen Not.

Ein paar Meter weiter verteilt Maria Galinou von der Heilsarmee gemeinsam mit
Dolmetschern Infoblätter an die Flüchtlinge. Darauf steht, wo sich die
Suppenküchen in Athen befinden und die Flüchtlinge ärztliche oder juristische
Hilfe bekommen können. "Es ist wichtig, die Flüchtlinge über die aktuelle Lage
und ihre Rechte zu informieren. Wir versuchen, ein Gegengewicht zu bilden zu den
Schleppern, die hier täglich neue Kunden suchen", sagt Galinou.

Das Geschäft der Schlepper blüht. Mehr als 4000 Euro verlangen sie, um die
Flüchtlinge von Athen über die Grenze zu bringen, zum Beispiel durch Albaniens
Berge oder mit Schiffen von Westgriechenland nach Italien. Vor ein paar Tagen,
als die Grenzen für Afghanen noch offen waren, lag der Preis bei 2000 bis 2500
Euro. Beobachter befürchten, dass immer mehr Flüchtlinge auf illegalen Wegen
versuchen werden, nach Mitteleuropa zu gelangen. "Auch mit den Schleppern werden
sie nicht weiterkommen. Es gibt überall Zäune", sagt eine Helferin. Nur wenige
schaffen es über die griechisch-mazedonische Grenze. Über 6000 Flüchtlinge
warteten vergangene Woche im Grenzort Idomeni. Die mazedonische Polizei kündigte
am Samstagnachmittag an, 300 von ihnen durchzulassen.

In ganz Griechenland harren Schutzsuchende im Freien aus, auf öffentlichen


Plätzen oder in Parkanlagen. Viele Flüchtlinge versuchen inzwischen, Hunderte
Kilometer entlang der Autobahn zu laufen, um die Grenze zu erreichen. Die
Flüchtlingslager auf dem griechischen Festland sind überfüllt. Am Donnerstag
hatte Verteidigungsminister Panos Kammenos angekündigt, in weiteren fünf Lagern
in Nordgriechenland 20.000 neue Plätze zu schaffen. Der UN-Flüchtlingsrat wollte
bis Ende des Monats 400 Wohnungen anmieten, wo jeweils fünf Personen
untergebracht werden können. Doch auch dies wird kaum ausreichen. "Es herrscht
eine Notsituation in Griechenland. In Idomeni, in Athen und in anderen Orten des
Landes gibt es Schutzsuchende, die unter freiem Himmel schlafen, die nicht mal
Zugang zu einem Minimum an Versorgung haben", sagt Marie Elisabeth Ingres,
Landeskoordinatorin der Hilfsorganistion Ärzte ohne Grenzen.

Auf dem Viktoria-Platz versucht Maria Galinou ärztliche Hilfe für ein Mädchen
aus Afghanistan zu finden, das bei der Überfahrt durch die Ägäis eine
Lungenentzündung bekommen hat. Sie hat in den Nachrichten gehört, dass die
Balkanstaaten Tagesobergrenzen einführen. Galinou schüttelt den Kopf. "Die
Flüchtlingsströme werden nicht stoppen. Egal wie viele Steine man ihnen in den
Weg legt; die Menschen werden gefährlichere Wege suchen, um an einen sicheren
Ort zu kommen."

Das Land steckt doch selbst in einer schweren finanziellen Krise Iranischer
Flüchtling über Griechenland

UPDATE: 29. Februar 2016

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Die Welt

Dienstag 1. März 2016

Ein Anruf aus Berlin ebnet de Maizière in Marokko den Weg;


Lange hatten sich die nordafrikanischen Länder gesträubt, abgelehnte
Asylbewerber aus Deutschland wieder aufzunehmen. Das soll sich jetzt ändern

AUTOR: Alfred Hackensberger


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 51

LÄNGE: 883 Wörter

Rabat

Das Resümee von Thomas de Maizière fiel äußerst positiv aus: "Wir sind sehr
zufrieden, die Abschiebung wird schneller und effizienter erfolgen", sagte der
Bundesinnenminister zum Abschluss seines Besuchs in Marokko.

Das nordafrikanische Königreich war die erste Station des Bundesinnenministers


auf seiner dreitägigen Maghrebreise, die ihn weiter nach Algerien und Tunesien
führt. In der marokkanischen Hauptstadt Rabat schien de Maizière kein großes
Verhandlungsgeschick nötig zu haben. Von der Verzögerungstaktik der Behörden
Marokkos bei der Rücknahme ihrer Staatsangehörigen aus Deutschland, über die
noch vor Wochen geklagt wurde, war keine Rede mehr. Vielmehr schienen der
Minister und seine 15-köpfige Delegation offene Türen einzurennen.

Am Sonntagabend hatte es ein Abendessen mit dem marokkanischen Amtskollegen


Mohammed Hassad gegeben, bei dem offenbar schon alle wesentliche Punkte
besprochen und geklärt worden waren. Am nächsten Morgen fand dann das offizielle
Treffen mit der deutschen Delegation am Sitz des Innenministeriums statt. Es
dauerte nicht einmal eine Stunde. Zuvor hatten sich die beiden Innenminister
noch zu einem kurzen Gespräch unter vier Augen zusammengesetzt. Im Ergebnis
bekommt Deutschland im Prinzip genau das, was es gefordert hatte. "Marokko ist
bereit diejenigen zurückzunehmen, die 2015, vor allen Dingen im Herbst, zu uns
gekommen sind und sich vielfach als Syrer ausgegeben haben." Das gab de Maizière
unmittelbar im Anschluss der Sitzung bekannt.

Diese Kehrtwende im Umgang mit den marokkanischen Flüchtlingen kam durch ein
Telefonat zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und König Mohammed VI.
zustande. Hintergrund dafür waren die Vorfälle der Silvesternacht in Köln mit
den brutalen Übergriffen nordafrikanischer Einwanderer auf Frauen.

De Maizière bezeichnete dieses Telefongespräch, das Anfang Februar stattgefunden


hatte, als "Durchbruch" in den Bemühungen um eine bessere Zusammenarbeit mit dem
Königreich. Der Monarch hatte der Bundesregierung damals volle
Kooperationsbereitschaft zugesagt. "Die Flüchtlinge werden anhand ihrer
Fingerabdrücke identifiziert und in normalen Linienmaschinen ausgeflogen",
erklärte der Bundesinnenminister dem Tross von 16 mitgereisten Journalisten aus
Deutschland. "Eine zahlenmäßige Beschränkung gibt es dabei nicht." Bei Anfragen
von deutschen Behörden zur Identifizierung von Flüchtlingen werde Marokko
innerhalb von 45 Tagen antworten.

Die Rückführung ist Teil eines Sicherheitsabkommens mit Marokko, an dem seit
zwei Jahren gearbeitet wird. Es umfasst neben der Zusammenarbeit in
Flüchtlingsfragen auch die Bekämpfung von Terrorismus und Schleusernetzwerken,
die den internationalen Menschenhandel von Migranten über die Grenzen
organisieren. Dabei sei Marokko "ein Land mit langjähriger Erfahrung" lobte der
deutsche Innenminister. Nach dem Ansturm Tausender Flüchtlinge aus Schwarzafrika
auf Spanien Anfang der 2000er-Jahre hatte Marokko die Grenzen kurzerhand
dichtgemacht - und das an einer fast 500 Kilometer langen Küste am Mittelmeer.
Eine Maßnahme, die man sich in Europa auch von der Türkei wünscht.

Im Kampf gegen Terrorismus ist Marokko eine der führenden Nationen. Sie hat
Frankreich über den Aufenthalt eines der Paris-Attentäter im Appartement in St.
Denis informiert. Die spanischen Behörden verhaften regelmäßig militante
Dschihadisten in Barcelona oder in ihren Enklaven Ceuta und Melilla, was meist
auf Hinweisen der marokkanischen Dienste basiert.

Noch kann die Rückführung der mehr als 8000 in Deutschland ausreisepflichtigen
Nordafrikaner, darunter etwa 2300 Marokkaner, nicht im gewünschten Ausmaß
erfolgen. Die Staaten kooperieren nicht ausreichend bei der
Identitätsfeststellung. Zumindest die Asylanträge der Nordafrikaner könnten bald
schneller bearbeitet werden. Dafür müs-sen Marokko, Tunesien und Algerien erst
ihren derzeitigen Status als "unsichere Herkunftsländer" ver-lieren. Die
Regierungsparteien der CDU, CSU und SPD haben dies ne-ben der Verschärfung des
Asylrechts bereits beschlossen. Es fehlt noch die Zustimmung des Bundesrats, die
jedoch durch das Votum der von Grünen und Linker mitgeführten Länder gefährdet
ist.

Innenminister de Maizière kann mit den Ergebnissen auf seiner ersten


Reisestation zufrieden sein. Aber bekanntlich wäscht eine Hand die andere. "Wir
werden Marokko bei der Europäischen Union unterstützen", sagte der CDU-Politiker
fast nebenbei. Er meint damit die mögliche Aussetzung der Handelsbeziehungen.

Der europäische Gerichtshof hatte einer Klage der Polisario, der sogenannten
Befreiungsbewegung aus der Westsahara, in erster Instanz stattgegeben. Zwar geht
der Prozess in die zweite Runde, Marokko hat allerdings sämtliche Verbindungen
zur EU gekappt, weil das Königreich die Westsahara für sich beansprucht.
Deutsche Unterstützung kann Marokko gut gebrauchen.

Aber Marokko geht es bei der Rücknahme eigener Bürger auch um seinen durch die
Silvesternacht ramponierten Ruf. Der Bundesinnenminister fand lobende Worte:
"Zehntausende von Marokkanern leben seit Jahren friedlich bei uns und sind
integriert", meinte de Maizière. "Jedes Jahr fahren 500.000 deutsche Touristen
nach Marokko." Das Land habe ein großes Interesse an der Zusammenarbeit mit der
Bundesrepublik, betonte der Minister kurz vor seinem Abflug nach Algier.

UPDATE: 1. März 2016

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Die Welt

Donnerstag 3. März 2016

Gangsta's Paradise;
Obwohl viele unbegleitete Minderjährige aus Nordafrika kriminell sind, wurde
2015 keiner aus Deutschland abgeschoben. Die Union fordert, die Jugendlichen in
ihrer Heimat zu betreuen - von Europa finanziert

AUTOR: Marcel Leubecher


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 53

LÄNGE: 1268 Wörter

Dicke Hose in Dortmund, Mittelfinger in Málaga. Air Max, Tupac, Allah. Paris,
Bremen, Malmö. Bewegte Leben verbergen sich hinter den Einträgen auf den
Facebook-Profilen einer Gruppe marokkanischer Jugendlicher, die im vergangenen
Jahr in einer süddeutschen Unterkunft für minderjährige unbegleitete Ausländer
ankamen.

Ihre damaligen Betreuer berichten: "Sie kamen aus Barcelona zu uns und haben
hier monatelang mit Drogen gedealt, Mitarbeiter bedroht, die Wachleute
verprügelt. Zwei wurden wegen Raubüberfällen eingebuchtet. Die übrigen sind im
Oktober weitergezogen", sagt der langjährige Sozialpädagoge David Seeger.

"Die gingen raus, zogen Leute ab, nahmen Kokain, kamen heim, schlugen den
Security zusammen und gingen schlafen", erzählt seine Kollegin. Es habe ewig
gedauert, bis die Polizei durchgegriffen habe. "Die Jungs waren superschwierig,
die Polizei war superlieb."

Weil Mitarbeiter des Heims mit den elf Marokkanern über soziale Netzwerke in
Kontakt stehen, kann die "Welt" ihre häufig wechselnden Aufenthaltsorte und
Fotoeinträge verfolgen. Es sind Leben auf der schiefen Bahn, eine Mischung aus
Klassenfahrt und "Gangsta's Paradise". Blinkende Uhren, Kampfhunde, Gruppenfoto
auf der Motorhaube eines Polizeiautos, Arm in Arm in der Großraumdisco, Kiffen
auf der Bude.

Da ist etwa Hamdi (Alle Namen geändert, d. Red.), der nach seinem
unangekündigten Verschwinden aus der süddeutschen Unterkunft laut seiner
ehemaligen Betreuerin zwischenzeitlich als minderjähriger unbegleiteter
Flüchtling in Frankfurt/Main und Norwegen gemeldet war. Jetzt lebt er in
Schweden.

Nach seinem Einzug in das süddeutsche Heim hatte er den Sozialpädagogen


mitgeteilt, dass er eigentlich 20 Jahre alt sei. Auch auf Facebook gibt er
dieses Alter an. Weil Papiere fehlten und die Ausländerbehörde sein Alter nicht
anzweifelte, hatte dies keine Konsequenzen für ihn.

Mittlerweile hat Hamdi eine außergewöhnliche Reiselust entfaltet: Der "Welt"


liegen zeitlich zuordenbare Selfies vor, die ihn in den vergangenen Monaten
gemeinsam mit anderen Nordafrikanern in Paris, Brüssel, Malága und Bremen
zeigen. Darunter auch ein Foto Hamdis mit einem Komplizen: zwischen ihnen ein
Berg von Euroscheinen und -münzen; beide Nordafrikaner haben Banknoten im Mund
und halten ihre Mittelfinger in die Kamera.

Zwar stehen Härtefälle wie dieser keinesfalls exemplarisch für die mittlerweile
fast 70.000 minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge in Deutschland. Doch viele
deutsche Städte klagen über große Probleme mit den ohne Eltern oder andere
Verwandte eingereisten Jugendlichen, die meist keinen Asylantrag stellen - und
im System der Jugendhilfe betreut werden. Dieses ist aber eigentlich nur für
eine niedrige Zahl verwahrloster Kinder ausgelegt.

So sind in dem Kölner Analyseprojekt Nafri (Abkürzung für nordafrikanische


Intensivtäter) rund 22.000 Straftaten von mehr als 17.000 Tatverdächtigen aus
den Maghrebstaaten Marokko, Algerien und Tunesien registriert. "Hierbei handelt
es sich zum großen Teil um sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge,
die nicht dem normalen Asylverfahren unterliegen und daher durch das Jugendamt
betreut werden. Sie werden örtlichen Jugendschutzeinrichtungen überstellt, von
wo sie in aller Regel innerhalb weniger Stunden wieder abgängig sind", heißt es
in einem polizeilichen Abschlussbericht 2015 aus der Domstadt.

Neben der kriminellen Energie machen vielen Gemeinden, Ländern und Politikern
vor allem die hohen Ausgaben zu schaffen. "In Deutschland kostet die Betreuung
eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers je nach Bundesland zwischen 40.000
und 60.000 Euro im Jahr", sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der
Unionsfraktion im Bundestag, Michael Kretschmer (CDU), der "Welt". "Mit diesem
Betrag könnten wir in den Herkunftsregionen wesentlich mehr Menschen helfen."

Kretschmer schlägt vor, "dass wir mit unseren europäischen Partnern noch stärker
die Strukturen vor Ort ausbauen, schützen und finanzieren. Hier könnten zum
Beispiel SOS-Kinderdörfer in ihrer Arbeit noch mehr unterstützt werden. Und
vielleicht ist es bei einer funktionierenden Infrastruktur auch irgendwann
möglich, diese Kinder wieder in ihre Heimatregionen zurückzuführen."

Bisher ist dies nur selten möglich - und schon gar nicht gegen den Willen der
Jugendlichen. "Im Jahr 2015 sind mittels des REAG/GARP-Programms 98 unbegleitete
Minderjährige freiwillig ausgereist", teilte das Bundesinnenministerium dieser
Zeitung mit. Wer ohne die Förderung des offiziellen Rückkehrprogramms in die
Heimat oder in einen ganz anderen Staat reist, wird statistisch nicht erfasst.
Abgeschoben wurde hingegen kein einziger unbegleiteter Ausländer. "Im Jahr 2015
wurden 21 Zurückweisungen, zehn Zurückschiebungen und keine Abschiebung von
allein reisenden minderjährigen ausländischen Staatsangehörigen vollzogen" steht
in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Linke-Bundestagsfraktion.

Bei Zurückweisungen handelt es sich um Einreiseverweigerungen am Flughafen oder


an der Grenze. Sie sind dann möglich, wenn ein Ausländer in Grenznähe oder im
Zug aufgegriffen wird, nachdem er unerlaubt eingereist ist, aber nicht kenntlich
macht, dass er Asyl beansprucht.

Wegen der besonderen Schutzverpflichtung gegenüber Minderjährigen müssen neben


den allgemeinen Voraussetzungen einer Abschiebung - also vollziehbare
Ausreisepflicht, Verstreichen der Ausreisefrist und keine
Abschiebungshindernisse - bei der Abschiebung eines unbegleiteten Minderjährigen
zusätzlich weitere Anforderungen des Aufenthaltsgesetzes erfüllt sein. Das
heißt, die Behörde muss sich vor der Abschiebung vergewissern, dass der
unbegleitete Minderjährige im Rückkehrstaat einem Erziehungsberechtigten oder
einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.

Deswegen dürfte die am Montag erreichte Einigung von Bundesinnenminister Thomas


de Maizière (CDU) mit seinem marokkanischen Amtskollegen Mohammed Hassad auf
eine schnellere Rückführung marokkanischer Staatsbürger ohne Aufenthaltstitel
wenig Wirkung auf die unbegleiteten Jugendlichen haben.

Zunächst sollen die in jüngster Zeit nach Deutschland eingereisten Marokkaner


ohne Bleibeperspektive zurückgeführt werden, vor allem diejenigen, die sich in
der Hoffnung auf Flüchtlingsanerkennung als Syrer ausgegeben haben. Bis Ende
Januar waren laut Bundesinnenministerium mehr als 2300 Marokkaner
ausreisepflichtig. Im vorigen Jahr wurden 320 Bürger des nordafrikanischen
Staates abgeschoben.

Ähnliche Abkommen strebt de Maizière mit Tunesien und Algerien an, die mit
Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten erklärten werden sollen, um die
Asylverfahren für Menschen von dort zu beschleunigen. Mit Tunesien konnte de
Maizière bei seiner Nordafrikareise lediglich ein Pilotprojekt vereinbaren:
Zunächst solle eine Gruppe von 20 Tunesiern zurückgebracht werden, um die
Rückführungen zu erproben.

Sozialpädagoge Seeger fühlt sich trotz der harten Erfahrungen mit der
marokkanischen Bande durch die positiven Erfahrungen mit vielen anderen
Jugendlichen entschädigt. Nachdem die Härtefälle im Oktober abgezogen waren,
habe ein "ganz toller, braver Junge" zu ihm gesagt: Er schäme sich, Marokkaner
zu sein. "Ich finde es krass, dass Intensivtäter mit dem Flüchtlingsstrom nach
Deutschland kommen und das Image der echten Flüchtlinge ruinieren", sagt Seeger.

Er habe zwar Verständnis dafür, dass die oft in bitterer Armut und harten
Familienverhältnissen aufgewachsenen Jugendlichen versuchen, nach Deutschland zu
kommen. Dennoch wundere er sich, warum sich "in den Behörden niemand fragt, wenn
Nordafrikaner auf der Matte stehen: ,Aha, aus Marokko muss man also fliehen?'"

UPDATE: 3. März 2016

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GRAFIK: Kriminelle Jugendliche aus Marokko: Hamdi (l.) und ein Freund posieren
so auf Facebook
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Die Welt

Freitag 4. März 2016

15 Flüchtlinge in Rumänien

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 4 Ausg. 54

LÄNGE: 115 Wörter

Im Spätsommer 2015 hatte die EU die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus
Griechenland und Italien beschlossen - am Donnerstag hat Rumänien eine erste
Gruppe von 15 Jemeniten und Syrern aufgenommen. "Darunter sind Jugendliche und
Kinder", sagte eine Sprecherin der Einwanderungsbehörde. Die Flüchtlinge wurden
nach Bukarest geflogen und von dort mit einem Bus zu einem Asylbewerberheim in
der östlichen Stadt Galati gebracht. Die Einrichtung aus dem Jahr 2004 hat 280
Plätze. Rumänien ist eines der ärmsten Länder der EU und hatte sich zunächst
gegen die Zuweisung gewehrt. Schließlich akzeptierte die Regierung, bis Ende
2017 insgesamt 6000 Flüchtlinge aufzunehmen.

UPDATE: 4. März 2016


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Freitag 4. März 2016

Deutsche sehen kein geeintes Europa mehr;


79 Prozent glauben, dass in der Flüchtlingsfrage die EU-Staaten nur noch
eigenmächtig entscheiden

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 54

LÄNGE: 648 Wörter

In der Flüchtlingspolitik hat die große Mehrheit der Deutschen den Glauben an
ein gemeinsames Vorgehen der EU - wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es
sich wünscht - offenbar verloren. Nach einer Emnid-Umfrage für N24, den
TV-Sender der "Welt"-Gruppe, glauben 79 Prozent, dass die einzelnen
Mitgliedsstaaten weiterhin eigene Entscheidungen treffen werden. Nicht einmal
ein Fünftel der Befragten ist überzeugt, dass es zu einem abgestimmten Vorgehen
kommen wird. Am kommenden Montag verhandeln die EU und die Türkei bei einem
Gipfel über den künftigen Kurs in der Asylkrise.

Was soll Deutschland tun, falls der Gipfel scheitert? Nach der angemessenen
Reaktion Deutschlands auf nationale Alleingänge gefragt, trifft der Vorschlag,
die Beitragszahlungen an die EU künftig zu verringern, auf die größte
Zustimmung: 56 Prozent der Bürger fänden dieses Vorgehen gut. Knapp mehr als die
Hälfte ist für die Festlegung von eindeutigen Aufnahmezahlen - eine Forderung,
die vor allem Horst Seehofers CSU immer wieder erhoben hat und die Merkel
ablehnt. 48 Prozent plädieren für eine bessere Sicherung der Bundesgrenzen. Gar
keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen sehen nur neun Prozent als Option.

EU-Ratspräsident Donald Tusk hat Wirtschaftsflüchtlinge vor der Einreise in die


Europäische Union gewarnt. "Wo auch immer Sie herkommen: Kommen Sie nicht nach
Europa", sagte Tusk bei einem Besuch in Athen. "Glauben Sie nicht den
Schmugglern. Riskieren Sie nicht Ihr Leben und Ihr Geld. Es ist alles umsonst."
Tusk äußerte sich nach einem Gespräch mit dem griechischen Regierungschef Alexis
Tsipras. Griechenland werde ebenso wie jedes andere EU-Mitgliedsland "nicht
länger Transitland" sein, sagte Tusk weiter. Die Schengen-Regeln würden "wieder
in Kraft treten" - und Wirtschaftsflüchtlinge damit an den Außengrenzen
gestoppt.

Tsipras forderte nach seinem Gespräch mit Tusk eine Bestrafung von
EU-Mitgliedern, die ihre Grenzen im Alleingang schließen. "Es muss Sanktionen
für diejenigen geben, die die gemeinsamen Entscheidungen der EU nicht
respektieren." Der EU-Gipfel vor zweieinhalb Wochen hatte sich ausdrücklich zu
einem europäischen Ansatz bekannt. "Was vereinbart wurde, muss respektiert
werden", sagte Tsipras.

Tusks Besuch in Athen war nach Österreich und mehreren Balkanländern die nächste
Station einer ausgedehnten Vermittlungsmission, die Tusk auf der Suche nach
einer Kompromisslinie in der EU-Flüchtlingspolitik unternimmt. Damit will er
verhindern, dass der EU-Sondergipfel mit der Türkei am Montag zum Fiasko wird.
Von Athen aus reist Tusk nach Ankara weiter.

Die Türkei will offenbar die Gunst der Stunde nutzen und bei den Beratungen mit
den EU-Staats- und -Regierungschefs auch die Beziehungen des Landes zur
Europäischen Union thematisieren. "Wir wollen nicht, dass sich der Gipfel
ausschließlich mit Flüchtlingen befasst", sagte ein ranghoher
Regierungsvertreter in Ankara. Es müsse auch über die EU-Beitrittsgespräche und
die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel diskutiert werden.

Ende November hatte die EU mit Ankara einen Aktionsplan in der Flüchtlingskrise
vereinbart. Brüssel sagte der Türkei Finanzhilfen in Höhe von drei Milliarden
Euro zu und stellte auch neuen Schwung in den Beitrittsverhandlungen sowie eine
baldige Visumfreiheit für türkische Staatsbürger in Aussicht. Aus Sicht der
Europäer unternimmt Ankara aber trotzdem nicht genug, um die Überfahrt von
Flüchtlingen nach Griechenland zu verhindern.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) rät Syrern und Irakern,
in Griechenland Asyl zu beantragen und sich dann gemäß des "relocation system"
verteilen zu lassen. Das dauert maximal zwei Monate - und man kann sich vor
allem nicht aussuchen, wohin man will. Bisher wurde dieses System kaum genutzt.
In den vergangenen Tagen haben sich aber bereits 800 Flüchtlinge angemeldet. Die
EU-Staaten bieten zurzeit 2000 Plätze an. Seite 4

UPDATE: 4. März 2016

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Die Welt

Donnerstag 10. März 2016

Flüchtlinge? Die Therme macht größere Probleme;


Ein Besuch im Kurort Bad Karlshafen, wo die AfD einen sensationellen Wahlerfolg
feierte

AUTOR: Thilo Maluch


RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 59

LÄNGE: 1097 Wörter

Bad Karlshafen

Als der "Albaner-Triathlon" in Bad Karlshafen erfunden wurde, war Florian


Kohlweg noch nicht einmal geboren. Der 19-jährige Auszubildende, der seit seinem
Sensationserfolg am Sonntag bei der Kommunalwahl der neue Star der hessischen
AfD ist, kennt aber die Geschichten aus den frühen 90er-Jahren, als während der
ersten Asylkrise über 200 albanische Asylbewerber im kleinen Kurort an der Weser
einquartiert wurden.

Der "Albaner-Triathlon" - zu Fuß zum Schwimmbad, eine Runde schwimmen, mit einem
Fahrrad zurück - war damals nur der Anfang. Die Älteren erinnern sich noch an
die vielen Einbrüche und die mit Macheten bewaffneten Männer, die auf den Weiden
der Umgebung ohne schlechtes Gewissen die Schafe der Bauern schlachteten.

Das ist lange her, doch heute leben wieder 250 Flüchtlinge in fünf Unterkünften
mit den 3551 Einwohnern. Bricht hier ein altes Flüchtlingstrauma wieder auf, das
die Wähler in die Arme der Antiflüchtlingspartei AfD trieb? Nach den ersten
Ergebnissen hatte die AfD mit 22 Prozent CDU wie SPD deutlich hinter sich
gelassen und schien plötzlich hinter den regierenden Freien Wählern
zweitstärkste Kraft im Kurort. Ein Schock für viele im Kurort, denn man will
nicht als "braunes Kaff" gelten. Die Bewohner sorgen sich um den Ruf der Stadt,
man lebt schließlich von den Fremden. Im Sommer kommen Wanderer, Fahrradfahrer,
Camper und Kurgäste, die im heilsamen Solewasser baden.

Schon am Tag nach der Wahl treffen beim Bürgermeister empörte E-Mails und sehr
viele Presseanfragen ein. Und im Supermarkt erzählt man sich von ersten
Stornierungen bei Ferienwohnungen. Der Schaden ist angerichtet. Bad Karlshafen,
das 1699 als neues Zuhause für die Hugenotten, also französische Flüchtlinge,
gegründet wurde, hat plötzlich ein Imageproblem.

AfD-Kandidat Kohlweg findet das völlig absurd. "Die Leute, die jetzt vom ,brauen
Dorf' reden, das sind die wahren Populisten", sagt er. Der junge Mann, der sich
nach der Wahl auf Augenhöhe mit erfahrenen CDU- und SPD-Kommunalpolitikern
wähnt, redet laut und denkt schnell. Er ist smart und ehrgeizig, eigentlich
idealtypisch für die jungen Menschen, die Bad Karlshafen zum Studium verlassen
und nie wieder zurückkommen. Er will vorerst bleiben und sich für eine Region
engagieren, die im Bürokratendeutsch als "strukturschwach" bezeichnet wird.
Wenig Arbeit, wenig Geld, tote Hose. "Die Flüchtlinge haben bei uns im Wahlkampf
praktisch keine Rolle gespielt", versichert Kohlweg. "Das läuft ja hier gut mit
denen, und wir haben schließlich auch echte Probleme." Im Kurort schließen die
Geschäfte, viele Wohnungen und Hotels stehen leer. Bad Karlshafen ist pleite. 43
Millionen Euro Schulden lasten auf der kleinen Kommune. Tendenz steigend.

Auch sonst herrschen in Nordhessens Idylle griechische Verhältnisse. Die


Grünflächen wurden aus Geldmangel praktisch über Nacht eingeebnet, die
Straßenbeleuchtung ist nachts ausgeschaltet. Die Stadt spart, wo sie kann, denn
nach der Schutzschirmvereinbarung mit dem Land Hessen muss bis 2020 ein
ausgeglichener Haushalt her.

"Die Therme war unser Grab", sagt der parteilose Bürgermeister Ulrich Otto. Das
war eines der vielen Großprojekte, mit denen sich Bad Karlshafen für die Zukunft
rüsten wollte. Das Spaßbad steht inzwischen und ist auch sehr erfolgreich. Die
Stadt hat davon allerdings nicht viel - außer 13 Millionen Euro Schulden. Das
Thermendesaster hatte Otto noch von seinem überforderten Vorgänger geerbt, doch
auch andere Projekte scheiterten kläglich.

Ein Golfplatz sollte kauf- und konsumfreudige Menschen in die Stadt locken, doch
einheimische Spekulanten kauften das dafür vorgesehene Land und trieben die
Preise so hoch, dass der Investor absprang. "Dann ist er eben nach Dresden
gegangen, und da spielen sie heute schön Golf", bedauert Otto.

Das aktuelle Projekt ist der Anschluss des historischen Hafens der Barockstadt
an die Weser. Er liegt genau vor dem Rathaus, hat aber keinen schiffbaren Zugang
zum Fluss. Befürworter des Millionenprojekts wie Bürgermeister Otto hoffen auf
neue Touristen, Gegner wie Florian Kohlweg von der AfD befürchten
unkalkulierbare Kosten durch Gemauschel in den Hinterzimmern der Kommunalpolitik
und neue Schulden.

Die von Kohlweg betriebene Kampagne gegen den Hafenumbau traf offenbar einen
Nerv, machte ihn im Ort bekannt und endete in einem Bürgerentscheid. Doch der
ehemalige Lehrer Otto setzte sich mit nur 40 Stimmen Mehrheit gegen seinen
einstigen Schüler Kohlweg durch. Baubeginn soll nun 2017 sein.

Den Flüchtlingen ist das herzlich egal. Sie treffen sich am Hafen, weil es dort
Internet gibt. Jemand hat ein WLAN-Netzwerk eingerichtet, damit sie mit ihren
Familien in der Heimat sprechen können. Vor einer Weinhandlung drückt sich etwa
ein Dutzend Flüchtlinge mit ihren Telefonen gegen die Wand, um dem kalten Wind
zu entkommen. Sie sprechen auf Urdu, Persisch und Arabisch: Manche gehen erst,
wenn die Batterien der Geräte leer sind. Von den Wahlen und dem AfD-Ergebnis hat
keiner etwas mitbekommen, von Problemen mit den Deutschen kann auch niemand
berichten. "Das Warten auf mein Gespräch wegen des Asylantrages ist sehr
frustrierend", sagt Ibrahim Qhasim aus dem Iran, der über Gründe und Details
seiner Flucht lieber schweigen möchte. Auch Nasir Naseri aus Afghanistan fragt
sich, wann er endlich sein Gespräch mit einem Sachbearbeiter hat. Seit sechs
Monaten ist er in Bad Karlshafen in einem ehemaligen Hotel untergebracht. In
Kabul war er Schauspieler und zeigt auf seinem Telefon stolz Ausschnitte aus
Filmen und Werbespots. Am liebsten würde er auch hier als Schauspieler arbeiten,
inschallah. Zur Not aber auch als Mechaniker.

Er muss lachen, als er nach den Problemen der Stadt befragt wird: "Pleite? Mach
keine Witze. Wenn du Armut sehen willst, komm nach Afghanistan, und ich zeige
sie dir." So schnell wie möglich will er seine Familie nachholen. Hier in
Deutschland herrsche Frieden, und die Menschen würden helfen.

Dem Bürgermeister machen die Flüchtlinge keine Sorgen. "In den 90ern war das
eine einzige kriminelle Bande, aber heute können wir uns nicht beklagen", sagt
Otto. Die Stadt freut sich über belegte Hotelbetten und darüber, dass all die
Iraker, Syrer, Eritreer und Afghanen als Einwohner zählen. Da gibt es pro Kopf
Geld vom Land, das die Stadt sehr gut gebrauchen kann.

Inzwischen hat man in Bad Karlshafen alle kumulierten und panaschierten Stimmen
ausgezählt. Von den ursprünglich 22 Prozent der AfD sind noch 14 übrig
geblieben. Kohlweg ist nicht enttäuscht, sondern sieht es als Auftrag, weiter
gegen fragwürdige "Millionenprojekte aus den Hinterzimmern" vorzugehen.

UPDATE: 10. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: akpool GmbH All Rights Reserved./arkivi UG; thilo maluch


Die Idylle trügt: Postkarte von Bad Karlshafen im Wesertal
dpa
Florian Kohlweg ist der Spitzenkandidat der lokalen AfD
arkivi UG
Uwe Zucchi

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Die Welt

Freitag 11. März 2016

Heller wird's nicht;


Der Pressekodex bleibt, wie er ist: Medien können die Nationalität von
Straftätern nennen - oder es sein lassen

AUTOR: Christian Meier

RUBRIK: KULTUR; Kultur; S. 24 Ausg. 60

LÄNGE: 1115 Wörter

Jahrelang wurde der Deutsche Presserat, gegründet 1956 als ein vom Staat
unabhängiges Organ der Selbstkontrolle, als "zahnloser Tiger" belächelt. Der
Regeln für Presseethik aufstellt, die im Ernstfall nicht durch Sanktionen
durchzusetzen sind, wenn ein Medium sich querstellt. Der mit einer steigenden
Beschwerdezahl zu tun hat, tendenziell aber unterfinanziert ist. Bis 2009 war
man für medienethische Verfehlungen auf den Onlineseiten der Printpresse gar
nicht zuständig.

Seit einigen Monaten hat den Presserat nun auch die Flüchtlingskrise erreicht.
Konkreter: Die Silvesternacht von Köln hat eine Regel im Kodex, die ohnehin als
umstritten galt, infrage gestellt. Ziffer 12.1. besagt: "In der
Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder
Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn
für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.
Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten
schüren könnte." Einen Grundsatz gegen Diskriminierung gibt es seit 1971.

Konkret: Klaut ein Mann aus Afghanistan jemandem die Brieftasche oder bricht ein
Rumäne in eine Wohnung ein, sollte bei einer Meldung auf die Nennung der
Herkunft verzichtet werden. Bei Tätern deutscher Nationalität wird dies
schließlich auch nicht extra vermerkt. Doch was wäre, handelte es sich bei dem
Diebstahl um einen Fall organisierter Kriminalität?

Zwei Fälle aus dem Redaktionsalltag. In der Silvesternacht sollen zwei Mädchen
in Weil am Rhein von insgesamt vier Tätern vergewaltigt worden sein. Der
Südwestrundfunk (SWR) hatte zuerst berichtet. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa)
griff den Fall in zwei Absätzen auf. In einer Notiz für die Redaktionen lieferte
die Agentur den zusätzlichen Hinweis, dass es sich bei den Verdächtigen um Syrer
handele. Aber: "Den Angaben zufolge ist kein Zusammenhang mit den Übergriffen in
Köln erkennbar." Manche Redaktionen - darunter die "Welt" - nannten dennoch die
Nationalität der Verdächtigen.

Ein zweiter Fall aus dieser Woche. Ein zwölfjähriges Mädchen soll auf einer
Rutsche in einem Freizeitbad bei Köln unsittlich berührt worden sein. Zunächst
hieß es, gleich sechs Männer wären beteiligt gewesen, woraufhin dpa die
Nationalitäten der Männer aufzählte. Als sich herausstellte, dass der Vorwurf
nur einen Mann betrifft, ist in dem nachfolgenden Bericht auch die Herkunft des
Mannes nicht mehr veröffentlicht worden. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" nannte die
Nationalitäten dennoch, verwies aber auch darauf, dass sexuelle Belästigungen in
Schwimmbädern keine Frage des "kulturellen Hintergrunds" seien.

Zurück zur Silvesternacht in Köln. Dass es sich bei den übergriffigen Tätern auf
der Domplatte laut Zeugen vorwiegend um Männer mit nordafrikanischer und
arabischer Herkunft gehandelt haben soll, dass auch Flüchtlinge unter den Tätern
waren, kam erst mit einiger Verzögerung heraus. Fraglich ist allerdings, ob
diese Verzögerung von einigen Tagen auf die Zurückhaltung von Redaktionen
zurückzuführen ist - oder nicht eher auf die Tatsache, dass Details über die
Geschehnisse erst langsam publik wurden, auch gebremst durch die anfänglich
unzulängliche Informationspolitik der Kölner Polizei. Denn in der Woche nach
Silvester wurden in nahezu allen Berichten immer wieder die Zeugenaussagen zur
vermutlichen Herkunft der Täter zitiert. Viele Medien sahen den "begründbaren
Sachbezug" offenbar gegeben.

Ausgerechnet ein Fall also, bei dem Medien den Verhaltenskodex souverän
ausgelegt haben, sorgt nun für eine Debatte. Die Mitglieder des Presserats
beratschlagten an diesem Mittwoch, ob die Ziffer 12.1. hinreichend klar
formuliert und den Realitäten im Alltag von Redaktionen angemessen ist. Der
Journalismusprofessor Horst Pöttker urteilte in einem Interview mit "heute":
"Diese Regel beruht auf der Vorstellung, dass das Publikum nicht mündig ist,
dass es Vorurteile hat und mit Informationen nicht umgehen kann." Journalisten
seien nun mal keine Pädagogen. Tanit Koch, die Chefin der "Bild"-Zeitung, sieht
in der Regel gar eine "ungerechtfertigte Selbstzensur", die "das Misstrauen
gegenüber der journalistischen Arbeit" schüre.

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) setzt sich dagegen für die Beibehaltung
der Regel in ihrer jetzigen Form ein. Ein "Verbot der Diskriminierung" im Kodex
müsse beibehalten werden. Der DJV ist einer der Trägervereine des Presserats.
Bei einer Tagung von Chefredakteuren, zu der die dpa eingeladen hatte, sprach
sich dagegen eine Mehrheit für eine Änderung der Ziffer 12.1. aus. Der Presserat
sei kein "Selbstgeißelungsorgan", der Passus gehe "an der Wirklichkeit vorbei".
Chefredakteur Sven Gösmann sagt dazu: "Die Meinungen unserer Kunden sind ebenso
heterogen wie unsere Kundschaft." Er selbst glaubt indes nicht, dass die Regel
die Berichterstattung behindere.

Am Mittwoch hatten die 28 Mitglieder des Presserates Gäste eingeladen. Zu denen


zählte Peter Pauls, der Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeiger". Er sagt: "Die
Richtlinie gibt den Redaktionen ja durchaus die Möglichkeit, zu einem eigenen
Urteil zu kommen. So machen wir das in der Flüchtlingskrise dann auch immer
wieder. Wir dürfen das Vertrauen unserer Leser nicht verlieren. Was auch nicht
heißt, dass wir in jedem Fall die Nationalität nennen." Am Ende der Diskussion
beim Presserat stand die Entscheidung, die Richtlinie beizubehalten. Es gab es
nur eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen. "Der Presserat ist nicht der Vormund
von Journalisten und Medien", sagte anschließend der Sprecher des Presserats,
Manfred Protze. "Er gibt mit seinem Kodex lediglich Handlungsorientierungen."
"In der neuen Informationswelt können wir nicht mehr entscheiden, was unsere
Leser wissen dürfen und was nicht", sagt Peter Pauls. Einerseits, doch
andererseits müssen und können Medien weiterhin ihre eigenen Entscheidungen
treffen. Wenn Rolf Seelheim, der Chefredakteur der Oldenburger
"Nordwest-Zeitung", vom zahnlosen Tiger Presserat "klarer gefasste Regelungen"
fordert, was sagt das dann aus? Die neue Debatte um den Pressekodex kann daher
auch als ein Indiz für eine gestiegene Verunsicherung gedeutet werden, für einen
Bedarf an einem neuen Koordinatensystem.

In einer Zeit, wo Medien eigentlich mehr Souveränität brauchen. Denn leben wir
tatsächlich und urplötzlich in einer neuen Welt mit völlig neuen Regeln der
Berichterstattung? Wohl kaum. Was aber stimmt: Die intensive Beschäftigung der
Medien mit den Flüchtlingen markiert viel deutlicher als bisher die Grenze
zwischen angewandter Presseethik und spürbar lauter gewordenen Forderungen nach
maximaler journalistischer Transparenz.

Braucht die Medienwelt völlig neue Koordinaten?

UPDATE: 11. März 2016

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Jan Hakan Dahlstrom

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Die Welt

Samstag 12. März 2016

Europas Schicksal liegt jetzt in griechischen Händen

AUTOR: Florian Eder

RUBRIK: TITEL; Blick aus Brüssel; S. 1 Ausg. 61

LÄNGE: 490 Wörter

Was ist so schwer daran, die Menschen aus dem Slum von Idomeni zu holen? Es ist
nass dort, es ist matschig, die Flüchtlinge campieren unter Umständen, die ein
europäisches Land nicht dulden darf. Die Migranten hoffen vergebens: Die
mazedonische Grenze ist zu und wird auch nicht wieder aufgehen. Die Menschen
hätten es nicht weit bis zu einem Obdach: Saubere Unterkünfte sind und werden
sogar in der näheren Umgebung gerade fertig. Warum räumt Griechenland das wilde
Lager nicht?
Die hässlichen Bilder aus Idomeni kommen der Regierung in Athen entgegen.
Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, sein Außenminister und seine
Innenministerin haben den griechischen Premierminister Alexis Tsipras mit dem
außenpolitischen Geschick von Rumpelstilzchen in den vergangenen Wochen in eine
Opferrolle gedrängt. Die Balkanroute zu, das sagte: Die Migration ist keine
europäische Aufgabe, die Griechen sind isoliert und alleingelassen.

Niemand kann glauben, dass die EU den Plan politisch überlebt hätte, die
Schotten dicht zu machen, aber eines ihrer Mitglieder draußen zu lassen. Ein
Irrglaube auch, dass es keine Ausweichrouten gäbe wie etwa die per Boot von
Nordgriechenland nach Apulien, vor der Italien sich sehr konkret fürchtet.

Die Bilder von traurigen Menschen, weinenden Kindern in Idomeni aber


unterstützen nun Athens Anklage der hartherzigen Nachbarn. Das ist eine
Position, aus der heraus es sich sehr gut und sehr bequem verhandeln lässt.
Tsipras wird sie nutzen, denn sein Land ist nun einmal gleichermaßen Problem und
Schlüssel zur Flüchtlingskrise. Das Paradoxe am Streit der vergangenen Wochen:
Die EU ist so oder so in der Hand der Griechen.

Der Türkei-Plan, ein Versuch, den Zerfall der Union zu verhindern, hängt von
tätiger Mitwirkung der Griechen ab. Sie müssen die Rückführungen irregulärer
Migranten organisieren, auf denen die ganze Idee basiert. Nur wenn sehr deutlich
wird, dass der Weg übers Ägäische Meer nicht nur teuer und lebensgefährlich,
sondern auch aussichtslos ist, werden sich Syrer in der Türkei in die Schlange
für eine legale Einreise nach Europa stellen, nur dann besteht Aussicht, dass
die Zahlen insgesamt sinken. Nur dann werden Kurden, Afghanen und Jesiden sich
davon abhalten lassen, die gefährliche Route zu nehmen. Selbst wenn die
Rückführungen operativ mit europäischen Mitteln geschehen: Wenn der Plan im
Einklang mit Grund- und Menschenrechten sein soll, werden griechische Gerichte
in ihrem eigenen Tempo Einsprüche verhandeln müssen.

Ein paar Zehntausend Flüchtlinge muss Griechenland im Moment versorgen, bekam


dafür weitere 700 Millionen Euro aus Brüssel zugesagt. Weiteren Nachlass bei der
Umsetzung des Rettungsprogramms wollen sie auch. Den gab es beim jüngsten
Finanzministertreffen nicht - nicht schon in dieser Woche. Die Europäer werden
noch nachsichtig werden und milder, je mehr die Zeit sich dehnt.

Immer samstags: Florian Eder von "Politico" zur Lage Europas.

UPDATE: 12. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt
Mittwoch 16. März 2016

Starke Frauen, starke Worte

RUBRIK: TITEL; TITEL; S. 1 Ausg. 64

LÄNGE: 135 Wörter

Angelina Jolie bleibt von Windböen und Regengüssen unbeeindruckt. Der


Hollywoodstar ermahnt als UN-Sondergesandte beim Besuch eines libanesischen
Flüchtlingslagers die Staatengemeinschaft zu raschem Handeln. "Wir bekommen die
Welt nicht mit Hilfslieferungen anstelle von Diplomatie und politischen Lösungen
in den Griff." Im Lager sind Tausende Syrer untergebracht. Siehe Kommentar,
Seite 6

Nadja Tolokonnikowa wurde als Mitglied der Band Pussy Riot mit dem "Punk-Gebet"
in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale gegen Wladimir Putin weltberühmt.
Jetzt hat die 26-jährige Aktivistin eine "Anleitung für eine Revolution"
geschrieben. Vor der russischen Botschaft in Berlin erklärt sie dem
"Welt"-Reporter, wie sie die Musik und Songtexte als ironische Waffe gegen den
Kreml einsetzt. Seite 8

UPDATE: 16. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Martin U. K. Lengemann


Martin U. K. Lengemann,Martin U.

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Die Welt

Samstag 26. März 2016

Wird aus Verzweiflung Wut?;


Die Bundespolizei befürchtet "gewaltsame Ausschreitungen" an der
griechisch-mazedonischen Grenze. Immer noch kommen viele Asylsuchende nach
Deutschland

AUTOR: Manuel Bewarder; Eva Marie Kogel; Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 6 Ausg. 72

LÄNGE: 877 Wörter


Zwischen den drei Männern aus Damaskus und den mazedonischen Grenzbeamten liegen
nur acht Meter und ein Zaun. Ihnen bleibt nur das Starren. "Es muss gut werden,
zurück können wir nicht", sagen sie.

Ein paar Hundert Meter weiter warten weitere 12.000 Migranten auf den Gleisen
der Strecke Thessaloniki - Skopje, die durch das Camp führen. Sie wollen nicht
in besser ausgestatteten Lagern in Nordgriechenland untergebracht werden. Sie
befürchten, dort interniert zu werden. Mit einem Sitzstreik machen sie auf die
aussichtslose Situation in dem Lager neben dem Dorf Idomeni aufmerksam. Ihre
Verzweiflung könnte sich bald in einem dritten Grenzsturm entladen,
prognostiziert die Bundespolizei: "Trotz des restriktiven Grenzmanagements sind
aktuell kaum Ausweichbewegungen festzustellen. Vielmehr zeigt der Versuch, die
griechisch-mazedonische Grenze zu ,überrennen', dass die Flüchtlinge noch immer
auf die Balkanroute setzen. Gewaltsame Ausschreitungen in diesem Zusammenhang
werden wahrscheinlicher", heißt es in einem internen Bericht der Bundespolizei.

Tritt dieses Szenario ein, wäre die deutsche Sicherheitsbehörde selbst


betroffen: Die EU-Kommission will in den kommenden beiden Wochen 2400 Beamte aus
den Mitgliedsstaaten mobilisieren, um die Vereinbarungen mit der Türkei
umzusetzen - darunter Beamte der Bundespolizei. Diese prognostiziert auf
Grundlage ihrer internen Untersuchung, die am Montag abgeschlossen wurde:
"Stabilere Wetterverhältnisse in der Ägäis ab Ende März werden sich begünstigend
auf Seewegschleusungen auswirken." Davon ist am Freitag noch nichts zu spüren.
Binnen 24 Stunden hätten nur 161 Menschen zu den griechischen Ostägäis-Inseln
übergesetzt, teilte der griechische Flüchtlingskrisenstab mit. Bereits jetzt
stauen sich, seitdem Österreich und die Balkanstaaten keine Flüchtlinge ohne
Papiere mehr einreisen lassen, Zehntausende Migranten in Griechenland. Am
Freitag sendeten die griechischen Behörden rund 20 Busse nach Idomeni und boten
abermals eine Unterbringung in anderen Lagern an - ohne großen Erfolg. Etwa 1500
Migranten wurden in den vergangenen Tagen in Zeltdörfer an der albanischen
Grenze gebracht, doch dort bewachen Polizisten die Grenzübergänge, an der grünen
Grenze werden allenfalls vereinzelt Migranten aufgegriffen. Die Verantwortlichen
in Tirana, Rom und auch in Brüssel befürchten, dass Schmuggler alte Verbindungen
über die Adria nutzen könnten, um Menschen aus Albanien nach Italien zu
schleusen. Bulgarien bewacht mit Soldaten die Landgrenze zur Türkei.

Die Schlussfolgerung, die Balkanroute sei "dicht", ist allerdings irreführend.


Immer noch kommen viele Schutzsuchende in Deutschland an. Zwischen dem 18. und
23. März stellte die Bundespolizei 808 irreguläre Einreisen an den deutschen
Grenzen fest, davon 576 in Bayern, wie die Behörde der "Welt" mitteilte. Als
irregulär werden Einreisen von Menschen ohne Papiere oder Visa bezeichnet.

Falls die Asylzuwanderung auf diesem Niveau bliebe, würden in diesem Jahr - die
im EU-Türkei-Deal vorgesehenen Kontingentflüchtlinge nicht eingerechnet - mehr
als 50.000 Schutzsuchende kommen. Dies entspräche der Größenordnung der Jahre
vor 2012, seit dem die Asylanträge jährlich stark angestiegen waren.

Letztere Entwicklung war Ausdruck des Zerfalls des europäischen Asylsystems.


Ursprünglich hatten die Europäer im Zuge der Einführung der Reisefreiheit die
sogenannten Dublin-Verordnungen vereinbart: Die Staaten an den Außengrenzen
sollten den Schutz derselben übernehmen; irreguläre Migranten sollten dort einen
Asylantrag stellen, wo sie erstmals europäischen Boden betraten. Diese ungleiche
Lastenverteilung funktionierte nie vollständig; die Randstaaten der EU waren für
die meisten Asylsuchenden nicht Ziel-, sondern Transitländer, wie sich an den
jährlichen Asylantragszahlen ablesen ließ.

Wenn die Dublin-Regeln vollständig eingehalten worden wären, hätten 2015 nur
1699 Migranten in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Die übrigen etwa eine
Million Neuankömmlinge waren bereits in einem sicheren Drittstaat, bevor sie
nach Deutschland kamen. "Die Bundespolizei stellte im Jahr 2015 insgesamt 1699
Asylsuchende fest, die nicht über einen sicheren Drittstaat beziehungsweise
sicheren Herkunftsstaat nach Deutschland eingereist sind. Die Einreisen
erfolgten überwiegend über die Flughäfen und nur zu einem sehr geringen Teil
über die Seehäfen", hatte die Bundespolizei der "Welt" im Februar auf Anfrage
mitgeteilt.

Auf die aus der Nichteinhaltung der Dublin-Verträge resultierenden


Grenzschließungen reagierten die Staats- und Regierungschefs vergangene Woche:
Die wegen der Flüchtlingsströme errichteten Grenzkontrollen in Europa sollen
enden. Dazu soll vor allem der Aktionsplan mit der Türkei beitragen. Demnach
sollen die Europäer alle in Griechenland Ankommenden in die Türkei zurückführen.
Im Gegenzug werden die EU-Staaten - außer Polen, Ungarn und der Slowakei - Syrer
direkt aus der Türkei nach Europa holen.

Der Plan soll der Einstieg in ein Flüchtlingsaufnahmesystem über Kontingente und
der Anfang vom Ende der Flüchtlingsaufnahme über irreguläre Migration sein.
Szenen wie in Idomeni würden dann der Vergangenheit angehören. Zumindest in
Europa.

1699 Asylsuchende reisten 2015 nicht über einen sicheren Staat ein Bundespolizei

UPDATE: 26. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Samstag 26. März 2016

Die tödlichen "Spiele" der Schlepper

AUTOR: Paul Nehf

RUBRIK: FORUM; Idomeni; S. 2 Ausg. 72

LÄNGE: 566 Wörter

Zum Umgang mit der Flüchtlingskrise gehört, dass mit politischen Parolen
komplexe Rechts- und Gesetzeslagen vereinfacht werden. Und dass an anderer
Stelle mit gut klingenden Rechtsbegriffen vermeintlich einfache Lösungen für die
komplizierte Realität präsentiert werden. Beliebt ist es in diesen Tagen,
zwischen Wirtschaftsflüchtlingen auf der einen und Kriegsflüchtlingen auf der
anderen Seite zu unterscheiden. Es klingt ja auch so einfach: Wer vor Krieg
flieht, der darf in die EU, wer aus wirtschaftlichen Gründen flieht, der nicht.
Als Trennlinien gelten Staatsgrenzen: Iraker, Syrer und Jemeniten ins Töpfchen,
der Rest ins Kröpfchen.

Deshalb dürfen Menschen aus anderen Ländern auch nicht an den


Umsiedlungsprogrammen teilnehmen, mit denen eben jene "Kriegsflüchtlinge" aus
Griechenland in andere EU-Staaten verteilt werden. Politiker aber vergessen
dabei zu erwähnen, dass das Asylrecht solche Unterscheidungen gar nicht kennt.
Wer das für Paragrafenreiterei hält, dem sei ein Gespräch mit den vielen
afghanischen Flüchtlingen ans Herz gelegt, die nun in Griechenland gestrandet
sind. Deren Asylanträgen, wenn sie sie denn stellen, wird in der großen Mehrheit
stattgegeben, weil sie in der Heimat einem bürgerkriegsähnlichen Zustand und der
Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind.

Es ist eben nicht nur moralisch verwerflich, unter Opfern des IS und der Taliban
zu unterscheiden. Es ist auch rechtlich unzulässig, die einen als
Kriegsflüchtlinge zu akzeptieren und den anderen pauschal zu unterstellen, nur
aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu fliehen. Die meisten Afghanen, die
ich in Griechenland getroffen habe, sind Hasara. Das sieht man ihnen schon an
ihren asiatischen Gesichtszügen an. Die Hasara sind eine schiitische Minderheit,
die in Afghanistan seit Jahrzehnten verfolgt wird. Wegen ihres Glaubens sind sie
Todfeinde der radikalsunnitischen Taliban. Und die sind auf dem Vormarsch.

Wenn ich den Afghanen nun erklären musste, dass es für sie erst einmal nicht
weitergehen würde, weil sie als Wirtschaftsmigranten gelten, konnten sie es
nicht glauben. Sie hatten eine Tausende Kilometer lange Reise hinter sich. Zu
Fuß über Berge und durch Flüsse, in Lkw quer durch den Iran und die Türkei, und
am Ende im Schlauchboot auf die griechischen Inseln. Sie sagten, sie hätten
nirgendwo unterwegs bleiben können, die einzige Chance, zu überleben, sei in
Europa. Und sie erinnerten daran, dass in dem Krieg in ihrer Heimat in den
vergangenen 15 Jahren auch Tausende westliche Soldaten gestorben sind.

Aus Athen hatte ich über zwei Afghanen berichtet, beide 16 Jahre alt, die mir
von den Angeboten der Schlepper erzählten. Diese nennen die Fluchtmöglichkeiten
euphemistisch "Spiele": Das Taxispiel hinter die mazedonische Grenze, das
Zugspiel quer über den Balkan - oder das unweit teurere Bootspiel von der
albanischen Küste aus über das Mittelmeer nach Italien. Auf den Artikel hin
meldete sich ein Rentner aus Köln bei mir. Er wollte Masood und Surhab bei sich
aufnehmen und bemühte sich darum, ein Visum für die beiden zu bekommen. Doch er
hatte, wenig überraschend, kein Glück. Die schlechte Nachricht, die ich Masood
daraufhin schickte, hat er bis heute nicht gelesen. Ich frage mich, ob er am
Ende gespielt hat.

Der Autor ist Volontär der Axel Springer Akademie, hat Politik des Nahen und
Mittleren Osten studiert und war gerade in Griechenland.

UPDATE: 26. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

GRAFIK: Michael Dilger

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Die Welt

Mittwoch 6. April 2016

Politik Kompakt;
FDP: Umfragehoch für Liberale in Deutschland ++ USA: Amerika hat plötzlich Angst
um Deutschland ++ Bergkarabach: Baku und Eriwan lassen Waffen schweigen ++
Türkei: Neue Schikanen für PKK-Unterstützer ++ Schweiz: Muslime dürfen
Handschlag verweigern

RUBRIK: POLITIK; Kompakt; S. 6 Ausg. 80

LÄNGE: 562 Wörter

FDP

Umfragehoch für Liberale in Deutschland

Die FDP gewinnt an Zuspruch. Im Insa-Meinungstrend für "Bild" legten die


Liberalen eineinhalb Punkte auf 7,5 Prozent zu - der höchste Wert seit März
2012. "Wahrscheinlich erinnern die jüngst verstorbenen Ex-FDP-Chefs Genscher und
Westerwelle viele Wähler an die Bedeutung der Freien Demokraten", sagte
Insa-Chef Hermann Binkert. Der frühere FDP-Chef und Außenminister Guido
Westerwelle starb am 18. März an den Folgen seiner Leukämie-Erkrankung. Der
langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher starb am vergangenen Donnerstag
im Alter von 89 Jahren an Herz-Kreislauf-Versagen. Er wird am 17. April mit
einem Staatsakt in Bonn geehrt.

USA

Amerika hat plötzlich Angst um Deutschland

Die Amerikaner haben weiterhin ein positives Deutschlandbild. Der Umgang der
Bundesregierung mit der Flüchtlingskrise wird gelobt, dennoch sorgt sich die
Mehrheit der US-Bürger. Das sind Ergebnisse einer Umfrage der Beratungsfirma
Frank N. Magid Associates, die der German Marshall Fund in Washington
vorstellte. 53 Prozent der Amerikaner sehen Deutschland demnach in einem sehr
positiven oder positiven Licht. Lediglich acht Prozent urteilen negativ oder
sehr negativ. Allerdings befürchten 52 Prozent der US-Bürger, dass die
Flüchtlinge eine Bedrohung der Sicherheit darstellen; nur 13 Prozent
widersprechen dieser Antwortmöglichkeit. 50 Prozent erwarten, dass die
Ausländerfeindlichkeit der Deutschen wächst. 44 Prozent betrachten die große
Zahl der Zuwanderer als Bedrohung für Deutschlands Wohlstand, 40 Prozent rechnen
mit dem Erstarken rechter Bewegungen. Dass die Migranten einen positiven Effekt
auf die Gesellschaft haben könnten, meinen lediglich 34 Prozent.

Bergkarabach

Baku und Eriwan lassen Waffen schweigen


Nach vier Tagen heftiger Kämpfe haben Aserbaidschan und Armenien eine Feuerpause
im Konflikt um die Kaukasusregion Bergkarabach erklärt. "Am 5.April um 12.00
Uhr, auf Grundlage eines gemeinsamen Abkommens, sind die Kampfhandlungen
zwischen den bewaffneten Kräften Armeniens und Aserbaidschans eingestellt
worden", teilte das aserbaidschanische Verteidigungsministerium mit. Ob die
Kämpfe beendet wurden, konnte aus unabhängigen Quellen nicht geprüft werden.

Türkei

Neue Schikanen für PKK-Unterstützer

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat vorgeschlagen, Unterstützer der
verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auszubürgern und die Definition
"terroristischer Verbrechen" umfassender zu fassen. "Wir müssen alle Maßnahmen
treffen, dazu gehört, den Anhängern der terroristischen Organisation die
Staatsbürgerschaft abzuerkennen", sagte Erdogan in Ankara. Die Behörden sind
zuletzt verstärkt juristisch gegen Unterstützer der Kurden vorgegangen, darunter
Journalisten, Anwälte und Abgeordnete.

Schweiz

Muslime dürfen Handschlag verweigern

Zwei muslimische Schüler in der Schweizer Gemeinde Therwil weigern sich aus
Glaubensgründen, ihren Lehrerinnen die Hand zu geben. Die Schulleitung reagiert
auf das Verhalten der Syrer (14 und 15) mit einer Sonderregelung. "Die beiden
schütteln auch den Lehrer nicht mehr die Hand. Damit ist die Diskriminierung aus
der Welt geschafft", wird der Rektor zitiert. Er halte es für falsch, die Geste
mit Hilfe von Disziplinarmaßnahmen einzufordern. Justizministerin Simonetta
Sommaruga ist entsetzt: "Dass ein Kind der Lehrperson die Hand nicht gibt, das
geht nicht."

UPDATE: 6. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Die Welt

Donnerstag 28. April 2016

Ausland Kompakt;
Österreich: Parlament verschärft das Asylrecht ++ Griechenland:
Euro-Sondergipfel: Tsipras blitzt ab ++ Frankreich: Isolationshaft für Salah
Abdeslam ++ Tschechien: Sieben Flüchtlinge sind willkommen
RUBRIK: POLITIK; Kompakt; S. 7 Ausg. 99

LÄNGE: 350 Wörter

Österreich

Parlament verschärft das Asylrecht

Österreich kann in der Flüchtlingskrise künftig einen "Notstand" ausrufen. Als


Folge hätten Schutzsuchende kaum mehr eine Chance auf Asyl. Das ist die
Konsequenz der Novellierung des Asylrechts, die das österreichische Parlament
mit deutlicher Mehrheit beschlossen hat. Der "Notstand" wird definiert als
Gefährdung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit. In diesem Fall
würden nur Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen und Frauen mit
Kleinkindern angenommen. Alle anderen würden in die Nachbarländer abgeschoben.

Griechenland

Euro-Sondergipfel: Tsipras blitzt ab

Der Reformstreit zwischen Euro-Geldgebern und der griechischen Regierung wird


zunächst nicht auf höchster politischer Ebene ausgetragen. EU-Ratspräsident
Donald Tusk erteilte der Forderung des griechischen Ministerpräsidenten Alexis
Tsipras eine Absage, auf einem Euro-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs
die festgefahrenen Verhandlungen über Reformauflagen voranzubringen. "Ich bin
überzeugt, dass es für die Finanzminister noch Arbeit zu erledigen gibt",
spielte Tusk den Ball zurück an die Euro-Gruppe.

Frankreich

Isolationshaft für Salah Abdeslam

Sechs Wochen nach seiner Festnahme in Brüssel ist der mutmaßliche


Parisattentäter Salah Abdeslam an Frankreich ausgeliefert worden. Der 26-jährige
Islamist war im Brüsseler Stadtteil Molenbeek gefasst worden. Der in Brüssel
geborene Franzose gilt als einziger Überlebender des Islamistenkommandos, das am
13. November bei einer Anschlagsserie in Paris 130 Menschen getötet hat. In
einem französischen Gefängnis im Großraum Paris soll er unter maximalen
Sicherheitsbedingungen isoliert untergebracht werden.

Tschechien

Sieben Flüchtlinge sind willkommen

Tschechien will demnächst die ersten sieben Flüchtlinge aus Griechenland auf der
Grundlage des bereits im September beschlossenen EU-Umverteilungsplans
aufnehmen. Sieben Syrer haben demnach einen Hintergrundcheck der tschechischen
Sicherheitsbehörden erfolgreich bestanden. Drei von ihnen tauchten aber unter -
sie wollten offenbar nicht in das Land.

UPDATE: 28. April 2016

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Die Welt

Donnerstag 28. April 2016

Frist versäumt, Asylbewerber darf bleiben

AUTOR: Sven Eichstädt

RUBRIK: POLITIK; Politik; S. 5 Ausg. 99

LÄNGE: 390 Wörter

Nach der Dublin-Verordnung ist derjenige Staat für die Prüfung eines
Asylbewerbers zuständig, in dem er erstmals europäischen Boden betritt. Weil
viele aber in andere Staaten weiterreisen, dürfen sie in den Ankunftsstaat
zurückgeschoben werden. So weit die Bestimmung des europäischen Asylsystems, die
nun mit einer Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von Mittwoch
weiter an Bedeutung verliert: Wenn sich ein EU-Land weigert, einen Asylbewerber
von Deutschland zurückzunehmen, der in diesem Land zuerst registriert worden ist
und einen Asylantrag gestellt hat, kann dieser in der Bundesrepublik bleiben.
Und zwar dann, wenn die Frist von einem halben Jahr abgelaufen ist, innerhalb
derer die Abschiebung in das andere EU-Land geschehen sein muss.

"Der nach den Dublin-Bestimmungen zuständige Mitgliedstaat - in diesem Fall


Deutschland - darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf die Prüfung
seines Asylantrags durch einen anderen Mitgliedstaat verweisen, wenn dessen
Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht", sagte der Vorsitzende Richter des
Ersten Senats, Uwe-Dietmar Berlit. Zweck der Dublin-Bestimmungen sei ja gerade
zu vermeiden, dass sich kein Mitgliedstaat zuständig fühlen will ("Refugee in
Orbit"). Im konkreten Fall hatte sich der Iraner Hanid R. in Ungarn registrieren
lassen und dort auch Asyl beantragt. Im November 2014 kam er nach Deutschland
und stellte einen zweiten Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge lehnte im Februar 2015 den Antrag ab, weil Ungarn zuständig sei, und
ordnete die Abschiebung an. Ungarn wollte Hanid R. jedoch nicht zurücknehmen.
Der Iraner klagte und verlor zunächst. Nun bleibt er also in Deutschland.

Einen zweiten Streitpunkt legt das Bundesverwaltungsgericht zunächst dem


Europäischen Gerichtshof zur Klärung vor. Dabei geht es um die Frage, welches
Land für einen Asylbewerber zuständig ist, wenn er erfolgreich in ein anderes
EU-Land abgeschoben wurde, dann jedoch wieder illegal einreist. Im konkreten
Fall hatte der Syrer Aziz H. 2014 in Italien einen Asylantrag gestellt, war
kurze Zeit später in Frankfurt am Main aufgegriffen worden. Er beantragte zum
zweiten Mal Asyl, der Antrag wurde abgelehnt, weil Italien bereit war, Aziz H.
wieder aufzunehmen. Dieser wurde Anfang 2015 abgeschoben, war aber im August
wieder da.
UPDATE: 28. April 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Sonntag 3. Januar 2016 7:16 AM GMT+1

Sprengstoffverdacht;
Polizei evakuiert erneut Münchner Bahnhof Pasing

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 174 Wörter

HIGHLIGHT: Hohe Sensibilität in München nach der jüngsten Terrorwarnung: In der


Nacht räumte die Polizei erneut die Umgebung rund um den Bahnhof im Stadtteil
Pasing. Ein Sprengstoffsuchhund hatte angeschlagen.

Die Münchner Polizei hat nach Angaben des Bayerischen Rundfunks (BR) in der
Nacht zum Sonntag die Umgebung vor dem Bahnhof im Stadtteil Pasing wegen
Sprengstoffalarms evakuiert. Ein Sprecher der Polizei bestätigte zunächst nur,
dass es einen Einsatz gab. "Dabei ist nichts Verdächtiges gefunden worden",
sagte der Sprecher der Deutschen Presse-Agentur.

Laut BR hatte ein Sprengstoffsuchhund an einem Telefon an der Wand des


Bahnhofsgebäudes angeschlagen. 13 Menschen hätten ihre Häuser direkt am Pasinger
Bahnhofsplatz verlassen müssen. Für den Autoverkehr sei die Umgebung ebenfalls
gesperrt worden. In der Silvesternacht hatte es Terroralarm in München gegeben.
IS-Terroristen wollten demnach Selbstmordanschläge auf den Münchner Hauptbahnhof
und/oder den Bahnhof in Pasing verüben.

Nach den Anschlagsdrohungen zu Silvester hatte die bayerische Polizei ihre


Präsenz in München massiv erhöht. Die Sicherheitsdienste fahnden noch immer nach
einer fünf- bis siebenköpfigen Gruppe von Syrern und Irakern, die
Selbstmordanschläge geplant haben sollen.

UPDATE: 3. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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WELT ONLINE (Deutsch)

Montag 4. Januar 2016 8:19 AM GMT+1

Flüchtlingskinder;
Der lange Weg bis ins deutsche Klassenzimmer

AUTOR: Elke Silberer

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 584 Wörter

HIGHLIGHT: Für Flüchtlingskinder in Nordrhein-Westfalen besteht Schulpflicht.


Die rot-grüne Landesregierung stellt viele Lehrer neu ein. Dennoch müssen viele
Kinder lange auf einen Platz im Unterricht warten.

Es ist eines dieser ehemaligen Hotels, in dem jetzt Flüchtlinge leben. Ein Mann
trinkt vor dem Haus in Herzogenrath bei Aachen seinen Morgenkaffee. Er sei
Syrer, antwortet er auf die Frage nach seiner Herkunft. "Alles ist gut", sagt er
etwas holprig auf Deutsch und strahlt. Bis er auf das Thema Schule zu sprechen
kommt. Denn da hat er eine Geschichte zu erzählen von Warten, Geduld, Sorgen und
einem kleinen Happy End.

Rund zwei Monate sei er mit der Familie in der Stadt. Und lange mussten sie
ausharren, bis klar wurde, dass die Kinder zur Schule gehen können. Zuerst die
Flucht, dann Notunterkunft in Bielefeld, jetzt Herzogenrath - ein Monat nach dem
anderen zog ins Land, ohne dass die Kinder Unterricht bekamen. Der Mann machte
sich Sorgen, jetzt ist zumindest dieses Problem vom Tisch.

Kein Einzelfall. Denn tatsächlich gibt es im Integrationszentrum für die


zuständige Städteregion Aachen eine Warteliste. Mitarbeiter Timur Bozkir weiß
nicht, wie lange es dauern wird, bis alle Kinder untergebracht sind. "Wir
kämpfen um jeden Schulplatz. Wir bemühen uns, aber es ist nicht einfach",
beschreibt er in einer Momentaufnahme. Manchmal gebe es auch Platzprobleme, weil
Schulen keine Räume mehr zur Verfügung hätten.

Zusätzliche Lehrer reichen nicht aus

"Nach wie vor kommen die Kinder erst mit großer Verzögerung in die Schule", sagt
die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats, Birgit Naujoks. Vom Land geplante
zusätzliche Lehrerstellen würden so schnell keine Entspannung bringen. "Geld ist
ein erster Schritt. Aber dann müssen auch Leute gefunden und eingestellt
werden", so Naujoks.
Die rot-grüne NRW-Landesregierung rechnet 2015 und 2016 mit je 40.000
schulpflichtigen Flüchtlingen im bevölkerungsreichsten Bundesland. Vorgesehen
sind zusätzliche 5766 Lehrerstellen für 2015 und 2016, davon 1200 speziell für
die Sprachförderung.

Aus Sicht des Flüchtlingsrats mangelt es nicht nur an Lehrern. Zu Staus kommt es
demnach auch schon davor. Warten auf einen Termin für die
Gesundheitsuntersuchung, Warten auf ein Beratungsgespräch für die schulische
Eingliederung - das dauert mitunter Monate, wie von Helfern an der Basis zu
hören ist.

Auch Ksenija Sakelsek vom Landesflüchtlingsrat registriert, dass es in


Nordrhein-Westfalen Probleme gibt. Dabei ist ein schneller Schulstart aus ihrer
Sicht so wichtig: "Alle Kinder und Jugendlichen sind voll motiviert, wenn sie
hierherkommen", sagt sie: Wenn die Kinder längere Zeit nur zu Hause sind und im
Bett liegen, fange man ganz von vorne an, wenn sie in die Schule gehen, meint
sie.

Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen,
zwischenzeitlich etwas zurückgegangen ist, so wird das die Lage in den nächsten
Wochen und Monaten wohl kaum entspannen, meint die Verwaltungsleiterin des
Kölner Schulamts, Carolin Kirsch: "Wir rechnen mit steigenden Zahlen. Es dauert
noch, bis die Kinder, die jetzt noch in den Unterkünften des Landes sind, den
Kommunen zugewiesen sind." Keiner wisse, was in den nächsten Monaten noch komme.

Was auf jeden Fall kommen sollte, hat Mitte Dezember eine prominent besetzte
Expertenkommission der Robert-Bosch-Stiftung unter Leitung des stellvertretenden
CDU-Chefs Armin Laschet formuliert: nämlich eine Schulpflicht für
Flüchtlingskinder in allen 16 Bundesländern. Demnach sollte der Schulbesuch
"spätestens drei Monate nach Antragstellung" starten. "Ein möglichst früher
Zugang von jungen Flüchtlingen zu unseren Schulen schafft die Grundlage für eine
erfolgreiche Aufstiegsgeschichte von möglichst vielen", so Laschet.

UPDATE: 4. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 5. Januar 2016 9:07 AM GMT+1

Flüchtlinge;
Was Deutschland sich die Abschiebungen kosten lässt

AUTOR: Philipp Vetter


RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 1130 Wörter

HIGHLIGHT: Eine Abschiebung aus Deutschland ist teurer als ein Luxusurlaub. Laut
Gesetz müssten die Kosten die Abgeschobenen tragen. Gezahlt wird so gut wie nie,
doch mit der Regelung wird noch etwas bezweckt.

Wer in Deutschland Asyl beantragt, hat meist ohnehin wenig Geld. Doch wer aus
Deutschland abgeschoben wird, muss dafür auch die Kosten selbst tragen -
zumindest theoretisch. In der Praxis bleibt der Staat auf den meisten Rechnungen
sitzen. In Berlin wurden 2015 beispielsweise mehr als 98 Prozent der Kosten
nicht von den Abgeschobenen bezahlt.

Die gesetzliche Regelung ist bundesweit eindeutig. In Paragraf 66 des


Aufenthaltsgesetzes heißt es: "Kosten, die durch die Durchsetzung einer
räumlichen Beschränkung, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung
entstehen, hat der Ausländer zu tragen." Doch in manchen Bundesländern haben
selbst die Sprecher der Innenministerien noch nie von den Rechnungen für
Abgeschobene gehört. Das mache doch keinen Sinn, schließlich sei dort ohnehin
nichts zu holen, sagt einer zunächst.

Die Nachfrage in der zuständigen Abteilung ergibt aber dann, dass auch in diesem
Bundesland Abschiebungen in Rechnung gestellt werden. Zwar begleiten häufig
Beamte der Bundespolizei die abgelehnten Asylbewerber, doch die Organisation und
Abrechnung der Kosten ist Ländersache. Und die handhaben die Umlage der Kosten
auf die Abgeschobenen ziemlich unterschiedlich.

Auskünfte nur ungern

Gemein haben viele deutsche Innenministerien, dass sie ungern Auskunft darüber
geben, wie viel Geld nicht nur in Rechnung gestellt, sondern auch tatsächlich
bezahlt wird. Darüber führe man keine Statistiken, heißt es beispielsweise in
Bayern und Nordrhein-Westfalen. Dabei wissen beide Bundesländer zumindest sehr
genau, wie viel sie insgesamt für die Abschiebungen ausgeben. In Bayern waren es
im Jahr 2014 insgesamt rund 1,2 Millionen Euro, 2015 bis Anfang Dezember bereits
rund 2,5 Millionen Euro.

Darin seien die Personalkosten der Ausländerbehörde noch nicht enthalten. Man
stelle in Bayern grundsätzlich alle entstandenen Kosten in voller Höhe dem
Abzuschiebenden in Rechnung, teilt das bayerische Innenministerium mit. In
Nordrhein-Westfalen kosteten die Abschiebungen im Jahr 2014 rund 2,6 Millionen
Euro, 2015 bis Anfang Dezember bereits gut 4,4 Millionen Euro.

Doch schon die Frage, wie viel damit jede einzelne Abschiebung durchschnittlich
kostet, beantworten die Behörden in beiden Ländern nicht, dafür seien die Fälle
zu verschieden, ein Durchschnittswert sei nicht aussagekräftig. Das Land Berlin
ist da transparenter. Im Jahr 2014 schob man dort insgesamt 602 Ausländer ab, in
diesem Jahr waren es bis November 2015 bereits 715. Alle Abschiebungen zusammen
kosteten 2014 knapp 4,4 Millionen. Damit habe jede Abschiebung genau 7239,54
Euro gekostet, teilt eine Sprecher der Innenverwaltung mit. 2015 fielen für die
Abschiebungen in den ersten neun Monaten bislang gut drei Millionen Euro an,
damit wurden sie pro Fall günstiger und kosteten genau 5486,85 Euro.

Kosten wie für einen Luxusurlaub


Das sind erstaunlich hohe Kosten, schließlich stammen viele abgelehnte
Asylbewerber aus dem osteuropäischen Ausland, ein Ticket in ihre Heimat kostet
daher nicht mehrere Tausend Euro. Doch neben der eigentlichen Rückreise in das
Herkunftsland werden auch die Kosten für die Begleitung durch die Polizei, für
die Beschaffung von Reisedokumenten durch deutsche Behörden und sogar für
mögliche Abschiebehaft in Rechnung gestellt.

Tatsächlich kann die unfreiwillige Unterbringung im Gefängnis schnell so teuer


werden wie die gleiche Zeit in einem Luxushotel. In NRW stellt man derzeit
349,46 Euro in Rechnung - pro Tag in der Abschiebezelle. In Bayern verweisen
Justiz- und Innenministerium bei dieser Frage gegenseitig aufeinander. Einen
Anhaltspunkt liefert hier nur der Fall eines Syrers aus dem Jahr 2013, der
gerade vor dem Oberlandesgericht München verhandelt wurde. Er sollte für 27 Tage
in Abschiebehaft 2073,60 Euro an den Staat zahlen.

Angesichts dieser Summen stellt sich die Frage, wie hoch der Anteil der
tatsächlich durch die Abgeschobenen beglichenen Kosten ist. Das könne man
mangels Statistik nicht beantworten, man treibe die Forderungen aber ein, heißt
es in Bayern und NRW. In Baden-Württemberg gibt es zumindest einen ungefähren
Wert. Der Sprecher des zuständigen Regierungspräsidiums Karlsruhe sagt, in den
Jahren 2013 und 2014 seien jeweils etwa elf Prozent der in Rechnung gestellten
Kosten auch tatsächlich von den Abgeschobenen beglichen worden.

In Berlin sehr geringe Einnahmen

Damit läge die Quote im Südwesten zumindest deutlich über der in der Hauptstadt.
Pro Abschiebung nahm Berlin 2014 im Durchschnitt 154,66 Euro ein, in den ersten
neun Monaten des laufenden Jahres sogar nur noch 66,54 Euro. Dass mit knapp
820.000 Euro trotzdem nur ein relativ kleiner Betrag im Haushalt als noch nicht
beglichene Kosten der vergangenen Jahre verbucht ist, hat vor allem damit zu
tun, dass Berlin den Abgeschobenen nicht die vollen Kosten in Rechnung stellt.

Durchschnittlich berechnete Berlin in den vergangenen Jahren nur 6,1 Prozent


aller anfallenden Kosten und legte sie auf die Abgeschobenen um - mit sinkender
Tendenz. 2014 waren es sogar nur 4,2 Prozent, 2015 bis November 5,1 Prozent.

Doch das heißt nicht, dass tatsächlich auch dieser Anteil beglichen wird.
Wirklich bezahlt wurden 2014 nur 2,14 Prozent der tatsächlich entstandenen
Kosten, dieser Anteil sank 2015 bis November noch einmal weiter auf nun nur noch
1,2 Prozent. 98,8 Prozent der anfallenden Kosten zahlte also der Staat. Ob die
beglichenen Beträge überhaupt den zusätzlichen Verwaltungsaufwand der
Rechnungstellung decken, ist unklar.

Abschreckungswirkung im Vordergrund

Wichtiger scheint den Behörden die Abschreckungswirkung der Rechnungen. Will ein
bereits einmal abgeschobener Asylbewerber beispielsweise erneut nach NRW
einreisen, muss er eine Erklärung abgeben, dass er die Kosten vom letzten Mal
begleichen wird. "Tatsächlich ist es so, dass die Möglichkeit zur Erstattung der
Abschiebekosten meist erst im Zusammenhang mit einem konkreten
Wiedereinreisebegehren besteht", sagt auch ein Sprecher der Berliner
Innenverwaltung.

Aber: "In der Vergangenheit bestanden dazu bessere Möglichkeiten, damals wurde
die Entscheidung über die Befristung der Wiedereinreisesperre von der
Begleichung der Abschiebungskosten abhängig gemacht." Diese Möglichkeit sei
zunächst durch die Rechtsprechung und dann durch Gesetzesänderungen entfallen.

In Bayern sieht man das anders: Zwar habe eine offene Abschiebungsrechnung nicht
unmittelbar eine Wiedereinreisesperre zur Folge, teilt das Innenministerium mit.
Allerdings werde bei jeder Abschiebung ein Einreiseverbot verhängt. Wie lange
das dauert, liegt im Ermessen der Behörde. Würden die Kosten nicht beglichen,
"kann dies bei der Ermessensentscheidung über die Befristungsdauer einbezogen
werden, da ein gewichtiges öffentliches Interesse daran besteht, dass die
Allgemeinheit nicht mit den Abschiebungskosten belastet wird", so das
Ministerium.

UPDATE: 5. Januar 2016

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Mittwoch 6. Januar 2016 9:37 AM GMT+1

Organisierte Kriminalität;
Warum kriminelle Clans die Unterwelt im Griff haben

AUTOR: David Fischer

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1620 Wörter

HIGHLIGHT: Raubüberfälle, Drogenhandel - und Warnungen vor rechtsfreien Räumen:


In deutschen Großstädten häufen sich Straftaten von Mitgliedern
kurdisch-libanesischer Clans. Was steckt dahinter?

Ein spektakulärer Juwelierraub im Luxuskaufhaus KaDeWe. Ein Überfall auf ein


internationales Pokerturnier, ebenfalls in Berlin. Als rechtsfrei bezeichnete
Räume im Ruhrgebiet, in die sich die Polizei kaum mehr traut. Im
niedersächsischen Lüneburg: ein blutig ausgetragener Streit zweier Großfamilien
mit Schüssen vor dem Klinikum.

Fälle wie diese haben in den vergangenen Jahren immer wieder Aufsehen erregt.
Sie haben eine Gemeinsamkeit: Viele der Verdächtigen stammen von Clans ab, die
bei der Polizei als schwer integrierbar gelten. Insbesondere in Berlin,
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen werden Mitglieder verdächtigt, bei
illegalen Geschäften des Rotlichtmilieus oder im Drogenhandel mitzumischen.

Mit Blick auf "die Erosion des Rechtsstaats" zählten libanesische Clans zu den
gefährlichsten Gruppen in der organisierten Kriminalität, heißt es bei der
Gewerkschaft der Polizei (GdP). Unzählige Straftaten spielen sich demnach in der
Türsteherszene, im Rotlichtmilieu oder im Glücksspielgeschäft ab. "Auch Bremen
hat seit rund zehn Jahren ein Problem mit einem Familienclan, vor allem was den
Drogenhandel in nicht geringer Menge angeht und die Polizei vor eine sehr große
Herausforderung stellt", sagt Jochen Kopelke, GdP-Landesvorsitzender von Bremen.

Wie aus einem internen Lagebericht des Polizeipräsidiums Duisburg hervorgeht,


geben in Duisburg-Marxloh zwei libanesische Großfamilien den Ton an. Marxloh,
das ist der berüchtigte Stadtteil Duisburgs, in den sich die Polizei zeitweise
nur mit Verstärkung in die Straßen wagte. Drogenhandel, Schutzgeld, Einbrüche,
Randale - erst unter dem Einsatz starker Polizeikräfte kühlt sich die Gewalt auf
den Duisburger Straßen seit dem vergangenen Sommer langsam ab.

100 Jahre Fluchtgeschichte

"An der Spitze der Berliner Unterwelt stehen ... unangefochten die arabischen
Großclans", klagte auch der frühere Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz
Buschkowsky (SPD) im Sommer 2015 in der "Bild"-Zeitung. "Sie bestimmen die
Regeln und setzen sie brutalst und wenn es sein muss auch mit Waffengewalt
durch."

Wenn von kriminellen Clans die Rede ist, fallen unterschiedliche Namen: Von
"kurdisch-libanesischen Clans" ist die Rede, von "arabischen Familien", von
"Mhallamiye-Kurden". Es geht um eine Bevölkerungsgruppe, zu denen
deutschlandweit nach Schätzungen etwa 15.000 Menschen zählen. Doch weshalb
stehen gerade sie derart stark im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen? Nach
Einschätzung von Islam- und Migrationsforschern sind die kriminellen Strukturen
in dieser Szene auf negative Erfahrungen in der fast 100 Jahre langen
Fluchtgeschichte zurückzuführen.

Mit der Migration der arabischsprachigen Volksgruppe der Mhallamiye-Kurden hat


sich der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban auseinandergesetzt. In den
ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts flüchteten Tausende von ihnen
aus wirtschaftlichen Gründen aus Dörfern aus dem südöstlichen Teil der Türkei in
die libanesische Hauptstadt Beirut, wie der Forscher erklärt. Statt Arbeit oder
eine neue Heimat zu finden, wurden sie dort jedoch wie Aussätzige behandelt:
Erwachsene durften keinen Job annehmen, Kinder keine Schule besuchen. In Gettos
waren sie auf sich gestellt und umso stärker aufeinander angewiesen - dies
erkläre noch heute die Verbundenheit und den engen Zusammenhalt der
Stammesmitglieder, sagt Ghadban.

Feindlich gegenüber allem Fremden

Als der Libanesische Bürgerkrieg 1975 ausbrach, setzte die zweite


Flüchtlingswelle ein. Viele wanderten in den 80er-Jahren nach Deutschland aus.
Die meisten ließen sich in Berlin, Essen und Bremen nieder. In gewisser Weise
wiederholte sich das Schicksal: Durch die restriktive Integrationspolitik seien
Mhallamiye-Kurden hierzulande erneut ausgegrenzt worden, erklärt Ghadban.
Asylanträge wurden abgelehnt. Wegen teils fehlender Papiere konnten
Mhallamiye-Kurden aber nicht abgeschoben werden. "Sie wurden absichtlich an den
Rand der Gesellschaft gedrängt, mit dem Ziel, sie zur Rückkehr zu bewegen", ist
Ghadbans Sicht auf die Dinge.

"Ein wesentliches Problem war die verbreitete Auffassung, dass viele Zuwanderer
auf Dauer in Deutschland ohnehin nicht bleiben würden", erläutert Mathias Rohe,
Islamwissenschaftler und Jura-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Es
sei deshalb kein Versuch unternommen worden, sie schnell ins System
einzugliedern. "Die Menschen suchten stattdessen im Familiären Halt, und so
wurden bekannte Clan-Strukturen mit uralten Mechanismen wieder aufgebaut."
Ghadban fügt hinzu: "Sie stehen allem, was ihnen fremd ist, feindlich gegenüber.
Sie respektieren nicht unsere Gesetze, sondern sehen Deutschland als Beuteland
an." Nach Auffassung der Forscher sind besonders Berlin, Bremen, Lüneburg,
Hildesheim, Essen und Duisburg von Clan-Strukturen betroffen. "Inzwischen gibt
es Stadtviertel, in denen man nur einen bestimmten Familiennamen nennen muss,
und alle zucken zusammen", sagt Rohe.

Clans machen Geschäft mit Flüchtlingen

Im vergangenen Jahr ermittelte die Polizei im Bereich der organisierten


Kriminalität gegen insgesamt 13 libanesische Gruppen. Es ging um Geldwäsche,
Gewaltkriminalität oder Schleusung, hauptsächlich aber um Drogenschmuggel und
Rauschgifthandel. 13 Gruppen deutschlandweit, das klingt zunächst nach wenig.
Doch ein Blick in die Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) zeigt: Bei der
organisierten Kriminalität rangieren im Nationalitätenvergleich
libanesisch-dominierte Gruppen auf dem neunten Platz, vor Rumänen und Russen.
Mit 35.000 Menschen stellen Libanesen in Deutschland gerade aber mal 0,04
Prozent der Gesamtbevölkerung dar, wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts
(31.12.2014) hervorgeht.

Jedoch sind solche Zahlen schwierig zu bewerten. So geht aus ihnen nicht hervor,
welche der Verdächtigen innerhalb der kriminellen Gruppen tatsächlich
kurdisch-libanesischen Clans angehören.

Neuerdings sollen Clans auch am Geschäft mit Flüchtlingen verdienen. In Essen


sprengte die Polizei Anfang November einen international agierenden
Schleuserring. Die 15 Beschuldigten sollen Libanesen und Syrer mit gefälschten
Reisedokumenten und Visa ausgestattet haben. 10.000 Euro pro Kopf sollen die
Schleuser laut Staatsanwaltschaft für ihre Dienste kassiert haben. Bei ihnen
handele es sich um "polizei- und medienbekannte Angehörige eines
libanesisch-kurdischen Familienclans der Volksgruppe der sogenannten
Mhallamiye-Kurden", schreibt die Polizei. Die Gruppen seien den Ermittlern durch
schwere Gewaltstraftaten im Rotlicht- und Rauschgiftmilieu aufgefallen.

In Lüneburg ging ein Konflikt zweier Großfamilien vor einer Klinik im September
2014 blutig aus: Die verfeindeten Clans libanesisch-kurdischer und
türkisch-kurdischer Herkunft gingen aufeinander los, Schüsse fielen. Acht
Menschen wurden verletzt. Drei Angeklagte hat das Landgericht Lüneburg zu
mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Dagegen verlaufen viele andere Prozesse im
Sande.

"Scharia-Gerichte lassen sich nicht belegen"

Befürchtet wird immer wieder, dass Clans ihre Konflikte mit selbst ernannten
Friedensrichtern statt über den Richterspruch des Rechtsstaats lösen.
Familienmitglieder, Zeugen und Anwälte würden so lange eingeschüchtert, bis der
Prozess platze, sagt Ghadban.

Sein Kollege Mathias Rohe kam in einer Anfang Dezember vorgelegten Studie zum
Thema "Paralleljustiz" zu dem Ergebnis, dass gewalttätige Clans in Teilen
Berlins tatsächlich ein Klima der Angst geschaffen haben. In puncto
Friedensrichter sieht Rohe die Lage aber eher entspannt - ihre Rolle werde weit
überschätzt. In Berlin agierten weniger als zehn, bundesweit schätzungsweise 30
bis 50 Menschen, die außerhalb von Gerichten Recht sprächen, erklärte Rohe bei
der Präsentation der Studie. "Die Existenz irgendwelcher Scharia-Gerichte in
Berlin lässt sich nicht belegen."

Erich Rettinghaus, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in


Nordrhein-Westfalen, meint mit Blick auf die Straftäter: "Sie sind sehr schwer
zu bekämpfen. Es gibt keine Aussteiger, keine Zeugen. Die Ermittlungen sind
daher sehr rechercheintensiv." Es gebe aber auch viele, die aus den
Clan-Strukturen ausbrechen wollten, sagt Ghadban, der jahrelang die
Beratungsstelle für Araber beim Diakonischen Werk in Berlin leitete. Auf der
anderen Seite würden Mhallamiye-Kurden, die dem Clan den Rücken kehren wollen,
bei der Jobsuche diskriminiert.

Integration kann gelingen

"Libanesische Familienclans" - ein Schimpfwort für Ahmad Omeirat. Der


Kommunalpolitiker aus Essen sieht das Abdriften mancher Landsleute in die
Kriminalität dem Versagen einzelner Städte geschuldet. Der 32-Jährige ist selbst
Mhallamiye-Kurde, Geschäftsmann, Grünen-Abgeordneter im Essener Stadtrat - und
ein Beispiel, dass Integration bei kurdisch-libanesischer Herkunft gelingen
kann.

Im Jahr 1985 flüchtete seine Familie aus dem Libanon. "Als ich in Deutschland
aufwuchs, hat es bei mir schnell klick gemacht. Ich habe kapiert, dass man
hierzulande Titel sammeln muss, um etwas zu werden", sagt Omeirat. Gebildete
Eltern, aufgewachsen in der Essener Innenstadt, mit der Schwester einen
Kindergarten besucht, keine Abgrenzung, keine "Rudelbildung" in der Kindheit mit
anderen Libanesen, "das war sicher hilfreich", sagt Omeirat. Dann kam die
Jobsuche. Traumjob: Herrenmode. Das Problem: Vorname "Ahmad", Nachname "Omeirat"
auf dem Bewerbungsbogen. Mehr als hundert Bewerbungen wurden verschickt. Es
kamen nur Absagen zurück.

"Das war frustrierend, das hat mich getroffen", sagt Omeirat. Trotz der vielen
Tiefschläge ging er seinen Weg. Er absolvierte eine Lehre im elterlichen
Juweliergeschäft. Heute engagiert er sich in der Aufklärungsarbeit gegen
islamistische Strömungen und versucht, Jugendliche in den Brennpunkten des
Ruhrgebiets von der falschen Bahn abzubringen. Und zurück in die Gesellschaft.

UPDATE: 6. Januar 2016

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Mittwoch 6. Januar 2016 9:50 AM GMT+1

Prävention;
Oberbürgermeisterin legt Frauen "Verhaltensregeln" nahe

AUTOR: Dirk Banse, Kristian Frigelj und Martin Lutz, Köln und Berlin
RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 1439 Wörter

HIGHLIGHT: Nach der sexuellen Gewalt an Silvester arbeitet Köln daran, im


Karneval ähnliche Übergriffe zu verhindern. Dazu gehören "Verhaltensregeln" für
Frauen, etwa "eine Armlänge" Abstand zu Fremden.

Köln in der Silvesternacht: 1000 bis 1500 Personen haben sich auf dem Vorplatz
des Hauptbahnhofs versammelt. Wie die Polizei später schildern wird, handelt es
sich mutmaßlich um Afrikaner und Araber. Viele von ihnen sind betrunken, treten
enthemmt auf, zünden Feuerwerk.

In der Folge kommt es zu Dutzenden sexuellen Übergriffen auf Frauen und


Diebstähle durch Gruppen aus der Menschenmenge. Ähnliche Szenen spielen sich in
Hamburg und Stuttgart ab. Alleine in Köln sind bislang 90 Anzeigen von
betroffenen Frauen eingegangen. Ein Viertel davon erfolgte wegen Sexualdelikten,
eine davon wegen Vergewaltigung. Und die Polizei rechnet, dass noch mehr
Anzeigen folgen. Die meisten Opfer sind nach Informationen der "Welt"
Auswärtige, die zu Besuch oder auf der Durchreise in Köln waren.

Schon am 3. Januar beging eine Gruppe junger Männer im Kölner U-Bahnhof


Breslauer Platz/Hauptbahnhof wieder ähnliche Straftaten. Es gab Anzeigen wegen
sexueller Belästigung und Diebstahls mehrerer Handys. Fünf Tatverdächtige wurden
festgestellt: Ein 20-jähriger Syrer, zwei Marrokaner im Alter von 21 und 22
Jahren sowie zwei Algerier, 22 und 24. Die Polizei fand bei ihnen zwei
gestohlene Mobiltelefone.

In Hamburg wurden an Silvester Frauen laut Zeugenaussagen von jungen Männern mit
südländischem oder arabischem Aussehen sexuell belästigt und bestohlen. Der
Polizei liegen 27 Anzeigen vor. In Stuttgart wurden zwei 18-jährige Frauen auf
dem Schlossplatz von etwa 15 Männern sexuell bedrängt und ihrer Handys beraubt.
Zudem meldeten sich am Dienstag fünf weitere Frauen telefonisch oder per
Facebook bei der Stuttgarter Polizei.

Karnevalstipps für Frauen und Menschen aus anderen Kulturen

Am Dienstag äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empört über die
Übergriffe. Wie Regierungssprecher Steffen Seibert mitteilte, telefonierte die
Regierungschefin mit der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos).
Merkel habe ihre Empörung über diese "widerwärtigen Übergriffe und sexuellen
Attacken" ausgedrückt. Die Taten verlangten "nach einer harten Antwort des
Rechtsstaats".

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hält nun eine Klärung für nötig, "ob das,
was sie sich dort ereignet hat, eine neue Form organisierter Kriminalität ist,
gegen die die staatlichen Stellen auch Mittel ergreifen müssen". Mit Bezug auf
die mögliche nordafrikanische Herkunft von Tätern betonte der Minister, vor dem
Gesetz seien alle gleich: Es komme nicht darauf an, welchen Pass jemand besitze.

Reker und Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers (SPD) traten nach einem
Sicherheitstreffen vor die Presse. Albers gab bekannt, dass auch an Tag fünf
nach den Vorfällen bislang "keine Erkenntnisse über die Täter" vorlägen.
Polizisten vor Ort hätten nur beobachtet, dass es sich bei den Gruppen am
Hauptbahnhof überwiegend um junge Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren gehandelt
habe, die aus dem "nordafrikanisch-arabischen Raum" stammen. Das decke sich mit
Aussagen der Opfer.

Reker kündigte eine starke Präsenz von Beamten in Uniform und in Zivil an. Auch
ist ein Einsatz von mobilen Videoanlagen geplant. Die Stadt will Örtlichkeiten
besser ausleuchten und Sprachmittler einsetzen.

Die Oberbürgermeisterin kündigte zudem an, dass die Stadt im Internet auch
Verhaltensregeln für Frauen und junge Mädchen veröffentlichen werde, damit sie
besser geschützt seien. Diese sollten "feiern, aber besser vorbereitet als
bisher in die Karnevalstage gehen". Zu den Regeln gehöre, "eine Armlänge"
Abstand zu Fremden zu halten, sich in Gruppen zu bewegen und nicht voneinander
trennen zu lassen.

Und: Es werde auch "dazugehören, den Karneval und die Zuwendung, die im Karneval
ja einmal erfolgt, auch den Menschen aus anderen Kulturkreisen vielleicht besser
erklären" zu müssen. Diese dürften körperliche Nähe nicht gleich als Einladung
sexueller Natur verstehen.

Reker betonte, die Behörden hätten bislang keinerlei Hinweise, dass es sich bei
den Tätern um Flüchtlinge handele. Solche Vermutungen seien "absolut
unzulässig".

Einen Fehler gesteht der Polizeipräsident ein

Albers präzisierte vorherige Angaben und erklärte, dass die Polizei in der
Neujahrsnacht erst gegen ein Uhr nachts erste Hinweise auf sexuelle Übergriffe
bekommen hätten. Daraufhin seien die Kräfte auf dem Bahnhofsvorplatz
konzentriert worden. Der Einsatz habe damit begonnen, nachdem sich gut 1000
Männer auf dem Vorplatz und den Treppen zum Kölner Dom aufgehalten und
Pyrotechnik gezündet beziehungsweise damit von oben auf Passanten geschossen
hätten.

Im Laufe des 1. Januar sei sofort die Ermittlungskommission eingerichtet worden.


143 Polizeibeamte waren demnach in der Neujahrsnacht im Einsatz, zunächst im
Stadtzentrum, dann fast nur noch am Bahnhof. Ihnen standen 70 Bundespolizisten
zur Seite.

Kritik am Einsatz der Polizei wies er zurück: Es seien ausreichend Kräfte auf
dem Bahnhofsvorplatz gewesen. "Wir waren an dem Abend ordentlich aufgestellt."
Der volle Umfang - insbesondere der sexuellen Übergriffe - sei erst am nächsten
Tag klar geworden. "Es hat auf der Leitstelle in der Nacht drei konkrete Notrufe
zu dem Sachverhalt gegeben." Der Leitende Polizeidirektor, Michael Temme,
bestätigte: Die Beamten hätten erst ab ein Uhr, als der Platz vor dem
Hauptbahnhof längst geräumt gewesen sei, erste Hinweise auf schwere Straftaten -
also die sexuellen Übergriffe - erhalten.

Polizeipräsident Albers bedauerte gleichwohl, dass in einer ersten


Pressemitteilung am Neujahrstag kein Hinweis auf sexuelle Übergriffe enthalten
und von einer "entspannten" Einsatzlage die Rede war. Diese Darstellung sorgt in
den sozialen Netzwerken immer noch für große Empörung. "Diese erste Auskunft war
falsch", sagte Albers. Man habe Informationen "nicht sicher zusammengeführt".

Albers warnte mit Hinblick auf die Ansammlung von etwa 1000 Menschen auf dem
Bahnhofsvorplatz vor Pauschalisierungen: "Es gibt keine 1000 Täter." Es hätten
sich Gruppen herausgebildet, die die Taten begangen hätten.

Eine neue Qualität der "Antänzer-Masche"

Die Arbeit der "Ermittlungsgruppe Neujahr" steht noch ganz am Anfang: Die
Ermittler, die auch aus anderen Kriminalkommissariaten abgezogen wurden, wissen
bisher kaum etwas Genaues. Denn es gibt nur wenige Zeugen. Die Polizei ruft
deshalb dazu auf, dass sich weitere melden. Ein Ermittler sagte der "Welt": "Die
Aufklärung wird uns schwerfallen. In der Menge am Hauptbahnhof ist es sehr
schwierig, anhand der vorhandenen Videoaufnahmen gerichtsfest herausfiltern, wer
welche Straftaten begangen hat."

In einem internen Schreiben wandte sich Polizeipräsident Albers laut Angaben aus
dem Polizeipräsidium an seine Mitarbeiter: Darin spricht er von einer nie
dagewesenen Begehungsweise der Straftaten. Die Täter, die sonst zu zweit oder
dritt agieren würden, hätten sich "zusammengerottet", um größtenteils Frauen zu
berauben. "Mehr noch: Schamlos wurden die Opfer begrapscht und verhöhnt. Es kam
gar zu einer Vergewaltigung. Diese Silvesternacht hat eine neue Qualität der
Antänzer-Masche hervorgebracht, die wir so zuvor noch nicht kannten."

Mit "Antänzer-Masche" ist gemeint: Mehrere Personen tanzen um ein Opfer,


sprechen und singen dabei. Plötzlich wird dann eine Tasche oder das Portemonnaie
gestohlen. "Diese Tatverdächtigen sind für die Polizei meist alte Bekannte, die
sich oft schon länger in Deutschland aufhalten und ein Bleiberecht haben", sagte
ein Ermittler.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) nimmt die Taten von Silvester zum
Anlass, erneut eine kommunale Sicherheitskonferenz mit der Stadtverwaltung, der
Kölner Polizei, der Staatsanwaltschaft sowie dem Amts- und Landgericht zu
fordern. Nötig seien mehr Polizeipräsenz auf Kölns Straßen sowie eine
konsequente Fahndungs- und Ermittlungsarbeit. Die Justiz müsse ermittelte
Straftäter zügig spürbar bestrafen; ausländische Kriminelle sollten schnell und
konsequent abgeschoben werden.

Solche Forderungen hat der BDK angesichts steigender Kriminalitätszahlen in der


Stadt allerdings schon mehrfach erhoben. Nachdem inzwischen nordafrikanische und
arabische Täter fast täglich bei zahlreichen Delikten (Taschen- und
Trickdiebstahl, Raub, Wohnungseinbruch oder dem Diebstahl aus Autos) mit
steigender Tendenz auffallen würden, ist diese Forderung aus BDK Sicht aktueller
denn je.

"Wiederholte Begehung von Straftaten in Verbindung mit häufig nicht erkennbarem


Unrechtsbewusstsein und fehlendem Respekt vor der Polizei und Justiz machen
deutlich, dass es an der Zeit ist, deutliche Signale zu setzen", sagt Rüdiger
Thust, der Vorsitzende der Kölner Kripogewerkschaft. Integrationswilligen und
Bedürftigen müsse man die Hand reichen - Integrationsverweigerer und
Wiederholungsstraftäter aber konsequent in die Schranken weisen.

UPDATE: 6. Januar 2016

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Donnerstag 7. Januar 2016 11:46 AM GMT+1

Protokoll der Silvesternacht;


Der schockierende Einsatzbericht der Kölner Polizei

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 489 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Polizei-Protokoll aus der Kölner Silvesternacht verdeutlicht das


Chaos rund um die sexuellen Übergriffe. Besonders erschütternd: die Verzweiflung
der Opfer und die Respektlosigkeit der Täter.

Das interne Einsatzprotokoll eines leitenden Bundespolizisten zeichnet ein


schockierendes Bild von den Vorkommnissen in der Kölner Silvesternacht. Die
Schilderungen, über die die "Bild"-Zeitung und der "Spiegel" berichten,
verdeutlichen das Ausmaß des Chaos, das in dieser Nacht am Hauptbahnhof
geherrscht haben muss. Während Innenminister Thomas de Maizière der Kölner
Polizei Passivität vorgeworfen hat, entsteht beim Lesen des Erfahrungsberichts
eher der Eindruck der völligen Überforderung angesichts der Gesamtsituation - zu
wenige Einsatzkräfte, zu viele parallel ablaufende Straftaten.

Polizei "an der Grenze zur Frustration"

Besonders erschütternd ist das Bild der Verzweiflung der Opfer der sexuellen
Übergriffe, das in dem Bericht gezeichnet wird. Schon bei der Anfahrt zur
Dienststelle am Hauptbahnhof Köln seien die Einsatzkräfte "von aufgeregten
Bürgern mit weinenden und unter Schock stehenden Kindern über die Zustände im
und um den Bahnhof informiert" worden. Am Vorplatz und der Domtreppe hätten sich
"einige Tausend, meist männliche Personen mit Migrationshintergrund", befunden,
die Feuerwerkskörper jeglicher Art und Flaschen wahllos in die Menschenmenge
feuerten beziehungsweise warfen.

Gegen 22.45 Uhr verschärfte sich die Situation am Bahnhofsvorplatz offenbar noch
weiter: "Frauen mit Begleitung oder ohne durchliefen einen im wahrsten Sinne
'Spießrutenlauf' durch die stark alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht
beschreiben kann".

Stichpunktartig werden in dem Bericht die Erlebnisse von Polizisten aus der
Silvesternacht dokumentiert:

- So seien Aufenthaltstitel vor den Augen der Beamten zerrissen und mit den
Worten kommentiert worden: "Ihr könnt mir nix, hole mir morgen einen neuen."

- Wurden Hilferufe wahrgenommen, wurden die Beamten offenbar durch enge


Personenringe daran gehindert, an die Betroffenen zu gelangen

- "Bild" zitiert Passagen, nach denen Platzverweise nur mit Zwang durchgesetzt
werden konnten. Personen seien demnach immer wieder aufgetaucht und hätte sich
einen Spaß aus der Situation gemacht

- "Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich
eingeladen", wird ein Mann zitiert.
- Ferner sollen Zeugen, so sie denn gegenüber der Polizei Täter benannten,
bedroht und im Nachgang verfolgt worden sein.

- Täter in Gewahrsam zu nehmen, sei aufgrund fehlender Kapazitäten schlicht


nicht möglich gewesen.

- Einsatzkräfte seien immer wieder mit Feuerwerkskörpern beschossen und mit


Flaschen beworfen worden.

- Der Zustieg in Züge sei nur über körperliche Auseinandersetzungen erfolgt. Es


galt das "Recht des Stärkeren".

Insgesamt zeichnet der Verfasser des Berichts ein düsteres Bild der
Silvesternacht. Die Maßnahmen der Polizei begegneten einer Respektlosigkeit, wie
er sie "in seinen 29 Dienstjahren noch nicht erlebt habe. Die Gesamtsituation
beschrieb er als "chaotisch und beschämend". Dies habe jedoch zu einer
"zusätzlichen Motivation der Einsatzkräfte" geführt.

UPDATE: 7. Januar 2016

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Donnerstag 7. Januar 2016 12:07 PM GMT+1

Polizei in Sorge;
"Antanz"-Banden agieren immer aggressiver

AUTOR: Florian Flade

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1140 Wörter

HIGHLIGHT: Sexuelle Übergriffe sind die neue Eskalationsstufe eines alten


kriminellen Tricks: Diebstahl durch unfreiwilligen Körperkontakt. Die
überwiegend jungen Täter stammen vor allem aus zwei Regionen.

Ein junger Mann ist auf dem Weg zur Diskothek in der Kölner Innenstadt. Zwei
nordafrikanische Jugendliche tauchen auf. Einer wirft dem Partygänger einen
Papierball vor die Füße, fängt an, mit ihm wie mit einem Fußball zu dribbeln.
Und ruft: Podolski! Los, Podolski!" Nichts ahnend geht der Passant auf das Spiel
ein, es kommt zu einem engen Körperkontakt. Der vermeintliche Fußballer zieht
seinem Opfer dabei unbemerkt das Portemonnaie aus der Hosentasche. Sofort gibt
er es an seinen daneben stehenden Komplizen weiter, der umgehend verschwindet.
Bemerkt das Opfer den Diebstahl, ist es schon zu spät.

Die Polizei hat einen Namen für diese Trickdiebe: "Antänzer" werden sie genannt.
Egal, ob der Täter versucht, sich über ein zufälliges Ballspiel einem Passanten
zu nähern oder mittels einer plötzlichen, unerwarteten Umarmung: Die
Vorgehensweise ist immer gleich. Der Täter sucht den Körperkontakt zum Opfer,
lenkt es mit einer Masche ab und versucht, mit diesem Trick Handy oder
Portemonnaie zu erbeuten. Es ist eine der ältesten Methoden der Taschendiebe.
Entstanden sein soll sie in England.

Mit den dramatischen Vorfällen in Köln, Hamburg und Stuttgart in der


Silvesternacht hat das Phänomen Antanz-Trick hierzulande nun eine neue Dimension
erreicht: Hier war es nicht mehr nur ein harmloses Ballspielchen, mit dem sich
die Täter Zugang zu der gewünschten Beute zu verschaffen versuchten. Um an Geld
oder Telefone zu kommen, machten sie diesmal auch vor massiver sexueller
Belästigung der Opfer nicht halt.

Eigenen Angaben zufolge wurden viele junge Frauen von Dutzenden, vielleicht
sogar Hunderten nordafrikanischen oder arabischstämmigen Männern am Kölner
Hauptbahnhof körperlich bedrängt, im Intimbereich und an den Brüsten begrapscht.
Währenddessen wurden viele der schockierten, verängstigten Opfer bestohlen. "Die
feigen und abscheulichen Übergriffe werden wir nicht hinnehmen", sagte
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) angesichts der Gewalteskalation in Köln.
"Das ist offenbar eine völlig neue Dimension organisierter Kriminalität."

Zehntausende Fälle jährlich in NRW

Für die Polizei stellt insbesondere das Ausmaß der sexuellen Belästigung im Zuge
des Antanzens zwar ein Novum dar. De facto sind jene "tanzenden Diebe" aber für
die Ermittler vielerorts alte Bekannte, denen sie im Umgang mit den
verschiedenen Facetten der Alltagskriminalität immer wieder begegnen.
Insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Bremen, Baden-Württemberg und Berlin kam es
in den vergangenen Monaten vermehrt zu Antanz-Überfällen. Sei es in
Fußgängerzonen, an Bahnhöfen oder in Einkaufszentren - Kleinkriminelle gehen oft
am Wochenende mit dieser Masche auf Beutezug. Opfer sind nicht selten
alkoholisierte Partygänger auf dem Nachhauseweg.

Vor allem in Nordrhein-Westfalen ist diese Form der Kleinkriminalität offenbar


auf dem Vormarsch, zumindest nimmt die Zahl der Taschendiebstähle seit Jahren
zu. Im Jahr 2014 etwa wurden insgesamt 53.759 derartige Delikte registriert -
was einem Anstieg von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
entspricht. Wie viele dieser Straftaten auf die Kappe von Antänzern gehen, wird
dabei allerdings nicht gesondert erfasst. Auch ob es bei den Diebstählen zu
Körperverletzungen oder sexueller Belästigung kam, ist nicht vermerkt.

Die Polizei gibt zwar Ratschläge, wie man sich präventiv vor dieser Form von
Trickdiebstahl schützen kann. Ein umfassendes Lagebild des Phänomens fehlt den
Ermittlern allerdings bislang. Die Einblicke in die Netzwerke hinter den
Diebesbanden sind beschränkt.

Fest steht, dass es sich bei den Tätern auffällig oft um Jugendliche aus
Nordafrika oder dem Balkan handelt. Viele stammen aus Marokko, Tunesien,
Algerien, dem Kosovo oder Rumänien. Viele leben als Asylbewerber oder als
Ausländer mit Duldungsstatus in Deutschland. Einige sind jünger als 16 Jahre.
"Wir vermuten, dass die Banden teilweise gezielt durch die Bundesrepublik
reisen, um Laden- und Taschendiebstähle zu begehen", sagt Ulf Küch, Leiter der
Kriminalpolizei Braunschweig, der "Welt". Die Beute, etwa Mobiltelefone, werde
entweder noch in Deutschland zu Geld gemacht oder per Luftpost in die
Heimatländer verschickt.

In Düsseldorf hat die Polizei vom Juni 2014 bis November vergangenen Jahres im
Zuge des Auswerte- und Analyseprojekts "Casablanca" die Antanz-Banden genauer
durchleuchtet. Die Ermittler kamen laut "Bild"-Zeitung dabei zu dem Ergebnis,
dass es alleine in Düsseldorf wohl mindestens 2244 Verdächtige gibt, die
derartigen Diebesbanden angehören. Mehrheitlich soll es sich dabei um Marokkaner
im Alter von unter 30 Jahren handeln. Als "zentrale Kontaktpersonen" der
Düsseldorfer Cliquen gelten die Marokkaner Khalid N., 28, und Taouf M., 32, die
als Asylbewerber gemeldet sind.

"Was Flüchtlinge als Täter betrifft, sind Syrer und Iraker bislang nicht als
besonders kriminell aufgefallen", erklärt Kriminaldirektor Küch aus
Braunschweig. Problematisch seien einige wenige Flüchtlinge aus Nordafrika, dem
Kaukasus und dem Balkan. "Die Gefahr besteht allerdings, dass diese Banden
frustrierte, gelangweilte Jugendliche in Flüchtlingsheimen rekrutieren."

Nicht nur die wachsende Zahl der Antanz-Diebstähle macht den Ermittlern
zunehmend Sorge. "Die Täter werden aggressiver", sagt ein Polizist aus
Norddeutschland. Nicht selten würden Opfer inzwischen mit Messern bedroht oder
geschlagen. Es sei zudem bekannt, dass sich einige Antänzer vor ihren Raubzügen
mit Drogen und Medikamenten aufputschen, wie etwa das schmerzhemmende
Anti-Epilepsie-Mittel Rivotril.

Erst im Oktober wurde in Bremen ein 25-jähriger Student bei einem Überfall
verletzt. Zunächst beklaute ihn ein Antänzer. Als sich der Student dann zur Wehr
setzte, rissen ihn vier Angreifer zu Boden und verprügelten ihn. Der junge Mann
erlitt schwere Verletzungen, darunter eine durchtrennte Arterie, und musste im
Krankenhaus operiert werden. Erbeutet hatten die Antänzer lediglich fünf Euro.

Wenige Tage später ging die Bremer Polizei bei einer Razzia gegen eine bekannte
Antänzer-Bande vor. Die rund 50 Jugendlichen aus Marokko und Algerien leben als
minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in einer Asylunterkunft in Bremen und
gehen insbesondere rund um den Hauptbahnhof regelmäßig auf Beutezug. "Sie haben
zwischen 11 und 54 Straftaten innerhalb eines Jahres begangen", sagte Jens
Körber, stellvertretender Leiter der Schutzpolizei Bremen. "Pro Person." Einer
der am häufigsten straffällig gewordenen Antänzer in der Hansestadt ist ein
gerade einmal 15 Jahre alter Nordafrikaner.

"Wir müssen diese Straftäter konsequent verfolgen und ihnen Grenzen aufzeigen",
fordert Ermittler Ulf Küch. Und dabei Stigmatisierung und Pauschalisierung
vermeiden. Die Mehrzahl der Flüchtlinge in Deutschland sei nicht kriminell,
betont der Polizist. "Es sind einige wenige, die sehr große Probleme bereiten."

Im Folgenden sehen Sie weitere bekannte Tricks von Dieben:

UPDATE: 7. Januar 2016

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WELT ONLINE (Deutsch)

Donnerstag 7. Januar 2016 1:17 PM GMT+1

Polizei-Dokument;
Das Protokoll zur Kölner Chaos-Nacht zum Nachlesen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1120 Wörter

HIGHLIGHT: Beschuss durch Feuerwerk, weinende Frauen und Spott von den Tätern:
Ein leitender Polizist schildert die Extremsituation der Kölner Silvesternacht.
Die "Welt" dokumentiert seinen Bericht vollständig.

Im Folgenden der Wortlaut des als "Einsatzerfahrungsbericht" bezeichneten


Protokolls eines Oberkommissars aus der Nacht von Silvester auf Neujahr am
Kölner Hauptbahnhof. Geschwärzt sind vor allem Namen (im Text kursiv ):

"Am 31.12.15 war (Schwärzung) bei der BPOLI Köln anl. Der
Silvesterfeierlichkeiten in Köln HBF eingesetzt.

Schon bei der Anfahrt zur Dienststelle an den HBF Köln wurden wir von
aufgeregten Bürgern mit weinenden und geschockten Kindern über die Zustände im
und um den Bahnhof informiert. Am Vorplatz (Domprobst-Ketzer-Str.) angekommen,
wurden unsere noch nicht abgestellten Fahrzeuge mit Böllern beworfen.

Am Vorplatz und der Domtreppe befanden sich einige tausend meist männliche
Personen mit Migrationshintergrund, die Feuerwerkskörper jeglicher Art und
Flaschen wahllos in die Menschenmenge feuerten bzw. warfen.

Am Parkraum angekommen, liefen viele aufgewühlte Passanten auf die Einsatzkräfte


zu und berichteten u.a. über die oben beschriebenen Zustände und über
Schlägereien, Diebstähle, sex. Übergriffe auf Frauen usw.

Die Einsatzkräfte befanden sich somit sofort in pol. Maßnahmen.

Selbst das Erscheinen der Polizeikräfte und getroffenen Maßnahmen hielten die
Massen nicht von Ihrem Tun ab, sowohl vor dem Bahnhof als auch im Bahnhof Köln.

Gegen 22.45 Uhr füllte sich der gut gefüllte Bahnhofsvorplatz und Bahnhof weiter
mit Menschen mit Migrationshintergrund. Frauen mit Begleitung oder ohne
durchliefen einen im wahrsten Sinne "Spießroutenlauf" durch die stark
alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann.

Da der nicht sachgemäße massive Pyrogebrauch in Form von Werfen und Abschießen
in die Menschenmenge zunahm, kontaktierte mich der Zugführer der Landespolizei
(Schwärzung) .
Wir kamen beide zu der Bewertung, dass die uns gebotene Situation (Chaos) noch
zu erheblichen Verletzungen, wenn nicht sogar zu Toten, führen würde.

Der zuständige Hundertschaftsführer (Schwärzung) war nun vor Ort und bestätigte
unsere Beurteilung der Lage.

Nach Rücksprache mit der Gesamteinsatzleitung der Landespolizei entschlossen wir


uns aufgrund der erheblichen Gefährdung aller Personen und Sachen, den Bereich
der Domtreppe über den Bahnhofsvorplatz in Richtung Domprobst-Ketzner-Str. zu
räumen.

(Schwärzung) fragte nach anlassbezogener Unterstützung bei der Räumung, welche


durch (Schwärzung) zugestimmt wurde. (Schwärzung) übernahm die Sperrung des
Bahnhofes und hielt sich für eine lageangepasste Unterstützung am Hauptausgang
bereit.

Die Räumung begann ca. 23.30 Uhr oberhalb der Domtreppe in Richtung des
Vorplatzes. Als die Räumkräfte auf Höhe (Schwärzung) waren, sperrten die den HBF
Köln am Hauptausgang des A-Tunnels für jeglichen Personenverkehr.

Im Laufe der Räumung wurden die Einsatzkräfte Land und Bund immer wieder mit
Feuerwerkskörpern beschossen und mit Flaschen beworfen.

Aufgrund dieser Situation unterstützten wir neben der Absperrung die Räumung des
Einsatzraumes mit massivem Zwangseinatz in Form von einfacher körperlicher
Gewalt. Erschwerend bei der Räumung waren neben der Verständigung die
Körperlichen Zustände der Personen aufgrund des offensichtlichen massiven
Alkoholgenusses und anderer berauschender Mittel (z.B. Joint)

Ende der Räumung gegen ca. 00.15 Uhr

Im weiteren Einsatzverlauf kam es immer wieder zu mehrfachen körperlichen


Auseinandersetzung vereinzelter Personen wie auch Personengruppen, Diebstählen
und Raubdelikten an mehreren Ereignisorten gleichzeitig.

Im Einsatzverlauf erschienen zahlreiche weinende und schockierte Frauen/Mädchen


bei den eingesetzten Beamten und schilderten von sex. Übergriffen durch mehrere
männliche Migranten/-gruppen. Eine Identifizierung war leider nicht mehr möglich
(sieh Punkt 8 u.a.)

Die Einsatzkräfte konnten nicht allen Ereignissen, Übergriffen, Straftaten usw.


Herr werden, dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit.

Aufgrund der Vielzahl der o.a. Taten beschränkten sich die Einsatzkräfte auf die
Lagebereinigung mit den notwendigsten Maßnahmen. Da man nicht jedem Opfer einer
Straftat helfen und den Täter dingfest machen konnte, kamen die eingesetzten
Beamten an die Grenze zur Frustration. Zu Spitzenzeiten war er den eingesetzten
Kräften nicht möglich angefallene Strafanzeigen aufzunehmen.

Neben den oben geschilderten Situationen kamen noch folgende Ereignisse/


Vorfälle, die hier nicht alle aufgeführt werden, hinzu:

1. Zerreißen von Aufenthaltstiteln mit einem Grinsen im Gesicht und der Aussage:
"Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen."

2. "Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich
eingeladen."

3. Platzverweise wurden meist mit Zwang durchgesetzt. Betreffende Personen


tauchten immer wieder auf und machten sich einen Spaß aus der Situation. Ein
Gewahrsam kam in dieser Lage aufgrund der Kapazitätsgrenze in der Dienststelle
nicht in Betracht.

4. Bahnsteigsperrung aufgrund der Überfüllung. Reaktion: auf den Nebenbahnsteig,


über das Gleis auf den überfüllten/ abgesperrten Bahnsteig. Dies führte zu
Gleissperrung, da sich Personen im Gleis befanden, welches die Situation auf den
Bahnsteigen nicht entschärfte

5. Zustieg in die Züge nur über körperliche Auseinandersetzungen - Recht des


Stärkeren.

6. Im ganzen Bahnhof überall "Erbrochenes" und Stellen, die als Toilette genutzt
wurden.

7. Viele männliche Personen (Migranten), die ohne Reiseabsichten in allen


Bereichen des Bahnhofes ihren Rausch ausschliefen (Bankschalter, Warteraum
usw.).

8. Wurden Hilferufe von Geschädigten wahrgenommen, wurde ein Einschreiten der


Kräfte durch herumstehende (Mitglieder?), z.B. durch Verdichten des
Personenringes/ Massenbildung daran gehindert, an die Betreffenden (Geschädigte/
Zeugen/ Täter) zu gelangen.

9. Geschädigte/ Zeugen wurden vor Ort, bei Nennung des Täters, bedroht oder im
Nachgang verfolgt.

usw.

Aufgrund der ständigen Präsenz der Einsatzkräfte und aufmerksamer Passanten im


Bahnhof konnten vollendete Vergewaltigungen verhindert werden.

Auffällig war zudem die sehr hohe Anzahl an Migranten innerhalb der
polizeilichen Maßnahmen der Landespolizei und im eigenen Zuständigkeitsbereich.

Maßnahmen der Kräfte begegneten einer Respektlosigkeit, wie ich sie in 29


Dienstjahren noch nicht erlebt habe.

Der viel zu geringe Kräfteansatz, fehlende FEM (war im Vorfeld so nicht zu


erwarten brachte alle eingesetzten Kräfte ziemlich schnell an die
Leistungsgrenze.

Die Einsatzkräfte absolvierten den ganzen Einsatz in schwerer Schutzausstattung


und behelmt von 21.45 Uhr bis 07.30 Uhr, ohne die Leistungsbereitschaft und den
Leistungswillen zu verlieren.

Diese chaotische und beschämende Situation in dieser Silvesternacht, führte zu


einer zusätzlichen Motivation innerhalb der BFE der BFHu St. Augustin, dem
Regeldienst der BPOLI Köln und den eingesetzten Einsatzkräften der
Landespolizei."

UPDATE: 7. Januar 2016

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Freitag 8. Januar 2016 1:52 PM GMT+1

Festnahmen in Köln;
Verdächtige Männer hatten Sex-Spickzettel dabei

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 618 Wörter

HIGHLIGHT: Die Kölner Polizei konnte laut Berichten nach den


Silvester-Übergriffen zwei Verdächtige festnehmen. Die Männer hatten verdächtige
Videos auf ihren Handys - und einen Sex-Spickzettel dabei.

Nach den Übergriffen von Köln sind einem Bericht zufolge von der Polizei zwei
Männer festgenommen worden, die auch in der Silvesternacht am Bahnhof gewesen
sein sollen. Bei den 16 und 23 Jahre alten Männern aus Marokko und Tunesien
seien Handys sichergestellt worden, sagte ein Polizeisprecher am Freitag. Nach
Angaben von WDR und "Kölner Stadt-Anzeiger" zeigen die Videos Ausschreitungen
und Übergriffe auf Frauen.

Außerdem berichtet der WDR unter Berufung auf Polizeiangaben, dass bei den
Verdächtigen auch ein Übersetzungszettel arabisch-deutsch sichergestellt worden
ist. Darauf sollen sich wie die "Bild"-Zeitung berichtet unter anderem Begriffe
wie "schöne Brüste", "ich töte Dich" und eine derbe Version des Satzes "ich will
Sex mit Dir!" jeweils in Deutsch und Arabisch befunden haben.

Die Bundespolizei wiederum registrierte in der Silvesternacht 32 Straftaten, zu


denen 31 Tatverdächtige namentlich bekannt sind. Das teilte ein Sprecher des
Bundesinnenministeriums mit. Unter den Straftaten waren demnach drei
Sexualdelikte, zu denen allerdings bislang keine Täter ermittelt worden seien.

18 der 29 ausländischen Verdächtigen sind Asylbewerber

Bei den bekannten Tatverdächtigen handelt es sich den Angaben zufolge um neun
Algerier, acht Marokkaner, fünf Iraner, vier Syrer, einen Iraker, einen Serben
und einen US-Bürger, außerdem zwei Deutsche. 18 der 29 Ausländer seien
Asylbewerber.

Bei den Straftaten handele es sich vorwiegend um Körperverletzungen, auch


schwere Körperverletzungen sowie um Eigentumsdelikte wie Diebstahl oder Raub.
Sexualdelikte seien als "Beleidigung auf sexueller Basis" eingestuft worden. Es
seien Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Die Bundespolizei ist ihrem
Auftrag gemäß nur innerhalb des Kölner Hauptbahnhofs sowie in dessen
unmittelbarem Vorfeld eingesetzt.
In der Silvesternacht hatten Gruppen junger Männer vor dem Kölner Hauptbahnhof
offenbar gezielt Frauen sexuell bedrängt und bestohlen. Nach Polizeiangaben
hielten sich zeitweise mehr als tausend überwiegend alkoholisierte Männer vor
dem Bahnhof auf.

Mittlerweile führt die Polizei nach ihren Angaben von heute Vormittag insgesamt
Ermittlungsverfahren gegen 21 Tatverdächtige. Viele davon seien zwar
identifiziert, befänden sich aber nicht im Polizeigewahrsam. 170 Anzeigen sind
eingegangen, davon 117, die einen sexuellen Hintergrund haben. Die Zahl der
Gesamtanzeigen sollen allein zwischen Donnerstag und Freitagmittag um 49
gestiegen sein.

Wie der "Spiegel" berichtet, konnten die Kölner Ermittler inzwischen einige der
in der Silvesternacht gestohlenen Handys orten. In einigen Fällen führten die
Spuren in Flüchtlingsheime oder deren Umfeld, hieß es.

Kriminelle Clans missbrauchen Flüchtlinge

Der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende des Bundes Deutscher


Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, hat unterdessen angesichts der Ereignisse
von Köln beklagt, dass kriminelle ausländische Clans Flüchtlinge für ihre Zwecke
missbrauchen. "Sowohl bei den arabischen Clans als auch bei nordafrikanischen
Tätergruppen haben wir strukturelle Probleme", sagte er der "Mitteldeutschen
Zeitung".

"Das sind Banden. Leute sind ohne Papiere und Aufenthaltsgenehmigung unterwegs
und werden straffällig. Da finden Sie Geldwäsche, illegales Glücksspiel,
Rauschgift-, Raub- und Diebstahldelikte. Und, das ist besonders schlimm, es
werden Flüchtlinge angesprochen, um sie zu akquirieren." Dies geschehe über
direkte Ansprache, aber auch über soziale Netzwerke.

Fiedler fügte hinzu, man müsse "die Flüchtlinge schützen vor den besagten
Tätergruppen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen wollen". Außerdem nutzten
diese Tätergruppen die Flüchtlingsströme aus, um Täter nachzuführen. "Das hat
mit den Flüchtlingen selbst nichts zu tun."

UPDATE: 8. Januar 2016

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Sonntag 10. Januar 2016 7:25 PM GMT+1

Offener Brief an Merkel;


Flüchtlinge wollen "Würde von Frauen schützen"
RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 239 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Exzessen in Köln schreiben Flüchtlinge einen offenen Brief
an Merkel. Darin verurteilen sie sexuelle Gewalt und versprechen "mitzuhelfen,
dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen".

Vier Flüchtlinge aus Duisburg und Mülheim an der Ruhr haben sich mit einem
offenen Brief zu den Silvesterübergriffen an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
gewandt. In dem am Sonntag in Duisburg veröffentlichten Schreiben bekunden die
drei Syrer und ein Pakistani Entsetzen und Abscheu angesichts der Vorfälle in
Köln, Hamburg und Stuttgart, an denen vermutlich Migranten und Flüchtlinge
beteiligt waren. "Auch für uns ist die Würde des Menschen unantastbar, ob Mann
oder Frau", heißt es in dem Schreiben. "Für uns ist es selbstverständlich, die
Gesetze des Aufnahmelandes zu achten."

"Wir sind Flüchtlinge, geflohen vor Krieg und Terror, vor Bomben, politischer
Verfolgung und sexuellen Übergriffen", schreiben die vier Männer. "Wir sind
froh, endlich in Deutschland Schutz gefunden zu haben." Viele Flüchtlinge seien
gläubige Muslime oder Christen und teilten die Werte ihrer Glaubensbrüder und
-schwestern in Deutschland, betonen die Autoren.

Flüchtlinge bieten ihre Hilfe an

"Wir treten dafür ein, die Würde und Ehre von Frauen zu schützen, wie es Koran
und Bibel gebieten." Darüber hinaus erklären sie ihre Bereitschaft, im Rahmen
ihrer Möglichkeiten "mitzuhelfen, dass sich Verbrechen wie die in Köln nicht
wiederholen".

Weitere Flüchtlinge, die sich diesem Brief anschließen wollen, könnten sich in
Unterschriftenlisten eintragen, teilte der Flüchtlingsrat Duisburg mit. Dazu
wurde das Schreiben ins Englische und Arabische übersetzt.

UPDATE: 11. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Montag 11. Januar 2016 11:11 AM GMT+1


Offener Brief an Merkel;
Flüchtlinge wollen "Würde von Frauen schützen"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 266 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Exzessen in Köln schreiben Flüchtlinge einen offenen Brief
an Merkel. Darin verurteilen sie sexuelle Gewalt und versprechen "mitzuhelfen,
dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen".

Vier Flüchtlinge aus Duisburg und Mülheim an der Ruhr haben sich mit einem
offenen Brief zu den Silvesterübergriffen an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
gewandt. In dem am Sonntag in Duisburg veröffentlichten Schreiben bekunden die
drei Syrer und ein Pakistani Entsetzen und Abscheu angesichts der Vorfälle in
Köln, Hamburg und Stuttgart, an denen vermutlich Migranten und Flüchtlinge
beteiligt waren. "Auch für uns ist die Würde des Menschen unantastbar, ob Mann
oder Frau", heißt es in dem Schreiben. "Für uns ist es selbstverständlich, die
Gesetze des Aufnahmelandes zu achten."

"Wir sind Flüchtlinge, geflohen vor Krieg und Terror, vor Bomben, politischer
Verfolgung und sexuellen Übergriffen", schreiben die vier Männer. "Wir sind
froh, endlich in Deutschland Schutz gefunden zu haben." Viele Flüchtlinge seien
gläubige Muslime oder Christen und teilten die Werte ihrer Glaubensbrüder und
-schwestern in Deutschland, betonen die Autoren.

Flüchtlinge bieten ihre Hilfe an

"Wir treten dafür ein, die Würde und Ehre von Frauen zu schützen, wie es Koran
und Bibel gebieten." Darüber hinaus erklären sie ihre Bereitschaft, im Rahmen
ihrer Möglichkeiten "mitzuhelfen, dass sich Verbrechen wie die in Köln nicht
wiederholen".

Weitere Flüchtlinge, die sich diesem Brief anschließen wollen, könnten sich in
Unterschriftenlisten eintragen, teilte der Flüchtlingsrat Duisburg mit. Dazu
wurde das Schreiben ins Englische und Arabische übersetzt.

Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Fassung war im Offenen Brief der
Kontakt zu den Unterzeichnern einsehbar. Wir bitten diesen Fehler zu
entschuldigen.

UPDATE: 11. Januar 2016

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Montag 11. Januar 2016 7:06 PM GMT+1

Sexuelle Übergriffe;
Für Jäger ist klar, wer schuld an Köln war - er nicht

AUTOR: Kristian Frigelj, Düsseldorf

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1249 Wörter

HIGHLIGHT: Nordrhein-Westfalens Innenminister will um jeden Preis verhindern,


dass man ihm eine Mitschuld am Staatsversagen bei den Kölner Übergriffen gibt.
Er übt vernichtende Kritik an der Einsatzleitung.

Im Saal E3D01 des nordrhein-westfälischen Landtags entsteht eine große


Brandmauer. Sie ist unsichtbar, und es droht auch kein richtiges Feuer. Es geht
um Fehler und schwere Vorwürfe, die auch für Nordrhein-Westfalens Innenminister
Ralf Jäger (SPD) gefährlich werden können. Eigentlich tagt hier die
SPD-Landtagsfraktion. Doch am Montag beschäftigen sich die Abgeordneten des
Innenausschusses in einer Sondersitzung mit den Silvesterübergriffen am
Hauptbahnhof in Köln. Jäger will verhindern, dass ihm eine Mitverantwortung
zugewiesen wird.

In der Not tut der Innenminister etwas Ungewöhnliches: Er grenzt sich als
Dienstherr ganz hart von einer seiner unteren Behörden ab, anstatt sie, wie
sonst eher üblich, gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Jäger spricht im
Innenausschuss ein vernichtendes Urteil über das Polizeipräsidium Köln: "Das
Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht
akzeptabel." Man dürfe das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht aufs Spiel setzen.
"Wegen fehlender Informationen und mangelhafter Kommunikation wurde die dringend
benötigte Verstärkung für diese unerwartete Lageentwicklung nicht angefordert
und die angebotene Verstärkung nicht abgerufen", sagt der Innenminister.

Er kritisiert, dass die beteiligten Stellen "nicht auf dem gleichen


Informationsstand" gewesen seien. "Die Kräfte vor Ort waren zu wenige, um den
Straftätern Einhalt zu gebieten. Die Strafverfolgung ist schleppend angelaufen,
und die Informationspolitik über den Fortgang der Ermittlungen war unvollständig
und zögerlich", erklärt Jäger. Deshalb sei es notwendig gewesen, den
Polizeipräsidenten Wolfgang Albers in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen.
Jägers Fazit: "Die Kölner Polizei hätte aber auf die Entwicklung reagieren
müssen und auf zusätzliche, in der Silvesternacht verfügbare Kräfte
zurückgreifen müssen." Silvester waren insgesamt 142 Polizeibeamte und 70 Beamte
der Bundespolizei, die für das Innere des Hauptbahnhofs zuständig ist, im
Einsatz.

Im Grunde genommen verwirft Jäger mit seiner Generalkritik das gesamte


Einsatzkonzept in der Silvesternacht und diskreditiert damit nicht nur den
geschassten Behördenchef, sondern auch die Einsatzleitung. Erst später in seiner
Einlassungsrede dankt er den Beamten, die im Einsatz gewesen seien und ihre
"Köpfe hingehalten" hätten. Der Tenor ist unmissverständlich: Die Einsatzführung
trägt Schuld an dem Einsatzdesaster, nicht die einfachen Polizeibeamten.
Warum korrigierte Jäger Angaben des Polizeichefs nicht?

Vor allem merkt der Ministeriumsbericht kritisch an, dass am Silvesterabend aus
Köln keine Verstärkung auf Landesebene angefordert wurde. Mit diesem Argument
verbreitert man die beabsichtigte Brandmauer um Jäger. Es habe eine
Rufbereitschaft für die Bereitschaftspolizei bereitgestanden.

Der Bericht weist darauf hin, dass sich bereits gegen 20.30 Uhr bis zu 500
alkoholisierte, aggressive und enthemmte Männer auf dem Bahnhofsvorplatz
aufhielten. Er deutet damit an, dass die Einsatzleitung schon zu diesem frühen
Zeitpunkt eine sich verschärfende Situation hätte erkennen müssen. Als die
Leitstelle der Landespolizei gegen 23.30 Uhr telefonisch informiert wurde, weil
sich inzwischen bis zu 1500 Personen auf dem Bahnhofsvorplatz befanden, bot man
personelle Verstärkung an, doch Kölns Polizei verzichtete darauf.

Es wäre eine "zeitnahe Unterstützung" möglich gewesen, betont der


Ministeriumsbericht. "Unterstützungskräfte hätten die Behörde in die Lage
versetzt, Straftaten zu verhindern, früher Kenntnis von sexuellen Straftaten in
den Personengruppen zu erhalten, konsequenter und entschiedener gegen die
Straftäter und Störer vorzugehen, strafprozessuale Maßnahmen durchzuführen",
heißt es in dem Bericht. An anderer Stelle wird das Führungsversagen zu
Silvester noch krasser ausgedrückt: "Die Einschätzung des PP (Polizeipräsidiums,
d. Red.) Köln am Einsatztag, mit den vorhandenen Kräften polizeiliche Maßnahmen
umfassend durchführen zu können, wird als gravierender Fehler bewertet."

Jäger konzentriert sich darauf, dass die Polizei Köln alleinverantwortlich


gehandelt habe, dass die Lage so nicht vorhersehbar gewesen sei und es sich bei
den zahlreichen erfolgten sexuellen Übergriffen mit Diebstahl um ein neues
"Phänomen" handele.

Seinen Rücktritt fordert niemand im Ausschuss

Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt Jägers an der Kölner Polizei ist die
falsche Darstellung der Geschehnisse. An diesem Punkt versucht die Opposition,
ein großes Loch in seine Brandmauer zu reißen. Abgeordnete von CDU und FDP
fragen ihn, wann Jäger vollständig informiert worden sei und warum er die
falsche Darstellung des Polizeipräsidenten zu den Silvesterübergriffen nicht
öffentlich korrigiert habe.

Jäger beantwortet diese Frage in der mehrstündigen Ausschusssitzung nicht. Er


sagt lediglich, sein Ministerium habe darauf gedrungen, dass die Polizei Köln
alles über die Herkunft der Störer und Tatverdächtigen benenne. Er muss sich
anhören, wie die Opposition einen "rechtsfreien Raum" am Silvesterabend beklagt,
dass es generell eine "Erosion des Rechtsstaates" gebe und dass Jäger
Mitverantwortung an dem Versagen in Köln trage, auch weil er zu lange am
umstrittenen Polizeipräsidenten festgehalten habe.

Doch einen Rücktritt will im Ausschuss niemand fordern. Später teilte die CDU
gleichwohl mit, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) müsse sich
"überlegen", ob Jäger seinen Aufgaben "noch gewachsen ist". Der Innenminister
pariert im Ausschuss die Vorwürfe und sagt, es habe keine Weisung aus seinem
Haus gegeben. Es sei "ausgeschlossen", dass sein Ministerium bei einer
operativen Einsatzlage einer Polizeidienststelle eingreife. Jäger wagt einen
Vergleich: Die Gesundheitsministerin würde ja auch keine Blinddarmoperation
durchführen.

Tatverdächtige sind Asylbewerber oder illegal Eingereiste


Der bewertende Bericht des NRW-Innenministeriums bestätigt die bereits
kursierenden Polizeiprotokolle und die Schilderungen der betroffenen Frauen. Der
mitgelieferte Bericht der Polizei Köln offenbart auch noch weitere Details, die
brisant wie unbequem sind. So taucht unter den bisher 19 Tatverdächtigen kein
Deutscher auf; zehn von ihnen sind Asylbewerber und neun vermutlich illegal
eingereist, heißt es in dem Ministeriumsbericht. Alle 19 Tatverdächtigen
besitzen keinen festen Wohnsitz. Auch wenn sie am Ende keine Täter sein sollten,
macht dies die Defizite bei der Registrierung von Asylbewerbern deutlich.

Der spektakuläre Fall des Asylbewerbers Wahil Salihi aus Recklinghausen kam
dabei nicht zur Sprache. Nachdem die "Welt am Sonntag" exklusiv über Sahili
berichtet hatte, kam heraus, dass dieser reihenweise Straftaten begangen und
mehrere Identitäten besessen hatte. Am 7. Januar, dem Jahrestag der
Terroranschläge auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", wurde er in Paris
erschossen, als er Polizisten mit einem Schlachtbeil bedrohte.

Der beigefügte Bericht der Polizei Köln zeigt, dass bei den Taschendiebstählen
innerhalb eines Jahres lediglich 0,5 Prozent der überführten Täter Syrer sind
und über 40 Prozent Nordafrikaner. Mittlerweile sind 553 Strafanzeigen wegen der
Silvesterübergriffe eingegangen. In 237 Fällen handelt es sich um Sexualdelikte;
107 Mal wurde ein Diebstahl angezeigt; in den übrigen 279 Fällen geht es um Raub
und Körperverletzung.

Dies ist die noch vorläufige juristische Statistik nach dem Silvesterchaos, das
der Innenminister so umschreibt: "Nach dem Alkohol- und Drogenrausch kam der
Gewaltrausch. Und es gipfelte in der Auslebung sexueller Allmachtsfantasien."

UPDATE: 12. Januar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Dienstag 12. Januar 2016 2:20 AM GMT+1

Übergriffe von Köln;


Wir müssen Multikulti jetzt ganz neu denken

AUTOR: Alan Posener

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 1057 Wörter


HIGHLIGHT: Die sexuellen Übergriffe in deutschen Städten werfen ein fahles Licht
auf das Ideal von Multikulturalismus. Dabei kann Multikulti eine wichtige Waffe
gegen die Intoleranz von Zugewanderten sein.

Wieder einmal ist Multikulti gescheitert. Die Kanzlerin hat das öfter gesagt,
und sie wird es wiederholen. Die Rechtspopulisten werden ihr dieses
Negativbekenntnis angesichts der realen Migrationszahlen nicht abnehmen, zu
Recht. Man wird von den Migranten die Annahme der deutschen Leitkultur
verlangen, ohne genau zu sagen, was damit gemeint und wie die vollzogene
Akzeptanz festzustellen wäre.

Die kleiner werdende Zahl derjenigen, die am Multikulturalismus festhalten,


gerät unter Druck: Wollt ihr überall Verhältnisse wie in Köln? Stehen Werte der
Aufklärung wie die Gleichberechtigung der Frau und die Akzeptanz von Schwulen
zur Disposition? Soll im Namen der Toleranz Unterwerfung unter den intoleranten
Islam geübt werden?

Die Antworten lauten: Nein, nein und nein. Aber es wäre naiv zu leugnen, dass es
eine Form des Multikulturalismus gibt, der in der Tat westliche Werte zur
Disposition stellt. Wenn Multikulti nicht scheitern soll, dann müssen dessen
Anhänger auch sagen, was er nicht sein darf. Vorher allerdings sollten sie
darauf hinweisen, dass weder die Emanzipation der Frau noch die
Gleichberechtigung von Minderheiten zu den Urwerten der Aufklärung, geschweige
denn des Abendlands gehören.

Das Christentum kam lange ohne sie aus. Viele Denker der Aufklärung waren
Antisemiten, und die französischen Revolutionäre verfolgten Katholiken. Die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung proklamierte die Gleichheit aller Männer,
die Verfassung schloss aber Schwarze davon aus, und die Frauen hatten nichts zu
sagen. Für den aufgeklärten Kolonialismus war die Mehrheit der Menschheit
"unterentwickelt".

Für aufgeklärte Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts waren Geisteskranke


und "Perverse" auszumerzende Schwachstellen im Sozialgefüge. Der Antisemitismus
ist bis heute in Teilen Europas gesellschaftsfähig. Schwul sein war in der
Bundesrepublik bis 1971 strafbar. Dass wir es, um mit Fausts Famulus Wagner zu
reden, so herrlich weit gebracht haben, ist eine Folge des richtig verstandenen
Multikulturalismus. Der falsche Multikulturalismus kann all das gefährden.

Schmelztiegel als Ideologie

Der Multikulturalismus entstand in Amerika - wo sonst? - als Antwort auf die


Theorie des "Schmelztiegels", wie sie Israel Zangwill 1908 in seinem
gleichnamigen Stück formulierte. Zangwills Held David entkommt in Russland einem
Pogrom und heiratet in Amerika eine Christin, deren Vater das Pogrom geleitet
hatte. "Kelte und Lateiner, Slave und Teutone, Grieche und Syrer, Jude und
Heide, Ost und West, Halbmond und Kreuz - sie alle schmilzt der große Alchemist
zusammen!", schwärmt David. "Hier vereinen sie sich, um die Republik des
Menschen und das Königreich Gottes zu bauen!"

Sechzig Jahre später fragten sich Frauen und Schwule, Schwarze, "Indianer" und
andere, ob nicht der Schmelztiegel als Ideologie benutzt würde, um die Anpassung
an die Normen "toter weißer Männer" zu erzwingen, in denen andere Erfahrungen,
Narrative, Sichtweisen nicht vorkamen. Gleichzeitig verschwammen in den
Kulturkämpfen der 60er-Jahre die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur,
Hochsprache und Dialekt, Zentrum und Peripherie.

Zur Zweihundertjahrfeier der USA 1976 sprach man nicht mehr vom "Schmelztiegel",
sondern von der "Salatschüssel", in der die verschiedenen Zutaten ihre
Besonderheit beibehalten. Das ist progressiver Multikulturalismus.

Dieser Multikulturalismus nimmt das Versprechen der Aufklärung ernst, alle


Menschen seien gleichberechtigt und gleichwertig - und lehnt gerade deshalb die
Gleichmacherei ab. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich die
eurozentrische, männerdominierte Schulweisheit träumen lässt. Auch die Aufklärer
müssen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit heraustreten und die
Konsequenzen ihrer Theorie anerkennen. Mischt man alle Farben zusammen, erhält
man Grau. Oder schlimmer, Braun.

Anhand der Diskussion über die Beschneidung sah man zuletzt, wie die verbissene
Verabsolutierung emanzipativer Gedanken - in diesem Fall des Rechts unmündiger
Kinder auf körperliche Unversehrtheit - umschlagen kann in die Unterdrückung von
Minderheiten. Und doch bleibt es richtig, dass nicht jeder religiöse oder
kulturelle Brauch von einer toleranten Gesellschaft toleriert werden kann.

Multikulti als Diskussionssperre

Manche Formen von Multikulti machen es allerdings unmöglich, solche Diskussionen


überhaupt zu führen. Denn sie stellen jede Aussage unter Verdacht, die nicht von
den "richtigen" Leuten kommt. Der Gelehrte Edward Said, selbst ein Produkt
britischer Bildung, tat alle Leistungen der Europäer auf dem Gebiet der
Kulturwissenschaften des Nahen und Mittleren Ostens als rassistischen und
interessengeleiteten "Orientalismus" ab.

Seine Epigonen in den ehedem kolonisierten Ländern begründeten die "subalternen"


Studien, die das westliche Narrativ nicht bloß korrigierten, sondern verwarfen.
In den Hochschulen des Westens wurde der Anspruch auf universelle Bildung von
den Propagandisten der "Black Studies" ebenso wie diverser Gender-Theorien
verworfen.

In seiner banalsten Form läuft dieser Relativismus auf die alte


vulgärmarxistische These hinaus, das Sein bestimme das Bewusstsein. In seinen
hinterhältigsten Ausprägungen erklärt der Dekonstruktivismus alles Wissen für
verdächtig, alle Verallgemeinerungen für falsch, alle Identitäten für
konstruiert, alle Wissenschaft zur Ideologie.

Aus dem bunten Multikulturalismus macht diese perverse Theorie eine


nihilistische Nacht, in der alle Fakten grau sind. In seiner Leugnung jeglicher
Normen, jeglichen Kanons, jeglicher Wahrheit außer dem Kampf ist sie dem Denken
des Nationalsozialismus näher als dem Multikulturalismus, der aus der
Selbstkritik der Aufklärung hervorgeht.

Richtig verstanden ist Multikulti allerdings die wichtigste Waffe gegen die
Intoleranz der Zugewanderten. In seinem Roman "Unterwerfung" lässt Michel
Houellebecq einen Konvertiten darlegen, dass der Islam kompatibel sei mit den
Aussagen der Naturwissenschaften und vor allem Charles Darwins.

Das mag sein. Darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, dass der Islam lernt,
eine Sichtweise unter vielen zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das
gilt auch für diejenigen, die behaupten, "das Volk" zu sein. Als ob Volk und
Kultur je übereingestimmt hätten! Dass die Gesetze für alle gelten, auch für
jene, die sie für übertrieben liberal halten, steht dabei nicht zur Debatte.

UPDATE: 12. Januar 2016

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Dienstag 12. Januar 2016 11:14 AM GMT+1

Ex-Innenminister;
Friedrich sieht "sozialen Frieden in Gefahr"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 515 Wörter

HIGHLIGHT: Ex-Innenminister Friedrich äußert sich nach den Kölner Exzessen mit
scharfen Worten und warnt sogar vor einer Staatskrise. Durch die unkontrollierte
Zuwanderung sei der soziale Friede in Gefahr.

Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht nach den


Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln den gesellschaftlichen
Zusammenhalt und das Vertrauen der Bürger in den Staat gefährdet. "Wenn jetzt
die unkontrollierte Zuwanderung nicht gestoppt wird, ist der soziale Friede in
Gefahr", sagte Friedrich.

Der CSU-Politiker sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: "Die Vorgänge in


Köln am Silvesterabend und die damit verbundene Verunsicherung der Bevölkerung
lassen für den sozialen Frieden Schlimmeres befürchten, als viele heute
wahrhaben wollen."

Im Fernsehsender n-tv sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion


im Bundestag am Montagabend: "Das sind tatsächlich Dinge, die geeignet sind, das
Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zu erschüttern. Und das kann zu
einer grundsätzlichen Staatskrise führen."

"Deutschland wird nicht zu einer Bananenrepublik"

Der DGB-Vorsitzende Hoffmann indes sagte den Funke-Zeitungen: "Deutschland wird


nicht zu einer Bananenrepublik, weil in einigen Städten etwas geschehen ist, was
absolut nicht tolerierbar ist."

Der ehemalige Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky sagte: "Ich sehe


nicht, dass der soziale Friede in Gefahr ist, aber es könnte auf den Weg dorthin
kommen."

Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen, warnte bei n-tv angesichts
geplanter Änderungen im Asylrecht vor einer pauschalen Vorverurteilung
Asylsuchender: "Jetzt allen Flüchtlingen die Taten von einzelnen in die Schuhe
zu schieben und ihren Schutzstatus damit infrage zu stellen, finde ich im
Ergebnis infam."

In der Silvesternacht hatte ein Mob junger Männer am Kölner Hauptbahnhof


zahlreiche Frauen sexuell belästigt und bestohlen. Inzwischen liegen mehr als
500 Strafanzeigen vor. Unter den Verdächtigen sind auch viele Flüchtlinge.

Schwarzer: Männer kämen oft aus Kulturen, in denen Frauen rechtlos seien

CSU-Vizechefin Angelika Niebler sagte der Tageszeitung "Die Welt", man dürfe
niemanden unter Generalverdacht stellen. "Man kann den Umstand aber nicht
wegleugnen, dass Flüchtlinge beteiligt waren. Wenn wir Kriminalität verhindern
wollen, müssen wir die jungen Leute integrieren", sagte die Europaabgeordnete.

Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer sagte am Montagabend im Fernsehsender


Phoenix, Männer, die nach Deutschland einreisen, kämen nicht selten aus
Kulturen, in denen Frauen völlig rechtlos seien. "Wir haben das viel zu lange
laufen lassen", kritisierte Schwarzer. Die Parteien hätten das steigende
Unbehagen der Menschen nicht ernst genommen. "Und jetzt kommt die Rechnung",
sagte die Publizistin.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd


Landsberg, sagte den Funke-Zeitungen, wenn Bürger den Eindruck hätten, dass
bestimmte öffentliche Orte nicht mehr sicher sind, müsse dringend gehandelt
werden.

"Es darf keine No-go-Areas in deutschen Städten und Gemeinden geben", forderte
er. Die Ereignisse rund um die Silvesternacht in Köln, aber ebenso die
offensichtlich als Reaktion darauf verübten Attacken auf Syrer und Pakistaner in
der Stadt seien deutliche Alarmsignale.

UPDATE: 12. Januar 2016

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Freitag 15. Januar 2016 7:51 AM GMT+1

Sängerin;
Ehemann von Céline Dion stirbt an Krebs

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 254 Wörter


HIGHLIGHT: Der Mann und langjährige Manager von Céline Dion ist tot: René
Angélil starb im Alter von 73 Jahren. Er habe einen "langen und mutigen Kampf
gegen den Krebs" geführt, so die Sängerin.

Der Ehemann und Manager der kanadischen Sängerin Céline Dion, René Angélil, ist
tot. Er sei in seinem Haus im bei Las Vegas gelegenen Vorort Henderson unter
ärztlicher Aufsicht gestorben, sagte der Gerichtsmediziner John Fudenberg. Er
sprach von einem natürlichen Tod. Angélil hatte an Kehlkopfkrebs gelitten. Er
wurde 73 Jahre alt.

Angélil wurde in Montreal als Sohn einer Kanadierin und eines Syrers geboren.
Bis zum Jahr 1972 spielte er in der Band Les Baronets, dann startete er eine
Karriere als Manager etlicher Sänger in der Provinz Québec.

Dions Mutter schickte Angélil per Post eine Audiokassette mit dem Gesang ihrer
damals zwölfjährigen Tochter und ermunterte ihn, sie sich einmal anzuhören. Der
Manager war offensichtlich beeindruckt: Angélil nahm Dion unter seine Fittiche
und betreute im Jahr 1990 die Veröffentlichung ihres ersten englischsprachigen
Albums.

Paar hat drei Kinder

Vier Jahre später gab Dion ihrem 26 Jahre älteren Manager bei einer prunkvollen
Zeremonie in der Basilika Notre-Dame in Montreal das Ja-Wort.

Das Paar hat drei gemeinsame Kinder: Rene-Charles, der 2001 zur Walt kam und die
2010 geborenen Zwillinge Nelson und Eddy. Zudem hat Angélil einen Sohn und eine
Tochter aus zwei früheren Ehen.

Im August war Dion als Artist in Residence zum Theater The Colosseum in Caesars
Palace in Las Vegas zurückgekehrt, nachdem sie sich ein Jahr freigenommen hatte,
um sich um ihren Mann zu kümmern. Zu einem der bekanntesten Songs der
Grammygewinnerin zählt "My Heart Will Go On" aus dem Blockbuster "Titanic."

UPDATE: 15. Januar 2016

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Dienstag 19. Januar 2016 9:45 AM GMT+1


Flüchtlingskrise;
Jetzt schaut alles auf das kleine Mazedonien

AUTOR: Silke Mülherr und Michael Stürmer

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 974 Wörter

HIGHLIGHT: Die Kritik an Griechenland in der Flüchtlingskrise wächst, nun könnte


Mazedonien eine aktivere Rolle beim Grenzschutz übernehmen. Doch der Balkanstaat
steckt in einer schweren innenpolitischen Krise.

Die Hoffnung, dass die Winterstürme über der Ägäis die Flüchtlinge von der
gefährlichen Überfahrt abhalten würden, hat sich nicht erfüllt. Trotz des
schlechten Wetters sind nach den neuesten Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks
(UNHCR) in den ersten 16 Tagen des Jahres 29.088 Migranten und Flüchtlinge aus
der Türkei nach Griechenland gekommen.

Immer häufiger nehmen sie von dort aus ungehindert den Weg über das angrenzende
Mazedonien weiter in Richtung Norden. Die Kritik an Griechenland, das immerhin
Mitglied des Schengen-Raums ist und die Flüchtlinge deshalb kontrollieren und
registrieren müsste, wächst. "Es gibt keine Sicherung der Außengrenze",
beschwerte sich Österreichs Außenminister Sebastian Kurz am Montag über Athen.
Griechenland reiche die Flüchtlinge so schnell wie möglich an Mazedonien weiter.

Der slowenische Premier Miro Cerar bringt deshalb eine aktivere Rolle des
Balkanstaats bei der Kontrolle der Flüchtlinge ins Spiel. Doch kann Mazedonien,
das Stiefkind Europas inmitten des Westbalkans, dieser zentralen Rolle überhaupt
gerecht werden? Zuletzt war es an der mazedonisch-griechischen Grenze zu
erheblichen Spannungen gekommen, weil die Regierung in Skopje eine neue Regelung
anwendet. Danach dürfen nur noch Syrer, Afghanen und Iraker durchgelassen
werden. Alle anderen Flüchtlinge stuft Mazedonien als Wirtschaftsmigranten ein.
Um die Grenze besser kontrollieren zu können, haben mazedonische Soldaten Ende
2015 mit dem Bau eines drei Meter hohen Metallzauns begonnen. Es gibt seither an
der Grenze regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den dort
gestrandeten Menschen. Ein Mann aus Marokko war Ende Dezember durch einen
Stromschlag an den Bahngleisen ums Leben gekommen.

Regierung in Skopje zurückgetreten

Dabei ist der Umgang mit den Flüchtlingen derzeit gar nicht die größte
Herausforderung für Skopje. Das Land mit etwas mehr als zwei Millionen
Einwohnern, darunter der Großteil muslimische Albaner, steckt in einer schweren
innenpolitischen Krise. Am Freitag vergangener Woche ist Regierungschef Nikola
Gruevski zurückgetreten, um vorzeitige Neuwahlen im April zu ermöglichen. Die
Opposition hatte zuvor über Monate das Parlament boykottiert, weil die Wahlen im
Vorjahr von der Regierung manipuliert gewesen sein sollen. Daneben hatte die
Opposition illegal abgehörte Telefonate führender Regierungsmitglieder
veröffentlicht, mit denen groß angelegte Korruption bewiesen werden sollte.

Am Freitag war auch EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn nach Skopje


gereist, um die Vorsitzenden der vier wichtigsten Parteien zur Einhaltung von
Abmachungen zu bewegen. Die EU hatte im Sommer ein Abkommen vermittelt, mit dem
die innenpolitische Blockade überwunden werden sollte. Doch der Österreicher
Hahn musste am Samstag sein vorläufiges Scheitern eingestehen: "Es war nicht
möglich, zwischen den Parteien ein Abkommen für Wahlen am 24. April zu
erzielen", sagte der EU-Kommissar nach stundenlangen Verhandlungen. Der Chef der
oppositionellen Sozialdemokraten, Zoran Zaev, begründete seine Ablehnung der
Neuwahlen im April so: "Es gibt keine Garantie, dass diese Wahlen frei und fair
werden."

In Berlin verfolgt man die Lage mit Sorge: "In der ehemaligen jugoslawischen
Republik Mazedonien geht es zunächst darum, die innenpolitische Krise rasch und
nachhaltig zu überwinden. Im Vordergrund stehen dabei Reformen, die eine
Durchführung der vereinbarten Neuwahlen nach europäischen Standards
sicherstellen", forderte Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen
Amt. Roth verweist darauf, dass die EU und auch Deutschland Mazedonien bereits
bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise unterstützen. So habe die
Bundesregierung im Jahr 2015 für die beiden Transitstaaten Mazedonien und
Serbien insgesamt 2,1 Millionen Euro humanitäre Hilfe sowie zusätzlich 1,3
Millionen Euro Unterstützung für strukturbildende Maßnahmen zur Verfügung
gestellt.

Namensstreit blockiert die EU-Annäherung

Die Fortsetzung der Blockade in Skopje dürfte eine noch engere Zusammenarbeit
der EU mit Mazedonien beim Grenzschutz jedoch erschweren. "Es ist trotzdem sehr
wahrscheinlich, dass der Chef der Übergangsregierung den Europäern Zusagen
machen wird", glaubt Dusan Reljic, Balkan-Experte der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP). "Nur wird Mazedonien diese Versprechen angesichts der
innenpolitischen Krise gar nicht einhalten können."

Die Annäherung an die Europäische Union wird außerdem von einem jahrzehntelangen
Namensstreit blockiert. Seit dem Zerfall Jugoslawiens vor bald 25 Jahren
versucht Skopje, wenigstens den Namen des Landes aus eigener Wahl zu bestimmen:
Mazedonien. Man will damit an eine ruhmreiche Vergangenheit anknüpfen, die
allerdings einer genaueren historischen Prüfung kaum standhält. Die Mazedonier
verweisen stolz auf ihre Wurzeln im klassischen Griechenland - doch nicht
zuletzt die historische Eroberung der Region durch den militanten Islam und die
fortdauernden Kämpfe mit der Republik von Venedig erzeugten ein Völkergemisch
einzigartiger Art, ein Klein-Balkan in der Mitte des großen Balkan.

Die Griechen ziehen deshalb die gemeinsamen Wurzeln in Zweifel, außerdem fühlen
sie die eigene nordgriechische Provinz gleichen Namens bedroht durch den
Kleinstaat im Norden. Es machte die Sache nicht besser, dass die Mazedonier den
Flughafen der Hauptstadt Skopje nach Alexander dem Großen benannten, den die
Griechen doch als Schüler des Aristoteles, als Weltengründer und hellenistischen
Halbgott in Anspruch nehmen. Die griechische Blockade mag von außen wie eine
Narrenposse erscheinen, ist aber Unruhefaktor ersten Ranges, der jeder
Dauerlösung im Wege steht und die Stabilisierungs- und Assoziationspolitik der
Europäischen Union nachhaltig und bis heute erschwert. Ein regionaler
Namensstreit wird nun weiter aufgeladen durch die Flüchtlingskrise, die nicht
nur Mazedonien überfordert.

UPDATE: 19. Januar 2016

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Mittwoch 27. Januar 2016 9:59 AM GMT+1

Demografie;
Plötzlich wird der Osten zur Zuwanderungsregion

AUTOR: Claudia Ehrenstein

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 887 Wörter

HIGHLIGHT: Die Abwanderung aus Ostdeutschland ist vorerst gestoppt. Neben dem
Boom von Städten wie Dresden und Potsdam veröden aber ganze Regionen. Einzelne
Dörfer werben deshalb um Familien und Flüchtlinge.

Die Studie "Im Osten auf Wanderschaft" zeigt, wie Umzüge die demografische
Entwicklung innerhalb der ostdeutschen Bundesländer zwischen Rügen und dem
Erzgebirge beeinflussen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat
dafür sämtliche Zuzüge und Abwanderungen in 2695 ostdeutschen Gemeinden
analysiert; die verwendeten Daten umfassen den Zeitraum von 2008 bis 2013. Das
sind die wichtigsten Ergebnisse:

1. Fünf Städte boomen

Leipzig, Dresden, Jena, Erfurt und Potsdam sind die großen Zuwanderungsgewinner
im Osten. Gezielte Städtebauförderung hat sie so attraktiv gemacht, dass heute
mehr Menschen zuziehen als abwandern. Die neuen Bewohner kommen aus Ost- und
Westdeutschland, aber auch aus dem Ausland.

Wo Unternehmen, Forschungseinrichtungen und kluge Köpfe zusammenkommen,


entstehen neue Arbeitsplätze, kommen junge Leute zum Studieren - was diese
Städte nur noch anziehender macht. Aus Sicht von Reiner Klingholz vom
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist das ein Beleg dafür, dass
die Förderpolitik von Bund und Ländern erfolgreich war.

2. Die Provinz verödet

Beim Wettbewerb um neue Einwohner gibt es natürlich auch Verlierer: Rund 85


Prozent der ostdeutschen Kommunen schrumpfen. Die Menschen zieht es aus den
Dörfern in die größeren Städte. Es gibt auf dem Land keine Arbeit mehr - was vor
allem auch am Strukturwandel in der Landwirtschaft liegt. Nach der
Wiedervereinigung haben die ostdeutschen Bundesländer unterm Strich 1,8
Millionen Einwohner verloren.

Seit 2010 ist diese Abwanderung dank der boomenden Großstädte zwar gestoppt. Die
Studie zeigt aber: Es gibt Regionen vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen-Anhalt, die so wenig zu bieten haben, dass niemand dorthin ziehen will -
zum Beispiel, wenn die Fahrdistanz zur nächsten größeren Stadt mehr als 45
Minuten beträgt. Dann gibt es kaum eine Chance, den "Schrumpfkurs" aufzuhalten
oder gar umzukehren.

3. Das sind die beliebtesten Dörfer

Es gibt natürlich auch Menschen, die gern fernab der großen Zentren auf dem
Lande leben wollen. Sie suchen sich aber Dörfer aus, die etwas zu bieten haben.
Als Beispiel nennt die Studie die Thüringer Gemeinde Bösleben-Wüllersleben, die
etwa ein halbe Stunde von Erfurt entfernt ist.

Das Dorf hat etwas mehr als 600 Einwohner und ist mit einem Abenteuerspielplatz,
einem Volleyballplatz, einem Bürgerhaus, einem Jugendklub mit Kegelbahn und
einem Kindergarten für Familien besonders attraktiv. Das gilt auch für die
Gemeinde Hinrichshagen vor den Toren Greifswalds in Mecklenburg-Vorpommern.

Schon wenige Zuzügler können dazu beitragen, das Dorfleben aufrechtzuerhalten


oder sogar neu zu beleben. "Auf dem Lande müssen sich die Menschen mehr um ihre
eigenen Belange kümmern", sagt Demografieexperte Klingholz. Die Vereinsdichte
sei ein Indikator für Stabilität und ein Zeichen dafür, dass sich die Einwohner
wohlfühlen.

4. Die Alten wollen noch was erleben

Neu ist, dass auch die ältere Generation 64 plus noch sehr mobil ist. Diese
Ruhestandswanderer ziehen vom Land in die nächste größere Gemeinde, wo sie sich
bereits gut auskennen. Dort sind die Wege zum nächsten Supermarkt oder zum
Hausarzt kürzer, was den Alltag bequemer macht. Gleichzeitig haben gerade auch
mittelgroße Städte ein kulturelles Angebot.

Wenn erst einmal die Babyboomer in dieses Alter kommen, wird die Zahl der
Ruhestandswanderer nach zunehmen. Der Bildungsstand in dieser Generation ist
größer als früher, und die Menschen wollen auch im Alter noch etwas erleben.
"Eine alternde Gesellschaft wird damit zwangsläufig zu einer urbaneren
Gesellschaft", heißt es in der Studie.

5. Metropolen locken die Jungen an

Es ist vor allem die Generation der 18- bis 24-Jährigen, die dem Landleben den
Rücken kehrt. Die Studie spricht von "Bildungswanderern". Sie suchen sich in den
größeren Städten eine Lehrstelle oder einen Studienplatz. Um als
Berufseinsteiger einen Arbeitsplatz zu finden, müssen sie jedoch oft in den
Westen gehen.

Diese "Berufswanderer" sind laut Studie "die einzige Altersgruppe, die unterm
Strich auch 2013 die neuen Bundesländer noch verlassen hat". Das aber ändere
sich gerade. Haben die jungen Erwachsenen erst einmal einen Job gefunden und
eine Familie gegründet, ziehen sie mit ihren Kindern oft in die Speckgürtel der
Städte - was am ausgeprägtesten rund um Berlin zu beobachten ist.

6. Mit 50 noch einmal neu anfangen

Sind die Kinder aus dem Haus, entscheiden sich inzwischen immer mehr Ehepaare,
den Wohnort zu wechseln, in eine kleinere Wohnung umzuziehen. Die Studie spricht
von "Empty-Nest-Wanderern". Vor allem in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen ist dieser Trend zu beobachten.

7. Flüchtlinge als Chance für den Osten


Von der Willkommenskultur vor Ort hängt es ab, ob Flüchtlinge sich in den
ländlichen Regionen des Ostens wohlfühlen und sie sich entscheiden zu bleiben.
Derzeit zieht es Flüchtlinge bundesweit vor allem in die Großstädte: Syrer nach
Berlin, Iraker nach München, Afghanen nach Hamburg und Pakistaner in das
Rhein-Main-Gebiet.

In der Studie heißt es: Die Gemeinschaft in den Dörfern, vom Bürgermeister über
die Vereine und die freiwillige Feuerwehr bis zu den Anwohnern, müsste alles
daransetzen, um Kontakte zu den Flüchtlingen aufzubauen und damit die
Integration zu fördern. Dann könnte der Osten von einer kurzfristigen
Durchgangsstation zu einer neuen Heimat werden.

UPDATE: 27. Januar 2016

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Donnerstag 28. Januar 2016 8:11 AM GMT+1

Lageso in Berlin;
Polizei - "Wir haben keinen toten Flüchtling"

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 644 Wörter

HIGHLIGHT: Ein Flüchtlingshelfer hat den Fall eines toten Asylbewerbers in


Berlin frei erfunden. "Wir haben keinen toten Flüchtling", sagte eine Sprecherin
der Polizei nach einer Befragung des Helfers.

Der Fall eines toten Asylbewerbers in Berlin wurde offensichtlich von einem
Flüchtlingshelfer erfunden. "Wir haben keinen toten Flüchtling", sagte eine
Sprecherin der Polizei nach einer Befragung des Helfers Dirk V. "Es gibt derzeit
keine Anhaltspunkte, dass an dem Sachverhalt, den er veröffentlicht hat, etwas
dran ist", sagte die Sprecherin.

"Er hat in der Vernehmung zugegeben, dass er alles frei erfunden hat", ergänzte
später ein Behördensprecher.

Dirk V. hatte bei Facebook mitgeteilt, dass ein 24 Jahre alter Syrer in der
Nacht gestorben sei. Zuvor habe der Asylbewerber tagelang vor dem Landesamt für
Gesundheit und Soziales (Lageso) angestanden.
Der Helfer habe den stark fiebernden Mann zu sich geholt. Wegen seines
schlechten Zustandes sei er von einem Krankenwagen abgeholt worden - und auf dem
Weg in eine Klinik gestorben. Später löschte der Helfer den Facebook-Eintrag
wieder.

Es gebe derzeit keine Hinweise darauf, dass es einen Toten gegeben hat, sagte
Sozialsenator Mario Czaja (CDU) in der RBB-"Abendschau". "Und darüber sind wir
auch froh." Es seien alle Aufnahme-Krankenhäuser abgefragt worden. Zuvor hatte
ein Sprecher der Feuerwehr gesagt, sämtliche Einsätze des Rettungsdienstes in
dem entsprechenden Zeitraum seien geprüft worden - ohne Ergebnis.

Helfer tauchte einen Tag lang unter

Der Flüchtlingshelfer, der den Fall ins Rollen gebracht hatte, war danach einen
Tag lang untergetaucht. "Moabit hilft" hatte mitgeteilt, er wolle sich zunächst
nicht äußern. Das habe er in einer SMS mitgeteilt und darin auch erklärt, sich
noch früh genug an die zuständigen Behörden wenden zu wollen. Sein Telefon sei
ausgeschaltet und auch die Tür öffne er nicht. Die Polizei klingelte nach
eigenen Angaben ebenfalls mehrfach vergeblich.

Ein Sprecherin des Bündnisses betonte noch am Abend in der "Abendschau", man
habe derzeit keinen Anlass, die Angaben des Mannes anzuzweifeln. Der Mann sei
sehr vertrauenswürdig. Wenn sich der Fall bewahrheite, müsse "die direkte
Konsequenz" der Rücktritt von Sozialsenator Czaja sein.

Der Senator betonte in der "Abendschau", dass eine weitere enge Zusammenarbeit
mit den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern sehr wichtig sei. Mit Blick auf den
Mann, der die Nachricht ins Rollen brachte, sagte Czaja: "Ich bin nicht der
Auffassung, dass man zu Vorverurteilungen oder Allgemeinverurteilungen kommen
sollte, wenn eine Person etwas getan hat, das für uns schwer verständlich ist."

Vor dem Lageso hing am Mittwoch eine Trauerbekundung, davor standen zahlreiche
Kerzen. "Wir weinen" war auf dem schwarz umrandeten Zettel unter anderem zu
lesen. Auch das Lageso wurde darauf kritisiert.

Forderung nach mehr Kälteschutz für Flüchtlinge

Die Berliner Caritasdirektorin Ulrike Kostka hatte zuvor davor gewarnt, in dem
Fall direkte Zusammenhänge mit der Situation am Lageso herzustellen, bevor die
genauen Umstände geklärt worden seien. Zugleich bekräftigte sie die Forderung
der Berliner Caritas an den Senat, den Flüchtlingen vor dem Lageso mehr
Kälteschutz zur Verfügung zu stellen.

Im rbb-Inforadio kritisierte Kostka zudem die Verzögerungen bei der Auszahlung


von Essensgeld an Flüchtlinge. Sie begrüßte, dass Härtefälle ab diesem
Donnerstag telefonisch einen Auszahlungstermin beim Lageso vereinbaren könnten.
Auch hätten die Behörden der Caritas zugesichert, dass das Personal im Lageso
aufgestockt werde. Vermutlich müssten die Betroffenen dennoch bis zu zwei Wochen
auf ihr ausstehendes Geld warten, so die Caritas-Chefin.

"Das Problem aber bleibt natürlich", sagte Kostka wörtlich. "Wir haben es als
Betreiber abgelehnt, Geld in den Heimen auszuzahlen, weil das zu
Verteilungskonflikten führen könnte und weil die Sicherheitsbedingungen nicht
vorhanden sind." Sie mahnte beim Senat dauerhafte Lösungen bei der Versorgung
der Flüchtlinge an. "Spätestens ab März rechnen wir damit, dass die
Flüchtlingszahlen wieder hochgehen werden."

UPDATE: 28. Januar 2016


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Donnerstag 28. Januar 2016 10:58 AM GMT+1

Sigmar Gabriel;
"Deutschland ist ein verdammt starkes Land"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 427 Wörter

HIGHLIGHT: Sigmar Gabriel warnt vor Hysterie und einem Zerrbild Deutschlands. Es
sei eines der bestaufgestellten Länder in Europa mit einer stabilen Regierung.
Von einer Koalitionskrise will er nichts wissen.

Deutschland ist nach den Worten von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel


trotz der Herausforderungen in der Flüchtlingskrise ein stabiles Land. In einer
Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht warnte der SPD-Vorsitzende im
Bundestag vor Hysterie und einem Zerrbild Deutschlands.

Die Zuwanderung von mehr als einer Million Flüchtlinge in einem Jahr sei zwar
eine riesige Herausforderung, und es würden auch Fehler gemacht. "Aber man kann
nun wirklich nicht sagen, dass dieses Land handlungsunfähig sei, dass wir die
Kontrolle über das Land verloren hätten, dass irgendwie jeden Tag das Chaos
ausbricht."

Stabile Bundesregierung

Das Gegenteil sei der Fall, sagte der Vizekanzler. Deutschland sei eines der am
besten aufgestellten Länder in Europa. Es gebe keine Koalitionskrise,
Deutschland sei ein sehr stabiles Land mit einer stabilen Bundesregierung:
"Deutschland ist ein verdammt starkes Land."

Gabriel zufolge zeichnen sich weitere Beschäftigungsrekorde ab. Die Zahl der
Erwerbstätigen werde 2016 auf 43,3 Millionen und 2017 auf 43,7 Millionen
steigen. Der Wirtschaftsaufschwung gehe mit einem Konjunkturplus von 1,7 Prozent
2016 ins dritte Jahr. Löhne und Gehälter legten zu. "Der Wohlstand und das
Wachstum kommen bei den Menschen in Deutschland an."

Im Streit über das Asylpaket II suchen die Spitzen von Union und SPD indes
erneut nach einer Lösung. Die Parteichefs von CDU, CSU und SPD hatten sich
bereits Anfang November im Grundsatz auf die Pläne verständigt. Kernpunkt des
Pakets ist die Einrichtung spezieller Aufnahmeeinrichtungen, in denen die
Asylanträge bestimmter Schutzsuchender im Schnellverfahren abgewickelt werden.
Außerdem ist eine Einschränkung des Familiennachzugs für Menschen mit einem
bestimmten Schutzstatus ("subsidiärer Schutz") vorgesehen.

Über diesen Punkt hatten die Koalitionäre monatelang gestritten. Nun ist ein
Kompromiss im Gespräch, mit dem unter anderem Kontingente für den
Familiennachzug von Syrern aus dieser Gruppe eingerichtet werden könnten. Die
Parteichefs - Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD)
- wollen darüber am späten Nachmittag im Kanzleramt beraten.

Danach ist ein Treffen Merkels mit den Ministerpräsidenten der Länder geplant.
Themen sind dabei unter anderen Abschiebungen, eine mögliche Wohnsitzauflage für
anerkannte Flüchtlinge und die angedachte Einstufung weiterer Staaten - Marokko,
Algerien und Tunesien - als "sichere Herkunftsländer". Am späten Abend wollen
Merkel und mehrere Ministerpräsidenten über die Ergebnisse der Verhandlungen mit
den Ländern berichten.

UPDATE: 28. Januar 2016

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Freitag 29. Januar 2016 1:47 PM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Bund rechnet mit 400.000 abgelehnten Asylbewerbern

AUTOR: Martin Greive und Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 899 Wörter

HIGHLIGHT: Die Bundesregierung geht von etwa 400.000 abgelehnten Asylbewerbern


im Jahr 2016 aus, wie aus einem internen Papier hervorgeht. Doch auch sie
dürften wie anerkannte Flüchtlinge meist im Land bleiben.

Der Bund rechnet bis Ende dieses Jahres mit 400.000 abgelehnten Asylbewerbern.
Dies geht aus einem internen Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hervor, das
der "Welt" exklusiv vorliegt.

In dem Brief an seine Fraktionskollegen schreibt der haushaltspolitische


Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Eckhardt Rehberg (CDU), ab 2016 erhielten
die Länder "für jeden abgelehnten Asylbewerbereinen Pauschalbetrag von 670 Euro.
Daraus ergibt sich eine Abschlagszahlung in Höhe von 268 Millionen Euro". Damit
kalkuliert der Bund bis Ende des Jahres mit etwa 400.000 abgelehnten
Asylanträgen.

Ziel der Pauschale ist es, die Länder für die Kosten zu entschädigen, die ihnen
durch die Abschiebung entstehen. Rehberg schreibt weiter, dass auch wenn mehr
als 400.000 Asylbewerber abgelehnt werden, für jeden weiteren ebenfalls dieser
Betrag gezahlt werde. Dafür gebe es ein zusätzliches Budget.

Riesiger Antragsstau im BAMF

Die Prognose des Bundes scheint plausibel, wenn man sich die Zahlen der
vergangenen Jahre anschaut: So wurde etwa jeder dritte Asylantrag anerkannt. Zum
anderen kamen im Jahr 2015 mehr als eine Million Asylsuchende nach Deutschland.
Wie viele es genau waren, weiß man noch nicht, weil immer noch nicht alle
Angekommenen registriert wurden und Hunderttausende noch keinen Asylantrag
gestellt haben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) muss in
diesem Jahr noch 660.000 alte Asylfälle bearbeiten - zusätzlich zu vermutlich
Hunderttausenden Anträgen neu ankommender Flüchtlinge. Die Zahl von 400.000
abgelehnten Bewerbern könnte deshalb leicht erreicht werden.

Falls in diesem Jahr 500.000 Flüchtlinge über die Grenzen kommen, heißt es aus
dem BAMF, könne man im Sommer "vor der Welle" sein und Asylanträge wieder
zeitnah nach der Ankunft eines Schutzsuchenden in Deutschland bearbeiten, wie es
vor der Migrationskrise der Fall war. Die Prognose von 400.000 abgelehnten
Asylbewerbern bedeutet allerdings nicht, dass diese Migranten das Land wieder
verlassen. Durch Asylfolgeanträge, Klagen, Kirchenasyle und vor allem sogenannte
Duldungen aus medizinischen oder familiären Gründen können auch abgelehnte
Bewerber meist im Land bleiben.

Asylberechtigt im eigentlichen Sinne sind nach Artikel 16a des Grundgesetzes nur
politisch Verfolgte, sie machen ein bis zwei Prozent der Asylantragsteller aus.
Wesentlich mehr der sich auf das Asylrecht berufenden Migranten kommen jedoch
nicht, weil sie von ihrem Staat wegen ihrer politischen Überzeugung so stark
ausgegrenzt wurden, dass ihre Menschenwürde verletzt ist, sondern werden als
Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt. Sie machten in den vergangenen
Jahren meist 30 Prozent der Ankommenden aus.

Bürgerkrieg kein Grund für Asylgewährung

Zwar werden umgangssprachlich Migranten, die ohne Visum oder


Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland kommen, als Flüchtlinge bezeichnet,
juristisch ist der Begriff enger gefasst: Demnach wird nur derjenige hierzulande
als Flüchtling definiert, der unter die Bestimmungen der Genfer Konvention
fällt, also wer "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder wegen ihrer politischen Überzeugung" außer Landes fliehen muss.

Hingegen sind allgemeine Notsituationen wie Armut, Naturkatastrophen,


Perspektivlosigkeit oder gar Bürgerkriege keine Gründe für Asylgewährung. Hier
wird häufig jedoch eine provisorische Lösung gefunden: die Gewährung von
subsidiärem Schutz. Ihn erhalten Menschen, wenn ihnen im Heimatland große Gefahr
durch einen bewaffneten Konflikt, Folter oder Todesstrafe droht.
Während Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis für
drei Jahre und eine Arbeitserlaubnis erhalten, bekommen "Subsidiäre" nur eine
Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Das Donnerstagabend endlich beschlossene
Asylpaket II, ließ vor allem deswegen seit November auf sich warten, weil
dadurch für die Gruppe der subsidiär Schutzbedürftigen der Familiennachzug für
zwei Jahre ausgesetzt wird und davon auch Tausende Syrer betroffen sind, die die
SPD gerne davon ausgenommen hätte. Letztlich willigten die Sozialdemokraten aber
ein, nicht zuletzt auch wegen Klagen aus den durch die Flüchtlingsaufnahme stark
belasteten Kommunen.

150 Milliarden Euro vom Bund

Ihnen macht Unionschefhaushälter Rehberg in seinem Papier an die


Fraktionskollegen Hoffnung, indem er auch auf die hohen Entlastungen für Länder
und Kommunen hinweist. In diesem Jahr summierten sich die Entlastungen auf über
20 Milliarden Euro, "im Zeitraum 2010 bis 2019 beträgt das finanzielle
Engagement des Bundes zugunsten von Ländern und Kommunen insgesamt über 150
Milliarden Euro", schreibt Rehberg.

Die Entlastungen seien politisch gewollt gewesen. "In der Gesamtbetrachtung ist
allerdings die Belastungsgrenze des Bundes zunehmend erreicht", schreibt Rehberg
mit Blick auf die laufenden Verhandlungen über die Reform der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen.

"Einzelne Ländervertreter erheben immer wieder erhebliche finanzielle


Forderungen gegenüber dem Bund und stellen viele Maßnahmen des Bundes
unverhohlen als ihre eigenen dar. Nicht zuletzt zweigen viele Länder die für die
Kommunen gedachten Leistungen des Bundes in die Landeshaushalte ab, ohne die
Kommunen zu kompensieren", schreibt Rehberg. Der Bund müsse den Druck auf die
Länder "weiter erhöhen, die Mittel für die Kommunen auch wirklich an diese
weiterzugeben".

UPDATE: 29. Januar 2016

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Montag 1. Februar 2016 1:04 PM GMT+1

Zukunft des Kinos?;


So fühlen sich Filme mit Virtual-Reality-Brille an

AUTOR: Hanns-Georg Rodek

RUBRIK: KULTUR; Kultur


LÄNGE: 1685 Wörter

HIGHLIGHT: Werden wir in Zukunft noch dasselbe sehen wie unser Nachbar im Kino?
Die virtuelle Realität verändert die Art, wie Filme gedreht werden und wie wir
sie konsumieren. Eine Sneak Preview in die Zukunft.

Ich befinde mich in einem großen Raum mit vielen anderen Menschen. Plötzlich
schrillt ein akustisches Signal. Vor ein paar Tagen saß ich im Großraumbüro, und
auch dort ertönte ein Warnsignal, diskreter und weniger alarmistisch allerdings.
"Das ist nur der Mac, der überhitzt", hatte ein Kollege gerufen, und ein anderer
hatte den Stecker gezogen, und das war's gewesen, zum Glück, man ist ja doch
etwas nervös dieser Tage.

Aber dieses Signal ist hartnäckiger. Ich blicke um mich und sehe, wie die Leute
das Headset herunterzerren und Reißaus nehmen; binnen Sekunden bin ich allein.
Das ist beunruhigend. Nun ziehe auch ich Hörer und Brille vom Kopf - und sehe um
mich herum all die anderen, und sie tragen immer noch ihre Kopfgarnitur. Nichts
passiert, in Wirklichkeit.

Das ist erklärungsbedürftig. Der Raum, das ist ein Großcontainer, einer von 34
über- und nebeneinandergestapelten Überseebehältern, die zusammen die Platoon
Kunsthalle ergeben, eine Berliner Event-Location am Prenzlauer Berg, wo sonst.
In dem Raum stehen drei Dutzend Plastikstühle, Drehstühle, was sich als wichtig
erweisen wird. Darauf liegen Kopfhörer und eine Datenbrille.

Der Zeremonienmeister ermutigt uns, beides aufzusetzen, eine Assistentin geht


durch die Reihen und macht uns auf ein Stellrädchen aufmerksam, "zum
Scharfstellen, bis zu sieben Dioptrien". Sie fragt, welche Option ich bevorzuge:
das Flüchtlingslager oder den Horrorfilm. Ich optiere für Horror. Wir stehen
kurz vor der ersten öffentlichen, kommerziellen Virtual-Reality-Vorführung in
der Hauptstadt.

Es geht informell zu, ein wenig schludrig. Gemessen an dem Einschnitt, den der
Abend bedeuten könnte, fehlt ihm jegliches Bewusstsein seiner historischen
Bedeutung. Ich frage mich, wie das vor 120 Jahren gewesen sein mag, fünf
Kilometer Luftlinie entfernt, im Wintergarten, als die erste Filmvorführung der
Welt vor zahlendem Publikum eine neue Ära einläutete.

In Anzeigen war das Bioscop von Max Skladanowsky damals als "interessanteste
Erfindung der Neuzeit" angekündigt worden. Nun verspricht das Internet: "Das
erste Virtual-Reality-Kino der Welt kommt nach Deutschland!" Wir sollen an
diesem epochalen Tag vier kurze Filme zu sehen bekommen. Am 1. November 1895
waren es acht, darunter "Das boxende Känguruh".

Flüchtlingslager oder Horrorfilm?

Ich setze die Brille auf, die von Samsung stammt und ebenso auf der Technologie
einer Firma namens Oculus beruht wie die Oculus Rift, die Facebook im Frühjahr
herausbringen will. Sie hat ein verstellbares Band, das um den Schädel gelegt
wird, und einen Überkopfbügel. Mein Gesichtsfeld ist weitgehend, aber nicht
völlig von einem dunkel flimmernden Bildschirm ausgefüllt, dessen Form an alte
Rennfahrerbrillen erinnert.

Die neue Realität endet bei jeweils 96 von 360 Grad, laut Herstellerangaben
etwas weniger, als wir in unserer Augensicht haben. Leicht enttäuschend für
einen, der sich im Kino so weit nach vorn setzt, dass er die Ränder der Leinwand
nicht mehr sieht, geschweige denn die beleuchteten Notausgangzeichen. Wenn schon
künstliche Realität, dann bitte ganz.

Aus dem Dunkelflimmern formt sich ein Bild. Es sieht wie ein Flüchtlingslager
aus. Hatte ich mich nicht für den Horror gemeldet? Egal. Ich sehe ein Mädchen,
das sich als Sidra vorstellt und durch das Lager führt, in die Schule, zu den
kampfboxenden Jungen (die boxenden Kängurus von heute) und zu den anderen
Mädchen, die hier Fußball spielen dürfen.

Wir befinden uns jetzt in Zaatari, dem Lager in Jordanien, das zehnmal so viele
Syrer beherbergt, wie sich die deutschen Planer für ihre größten
"Flüchtlingszentren" ausmalen, und es sieht adrett aus, ja: aufgeräumt, sauber,
organisiert. Ich beginne, mich auf dem Stuhl zu drehen, um zu entdecken, ob die
Mädchen hinter meinem Rücken Hasenohren machen, aber nein, sie versammeln sich
brav um den Fußball.

Ich vollende meine erste Selbstumkreisung. Könnte ich auch aufstehen, um den
Ball wegzukicken? Der Versuch ist nicht ratsam, denn es existiert ja noch diese
lästige Realität des Prenzlauer Bergs: Wenn ich wie ein blindes Huhn mit Brille
umherlaufe, stolpere ich in kürzester Zeit über die anderen Virtualiten. Der
Versuch wäre auch unsinnig, schließlich sehe ich einen Film: Die Rundum-Kamera
im Flüchtlingslager hat sich ja auch nicht bewegt. Auch sie weiß nicht, was sich
jenseits dieser Halle, jenseits dieses Zauns befindet.

Virtual Reality, lautet meine erste Lektion, ist nicht die totale Befreiung. Es
ist eine vorfabrizierte Welt mit engen Grenzen, die sofort erlischt, wenn die
Verbindung zum Server abbricht, die von einem in die Brille gestöpselten Handy
zusammengehalten wird. Ich kann meinen Blick zwar schweifen lassen, aber nur in
den vom Regisseur definierten Räumen.

Werden Regisseure überflüssig?

Im zweiten Film ist dies eine leere Wohnung, wo ein Mann sich an einen Streit
mit seiner Freundin erinnert. Die Erinnerung überkommt ihn in kurzen Blitzen,
und das ist gewöhnungsbedürftig, muss das Gehirn nun doch schon zwei Bewegungen
verarbeiten, mein eigenes sanftes Rotieren und die Sprünge in die Vergangenheit
und zurück.

Außerdem beginne ich mich zu fragen, ob ich überhaupt rotieren soll. Die
Streitenden laufen ja nicht ständig um mich herum, sie treten mehr oder minder
auf der Stelle. Warum sollte ich meinen Blick stattdessen auf die Blumenvase
hinter mir schweifen lassen? Die berühmte Kamera von Michael Ballhaus, die
Kreise um ihre Figuren fährt, hat immer was zu sehen. Aber umgekehrt?

Regisseure, könnte man denken, werden in der Virtual Reality überflüssig, wird
doch ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit demokratisiert: Nicht sie lenken wie
bisher unsere Blicke, wir selbst tun das. Ich zwinge mich dazu, auf die
Blumenvase zu starren, während eine halbe Drehung hinter mir der Streit
eskaliert, kehre aber unwillkürlich dahin zurück.

Wie wird in Zukunft Blicklenkung funktionieren? Werden wir das so erlernen, wie
das Publikum vor hundert Jahren erst begreifen musste, dass ein Schnitt eine
zeitliche oder räumliche Veränderung bedeutet? Der freundliche Herr von
&samhoud, der niederländischen Firma, die in Deutschland für das virtuelle
Gucken missioniert, hat mir vorher gesagt, er halte Theaterregisseure besser für
VR geeignet als die vom Film - und jetzt verstehe ich, was er meint. Kinoleute
besitzen ein Arsenal an Tricks zur Blicklenkung: Kamerabewegungen, Schnitte,
Großaufnahmen. Der Theatermann jedoch findet sich in der gleichen Lage wie der
VR-Inszenator: Sein Zuschauer hat die Wahl, wohin auf der Bühne er sieht, und
muss durch subtile Signale eingefangen werden.

Virtual Reality heute ist, wie das Kino in seinen Kinderschuhen, wenig subtil.
Im dritten Film stehen wir auf dem Dach des Hochhauses des Berliner Verlags.
Mein erster Impuls besteht im Herunterschauen, da schiebt sich ein Raumschiff
von der Größe des Millennium-Falken über den Alexanderplatz, ich wende den Blick
natürlich nach oben.

Danach passiert die Sache mit dem Alarm. Es ist ein Pausenfüller, eine kleine
Erinnerung daran, dass hier mit Realitätsebenen gespielt wird - und nicht alle
so harmlos sein werden. Drei Monate nach Skladanowsky im Wintergarten zeigten
die Brüder Lumière im Grand Café zu Paris den Ein-Minuten-Film "Die Ankunft
eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat", und - so will es die urbane Legende -
die Zuschauer stoben panisch auseinander, als der Zug auf der Leinwand
geradewegs auf die Kamera und also auf sie zudampfte.

Der "Zug" der virtuellen Realität heißt "Catatonic". Ich finde mich in einem
Rollstuhl, der durch die Gänge eines Irrenhauses fährt, und ich kann nach unten
auf meine festgeschnallten Arme sehen oder nach hinten auf den Wärter, der mich
schiebt, oder nach links und rechts auf die Insassen, die dem Neuankömmling ihre
Fratzen ins Blickfeld stoßen.

Wie ein Dreh-Hebe-Karussell

Meine Datenbrille vermittelt mir drei Bewegungen auf einmal: eine horizontale
und eine vertikale (per Rollstuhl) sowie eine kreisende (durch mein Kopfdrehen).
Eigentlich ist das nicht anders, als wenn ich im Auto einen Berg hochfahren und
mich dabei umsehen würde, aber dazu gesellt sich der Bahnhofseffekt: Wie oft
haben wir aus dem Fenster eines stehenden Zuges hinausgesehen und geglaubt, er
habe sich in Bewegung gesetzt - obwohl nur der Zug auf dem Nebengleis anfuhr.
Das getäuschte Auge wird schnell durch den Körper korrigiert, der uns sagt, dass
wir uns noch im Ruhezustand befinden.

Dasselbe sagt mir mein Körper bei der virtuellen Fahrt durchs Irrenhaus, nur das
Auge suggeriert eine Bewegung in drei Dimensionen, wie bei einem dieser
Dreh-Hebe-Karussells auf dem Jahrmarkt. Das vertrage ich auch nicht mehr so gut
wie früher mal, und ich bin froh, als das Phantasma der Klapsmühle vor mir
erlischt.

Es ist vorbei. Ich ziehe Brille und Hörer vom Kopf. Auch meine Nachbarin sieht
etwas bleich aus, glaube ich zu bemerken. Nach Sprechen ist uns zunächst nicht
zumute. Dies war kein Gemeinschafts-, sondern ein Vereinzelungserlebnis, eine
Versuchsanordnung wie im Kino mit einem Effekt wie vor dem Heimcomputer. Drei
Dutzend Menschen in einem Raum, die dasselbe gesehen haben, dabei aber allein
waren.

Léa Seydoux gegen den Millennium-Falken

Ich nehme an, dass es über kurz oder lang möglich sein wird, sich in der
virtuellen Realität eines Mitspielers zu bewegen, dieser Abend ist ja nur ein
Anfang; bald werden wir zusätzlich einen Datenhandschuh anziehen, die Auflösung
wird sich verbessern, und man wird die Nähte nicht mehr bemerken, aus denen sich
das Rundumbild zusammen setzt.

Aber ich denke, ich habe begriffen, wo die Trennlinie der Zukunft verlaufen
wird. Nicht zwischen zweidimensional oder 3-D oder künstlicher Realität. Die
Wahl wird diese sein: Vertraue ich mich der erzählerischen Raffinesse eines
Geschichtenerfinders an - oder will ich an jeder Abzweigung selbstständig den
Weg wählen?

Wahrscheinlich wird es auch einen Mittelweg geben, eine im Kinostil


durcherzählte Geschichte, die man aber zwischendurch anhalten kann, etwa um eine
gründliche Inspektion des Millennium-Falken vorzunehmen. Was mich aber so was
von gar nicht interessieren würde. Eher schon eine Umrundung von Léa Seydoux,
wenn sie in "Spectre" zum Dinner mit Daniel Craig erscheint.

UPDATE: 1. Februar 2016

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Mittwoch 3. Februar 2016 11:03 AM GMT+1

Polnische Bischöfe;
"Unaufhaltsam - Europa wird muslimisch sein"

AUTOR: Gerhard Gnauck

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1071 Wörter

HIGHLIGHT: Die neue konservativ-nationale Regierung spaltet die polnische


Bevölkerung. Auch die katholische Kirche, Wagenburg der Gesellschaft, ist sich
uneins. Hier streiten konservative und liberale Kräfte.

Eine neue Teilung Polens liegt in der Luft. Diesmal sind es weder Preußen noch
Russen, die Soldaten schicken, um sich einen Teil des Landes unter den Nagel zu
reißen. Diesmal verläuft die Teilung quer durch die Gesellschaft - und sogar
durch jenes Organ, das sich immer noch als das Herz der Nation versteht: die
mächtige katholische Kirche, der fast 90 Prozent der Polen angehören.

Als der Pole Johannes Paul II. die Weltkirche führte, da war in seiner Heimat
die Welt noch in Ordnung. Der "Jahrtausendpapst", wie ihn der "Spiegel"
betitelte, gab vor Polens EU-Beitrittsreferendum 2003 ein klares Votum ab: Die
institutionell vereinte europäische Familie sei die Heimat auch seines Landes.
Doch er hielt auch die Konservativen in der Geistlichkeit bei der Stange. Er war
das einigende Band.

Jetzt aber ist die EU krisengeschüttelt, und in Polen sind konservative,


euroskeptische (genauer: EU-skeptische) Kräfte an die Macht gekommen, haben eine
absolute Mehrheit im Parlament erobert. Was sie jetzt im Land veranstalten, kann
man als "konservative Revolution" verstehen. Es herrscht Bedarf an
Rückversicherung in der eigenen Tradition - und der Katholizismus gehört in
Polen in besonderem Maße dazu.

Noch nie war Polen so rechts

Manche Bischöfe sehen diese Revolution mit Wohlwollen. In scharfer Form brachte
dies Wieslaw Mering zum Ausdruck, der Bischof von Wloclawek. Nachdem Martin
Schulz, Präsident des Europaparlaments, die hemdsärmelige Neubesetzung des
Verfassungsgerichts durch die Wahlsieger als "Staatsstreich" kritisiert hatte,
griff der Bischof vor Weihnachten zur Feder und schickte dem deutschen
Europapolitiker einen Brief.

Ein seltener Fall, dass ein Bischof einem ausländischen Politiker schreibt; noch
seltener, dass er dabei so undiplomatisch formuliert. Das Parlament habe doch
mit Fragen wie "der Länge der Flamme der Kerzen" Wichtigeres zu tun, schreibt
Mering. Leider gebe es in Brüssel heute keine Politiker mit Niveau. Um so mehr
wünscht der Bischof Herrn Schulz zum "Winterfest (so nennen Sie doch
Weihnachten)" Besonnenheit und Weisheit. Lauter Spitzen also gegen
regulierungswütige Eurokraten im säkularisierten Westeuropa.

Die Erfahrung der 90er-Jahre war für die Kirche, dass sich allzu deutliche
Einmischung in gesellschaftliche Konflikte - etwa in den Streit um die
Abtreibungsregelung - nicht auszahlt. Inzwischen ist aber viel Wasser die
Weichsel hinuntergeflossen; der Zeitgeist weht aus einer anderen Richtung. Noch
nie haben sich so viele Erstwähler (nämlich ein Drittel) in einer Umfrage als
"rechts" definiert wie im letzten Jahr. In Polen bedeutet das fast zwangsläufig:
national und katholisch zugleich.

Diese Orientierung steht auch für eine Abschottung des Landes gegen Migranten
aus anderen Kulturkreisen. Kürzlich sagte ein seit Jahrzehnten in Polen lebender
Syrer bei einem Treffen mit Erzbischof Stanislaw Gadecki in Posen, er mache sich
Sorgen um seine Sicherheit und vor allem um die Sicherheit seiner Gäste.

Nicht ohne Grund: Mehrfach wurden in den letzten Monaten Ausländer mit
"dunklerer Hautfarbe" auf Polens Straßen körperlich angegriffen. Gadecki,
Vorsitzender des Episkopats, erwiderte: "Ein Angriff auf einen Ausländer zeugt
von krankem Nationalismus und dem Verlust der eigenen Identität". Der Oberhirte
war jedoch sehr bemüht zu betonen, die Polen seien ja generell keineswegs
nationalistisch oder fremdenfeindlich.

Der am stärksten "politische" Hierarch scheint Bischof Tadeusz Pieronek zu sein,


der frühere Sekretär der Bischofskonferenz. "Ich gehöre zu jenen fünf Prozent
der polnischen Bevölkerung, die meinen, dass wir die Pflicht haben, Flüchtlinge
aufzunehmen", sagte Pieronek der Zeitung "Rzeczpospolita".

Wo ist der gute Wandel?

Aber zugleich blickt der Bischof mit Fatalismus - oder Gottergebenheit? - auf
Europa: "Frankreich und Belgien werden schon bald muslimisch sein. Nichts wird
diesen Prozess aufhalten. Europa hat sich von Christus losgesagt und wird
muslimisch sein." Aus seiner Sicht ist "Charlie Hebdo" ein Streiter für eine
grenzenlose Freiheit, die vor keiner Religion haltmache, auch nicht der
christlichen. Da klingt sogar Solidarität mit den Muslimen durch.

Polen hat derweil seine eigenen Sorgen. Die in Nachtsitzungen durchs Parlament
gepeitschten neuen Gesetze, die sich früher über Jahre erstreckenden, jetzt
binnen Tagen vollzogenen Umbesetzungen in den Führungsetagen etwa der
öffentlichen Medien haben die Gesellschaft gespalten. Pieronek hat Sympathie für
manche Anliegen der neuen Regierung, aber die Methoden geißelt er: Die Wähler
hätten für den "guten Wandel" (Wahlkampfparole) gestimmt, nicht für Revolution,
Rechtsbruch und Spaltung.

Kein Satz des siegreichen Parteichefs Jaroslaw Kaczynski hat das Land so in
Aufregung versetzt wie der von der "schlechteren Sorte Polen". Jene, die jetzt
Hand in Hand mit Kräften im Ausland gegen die Regierung protestierten, seien
Bürger minderer Qualität, sie hätten "den Verrat in ihren Genen". Kommentar des
Bischofs: "Gerne übernehme ich die Rolle eines Polen der schlechteren Sorte."

Anders als Pieronek übt Kardinal Stanislaw Dziwisz als Erzbischof von Krakau
weiterhin ein Amt aus; er hält sich politisch zumeist zurück. Doch viele Augen
richten sich auf ihn, den einstigen Privatsekretär des polnischen Papstes.
Dziwisz mahnte die Regierenden kürzlich in milden Worten zu Toleranz und
Verantwortungsbewusstsein. Er gilt als Liberaler, als Vertreter des sogenannten
Lagiewniki-Flügels in der Kirche. In Lagiewniki, einem Vorort Krakaus, befindet
sich heute ein wichtiges Sanktuarium. Dort wirkte bis 1938 die Mystikerin
Schwester Faustyna, die Johannes Paul II. heiligsprach.

Der andere Flügel ist nach der Stadt Thorn (Torun) benannt, wo das
Medienimperium des erzkonservativen Ordenspriesters Tadeusz Rydzyk beheimatet
ist, darunter das von Millionen gehörte Radio Maryja. Die Thorner Kirche hat ein
scharfes Profil, und ihre Sympathien gehören eindeutig der
national-konservativen Regierung.

Vor gut einem Jahr versuchte nun Kardinal Dziwisz, mit einem aufsehenerregenden
Besuch in Thorn den Graben zu überbrücken. Es gebe keine Spaltung in
Lagiewniki-Kirche und Thorner Kirche, sagte er beschwörend. Er habe diesen
Besuch im Gefühl der "Verantwortung für die Einheit der Kirche in Polen"
unternommen. Gibt es diese Einheit noch? In bewegten Zeiten, da viele Polen
Europa als belagerte Festung sehen und ihr Land als deren Vormauer, sehen viele
Katholiken ihre Kirche als Wagenburg, mehr als je zuvor.

UPDATE: 3. Februar 2016

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Freitag 5. Februar 2016 1:31 PM GMT+1

Münchner Schwimmbad;
Sexuelle Belästigung - drei Afghanen festgenommen
RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 524 Wörter

HIGHLIGHT: Im Michaelibad gab es wieder einen Fall sexueller Belästigung durch


Flüchtlinge. Die Polizei nahm drei Afghanen fest, warnte aber vor Hysterie. Die
Zahl der Fälle habe sich seit Jahren kaum verändert.

Es ist das zweite Mal innerhalb weniger Wochen, dass im Münchner Michaelibad
Asylbewerber weibliche Badegäste sexuell belästigen. Am Mittwochabend wurden
zwei französische Austauschschülerinnen, beide 14, Opfer eines Übergriffs. Täter
waren drei afghanische Asylbewerber, die den Mädchen im Außenbecken an den Po
und an den Busen fassten. Die Mädchen suchten Schutz beim Bademeister.

Als die Polizei eintraf, waren die drei Männer im Alter von 16, 21 und 23 Jahre
noch im Wasser. Sie wurden festgenommen. Alle drei erhielten eine Anzeige.

Keine Zunahme der Sexualdelikte in den Schwimmbädern

Erst Anfang Januar war es im Michaelibad zu einem ähnlichen Vorfall gekommen.


Zwei Mädchen wurden, ebenfalls im Außenbecken von drei 15-jährigen Syrern
bedrängt und auch im Intimbereich berührt. Die Polizei ermittelt wegen
Vergewaltigung.

Stadtwerke und Polizei mahnen aber, aus diesen beiden Vorfällen keine falschen
Schlüsse zu ziehen. Die Zahl der Sexualdelikte und Beleidigungen in den Münchner
Schwimmbädern sei seit Jahren nahezu gleich geblieben. 2013 waren es 19
Sexualdelikte, 2014 zwölf und 2015 voraussichtlich erneut 19 (die genaue
Statistik liegt noch nicht vor). In allen drei Jahren wurden die Übergriffe
jeweils zur Hälfte von Deutschen und Ausländern begangen.

Auch bei den Münchner Stadtwerken (SWM) sieht man keinen Grund zur Besorgnis.
Die Mitarbeiter hätten in den vergangenen Wochen und Monaten keine Zunahme von
Übergriffen beobachtet, sagte SWM-Bäderchefin Christine Kugler der "Welt".
"Dennoch ist es wichtig, wachsam und präsent zu bleiben." Angesichts der vier
Millionen Badegäste im Jahr sei die Zahl der Sexualdelikte und Beleidigungen
jedoch relativ gering.

Prävention mit Bade- und Benimmregeln in sieben Sprachen

Seit 2013 setzen die Stadtwerke neben der interkulturellen Schulung ihrer
Mitarbeiter auch verstärkt auf Prävention. Flyer mit den Baderegeln in sieben
Sprachen werden an die Besucher verteilt, Plakate informieren zusätzlich über
die Bade- und Benimmregeln im Schwimmbad. Dass man sich vor dem Schwimmen
duschen sollte, ist eine Regel. Eine weitere ist, dass sexuelle Belästigung
verboten ist und dass Frauen, egal in welcher Badekleidung, zu respektieren
sind.

Die Regeln aus den Münchner Bädern sind deutschlandweit auf großes Interesse
gestoßen. Aus 50 Kommunen habe man allein seit Jahresbeginn Anfragen erhalten,
so Kugler, unter anderem aus Berlin, Hamburg, Hannover und Nürnberg.

Die Stadtwerke möchten ihre Präventionsarbeit in Zukunft verstärken. "Der


nächste Schritt ist, in Absprache mit Sozialreferat und Jugendamt in die
Flüchtlingsunterkünfte zu gehen und dort unsere Baderegeln vorzustellen", sagt
Kugler. Im direkten Kontakt mit den Flüchtlingen habe man auch die Möglichkeit,
auf die Gefahr von tiefem Wasser aufmerksam zu machen.

Der Umgang mit Flüchtlingen in den öffentlichen Hallenbädern wird seit einigen
Wochen in Deutschland kontrovers diskutiert. Im nordrhein-westfälischen Bornheim
wurde männlichen Flüchtlingen vorübergehend der Zutritt zu den Bädern verboten.
In Hermeskeil (Rheinland-Pfalz) dürfen Flüchtlinge nur noch dann ins Wasser,
wenn sie vorher die Baderegeln unterschrieben haben.

UPDATE: 5. Februar 2016

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Samstag 13. Februar 2016 11:54 AM GMT+1

Asylsuchende;
Osteuropa will Balkanroute komplett abriegeln

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 782 Wörter

HIGHLIGHT: Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei rebellieren gegen Merkel
und wollen die Grenzen abriegeln. Gabriel und Steinmeier warnen: Man könne nicht
einfach Europas Außengrenzen neu definieren.

Die vier Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wollen
einem Bericht zufolge die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge abriegeln.
"Solange eine gemeinsame europäische Strategie fehlt, ist es legitim, dass die
Staaten auf der Balkanroute ihre Grenzen schützen", sagte der slowakische
Außenminister Miroslav Lajcak dem "Spiegel". "Dabei helfen wir ihnen."

Bei einem Treffen am Montag wollen die vier Staaten dem Bericht zufolge
besprechen, wie sie etwa Mazedonien bei der Schließung der Grenze zu
Griechenland unterstützen können. Damit stellen sich die osteuropäischen Länder
explizit gegen den Plan von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die
Flüchtlingskrise mithilfe der Türkei zu lösen. Er wolle keine Konfrontation mit
der Kanzlerin, sagte Lajcak. Aber es sei falsch, es der Türkei zu überlassen,
die Probleme Europas zu lösen.

Dem Bericht zufolge fordern auch bei Merkels Koalitionspartner SPD die Ersten
eine Schließung der Balkanroute: "Wir müssen die Balkanroute dichtmachen",
zitierte der "Spiegel" den stellvertretenden Vorsitzenden der
SPD-Bundestagsfraktion, Axel Schäfer. "Wer in Europa offene Grenzen erhalten
will, muss auch Grenzen schließen können."

Gabriel und Steinmeier kämpfen verzweifelt für Athen

Auf der anderen Seite aber wehren sich Vizekanzler Sigmar Gabriel und
Außenminister Frank-Walter Steinmeier einem Medienbericht zufolge gegen einen
Ausschluss Griechenlands aus dem Schengenraum, um den Zustrom von Flüchtlingen
nach Mittel- und Westeuropa einzudämmen.

"Ein formeller Ausschluss eines Mitgliedstaates aus dem Schengenraum oder seine
de facto-Ausgrenzung sind Scheinlösungen, die die europäische Debatte
vergiften", schrieben sie laut "Süddeutscher Zeitung" in einem Brief an die
sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister in Europa.

"Man kann nicht einfach Europas Außengrenzen neu definieren, und das noch über
den Kopf betroffener Mitgliedstaaten hinweg." Mehrere Staaten Mitteleuropas
hatten mit neuen Grenzschutzprojekten gedroht, um den Zustrom von Flüchtlingen
über das südosteuropäische Land einzudämmen.

Österreich will Soldaten nach Mazedonien schicken

Österreich hat zuvor Mazedonien aufgerufen, die Grenze zu Griechenland notfalls


komplett für Flüchtlinge abzuriegeln. "Mazedonien muss darauf vorbereitet sein,
den Zustrom vollständig zu stoppen, weil es das erste Land nach Griechenland
ist", sagte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz bei einem Besuch in
Skopje.

Österreich werde bald keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, da die von Wien
beschlossene Obergrenze für Flüchtlinge von 37.500 in den kommenden Monaten
erreicht werde. Darauf müsse auch Mazedonien als Transitland reagieren. Um
Skopje bei der Grenzsicherung zu unterstützen, werde Österreich Polizisten und
Soldaten in das Land entsenden.

Die Lage an der griechisch-mazedonischen Grenze ist seit langem angespannt.


Mitte November hatten die mazedonischen Behörden entschieden, nur noch Syrer,
Afghanen und Iraker durchzulassen. Seit Ende Januar dürfen nur noch Flüchtlinge
die Grenze überqueren, die in Deutschland oder Österreich einen Asylantrag
stellen wollen.

Am Montag begann Mazedonien mit dem Bau eines neuen Stacheldrahtzauns an der
Grenze zu Griechenland, um illegale Grenzübertritte zu verhindern.

EU gibt Griechenland drei Monate für bessere Grenzkontrollen

Am Freitag billigten die EU-Staaten in Brüssel eine Liste mit 50 Empfehlungen


zum Schutz der EU-Außengrenze an die Athener Regierung. Wenn diese innerhalb von
drei Monaten keine Verbesserungen erreicht, dürften die EU-Staaten den Weg frei
machen für Grenzkontrollen von bis zu zwei Jahren im Schengen-Raum.

Griechenland werden in dem Papier "schwere Mängel" beim Grenzschutz bescheinigt.


"Das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt steht auf dem Spiel, und es sind
dringende Maßnahmen gefordert", heißt es.

Griechenland betonte in einer Erklärung, dass "angesichts dieses massiven


Zustroms die Kontrolle der Außengrenzen jedes Mitgliedstaats schwerem Druck
ausgesetzt wäre". Es gebe keine schweren Mängel.
Die Empfehlungen an Athen sind teils sehr detailliert. Außer Verbesserungen bei
der Abnahme von Fingerabdrücken sollen Kontrolleure etwa mit
"Vergrößerungsapparaten zwecks Erleichterung der Dokumentenkontrollen"
ausgestattet werden. Ein Herzschlagdetektor zum Aufspüren blinder Passagiere
könnte von einem Grenzübergang ohne Frachtverkehr an einen anderen Übergang
verlegt werden, so der Vorschlag.

Angesichts des Flüchtlingsandrangs haben mehrere EU-Staaten Grenzkontrollen


eingeführt. Die deutschen Kontrollen müssten zuerst auslaufen und zwar Mitte
Mai. Bestehen die Probleme in Griechenland fort, könnten dann Kontrollen von bis
zu zwei Jahren genehmigt werden.

UPDATE: 13. Februar 2016

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Montag 15. Februar 2016 8:07 AM GMT+1

Migrationskrise;
Merkels Nato-Plan in der Ägäis muss sitzen

AUTOR: Robin Alexander und Manuel Bewarder

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1840 Wörter

HIGHLIGHT: Merkels neuer Plan geht so: Mit deutscher Unterstützung soll die
türkische Küstenwache Boote zurück an die eigene Küste schleppen. Scheitert auch
dieses Vorhaben, scheitert die Kanzlerin.

Als am 9. Januar um 10 Uhr morgens der Einsatzgruppenversorger "Bonn" von


Wilhelmshaven aus in See stach, ahnten weder Flottenadmiral Jörg Klein noch die
220 Männer und Frauen an Bord, auf welche Mission sie bald gehen sollten. Denn
der schwimmende Koloss, der nicht nur über zwei Helikopter und Geschütze,
sondern über ein ganzes Krankenhaus an Bord verfügt, wird mitnichten nur "an
mehreren internationalen Manövern im Mittelmeer teilnehmen", wie die Bundeswehr
damals mitteilte.

Am Montag änderte der Kapitän überraschend den Kurs in Richtung Osten. Ziel: die
Ägäis. In der Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland soll die "Bonn" mit
zehn weiteren Schiffen des "2. Ständigen Marineverbands" der Nato die
Flüchtlingsbewegungen überwachen.

Das mächtigste Militärbündnis der Erde ist also angetreten, um die


Flüchtlingspolitik von Angela Merkel zu verteidigen. Denn die Kanzlerin braucht
jetzt schnell Erfolge. In dieser Woche muss sie in Brüssel die anderen Staats-
und Regierungschefs auf einem EU-Gipfel doch noch von ihrer "europäischen
Lösung" überzeugen. Sonst wird sie dem Druck, Flüchtlinge auch an der deutschen
Grenze zurückzuweisen, nicht mehr lange standhalten können.

Merkel geht die Zeit aus. Davon zeugt ihr Überraschungs-Coup mit der "Bonn".
Denn eigentlich geht es nur um eine Zusammenarbeit der griechischen und der
türkischen Küstenwache. Schon im vergangenen September wollte Merkel diese
erreichen, im Oktober hatte sie den linkspopulistischen griechischen
Ministerpräsidenten Alexis Tsipras schon einmal so weit. Doch dann stellte sich
dessen rechtsnationalistischer Koalitionspartner in den Weg. Wegen uralter
Streitereien um unbedeutende Inselchen könne man mit den Türken nicht
zusammenarbeiten.

Türke tätschelt Altmaier

Merkel erwog eine Mission unter Führung der EU-Grenztruppe Frontex und zeitweise
sogar der deutschen Küstenwache. Der Türkei wurden drei Milliarden Euro
versprochen und Griechenland zwei zugedrückte Augen der Euro-Partner bei
verschleppten Reformen des Rentensystems. Dann erst erklärten sich die beiden
verfeindeten Länder bereit, unter dem Dach der Nato zusammenzuarbeiten.

Der Plan geht so: Der hochmodern ausgerüstete Marineverband unter deutscher
Führung überwacht die Flüchtlingsbewegungen und informiert die türkische
Küstenwache sofort über auslaufende Schlepperboote. Die bringt sie auf, bevor
sie türkische Gewässer verlassen, und zurück an die eigene Küste. Die
Flüchtlinge und Migranten kämen also gar nicht mehr auf griechischen Boden, um
sich von dort auf die Balkanroute nach Österreich und Deutschland zu machen.

"Wir werden die Flüchtlinge in der Türkei aufnehmen", versprach Außenminister


Mevlüt Çavusoglu am Freitag dem Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator
Peter Altmaier in München bei der Sicherheitskonferenz. "Aber nur gegen
kontrollierte Migration", fügte er an - Flüchtlinge sollen im Gegenzug direkt
von der Türkei nach Europa gebracht werden. Nicht nur der kameradschaftliche
Ton, den Çavusoglu anschlug, erstaunte die versammelten internationalen
Diplomaten, sondern auch die Körpersprache: Mehrmals griff der Türke nach
Altmaiers Oberarm, ja tätschelte den Kanzleramtsminister fast. Hier wollte einer
bewusst den Eindruck erwecken: Wir sind uns einig.

240.000 Flüchtlinge aus der Türkei nach Deutschand fliegen

Der Hintergrund: Ein von Deutschen und Türken verhandeltes "Umsiedlungsprogramm"


soll am Donnerstag in Brüssel bei einem Treffen der sogenannten "Koalition der
Willigen" wenigstens in einer Vorstufe beschlossen werden. Die "Willigen"
treffen sich schon am Vormittag in der österreichischen Vertretung in Brüssel:
Dreizehn Länder hat Merkel zusammenbekommen, darunter auch die wichtigen Partner
Frankreich und Italien. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu reist
auch an.

Welchen Umfang das "Umsiedlungsprogramm" hat, steht noch nicht fest. In einem
Entwurf, aus dem die "Frankfurter Allgemeine" berichtete, ist davon die Rede,
650 Flüchtlinge pro Tag aus der Türkei nach Deutschland zu fliegen. Das wären
240.000 im Jahr. Aus damit befassten Stellen der Bundesregierung heißt es
jedoch, dies sei nicht der aktuelle Stand der Überlegung, vielmehr sei statt
fester Werte an ein "atmendes System" gedacht, also eines mit flexiblen Zahlen.
Die Türkei will nämlich, dass die EU sich auf eine Mindestzahl und darüber
hinaus auf einen festen Anteil verpflichtet. Kämen wegen des eskalierenden
Krieges mehr Syrer in die Türkei, würden auch mehr nach Europa weitergeleitet.

Deutschland hingegen möchte gern eine Art Strafmechanismus installieren. Steigt


die Zahl illegaler Grenzübertritte nach Europa über eine gewisse Marke, soll
automatisch die Zahl der legalen Flüchtlinge im Flugzeug sinken. Noch keine
Einigkeit herrscht über den Start des Gesamtpakts: Wie dicht muss die
europäische Außengrenze schon sein, bevor es losgehen kann? Wie willig Europas
"Willige" wirklich sind, wird sich zeigen. Am Samstag erst lehnte der
französische Premier Manuel Valls eine Kontingentlösung strikt ab.

Sozialleistungen für Flüchtlinge europaweit angleichen

Auf dem EU-Gipfel am Freitag soll immerhin die Verstärkung der EU-Außengrenzen
betont werden. Nach Informationen der "Welt am Sonntag" steht in dem vom
polnischen Ratspräsidenten Donald Tusk verfassten Entwurf der Abschlusserklärung
auch das Ziel, die Sozialleistungen für Flüchtlinge europaweit anzugleichen. Das
EU-Parlament in Straßburg will zudem bis zum Sommer die gesetzlichen Grundlagen
dafür schaffen, dass die griechische Grenze von der EU-Truppe Frontex
kontrolliert werden kann.

Reicht das? Davon sind in Europa immer weniger überzeugt. Deshalb treffen sich
nicht nur die "Willigen", sondern auch die "Unwilligen": Ungarn, Tschechien,
Polen und die Slowakei glauben nicht an den Merkel-Plan und wollen lieber selbst
die Balkonroute schließen, indem sie Mazedonien mit Polizisten aushelfen und
dann die Grenze zu Griechenland abgeriegelt werden kann. Ein entsprechender Zaun
wird schon gebaut.

Gefährlicher als die Osteuropäer, die sich um ihren "Gegen-Kaiser" Viktor Orbán
aus Ungarn scharen, sind für Merkel jedoch Überläufer aus den eigenen Reihen:
"Die Österreicher sind nur noch formal an unserer Seite", klagt ein deutsches
Regierungsmitglied. "Erst ist die ÖVP umgefallen und jetzt auch Faymann." Der
sozialdemokratische Alpenkanzler hat im vorigen September sowohl die Politik der
offenen Grenzen als auch die "Willkommenskultur" miterfunden. Aber nun will sein
Land in den nächsten Tagen ein Tageskontingent einführen. Das heißt, deutlich
weniger Asylsuchende werden ins Land gelassen.

Österreich schaut nicht mehr länger zu

Um einen Stau zu vermeiden, werden es die Westbalkanstaaten den Österreichern


gleichtun müssen. In der mazedonischen Hauptstadt sagte Österreichs
Außenminister Sebastian Kurz am Freitag, das Land müsse seine Grenze zu
Griechenland notfalls komplett für Flüchtlinge abriegeln: "Mazedonien muss
darauf vorbereitet sein, den Zustrom vollständig zu stoppen, weil es das erste
Land nach Griechenland ist." Dabei würde Wien auch helfen und Polizisten und
Soldaten entsenden.

Selbst in der eigenen Regierung glauben immer weniger an den Merkel-Plan. Die
Alternative - vorgelagerte scharfe Grenzkontrollen auf dem Balkan - findet immer
mehr Anhänger in allen drei Berliner Koalitionsfraktionen, vor allem aber im
Bundesinnenministerium. Wenn Deutschland schon nicht an seiner Grenze zu
Österreich eingreifen möchte, solle man zumindest in Mazedonien helfen, heißt es
dort.

Der Druck auf Griechenland müsse erhöht werden, damit Athen der Pflicht zur
Sicherung der EU-Außengrenze endlich nachkomme. Das Kanzleramt lehnt einen
solchen Schritt, der einer Grenzschließung innerhalb Europas gleichkommt, weiter
kategorisch ab. In der Euro-Krise wurde an Griechenland zu hohen Kosten
festgehalten - jetzt möchte man das Land nicht vorschnell fallen lassen.

Gemeinsam will die große Koalition immerhin daran arbeiten, die Anreize für
Flüchtlinge, nach Deutschland zu kommen, weiter abzubauen. Nach Informationen
der "Welt am Sonntag" wollen sich Vertreter von Union und SPD in dieser Woche
treffen, um das nächste Asylpaket zu schnüren. Weitgehend einig ist man sich
darüber, die Ansiedelung von Flüchtlingen besser zu steuern. Metropolen sollen
mit der Integration von Asylsuchenden nicht alleingelassen werden.
Deutschlandweit soll die Last besser verteilt werden, insbesondere auf ländliche
Räume.

Drohung mit Klage gegen Merkel

Denn während die Bundesregierung noch auf gesunkene Flüchtlingszahlen verweist,


bereiten sich die Länder schon auf deren Wiederanstieg vor. Im Frühjahr, wenn
die Ägäis sicherer und der Balkan wärmer ist, werden wieder mehr Menschen
kommen, glauben alle. Von 16 Bundesländern planen deshalb zehn ihre Plätze in
landeseigenen Erstaufnahmeunterkünften in den kommenden Monaten auszubauen.

Trotz Hoffnungsschimmer bleibt die Gesamtlage für Merkel also düster: Sie hat
ihr Konzept in Europa nicht durchsetzen können und steht auch in Deutschland
zunehmend allein. Die "Zwischenbilanz" ihrer Flüchtlingspolitik, die sie im
Januar für die Zeit nach dem EU-Gipfel angekündigt hatte, fiele mau aus. Doch
Merkel wird sie vielleicht gar nicht ziehen müssen. Das verdankt sie
ausgerechnet ihrem ärgsten Widersacher: CSU-Chef Horst Seehofer. Der bayerische
Ministerpräsident hat in den vergangenen Tagen eine spektakuläre Wende
vollzogen.

"Wir werden sehen, wie die internationalen Bemühungen ausgehen", hatte Seehofer
noch Anfang Februar in einem Fernsehinterview gedroht, "und wenn sie negativ
ausgehen, dann werden wir versuchen, unsere Position rechtlich beim
Bundesverfassungsgericht durchzusetzen." Auch einen Termin nannte Seehofer:
"Wenn, dann müssten wir bis Ende Februar die Klage einreichen." Davon gingen bis
zuletzt alle in in der Bundesregierung, aber auch in der bayerischen
Staatsregierung aus.

"Herrschaft des Unrechts"

Doch am Donnerstag entschied der Ministerpräsident sich urplötzlich um. Er fuhr


an diesem Tag weder in die Staatskanzlei, noch absolvierte er öffentliche
Termine, sondern blieb zu Hause - "in Klausur mit sich selbst" nennen sie so
etwas in München halb spöttisch, halb ängstlich. Denn selbst Vertraute staunten
am Freitagmittag über ihren Chef. Seehofer wolle doch erst nach den
Landtagswahlen am 13. März entscheiden, ob er klage, meldeten auf einmal die
Agenturen.

Damit bleibt Merkel nicht nur die heikle Zwischenbilanz in der kommenden Woche
erspart, sondern vielleicht sogar wegen Fristverzug die Klage. Den Brief der
bayerischen Landesregierung in dieser Sache hat sie seit 14 Tagen nicht
beantwortet.

Seehofers Kehrtwende blieb am Wochenende das große Rätsel in Berlin wie in


München. Tage zuvor hatte er doch mit einem Besuch bei Wladimir Putin die
Autorität Merkels angegriffen und in einem Interview die "Herrschaft des
Unrechts" in Deutschland beklagt. Das öffentliche Echo auf beide Aktionen war
freilich verheerend. Am Mittwoch telefonierten Merkel und Seehofer, auch die
"Herrschaft des Unrechts" kam dem Vernehmen nach zur Sprache. Danach überlegte
Seehofer neu.
Mitarbeit: Peter Issig,

Christoph Schiltz, Thorsten Jungholt

UPDATE: 15. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Donnerstag 18. Februar 2016 2:00 AM GMT+1

Markus Söder;
"Wir brauchen einen nationalen Abschiebeplan"

AUTOR: Thomas Vitzthum

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1265 Wörter

HIGHLIGHT: Bis Jahresende müssen 350.000 Abschiebungen erfolgen, sagt Bayerns


Finanzminister Söder. Er fordert eine konzertierte Bund-Länder-Aktion. Vor dem
Flüchtlingsgipfel warnt er vor Europas Scheitern.

Die Welt: Herr Söder, entscheidet sich beim EU-Gipfel die Zukunft der
Gemeinschaft?

Markus Söder: Der Gipfel ist eine ganz wichtige Weichenstellung. Wir hoffen,
dass die Kanzlerin Erfolg hat. Ein Mehr an Europa in der Flüchtlingsfrage wäre
sehr wünschenswert. Bislang hat Brüssel wenig geliefert. Europa ist näher am
Scheitern, als die meisten wahrhaben wollen.

Die Welt: Hat die "Festung Europa" einen zu schlechten Ruf?

Söder: Der Kontinent muss sicherer werden. Europa wird nur dann funktionieren,
wenn der Schutz der Außengrenzen dauerhaft gewährleistet wird. Europa ist nicht
nur ein Binnenmarkt, sondern auch eine Werte- und Schutzgemeinschaft. Viele
Bürger empfinden den Begriff "Festung Europa" nicht negativ.

Die Welt: Angela Merkel hat angekündigt, nach dem Gipfel eine "Zwischenbilanz"
ziehen zu wollen. Welche Maßstäbe müssen gelten?
Söder: Die Wahrheit liegt an der Grenze. Wir haben nach wie vor in Bayern jeden
Tag 2000 bis 3000 Flüchtlinge. Das sind seit Jahresbeginn bereits über 100.000
Menschen. Es wird zu einer europäischen Lösung erst dann kommen, wenn wir
nationale Maßnahmen ergreifen. Das würden unsere Partner in der EU als das
richtige Signal auffassen.

Die Welt: Was ist eine "spürbare Reduzierung"?

Söder: Die Bundesregierung rechnet dieses Jahr mit 500.000 Flüchtlingen. Worauf
sich dieser Optimismus gründet, ist mir schleierhaft. Dazu bräuchte es schon
bedeutende Entscheidungen in Brüssel, die dann auch umgesetzt werden. Das sehe
ich bisher nicht. Bayern hat eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen gefordert.
Das muss der Maßstab sein.

Die Welt: Immer mehr Staaten legen sich auf Obergrenzen fest. Brauchen wir eine
EU-Obergrenze?

Söder: Natürlich. Denn ohne eine wirksame EU-Obergrenze werden unsere Partner
nicht einmal bereit sein, über Flüchtlingskontingente zu reden. Niemand will
derzeit einen Blankoscheck unterschreiben.

Die Welt: Welche Zahl schwebt Ihnen vor?

Söder: Die Zahl der Flüchtlinge muss deutlich reduziert werden. Ganz Europa wird
sicher nicht so viele Menschen aufnehmen wollen wie Deutschland allein im
letzten Jahr.

Die Welt: Österreich und Tschechien haben sich mit der Slowakei, Ungarn und
Polen verständigt, Mazedonien beim Grenzschutz zu Griechenland zu helfen. Haben
Sie dafür Verständnis?

Söder: Diese Länder handeln nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie an eine
Sicherung der EU-Außengrenze durch Griechenland nicht mehr glauben. Sie wollen
die Zukunft Europas auch nicht allein der Türkei anvertrauen. Dafür habe ich
Verständnis. Belehrungen oder Druck gegenüber den Osteuropäern helfen nicht
weiter.

Die Welt: Und wie bringt man sie dann dazu?

Söder: Wir müssen ihre Bedenken ernst nehmen. Das bedeutet Sicherung der
Außengrenzen, Begrenzung der Zuwanderung und Ausweisung derer, die kein
Bleiberecht haben. Das Konzept Bayerns zur Lösung der Flüchtlingskrise ist in
der EU mehrheitsfähig.

Die Welt: Die Bundesregierung kritisiert die genannten Staaten für ihren
Alleingang. Empfinden Sie das als scheinheilig?

Söder: Die Politik in Warschau, Budapest, Prag und Bratislava muss einem nicht
in allen Einzelheiten gefallen, aber wir sollten respektieren, dass es sich um
demokratisch gewählte Regierungen handelt. Es gibt keine Staaten erster oder
zweiter Klasse in Europa. Alle sind gleichberechtigte Partner.

Mir leuchtet es auch wenig ein, warum man Polen und Ungarn wegen ihrer
Innenpolitik unter Druck setzt, aber gleichzeitig die Türkei einlädt, nach
Europa zu kommen. Da stimmen die Relationen nicht.

Die Welt: Bald könnten sich alle Flüchtlinge in Griechenland stauen. Wir
müssten Griechenland doch dann wieder helfen wie vor einem Jahr.
Söder: Es darf keinen Asylrabatt auf die Stabilitätsziele geben. Die Euro-Frage
darf nicht mit der Grenzsicherung in der Ägäis vermischt werden. Athen muss
seine Verpflichtungen in beiden Bereichen erfüllen. Sollte sich Griechenland
verweigern, wird man über Konsequenzen nachdenken müssen.

Die Welt: Eine dieser Konsequenzen könnte der Ausschluss aus dem Schengen-Raum
sein. Schafft das nicht noch mehr Probleme?

Söder: Das hat Griechenland selbst in der Hand. Es wurde schon vieles im
Verlauf des vergangenen Jahres als undenkbar und unmöglich apostrophiert und ist
heute Realität. Als ich als Erster Grenzkontrollen gefordert habe, war der
Aufschrei groß. Jetzt gibt es sie überall in Europa.

Die Welt: Wenn wir die Grenzen dichtmachen - gibt es eine Gruppe, die man noch
einlassen sollte? Syrer, Afghanen und Iraker?

Söder: Das Wichtigste ist die Wiederherstellung des europäischen und nationalen
Rechts. Dazu brauchen wir Kontrollen nicht nur an wenigen Grenzübergängen,
sondern an allen sowie an der grünen Grenze.

Zudem müssen wir Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen können, die schon aus
einem sicheren Drittstaat kommen. Eine Zurückweisung an der Grenze zu Österreich
löst keine humanitäre Katastrophe aus. Außerdem hat Wien bereits mit der
massiven Sicherung seiner eigenen Grenzen begonnen.

Die Welt: Aus der bayerischen Wirtschaft gibt es starke Bedenken, die Grenzen zu
schließen. Kann sich Bayern das leisten?

Söder: Die Maßnahmen sollen nicht für hundert Jahre gelten, sondern nur, bis die
Kontrolle der Außengrenzen wieder funktioniert. Sicherheit ist Basis für
ökonomische Stabilität.

Die Welt: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge will in diesem Jahr alle
Altfälle entscheiden. Es wird deshalb Zehntausende zusätzliche Abschiebungen
brauchen. Was muss sich an der Praxis ändern?

Söder: Wir brauchen einen nationalen Abschiebeplan - eine Vereinbarung zwischen


Bund und Ländern. Wenn wir die derzeitigen Anerkennungsquoten zur Grundlage
machen, müssten 350.000 Menschen abgeschoben werden. Das muss konsequent und
schnell geschehen.

Es darf keine unterschiedliche Abschiebepraxis in Deutschland geben. Das


Verfahren muss zwischen den Bundesländern harmonisiert werden. Es kann nicht
sein, dass Flüchtlinge vielleicht sogar bewusst in die Bundesländer reisen, in
denen das geringste Abschieberisiko besteht.

Die Welt: Aus Frankfurt wird von einem Marokkaner berichtet, der schon zehnmal
abgeschoben wurde und zehnmal wieder eingereist ist. Darüber hinaus straffällig
geworden ist. Die Behörden sagen, sie sind da machtlos.

Söder: Solche Fälle machen nicht nur die Bürger, sondern auch mich als
Politiker fassungslos. Wir brauchen einen Effizienz-TÜV, ob unsere
Instrumentarien in der Praxis wirken.

Die Welt: Die Koalition hat entschieden, Marokko, Algerien und Tunesien zu
sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Reicht das aus?

Söder: Diese Liste muss erweitert werden, wenn es geboten ist. Das ist eine der
effektivsten Maßnahmen überhaupt. Wir haben heute quasi keine Zuwanderung aus
den Balkanstaaten mehr. Das war vor einem Jahr noch komplett anders, als diese
Länder noch nicht sichere Drittstaaten waren.

Die Welt: Fällt Afghanistan darunter?

Söder: Es gibt laut Bundesinnenministerium in Afghanistan Regionen, die als


sicher gelten und in die eine Abschiebung möglich ist.

Die Welt: Ist das nicht zynisch? Die UN haben 2015 rund 11.000 zivile Opfer in
dem Land gezählt.

Söder: Ich kann mich nur auf die Expertise der Bundesregierung verlassen.

Die Welt: Die SPD sperrt sich mit Blick auf die Grünen, die nordafrikanischen
Staaten als sicher einzustufen. Sie fordert, Altfälle vor 2014 auszunehmen. Wäre
dies ein Kompromissvorschlag?

Söder: Keine falschen Kompromisse an dieser Stelle. Die SPD ist in einem
ständigen Verzögerungsmodus. Der Partei wäre zu wünschen, dass sie in der
Flüchtlingsfrage endlich zu einer klaren Haltung findet. Die SPD hat offenbar
Angst, Wähler an die Grünen abzugeben. Aber Verwässern und Verzögern löst kein
Problem. Es schafft nur neue.

UPDATE: 18. Februar 2016

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Freitag 19. Februar 2016 9:55 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Türkei und Griechenland ignorieren geltendes Recht

AUTOR: Marcel Leubecher und Andre Tauber, Berlin und Brüssel

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1200 Wörter

HIGHLIGHT: Seit 2002 müsste die Türkei Migranten aus Griechenland zurücknehmen.
Beide Staaten tragen dazu bei, das Abkommen unwirksam zu machen. Den Dimensionen
der Asylkrise wäre es ohnehin nicht gewachsen.
Die wichtigen Gespräche in Europa, das hat gute Tradition, sie werden im kleinen
Kreis geführt. In einem schmucklosen Sitzungssaal in der Ständigen Vertretung
der Republik Österreich in Brüssel wollten sich elf Staats- und Regierungschefs
der EU am Donnerstag mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu treffen,
um über einen Aktionsplan zu beraten, den die Europäische Union mit der Türkei
abgeschlossen hat. Das Ziel: die Begrenzung der Flüchtlingszahlen.

Die griechische Regierung ruft nun - trotz der Absage von Ministerpräsident
Davutoglu wegen der Terroranschläge von Ankara - zum Tempo bei den anstehenden
Arbeiten auf. "Wir müssen alle unsere Kraft darin investieren, die Türkei dazu
zu bringen, dass der Aktionsplan funktioniert", sagt Griechenlands
Europaminister Nikos Xydakis der "Welt". "Die Europäische Union hat bereits viel
Geld und noch mehr politisches Kapital investiert."

Für Athen wird es eng. Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs auf
diesem "Mini-Gipfel" Bilanz ziehen, ob der Flüchtlingsstrom gemeinsam mit der
Türkei reduziert werden konnte. Sollte das nicht gelingen, drohen einige
EU-Staaten die Grenzen in Europa zu schließen. Hinter Griechenland. Das Land
wäre damit vom Schengenraum faktisch abgetrennt.

Der Aktionsplan zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass die Regierung in
Ankara den Kampf gegen die Schlepperbanden verstärkt und die Menschen von der
Überfahrt nach Griechenland abhält. Gleichzeitig sollen sich die Türken
verpflichten, illegale Migranten, die keinen Anspruch auf Asyl haben,
zurückzunehmen. "Das würde das deutliche Signal aussenden: Riskiert nicht euer
Geld und euer Leben. Geht nicht diesen Weg", erklärt Europaminister Xydakis.

Bei der Umsetzung gebe es Fortschritte, wird in Brüssel stets betont. Die Türkei
hat den Kampf gegen Schlepperbanden verstärkt. Sie verlangt Visa von Syrern, die
aus Drittstaaten einreisen wollen. Sie stimmte auch einem Nato-Einsatz in der
Ägäis zu - und der Rücknahme der Bootsflüchtlinge, die von den Nato-Schiffen
künftig aufgefischt werden.

Nun wird verhandelt, inwiefern die Türkei bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen,
die es trotz allem nach Europa schafften. Zwar hatte sich das Land bereit
erklärt, das Rücknahmeabkommen mit der EU schon ab Juni - und damit früher als
geplant - vollständig umzusetzen. Doch der Vertrag hat Schlupflöcher, sagen die
Migrationsexperten der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Sie verweisen
darauf, dass es nur jene betrifft, die "direkt das Gebiet eines Mitgliedsstaats
betraten, nachdem sie aus der Türkei kamen", so steht es im Abkommen.

Das könnte zu Problemen führen, sollten über die Türkei eingereiste Migranten
aus anderen EU-Ländern aus Griechenland abgeschoben werden. Ankara könnte etwa
argumentieren, dass das letzte Land, durch das Flüchtlinge bei ihrer Ankunft
zogen, einer der Balkanstaaten war; diese gehören nicht dem Schengenraum an.
Falls eine solche Deutung die Rückübernahme blockieren sollte, gewänne das
Rücknahmeabkommen zwischen Griechenland und der Türkei besonders an Wert,
analysieren die ESI-Experten.

Dieses Abkommen zwischen beiden Ländern gibt es bereits seit dem Jahr 2002. Doch
Kritikern zufolge ist es allerdings zu schwerfällig, um wirklich wirksam zu
sein. Es sei auf wenige Hundert Menschen angelegt, heißt es in
EU-Diplomatenkreisen. Es müsse dringend erneuert und effizienter gemacht werden.

Tausende Rückführungen geplant - kaum welche durchgeführt


Tatsächlich hat der bilaterale Vertrag bislang wenig bewirkt. Zwar stellt Athen
jährlich Tausende Anträge auf Rückführungen - doch Ankara nimmt die meisten
Anträge nicht an. Und wenn, dann wird nur in Ausnahmefällen wirklich
abgeschoben.

Während Griechenland zwischen Januar und Oktober vergangenen Jahres 8727 Anträge
stellte und die Türkei 2395 annahm, wurden nur acht Personen tatsächlich
ausgewiesen. Die übrigen Migranten waren für die Behörden nicht mehr zu
erreichen und längst nach Norden weitergezogen. Im gesamten Jahr 2014 stellte
Athen laut einer ESI-Auswertung von Daten der griechischen Polizei, die der
"Welt" vorliegt, fast 10.000 Anträge auf Rücknahme; davon wurden allerdings nur
sechs umgesetzt.

Das wird auch in Athen beklagt. "Hinter jedem Abkommen muss der politische Wille
stehen, es auch umzusetzen", sagt Xydakis. Und eben an diesem Willen scheint es
aus seiner Sicht noch zu mangeln. Athen sieht vor allem die Türkei in der
Pflicht. Ein neues bilaterales Abkommen müsse dafür nicht geschlossen werden.

Unterstützung erhält Athen von der EU-Kommission, die bereits seit zwei Jahren
Druck unter Berufung auf das griechisch-türkische Rücknahmeabkommen auf Ankara
ausübt. Doch neben der türkischen Zurückhaltung ist auch ein Problem, dass
Griechenland - entgegen seiner Verpflichtung - nur wenige Migranten einem
Asylverfahren unterzieht und damit auch nur wenige abgelehnte Asylanträge
verzeichnet. Das Abkommen mit der Türkei bezieht sich nur auf abgelehnte
Asylbewerber.

Merkels "Koalition der Willigen" zerfällt jetzt schon

Vor zwei Wochen hat sich allerdings an diesem Punkt Entscheidendes getan:
Griechenland kündigte die Einstufung der Türkei als "sicheren Drittstaat" an.
Wenn dies wirksam wird, ist es den Griechen zumindest rechtlich möglich, die
Asylanträge von Flüchtlingen und anderen Migranten nach formaler Prüfung
umgehend als unbegründet abzulehnen. Athen könnte also die Antragsteller unter
Berufung auf das griechisch-türkische Rücknahmeabkommen direkt von den Inseln in
den "sicheren Drittstaat" Türkei zurückschicken.

Die leitende ESI-Analystin Alexandra Stiglmayer fordert: "Griechenland könnte


auf dieser Grundlage die Migrationsroute über den Balkan schließen, Athen könnte
sofort mit der Rückführung beginnen." Das seit 2013 geltende Asylverfahren in
der Türkei genüge immerhin weitgehend den Ansprüchen der Flüchtlingskonvention.
Im Gegenzug müssten die Europäer allerdings die Türkei bei der Umsetzung
rechtsstaatlicher Asylverfahren unterstützen und dem Staat großzügige
Flüchtlingskontingente abnehmen, sagt Stiglmayer der "Welt".

Doch der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) herbeigesehnte "Klub der
Willigen" - der mit der Türkei über eine permanente Aufnahme von
Flüchtlingskontingenten verhandeln soll, wenn sich nicht alle 28 EU-Staaten auf
eine gemeinsame Linie einigen können - scheint sich aufzulösen, bevor er Gestalt
angenommen hat: Nach Ansicht des österreichischen Vizekanzlers Reinhold
Mitterlehner (ÖVP) "kann jeder ableiten, dass die ,Koalition der Willigen' in
der Form offensichtlich nicht mehr besteht." Ausdruck dessen seien auch die von
seinem Land beschlossenen Tagesobergrenzen für Migranten, so der konservative
Politiker.

Wann sich in dieser zerfahrenen Situation die nächste Gelegenheit für einen
"Mini-Gipfel" bietet, ist offen. Und die Zeit ist knapp. Die Visegrad-Gruppe gab
der Türkei nur einen Monat Zeit, um die Flüchtlingszahlen wie vereinbart zu
reduzieren. "Wenn der Zustrom von 1500 bis 2000 Menschen am Tag bis Mitte März
andauert, wird klar sein, dass die Türkei ihre Versprechen nicht erfüllt hat und
wir andere Maßnahmen brauchen, um die europäische Grenze zu schützen", sagt der
tschechische Europastaatssekretär Tomas Prouza. Es ist ein klares Ultimatum.
Auch an Griechenland.

UPDATE: 19. Februar 2016

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Samstag 20. Februar 2016 11:37 AM GMT+1

Basketball;
Die unheimliche Siegesserie der Westfalen Mustangs

AUTOR: Adrian Rehling

RUBRIK: SPORT; Sport

LÄNGE: 742 Wörter

HIGHLIGHT: Die Westfalen Mustangs kennen das Gefühl der Niederlage nicht. Seit
Gründung hat das Basketballteam alle 99 Spiele gewonnen. Noch spannender als die
Siegesserie sind die Schicksale einiger Spieler.

Der 24. Dezember ist alljährlich der Tag der großen Bescherung. Heiligabend, das
Fest der Nächstenliebe. Das dachte sich wohl auch Florian Eichstädt, 32, am 24.
Dezember 2010, als er den Basketball-Verein Westfalen Mustangs gründete. "Es ist
wie ein eigenes Baby. Irgendwann hat es im Kopf Klick gemacht", sagt der heutige
Team-Manager des Oberligisten.

Aus dem kleinen Baby wurde sehr schnell eine große Nummer, nur sechs Monate
später hatte Eichstädt im Sommer 2011 mit der U12, U14, U16, U18, U20 und zwei
Herren-Mannschaften gleich sieben Teams zu betreuen. "Die Resonanz war und ist
überragend. Aber versuchen sie mal, von jetzt auf gleich für sieben Mannschaften
Trikotsätze zu besorgen", schmunzelt er.

Alles begann in der 2. Kreisklasse, der damals tiefsten Liga im Basketball. Und
schon bei der Gründung hatte Eichstädt nur eines im Sinn: In zehn Jahren -
sprich 2020 - solle der Verein ein Erstligist sein. Für das äußerst
ambitionierte Ziel müsste der Verein neun Aufstiege in neun Jahren schaffen.
Verrückt? Ja! Utopisch? Scheinbar nicht. Denn inzwischen sind die Westfalen
Mustangs bereits fünfmal Meister geworden - und vor allem seit 99
Meisterschaftsspielen ungeschlagen.Am Samstag soll der 100. Sieg in Serie
gefeiert werden.

Fünf Jahre ohne Niederlage, eine Wahnsinns-Bilanz, die auch Trainer Ilijas
Masnic (58) schwärmen lässt: "Viele der Erfolge sind vor meiner Amtszeit
eingefahren worden. Ein verdienter Respekt an die Mannschaft und den gesamten
Verein. Ich denke nicht, dass wir in dieser Saison noch verlieren können", zeigt
er sich selbstbewusst.

Masnic kennt den Profi-Basketball. Er spielte selbst für Bosnien-Herzegowina bei


der EM-Endrunde 1993 in Deutschland, hat mit seiner Mannschaft noch eine Menge
vor. Ob es sogar bis in die Bundesliga gehen kann? "Im Basketball ist alles
möglich. Ich bin nicht mehr so jung, aber Svetislav Pesic (Coach beim FC Bayern
Basketball, d. Red.) ist fast zehn Jahre älter als ich und trainiert eines der
besten Teams in Europa", sieht Masnic immer noch Luft nach oben.

Schalke-Boss Tönnies ist herzlich willkommen

Auch Team-Manager Eichstädt schielt schon auf die großen Drei des deutschen
Basketballs: Alba Berlin, Brose Baskets Bamberg und die Bayern. "Man mag sich
gar nicht ausmalen, wenn die mal hier in Rheda-Wiedenbrück auftauchen sollten.
Dann platzt das Dorf aus allen Nähten."

Einen anderen prominenten Gast würde Eichstädt besonders gerne in der Halle
begrüßen: "Vielleicht mag Herr Tönnies mal bei uns vorbeikommen. Mit Schalke hat
es noch nicht regelmäßig hingehauen, die Bayern zu ärgern. Vielleicht klappt es
ja im Basketball?" Clemens Tönnies ist Aufsichtsratsvorsitzender bei Schalke 04,
zudem Firmenchef von "Tönnies Lebensmittel" mit Sitz in Rheda-Wiedenbrück.

Ohnehin wollen die Westfalen Mustangs durch ungewöhnliche Maßnahmen auf sich
aufmerksam machen. Eichstädt nennt es "den Hollywood-Faktor" und erklärt: "Wir
gehen mit unseren Amis in die Schulen, wollen die Kids damit begeistern. Das
zieht." Auch der Rest des Kaders kann als verrückte Ansammlung bezeichnet
werden. Robert Huelsewede (25) spielte für die Paderborn Baskets bereits in der
Bundesliga, der Syrer Majid Alsharaby (19) kam als Flüchtling zum Verein und
überzeugte direkt.

Kameruns Kapitän spielt lieber in der Provinz

Auch die Geschichte um Syrille Makanda klingt nach einer Sportschnulze aus
Hollywood. Der Nationalmannschaftskapitän Kameruns hat auch die russische
Staatsbürgerschaft, bekam diese persönlich von Staatschef Putin unterzeichnet
und sollte für die russische Nationalmannschaft auflaufen. Auf Grund seiner
Hautfarbe kam es immer wieder zu Diffamierungen, sodass Makanda in die
westfälische Provinz wechselte, anstatt in Europa das große Geld zu verdienen.

Jetzt jagen Makanda, Masnic und Eichenstädt mit ihrem Team die magische
100er-Marke. Einem Sieg gegen Citybasket Recklinghausen 2 steht wohl nichts im
Wege, das Hinspiel gewannen die "Wildpferde" mit 107:66. Was auf die Spieler
beim 100. Triumph in Folge wartet? Der Team-Manager gibt sich ausnahmsweise
bescheiden: "Schampus? Ich trinke keinen Alkohol. Aber natürlich werden wir mit
unseren Fans ein wenig im Klubhaus feiern. Dann als Team pokern und eine
Familien-Pizza bestellen."

Um am Heiligabend 2020 vielleicht die ganz große Bescherung zu feiern: die


Bundesliga-Zugehörigkeit. "Natürlich wollen wir auch die nächsten zwei, drei
Jahre kein Spiel verlieren. Die 1. Liga bleibt das große Ziel", haut Eichstädt
dann doch noch einen raus.
UPDATE: 20. Februar 2016

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Dienstag 23. Februar 2016 3:38 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Diese 17 Staaten behindern Abschiebungen aus Deutschland

AUTOR: Manuel Bewarder, Karsten Kammholz und Marcel Leubecher

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 1855 Wörter

HIGHLIGHT: Die Bundesregierung hat "besonders problematischen Staaten"


Brandbriefe geschickt, weil die sich weigern, abgelehnte Asylbewerber
zurückzunehmen. Die Länder verfolgen oft wirtschaftliche Interessen.

Wer sich aus Deutschland abschieben lässt, ist schön blöd. So ähnlich lautete
vor einem Jahr das drastische Fazit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Rückführung"
(AG Rück). Diejenigen, "die nur hartnäckig genug ihre Identität verschleiern und
sich nur beharrlich genug ihrer Ausreiseverpflichtung widersetzen", seien "am
Ende gegenüber den anderen die Bessergestellten". Folge sei, dass der
"gesetzestreue Ausländer, der seiner Ausreiseverpflichtung ...nachkommt, der
,Dumme' ist."

Seit dem Expertenbericht im vergangenen Frühjahr ist viel passiert. Die


Flüchtlingszahl ist stark angestiegen - und gleichzeitig werden mehr abgelehnte
Asylbewerber aufgefordert, Deutschland verlassen. Die Politik hat bereits an
einigen Schrauben gedreht, um die Zahl der Abschiebungen und freiwilligen
Rückreisen zu erhöhen. Und dennoch wird die Gruppe der Ausreisepflichtigen immer
größer. 2015 wurden 20.914 Ausländer rückgeführt - bei rund 200.000
Ausreisepflichtigen.

Neben den vielen Gründen, die trotz Ausreisepflicht zu einer Duldung führen
können, besteht vor allem folgendes Problem: Viele Staaten wehren sich vehement
dagegen, ihre eigenen Bürger zurückzunehmen.

Die Bundesregierung hat deshalb vor Kurzem Brandbriefe an gleich 17 Staaten


verschickt. Das geht aus Unterlagen der Bundesregierung hervor, die der "Welt"
vorliegen. Demnach haben das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt
sogenannte Demarchen - also diplomatische Schreiben mit deutlicher Kritik - an
"besonders problematische Staaten" gerichtet, wie es dort heißt.

Diese "umfangreiche" Aktion richtete sich vor allem an Länder in Afrika


(Ägypten, Algerien, Marokko, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Ghana, Guinea,
Guinea-Bissau, Mali, Niger, Nigeria, Tunesien), aber auch an Staaten in Asien
(Bangladesch, Indien, Pakistan, Libanon).

Demnächst droht ein Stau beim BAMF

Es ist eine Liste, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Ein Sprecher
des Innenministeriums sagte auf einer Pressekonferenz zuletzt, man wolle kein
"naming and shaming" betreiben. Die Recherchen der "Welt" zeigen jedoch, dass
viele der Staaten in der Frage keine Unbekannten sind und seit Jahren Probleme
machen.

Vor allem die Blockadehaltung der nordafrikanischen Staaten stößt auf Unmut:
Ende der Woche wollen deshalb Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der
Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Saarlands Ressortchef Klaus Bouillon,
und Sachsens Innenminister Markus Ulbig (alle CDU) nach Nordafrika reisen.

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte, dass die Bundesregierung die


für die Durchsetzung der Ausreisepflicht zuständigen Bundesländer unterstütze.
Neben dem Schreiben von Demarchen umfassten die Bemühungen eine Zusammenarbeit
durch politische Dialoge auf allen politischen Ebenen. Ziel sei, die
Rückkehrquoten zu erhöhen und die irreguläre Migration einzudämmen.

Die Bundesregierung muss sich beeilen. Denn wenn das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) demnächst viel mehr Anträge bearbeitet, wird die Zahl der
abgelehnten Bewerber noch einmal deutlich ansteigen. Dann droht ein Stau von
vielen Hunderttausend Personen, die das Land eigentlich verlassen müssten.

Tunesier kamen lange Zeit alle nach Sachsen

In Sachsen gibt es vor allem mit den tunesischen Behörden Reibereien. Im


Freistaat leben überdurchschnittlich viele Personen aus dem nordafrikanischen
Staat. Das liegt daran, dass zwar Asylsuchende aus den zehn
Hauptherkunftsländern über das gesamte Bundesgebiet verteilt werden - das gilt
etwa für Syrer und Iraker. Die übrigen Migranten versucht man jedoch, in
bestimmten Ländern zu sammeln, und nur dort entsprechende Dolmetscher und
Antragsprüfer zu beschäftigen. So wurden Tunesier lange Zeit ausschließlich nach
Sachsen geschickt.

Nur rund 0,2 Prozent von ihnen erhalten allerdings einen Schutzstatus.
Eigentlich müssten fast alle zurückkehren. Aus Sicht von Innenminister Markus
Ulbig (CDU) drückt der Schuh an einer Stelle ganz besonders: Es geht um
Straftaten, die durch Ausländer verübt werden: Tunesier machen fast ein Viertel
aller ermittelten tatverdächtigen Zuwanderer aus. Dabei stellen Tunesier
insgesamt nur vier Prozent aller Migranten im Freistaat.

Spätestens seit den Silvester-Übergriffen in Köln und anderen Städten will die
Politik gegenüber kriminellen Ausländern etwas strenger sein. Wer straffällig
wird, muss schneller mit der Ausweisung in seine Heimat rechnen. Oder besser:
müsste.

Denn auch hier kommt die schlechte Kooperation der Heimatstaaten ins Spiel. Das
Dilemma lässt sich leicht in Zahlen zusammenfassen: Von den derzeit in Sachsen
lebenden 2000 Tunesiern gelten 678 als "vollziehbar ausreisepflichtig", bei
ihnen gibt es also keine Duldungsgründe mehr. Im vergangenen Jahr konnten aber
nur 66 abgeschoben werden.

In Sachsen hofft man zwar, dass diese Zahl bald ansteigt - zum Beispiel durch
die Benennung Tunesiens als sicherer Herkunftsstaat. Das größte Problem bei der
Abschiebung wäre damit aber noch nicht gelöst.

Ersatzpapiere werden einfach nicht ausgestellt

Wie die "Welt" aus Sicherheitskreisen erfuhr, geben nach wie vor rund 70 Prozent
der irregulär Eingereisten an, keine Identitätsdokumente zu besitzen. In der AG
Rück gilt dies als "zentrales Vollzugshindernis". Denn niemand kann abgeschoben
werden, solange seine Identität nicht geklärt ist.

Auch nach offiziellen Angaben des Bundesinnenministeriums ist die mangelnde


Kooperation der Auslandsvertretungen der Herkunftsländer ein Haupthindernis für
Rückführungen. Vor allem die Ausstellung eines Passes oder von Ersatzpapieren
sei problematisch.

Trotz völkerrechtlicher Verpflichtungen kommt eine Reihe von Staaten dieser


Pflicht nicht nach. Die Zusammenarbeit mit deutschen Behörden würde oft
verweigert. Und selbst wenn die entsprechende Staatsangehörigkeit festgestellt
wurde, wird laut Innenministerium die Ausstellung von Ersatzpapieren behindert
und verzögert. Selbst wenn am Ende eigentlich alles klar ist, will so mancher
Staat schließlich nur jene zurücknehmen, die Deutschland auch freiwillig
verlassen wollen.

Auch Pakistan weigert sich besonders vehement gegen die Rücknahme eigener
Bürger. Obwohl nur etwa jeder zehnte Asylantragsteller aus dem Land einen
Schutzstatus bekommt, bleiben auch die übrigen meist in der Bundesrepublik.
Deutlich wird das am Land Hessen, wo fast jeder Dritte der 50.000 zugewanderten
Pakistaner lebt. Während zum Jahreswechsel 615 Pakistaner vollziehbar
ausreisepflichtig waren, wurden 2015 nur fünf Personen in ihre Heimat
abgeschoben, wie das hessische Innenministerium der "Welt" mitteilte.

Zusätzlich wurden 24 Pakistaner gemäß den Dublin-Regeln in ein anderes


europäisches Land zurückgeführt, weil sie dort zu einem früheren Zeitpunkt
bereits einen Asylantrag gestellt hatten, 36 reisten freiwillig aus.

In NRW machen Nordafrikaner die meisten Probleme

In den Jahren zuvor bot sich ein ähnliches Bild: 2014 gab es sogar nur zwei,
2013 nur drei Abschiebungen - obwohl jeweils zum Jahresende 580 beziehungsweise
533 Personen vollziehbar ausreisepflichtig waren. Häufig scheitern die
Abschiebungen am mangelnden Willen der pakistanischen Behörden, wie Asylanwälte
berichten. So gingen etwa lokale Angestellte der deutschen Botschaft in Pakistan
oft nicht ernsthaft der Identitätsüberprüfung nach, die manchmal auch Reisen in
weit entfernte Ortschaften erfordert.

Doch auch das Interesse der höchsten Ebene an der Rücknahme darf angezweifelt
werden. EU-Diplomaten sagen, der 180-Millionen-Staat Pakistan fördere
systematisch die Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen. Laut Weltbank
überwiesen pakistanische Auswanderer im vergangenen Jahr mehr als 20 Milliarden
Dollar zurück in die Heimat, die Zahlungen machten rund sieben Prozent des
Bruttoinlandsprodukts aus. Im vergangenen November verkündete Pakistans
Innenminister sogar, sein Land habe das seit 2010 bestehende Rücknahmeabkommen
mit der EU ausgesetzt, weil die Europäer angeblich "offenkundigen Missbrauch"
damit betrieben hätten.
In Nordrhein-Westfalen bereiten besonders Nordafrikaner große Probleme. Ins
größte Bundesland werden viele Marokkaner und Algerier geschickt. Oder besser,
sie wurden. Denn auf Drängen des Landes hat sich der Bund vor einer Woche dazu
entschlossen, zunächst keine weiteren Asylbewerber aus Marokko nach NRW zu
schicken.

Die Zahl war zuletzt rapide angestiegen. Im Dezember und Januar wurden rund 85
Prozent aller Asylsuchenden aus dem Staat in Nordafrika nach Nordrhein-Westfalen
geschickt. Hinzu kam, dass die Behörden mit dieser Gruppe ähnliche Erfahrungen
wie die Sachsen mit Tunesiern machen. Probleme gebe es nun einmal besonders
häufig mit allein reisenden jungen Männern aus Nordafrika, erklärte ein Sprecher
des Innenministeriums.

Und auch für diese Gruppe ist die Chance auf einen erfolgreichen Asylantrag sehr
gering. Doch am Ende scheitert eine Rückführung auch hier oftmals an der
schlechten Kooperation der Heimatstaaten - wo man schlichtweg auch kein großes
Interesse daran hat, die problematische Klientel zurückzunehmen, wie es in
Sicherheitskreisen heißt.

Streichung von Hilfen ist nicht Regierungslinie

NRW-Innenminister Ralf Jäger hat auf die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von
Passersatzdokumenten gerade erst in einem Schreiben an Bundesinnenminister
Thomas de Maizière (CDU) hingewiesen. Der SPD-Politiker erklärt darin: "Die
Länder haben ein hohes Interesse daran, dass der Bund durch sein Engagement die
zügige Durchführung von Rückführungen verbessert und seine diesbezüglichen
Bemühungen im Hinblick auf die Zielstaaten weiter intensiviert."

Beim Bund treffen die Länder auf offene Ohren. "Das Bundesministerium des Innern
und das Auswärtige Amt arbeiten intensiv daran, in und mit den Herkunftsstaaten
Verfahren zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber zu vereinfachen und zu
beschleunigen", erklärte ein Sprecher des Außenministeriums. In einem Brief von
de Maizière und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) an dessen
algerischen Amtskollegen schreiben sie, wie die Bundesregierung mit
Herkunftsstaaten illegaler Migranten umgehen will: Berlin droht und lockt
zugleich.

Zum einen verkünden die Minister das Ziel, "gegenüber allen Herkunftsstaaten von
irregulär eingereisten Menschen, die in Deutschland keine Bleibeperspektive
haben, EU-Laissez-Passer-Dokumente für die Rückkehr zu verwenden". Solche
Papiere kann die EU für Ausländer ohne Reisedokumente ausstellen. Dieser
Passersatz ermöglicht die freiwillige Ausreise in Länder, die diese Dokumente
anerkennen. Um solche Zustimmungen ringen die Minister derzeit.

Die algerische Regierung wird mit der Aussicht umworben, dass die Kooperation in
eine "neue Phase" eintreten könnte, die sich später "auch auf andere Bereiche
unserer Zusammenarbeit positiv auswirken wird". Einen solchen Brief erhielten
auch die Außenminister von Benin, Senegal, Guinea-Bissau, Niger, Nigeria,
Marokko und des Sudan.

Auf eine Eskalation hat Deutschland bislang verzichtet. Die Drohung,


unkooperativen Staaten zum Beispiel die Entwicklungshilfe zu kürzen, ist keine
offizielle Regierungslinie. Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte
zuletzt aber sehr deutlich gemacht, dass man nichts davon halte, wenn man
Entwicklungshilfe nehme - die eigenen Bürger aber nicht.

UPDATE: 23. Februar 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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Mittwoch 24. Februar 2016 9:27 AM GMT+1

Besorgte Ostbürger;
Als man in Sachsen noch braune Wutbriefe schrieb

AUTOR: Michael Pilz

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1571 Wörter

HIGHLIGHT: Der Politologe Siegfried Suckut hat Wutbriefe aus der DDR an höchste
Stellen untersucht. Das Volk wandte sich an Regierungen und Medien in Ost und
West. Der Ton hat sich gehalten. Völkisch rau.

Im Frühjahr 1980 schreibt ein anonymer Dresdner der "Sächsischen Zeitung": "Der
heutige Staat, als einzelnes Individuum betrachtet, gehört ins Zuchthaus und
zwar lebenslänglich. Alle Kommunisten gehören aufs Schafott oder an den Galgen,
mit dem Kopf nach unten und darunter schwelendes Feuer. Wir brauchen einen
starken Mann, Bismarck müsste nochmal da sein, der würde das ganze
kommunistische Gesindel zum Teufel jagen." Alles Schwerverbrecher, Lumpen,
Schweine. Heute käme solche Leserpost bei ihren Adressaten an. Um 1980 in der
DDR landeten Wutbriefe wie dieser bei der Hauptabteilung XX des Ministeriums für
Staatssicherheit, sie wurden untersucht und abgeheftet und sind nun, nach 36
Jahren, pünktlich wieder da als Zeugnisse einer erregten Volksseele, die sich
noch immer nicht beruhigt hat. In Heidenau und Freital, Clausnitz oder Bautzen.

Siegfried Suckut hat die alten Briefe durchgesehen und ausgewertet, 45.000
Seiten in 200 Akten, bei seiner Behörde, dem Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. "Auffällig ist die
Fortexistenz von aus obrigkeitsstaatlicher Vergangenheit tradierten Mentalitäten
und Einstellungen", resümiert der 70-jährige Politologe in seinem Buch "Volkes
Stimmen". Er stellt es dem Leser frei, seinen Befund auch für die Zeit nach 1990
für sich fortzudenken.

Seither herrscht ja auch kein Mangel an Erklärungen, warum man sich im deutschen
Osten schwerer tut mit allem Fremden und in Wort und Tat gegen die Fremden umso
leichter: Es gebe zu wenig Fremde dort. Der kulturelle Gleichheitswahn sei eine
Folge des sozialen. Der antifaschistische Staat habe alles Faschistische
verdrängt. Die DDR-Forschung, schreibt Suckut, werde überwiegend als Astrologie
betrieben. Als Geschichtsschreibung von oben, von Historikern, die jede strenge
Quellenkritik fahren lassen.

"Deutschland ist in höchster Gefahr!"

Jetzt sind also reichlich Quellen da zum Leben und zur Stimmung in der DDR. Hier
schreibt das Volk an die Regierungen und Medien in Ost und West. Die Postkarten
und Briefe wurden zwar nie zugestellt, dafür erzählen und verraten sie uns heute
umso mehr. Im Frühjahr 1984 gratuliert ein Dresdner anonym Richard von
Weizsäcker zur Bundespräsidentenwahl: "Bislang war unsere Hoffnung immer Ihre
Tätigkeit für uns in Sklaverei lebende Bürger in der Zone, dieses von russischen
Bajonetten gebildete Gebiet. Die Russen sollen ruhig weiter bei uns ihre
Atombomben aufstellen; es wird Wege geben, diese im gegebenen Moment in die
richtige Richtung zu drehen. Millionen, die den Glauben an Deutschland nicht
verlieren."

Viele schreiben an den deutschen Westen, ihre geistige Heimat. An "Bundeskanzler


Willy Brandt, Bonn a. Rhein". An alle freien Wähler, ihre Stimmen nicht den
Linken und das ganze Land nicht der Sowjetunion zu überlassen. An den Sender
Rias 1968 mit der Forderung, gegen die protestierenden Nestbeschmutzer drüben
härter durchzugreifen. Es hagelt Beschwerden, nicht das "Tor des Monats"
pünktlich auf dem Postweg mitwählen zu können, über Hottentottenmusik und über
die unmännlichen Reden Willy Brandts.

Der deutsche Osten fühlt sich in seinen Erwartungen ständig enttäuscht vom
deutschen Westen. 1979 wendet sich ein "Deutscher Patriotischer Bund" an Gerhard
Löwenthal vom ZDF mit der Bitte, die Europawahl zu boykottieren: "Deutschland
ist in höchster Gefahr!" 1972 wird ein anonymer Brief nach Köln zum
Deutschlandfunk verschickt: "Leider haben wir so gut wie gar nicht hier in
Ostsachsen Westempfang. In diesem Zusammenhang wäre es angebracht, dass das
westdeutsche Fernsehen seine Ausstrahlungen verstärkt."

"Hinter diesem Brief stehen Hunderttausende"

Womöglich ist die Tal-der-Ahnungslosen-These, die besagt, Pegida wäre auch die
Folge des bis 1990 abwesenden Westfernsehens im Großraum Dresden, doch nicht
ganz so abwegig und albern. Vielleicht hat es in der DDR dann doch die
Medienkompetenz und Meinungstoleranz in Gegenden geschult, wo Menschen
regelmäßig mit Konflikten konfrontiert wurden, wie Strauß und Wehner sie im
Bundestag austrugen oder Ernie und Bert in der Sesamstraße.

Nicht dass keine "Hetzschriften", wie sie die Stasi nannte, auch aus Ost-Berlin
und Rostock bei ihr eingetroffen wären. Die Sachsens aber waren damals schon
empirisch die bei Weitem Eifrigeren und Empörteren. Aus ihren alten Briefen
spricht bereits der Hang zum Landsmannschaftlichen und der unerschütterliche
Glaube, nicht nur für sich selbst zu sprechen, sondern für die schweigende
Mehrheit: "Seien Sie versichert, dass hinter diesem Brief hunderttausende
Menschen aus Dresden und Umgebung stehen", schreibt ein anonymer Dresdner 1989
an den Botschafter der UdSSR, der plötzlich kein Kolonialist mehr ist, sondern
bereits ein Hoffnungsträger aus dem Osten.

Siegfried Suckut, der Herausgeber der Briefe, nennt die vorgebrachten Ansichten
seiner Autoren, die durchaus nicht alle anonym sind, "teilrepräsentativ". Sie
sind die Stimmen einer Stimmungslage. So wie in der DDR nicht jeder, der die DDR
nicht mochte, einen braunen Brandbrief an die SED in Ost-Berlin oder die CDU in
Bonn aufsetzte, läuft heute nicht jeder, dem die Zeiten nicht behagen, bei den
Montagsdemos der Pegida mit, dem Dresdner Hochamt der deutschen Hysteriker.

"Volksverräter, Schmierfinken und Ungeziefer"


Im Sächsischen wirkten die Bürger immer schon betroffener als jenseits ihrer
heute blühenden Landschaften. Dort ist der Ruf "Wir sind das Volk" entstanden,
1989 vor der Leipziger Nikolaikirche, daraus wurde "Wir sind ein Volk" in
Leipzig auf den Straßen und in Dresden beim Besuch vom Helmut Kohl. In Dresden
wurde daraus 25 Jahren später wiederum "Wir sind das Volk", wobei sich die
Betonung auf das Wir verschoben hat, das Wir der letzten wahren Deutschen tief
im deutschen Osten. Ein so lautes Wir, dass man ein ganzes Bundesland als
zwangskollektiviert wahrnimmt - was jedem unrecht tut, der dieses Wir aus
menschlichen, moralischen, ästhetischen Erwägungen, die eine längere Tradition
in Sachsen haben als der Hass auf Fremde, meidet.

Es ist der Ton, der einem aus der Post gegen das Dasein in der DDR
entgegenschlägt, es sind die gleichen Worte, die einen heute bei Facebook und
aus Mails anbellen, sobald man sich öffentlich zu den Geschehnissen ist
Clausnitz oder Bautzen äußert und dem Bürgersinn dort keinen Beifall spendet. In
der DDR und BRD waren schon alle Volksverräter, Schmierfinken und Ungeziefer,
außer allen, die als stolzer oder echter Deutscher unterzeichnen durften. Die
Geschichte des verschwundenen deutschen Nachkriegsstaates ist eine Geschichte
der Versorgungskrisen, vor allem im vorher wohlhabenden Sachsen.

Hier herrscht auch ein rauer Sound wie nirgends sonst: Die Parasiten in Berlin
sind schuld oder der arbeitsscheue Untermensch in Russland. Weil der Pole alles
aufkauft in den Warenhäusern, während er die deutschen Ländereien bei sich
verkommen lässt, gibt es im deutschen Osten keine Bettwäsche. Das Geld fließt
über Solidaritätskonten nach Afrika, wo die Maschinen aus der DDR im Busch
verrosten.

"Grüße von der Hitlerjugend Altenburg"

Arbeiter beklagen sich über das Aussterben des Arbeiters durch eine allgemeine
Intellektualisierung; Intellektuelle formulieren ihren Führungsanspruch aufgrund
ihrer besseren Gene. "Der Sozialismus ist für uns Deutsche menschenfeindlich,
was schon mit der Schwangerenunterbrechung beurkundet ist. Also soll Deutschland
personenmäßig geschwächt werden, damit die Polen und Russen noch mehr Land von
uns verlangen können", schreibt ein Absender aus Leipzig 1971.

Es gibt eindeutige Formulierungen wie Hitlergrüße und Bekenntnisse wie


Hakenkreuze. Radiohörer wünschen sich statt Negermusik deutsche Volkslieder und
Märsche, Fernsehzuschauern gefallen keine ausländischen Filme. Post schickt auch
die "Hitlerjugend Altenburg". Als aufmerksamer Quellenkritiker weist der
Herausgeber der Briefe aber vollkommen zu Recht auf das provokative Potenzial in
einem Staat hin, dessen Propaganda auf einem Antifaschismus balanciert, den
niemand straflos hinterfragt. Auch der wutbürgerliche Überschwang reicht weit
zurück. Abzüglich dessen herrscht ein überwiegend nationalkonservativer Sound,
dramatisch und apokalyptisch, selbstgerecht und selbstmitleidig.

"Greift bitte mehr durch!"

Als habe es keinen kulturellen Bruch gegeben nach dem Krieg im neuen Land, wo
die Protestbewegungen das Volk erst dann ergriffen, als das Land bereits
verschwand. Der kleine Mann fühlt sich zu kurz gekommen und schreibt groß und
lang dagegen an. Entweder kleinlaut wie ein Leipziger Betriebskollektiv: "Wir
als DDR sind nur der Hinterhof der BRD." Oder großspurig wie der Verfasser eines
Leserbriefs ans "Neue Deutschland": "Die Deutschen waren von jeher in ihrer
Entwicklung weiter als der Russe!!!"

Immer "Ehrlich, aber deutlich", wie das Buch im Untertitel aus der Post zitiert.
Die Lügenpresse gab es auch schon. Es gab sie tatsächlich, aber dass einem, der
etwas anderes sagt und schreibt, als es ein Hörer hören oder Leser lesen will,
die Zunge verdorren und die Finger abfaulen mögen, wird noch heute gern
gewünscht. Der Tscheche, der einem den letzten Farbfernseher vor der Nase
wegkauft, ist heute der Syrer mit dem Smartphone. Deutscher Wohlstand in einer
geschlossenen Gesellschaft.

1970 schreibt eine Dresdnerin: "Wir wollen ein deutsches Vaterland, wo Ruhe,
Ordnung und Sauberkeit herrschen." "Greift bitte mehr durch! Wir lieben unsere
Heimat und wollen hier leben", schreibt ein Kollektiv aus Sachsen 1985 an den
Ministerpräsidenten der DDR.

UPDATE: 24. Februar 2016

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Mittwoch 24. Februar 2016 10:40 AM GMT+1

Flensburg;
Anschlag auf Flüchtlinge mit ätzender Flüssigkeit

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 142 Wörter

HIGHLIGHT: In einem Asylbewerberheim in Flensburg sind zwei Menschen verletzt


worden. Ein Unbekannter soll eine ätzende Flüssigkeit durch ein offenes Fenster
geschüttet haben. Die Hintergründe sind noch unklar.

Zwei Flüchtlinge sind bei einem Anschlag mit ätzender Flüssigkeit in einem
Asylbewerberheim in Flensburg verletzt worden. Wie die Polizei jetzt mitteilte,
schüttete ein unbekannter Täter bereits vergangenen Freitag die Flüssigkeit
durch ein gekipptes Fenster in den Duschraum der Unterkunft. Die 21 und 28 Jahre
alten Syrer klagten daraufhin kurzfristig über brennende Augen und Hustenreiz.

Die Hintergründe der Tat waren zunächst unklar. Die Polizei konnte bislang keine
Konflikte unter den Flüchtlingen ermitteln, wie eine Polizeisprecherin am
Mittwoch sagte.

"Die Anzeige ist erst spät bei uns eingegangen", sagte sie. Wann genau konnte
sie zunächst nicht sagen, seit Montag ermittle jedoch bereits die
Kriminalpolizei. Auch um was für eine Flüssigkeit es sich handle, werde von der
Spurensicherung noch untersucht. Die Polizei bittet um Zeugenhinweise.

UPDATE: 24. Februar 2016

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Donnerstag 25. Februar 2016 10:54 AM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Tsipras droht mit Blockade der EU-Politik

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 675 Wörter

HIGHLIGHT: Alexis Tsipras hat die EU gedrängt, die Maßnahmen zur Eindämmung des
Flüchtlingsstroms umzusetzen. Er werde nicht akzeptieren, dass Griechenland sich
"in ein Lager für menschliche Wesen verwandelt".

Griechenland hat im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik am Mittwoch mit


einer Blockade aller EU-Entscheidungen gedroht. Seine Regierung werde "keinem
Abkommen mehr zustimmen, wenn die Last und die Verantwortung nicht im richtigen
Verhältnis geteilt" würden, sagte Ministerpräsident Alexis Tsipras am Abend im
Parlament. Ungarns rechtsnationaler Regierungschef Viktor Orbán kündigte
unterdessen einen Volksentscheid über verbindliche Flüchtlingskontingente an.

Tsipras wird nach eigenen Angaben vor dem EU-Türkei-Gipfel am 7. März die
Vorsitzenden aller griechischen Parteien einberufen, um ein gemeinsames Vorgehen
zu vereinbaren. "Wir werden nicht akzeptieren, dass sich unser Land in ein Lager
für menschliche Wesen verwandelt", sagte Tsipras vor den Abgeordneten. Zuvor
hatte er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) telefoniert. Dabei hatte er
laut einer Erklärung seines Büros seine "tiefe Unzufriedenheit" darüber zum
Ausdruck gebracht, dass die erst am vergangenen Donnerstag auf dem EU-Gipfel
getroffene Vereinbarung zur Flüchtlingskrise nicht eingehalten worden sei.

"Er habe verlangt - und darüber habe es Einigkeit gegeben - dass die Anstrengung
zur Umsetzung der Vereinbarung verstärkt wird und dass die Nato-Mission zum
Kampf gegen die Schlepper und zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms sofort
beginnt."

"Einseitige und keineswegs freundschaftliche Aktion"


Tsipras ist vor allem über Österreich erbost. Wien hatte am Mittwoch auf einer
Westbalkankonferenz gemeinsam mit neun weiteren Ländern vereinbart, weniger
Flüchtlinge passieren zu lassen. Weder Griechenland noch die EU oder Deutschland
waren eingeladen. Es könne "nicht sein, dass ein Staat ausgeschlossen wird bei
Dingen, die ihn auch betreffen", kritisierte eine Sprecherin von
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die griechische Regierung
sprach von einer "einseitigen und keineswegs freundschaftlichen Aktion".

Österreichs konservative Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sagte nach der von


ihr einberufenen Balkankonferenz, die zehn Länder hätten sich auf das Ziel
geeinigt, "die Migrationsströme zu stoppen". Griechenland sieht dadurch seine
Befürchtung bestätigt, mit den Flüchtlingen, die nach wie vor täglich zu
Hunderten aus der Türkei durch die Ägäis kommen, allein zu bleiben. Es sei eine
"Schande", dass einige Länder die Entscheidung des Gipfels zu einem
"gemeinsamen" Vorgehen nicht respektierten, sagte Tsipras im Parlament.

Athen vermutet, dass die sogenannte Balkanroute dichtgemacht und Griechenland


mit dem entstehenden Rückstau an Flüchtlingen unter Druck gesetzt werden soll.
Mazedonien hat seine Grenze zu Griechenland bereits für afghanische Flüchtlinge
geschlossen und lässt nur noch Syrer und Iraker passieren. Die ehemalige
jugoslawische Teilrepublik die weder EU- noch Schengenmitglied ist, war eines
der Gastländer vom Balkan in Wien. Dort wurde auch beschlossen, die Hürden für
Flüchtlinge weiter zu erhöhen. So sollen etwa Menschen mit gefälschten Pässen
umgehend zurückgeschickt werden.

Ungarn hat bislang noch keinen Flüchtling akzeptiert

Orbán sagte, in dem Referendum sollten seine Landsleute entscheiden, ob sie


"wollen, dass die EU ohne Zustimmung des ungarischen Parlaments die
verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Bürgern in Ungarn anordnet". Er
fügte hinzu, "gegen den Willen der Völker" dürften "keine Entscheidungen
getroffen werden, die ihr Leben und das künftiger Generationen verändert".

Budapest reichte im vergangenen Dezember beim Europäischen Gerichtshof (EuGH)


Klage gegen die von der EU beschlossene und von Merkel erhoffte Verteilung von
160.000 Flüchtlingen aus den Hauptankunftsländern Italien und Griechenland auf
alle anderen Mitgliedstaaten ein.

Ungarn soll gut 2300 Flüchtlinge aufnehmen. Bisher hat das Land noch keinen
Flüchtling akzeptiert und einen Zaun an seiner Südgrenze gebaut.

Am Donnerstag beraten die EU-Innen- und Justizminister in Brüssel über die


Flüchtlingskrise, dabei will Wien den Druck zu restriktiveren Maßnahmen erhöhen.
Die Türkei schickt ihren Vizeinnenminister zu dem Ministerrat.

UPDATE: 25. Februar 2016

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Dienstag 1. März 2016 1:18 PM GMT+1

Eine Woche Tagebuch;


"Das Warten, das Bangen, die Müdigkeit, viel Gerauche"

AUTOR: Ronja von Rönne

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 2184 Wörter

HIGHLIGHT: Das Tagebuch ist eine Anhäufung von Banalitäten und eine der ältesten
Gattungen der Literatur. Funktioniert das heute noch? Unsere Autorin hat eine
Woche Protokoll über sich und die Welt geführt.

Eigentlich steht in unseren Tagebüchern, so wir denn überhaupt noch welche


schreiben, nur Alltägliches. Und trotzdem überdauern sie in der Literatur die
Zeit. Beim aktuellen Schreiben kann man nie wissen, in welche Kategorie das
eigene Tagebuch fallen wird. Aber funktioniert das Mitschreiben einer
subjektiven Gegenwart auch heute noch? Wir haben Ronja von Rönne gebeten, eine
Arbeitswoche lang Protokoll über sich und ihre Welt zu führen.

MONTAG

Tagebuch also. Wie bei jedem, der sich zu Recht Mensch nennen möchte, ist dies
mein x-ter Versuch, Tagebuch zu führen. Neben mir stapeln sich über zehn
Notizbücher, alte Anläufe, die ersten Seiten feierlich datiert, dann leer.

An guten Tagen schreibe ich nicht, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin,
skeptisch zu sein. Im Gegensatz zum Glück ist die Traurigkeit verlässlich und
tritt brav ein, wenn man sich lang genug darauf konzentriert. Auch die
unglücklichen Tage notiere ich üblicherweise nicht, denn an unglücklichen Tagen
liege ich lieber im Bett und überprüfe, ob ich gerade einen Tinnitus habe. Wenn
ich keinen habe, bilde ich mir das nervtötende Piepen einfach ein.

Heute ist Montag, das war letzte Woche auch schon so, und in meinen Kopf klang
dieser Satz deutlich poetischer als er sich liest.

In knapp zwei Wochen erscheint mein Buch. Ich habe sehr große Angst davor und
fühle mich furchtbar. Dann lese ich wieder einen Artikel über die
Flüchtlingswelle und fühle mich furchtbar, weil ich mich furchtbar fühle, obwohl
keine durchgeknallten Bürger mein Haus anzünden. Meine Uroma hat immer gesagt
"Denk an die Negerlein", aber das sagt sie jetzt nicht mehr, denn es ist grob
rassistisch. Außerdem ist sie tot, und Tote geben keine passiv-aggressiven
Ratschläge, zumindest das nicht.

Die Geflüchteten tun mir leid. Deutschland ist irritierend. Kaum kommen sie hier
an, heißt es: Entweder du kochst in einer ARD-Alpha-Show ein traditionelles
Gericht aus deiner Heimat, oder wir fackeln deine Bleibe ab. Flüchtlinge werden
entweder auf Refugee-Welcome-Partys in gammeligen Berliner Clubs geschleppt oder
allesamt als Frauenhasser beschimpft. Für Syrer muss Deutschland eine einzige
Freakshow sein.

Die letzte Woche war schön, denn Freunde haben mich besucht. Freunde, das sind
die, die Fotos von einem auf dem Handy haben, für die man schnell seinen Job
verlieren würde. Freunde haben zottelige Haare, bleiben viel länger als
angekündigt, fressen einem den Kühlschrank leer, und wenn sie wieder weg sind,
ist man traurig. Ich habe nur drei davon, viel mehr kann ich mir nicht leisten,
denn Freunde nehmen Zeit in Anspruch, und Zeit ist Geld, und von Geld kann man
sich im Gegensatz zu Freunden herrliche Dinge kaufen.

Ansonsten guter Dinge, gearbeitet, geschlafen, abends gelesen ("Altes Land").


Morgens und abends immer starke Hals- und Ohrenschmerzen, immer linksseitig, das
war als Kind schon so. Meine Mutter würde mich zum Homöopathen schicken.
Homöopathie wirkt bei mir wahrscheinlich nur aus reiner Nostalgie. Stattdessen
Ibuprofen.

DIENSTAG

Heute habe ich meinen Hautarzt nicht angerufen. Damit vertreibe ich hässliche
Gedanken. Jedes Mal, wenn die Welt ihr Quäntchen Orientierungslosigkeit
einfordert, denke ich daran, dass ich immer noch nicht meinen Hautarzt angerufen
habe, ein beruhigender Gedanke, ein Mantra, ein Summen hinten in der
Schädeldecke.

Einmal schlug man mir vor, doch tatsächlich mal anzurufen, ein Muttermal am
Rücken sähe wirklich bedenklich aus, aber dann würde mir bei nächster
Gelegenheit nur etwas anderes einfallen, das ich noch nicht erledigt habe. An
das Hautarzt-Gewissen habe ich mich gewöhnt.

Ansonsten begann der Tag mit Ohrenschmerzen und dem Gefühl, dass man für
Tagebücher Max Frisch oder Franz Kafka heißen sollte, irgendein Name mit "F"
also, der sich hübsch auf einem Suhrkamp-Bändchen macht. Das Niederschreiben der
Normalität ist im besten Falle ermüdend, im schlimmsten Falle eine
Unverschämtheit an alle Leser dieser Zeitung.

Allerdings schreiben wir das Jahr 2016, und Beleidigungen hört man heute nicht
mehr, sobald man den Laptop zuklappt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das
letzte Mal im echten Leben, auf offener Straße beleidigt wurde, das erledigt man
heute, ähnlich wie Überweisungen, lieber online. Vielleicht liegt es aber auch
daran, dass ich penibel darauf achte, nicht auf Fahrradwegen zu laufen. Vor
Fahrradfahrern habe ich Angst.

Gegen Ängste hilft am besten Konfrontation, deshalb habe ich mir heute
Nachmittag ein Auto gekauft, schwarz und schön und wenig ängstlich. Mein
allererstes Auto. Im Internet empfahl man mir, bei der Anschaffung darauf zu
achten, dass der Wagen über einen Motor, vier Reifen und ein Lenkrad verfüge.

Der Händler war ein freundlicher Mann, der Autos lieber als Menschen mochte. Er
sprach eigentlich nur ein Wort: "Hatta". Motor hatta, Radio hatta, Reifen hatta
und sogar TÜV hatta. Ich versuchte, den Preis runterzuhandeln, weil das auch in
dem Artikel im Internet stand, aber den Artikel hatte mein Händler leider nicht
gelesen. Er schüttelte den Kopf, ich zahlte den gesamten Preis, er lachte. Ich
habe mir sogar so ein albernes Nummernschild mit Initialen ausgesucht.

Am Abend traf ich mich mit Margarete Stokowski. Ich freute mich, einmal, weil
sie klug ist, und dann noch wegen etwas anderem. Trotzdem früh nach Hause, also
zu dem Mann, der mich am besten kennt, ein Glas Nachtwasser, Schlaf,
Ohrenschmerzen, Schlaf, Durst, Halsweh, Sorgen, Schlaf.
MITTWOCH

Heute habe ich einen Otter mit Flugangst adoptiert und ein Anwesen in Cornwall
erstanden. Der Otter greift ständig nach meinem Smartphone, aber ich verrate ihm
den Entsperrungscode nicht mehr. Seitdem ist er beleidigt. Vorher hat er meine
letzte Milchschnitte gefressen, Mistvieh. Weiß nicht, wie ich ihn loswerden
soll.

Das Anwesen war ein Spontankauf, ich war noch nie in Cornwall, ich bin mir nicht
mal sicher, ob es Cornwall außerhalb von Rosamunde-Pilcher-Streifen gibt. Aber
wie soll man das rausfinden, ohne ein Grundstück vor Ort zu besitzen? Das
zumindest die Logik von dem Scheiß-Nagetier. Der Schuppen hat 800.000 Euro
gekostet. Das Otter-Mistvieh hat mich letzten Endes zum Kauf überredet.
Bescheuert.

Ich will da überhaupt nicht hin, ich mag meine Wohnung hier in Berlin, aber der
Scheiß-Otter steht auf englische Alternative-Bands, und für seine ständigen
Konzertbesuche in London "käme ein Haus auf der Insel letztlich günstiger".

Erst später habe ich das mit der Flugangst herausbekommen, aber da war das Ding
gekauft und ich hoch verschuldet. "Du glaubst an Schulden?!", lacht der Otter,
Schulden gebe es gar nicht im echten Leben, im echten Leben gebe es nur echtes
Geld, Schulden seien eine Erfindung des Kapitalismus, oder hätte ich schon mal
eine Spardose voller Schulden gehabt?

Ansonsten sitzt das Viech feist auf der Couch und googelt sich selbst. Ab und zu
zeigt er mir Bilder von sich und betont, wie glücklich ich sein müsse, so mit
Haus in Cornwall und eigenem Otter.

Nichts davon ist wahr, aber einem Tagebuch kann man ja alles erzählen. Darin die
Krux. Ehrliches Notieren ist schon durch die Aussiebung dessen, was man nicht
niederschreibt, unmöglich. Oft fällt einem ja erst Jahre später auf, wie gut es
einem mal ging. Das liegt an unserem Erinnern, das Gehirn sorgt dafür, dass wir
uns in der Gegenwart immer etwas unwohl fühlen und uns trotzdem irgendwann nach
Biounterricht zurücksehnen.

Es ist später Nachmittag, ich arbeite seit Stunden. Das stimmt, aber vielleicht
schreibe ich es nur auf, weil ich das als alte Dame lieber lesen möchte als
"gestern habe ich getrunken, obwohl ich krank bin, jetzt geht es mir noch
schlechter und ich jammere Bekannte auf WhatsApp an, damit sie mich
bemitleiden".

Abends herumgelaufen, der Einzige, der mir zu diesem Tag gratuliert hat, war der
Schrittmesser auf meinem Handy. Neuer Schrittrekord, "10 Kilometer!", piepst
mich mein Samsung aufgeregt an. Hinter mir türmt sich die Befürchtung auf, dass
ich auch darauf als alte Dame nicht stolz sein werde. Ich hoffe, die Redakteure
dieser Zeitung achten darauf, links und rechts von meinem Text Artikel mit etwas
mehr Dringlichkeit zu parken.

DONNERSTAG

Von Krieg geträumt, früh aufgewacht, Avocado gefrühstückt, dabei Zeitung gelesen
und mir das Unglück eingeredet, bis es liebevoll klopfte und mich zurück ins
Bett führte. Mein Terminkalender beginnt dieses Jahr eigentlich erst im März mit
Erscheinen des Romans, davor das Warten, das Bangen, die Müdigkeit, viel
Gerauche.

Zwischendurch Sorgen um den Kontostand, Sorgen um die Weltlage, Sorgen um das


Freidrehen. Besonders die Sorge ums Geld ist ärgerlich, Geld ist dafür da,
sorglos zu leben. Stattdessen geht es mir mit Geld ähnlich wie mit der Polizei.
Anstatt mir ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, werde ich bei jeder Streife
paranoid.

Ich möchte nicht mehr in Cafés arbeiten, denn Cafés sind voller erster
Tinder-Dates, und die befangenen Gesprächsfetzen liegen in der Luft wie ein
penetrantes Febreze-Spray. Heute war mir also langweilig, Langeweile, das
unangenehmste aller Luxusprobleme, und mit der Langweile auch immer gleich die
Scham darüber. Wenn einem langweilig ist, empfehlen einem Leute ständig Dinge,
die man tun könnte. Staubsaugen. Schreiben. Spazieren gehen.

Wenn einem aber wirklich langweilig ist, hat man auf alle diese Dinge keine
Lust. Man möchte zu Hause im Bett liegen und sich dafür verachten, dass man zu
Hause im Bett liegt. Man möchte sich Gründe überlegen, warum einem staubsaugen,
schreiben und spazieren gehen auf gar keinen Fall helfen würden.

Ich nehme meine Antriebslosigkeit sehr ernst. Anstatt ins Museum zu gehen,
googele ich Depressions-Tests. Ich bestehe sie alle, es ist aber ehrlich gesagt
auch ziemlich einfach. Danach mache ich das "Zeit"-Wissensquiz. Ich weiß nichts,
es ist aber ehrlich gesagt auch ziemlich schwierig. Und da soll noch einmal
jemand behaupten, die Dummen seien glücklich. So ein Unsinn, ich bin saublöd und
kreuzunglücklich.

Es ist immer noch Nachmittag. Ich vertreibe mir die Zeit damit, heimlich bei dem
Mann, den ich liebe, einzuziehen. Das geht ganz einfach: Ich gehe nicht mehr.

Manchmal kommt er herein und versucht, mich auf sehr subtile und rührende Weise
zum Gehen zu animieren. Er sagt zum Beispiel: "Hau endlich ab, du
wurstgesichtige Probeaboschlampe!" Dann zieh ich ihn fest an mich ran und
schüttle den Kopf. Ich lieb ihn so.

An den Abenden ist es meist etwas besser, denn da ist nur noch wenig vom Tag
übrig. Mein Steuerberater schreibt mir nachts um zwölf, dass er Vater wird, ich
freue mich sehr für ihn, gratuliere mit ungewohnt vielen Emojis, mir fällt auf,
wie selten ich mich aufrichtig für andere freue.

FREITAG

Facebook, gleich morgens. Lese immer wieder Statusupdates, in denen Leute davon
berichten, ihre Freundesliste von AfD- und Pegidasympathisanten "bereinigt" zu
haben. Frage mich, ob das nicht in den Köpfen von Leuten, die sich eh schon
unverstanden fühlen, zu einem Märtyrerbewusstsein führt.

Wenn die großen Parteien sich weigern, mit AfD-Vertretern in Talkshows zu sitzen
- was macht das mit Leuten, die die Presselandschaft hierzulande eh schon als
zensiert betrachten? Es ist den Sprechern der Alternative doch schon jetzt eine
beliebte Strategie, die Außenseiterkarte zu heroisieren, gießen da Ignoranz und
Häme nicht Öl ins Feuer? Andererseits ist Verständnis für eine
menschenverachtende Partei wohl auch nicht die Lösung.

Kann auch nachvollziehen, dass man AfD-Wähler nicht zu seinen Freunden zählen
will. Kann eh zu viel nachvollziehen, führt zu einem Ohnmachtsgefühl.

Internet ist generell problematisch momentan, ich greife morgens nach dem
kleinen Bildschirm und wenig später nach dem größeren, am Abend dann 50 Zoll
Bildschirmbreite, bis das Fernsehflimmern zu Traumbildern wird, lebensgroß, 3D.

Pendle von niedlichen Panda-Gifs zu 28 Toten in Ankara. Die Wege sind zu kurz
geworden. Wenigstens ein Umblättern sollte dazwischen liegen, die
Unmittelbarkeit scheint ungehörig, ein Klick von Albernheit zu Tragik, da kommt
mein Empfinden nicht mit, ich stiere ratlos auf erschreckende Bilder. Ich bin
überinformiert, orientierungslos.

Große, politische Texte traue ich mir schon lange nicht mehr zu. Zu viel
Verständnis für die jeweilige Gegenposition, zu unklar verlaufen die Linien
rechts und links, zu zuwider sind mir alle Extreme, und überall mutmaße ich
Naivität, Populismus, Gier, Egoismus oder Unvermögen.

Also Rückzug ins Mögliche, ich plane die bevorstehende Lesereise, versuche, mich
auf Termine zu freuen, über den Mann, der mich am besten kennt, über
Geschnetzeltes, über frische Bettwäsche.

Verachte mich ein wenig für dieses Biedermeiertum. Am Nachmittag fahre ich
nochmal zum Autohändler, um die Zulassung des Wagens in die Wege zu leiten. In
der U-Bahn lese ich einen Artikel, in dem etwas von höchster Terrorwahnstufe in
Berlin steht. Später möchte ich Pizza essen gehen.

Das war also eine Woche Tagebuch, das waren Flucht in Ironie und eine Menge
schriftlicher Selbstreflektion. Festgestellt, dass Tagebücher immer verlogen
klingen, wenn sie nicht fiktiv sind oder erst posthum erschienen. Festgestellt,
dass ich mich an vieles später gar nicht so genau erinnern möchte. Festgestellt,
dass Aufschreiben trotzdem hilft.

UPDATE: 1. März 2016

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Dienstag 1. März 2016 1:45 PM GMT+1

Europäischer Gerichtshof;
Wohnsitzauflage für Flüchtlinge kann zulässig sein

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 476 Wörter

HIGHLIGHT: Unter bestimmten Umständen darf der Staat den Wohnsitz von Migranten
bestimmen. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Die
Auflage gilt für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz.
Der Streit um die sogenannte Wohnsitzauflage für geduldete Flüchtlinge ist
weiter offen. Wie am Dienstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg
entschied, kann die Auflage zulässig sein, wenn dies zur Integration der
Flüchtlinge erforderlich ist. Voraussetzung ist danach aber, dass hier im
Vergleich zu anderen Ausländern besondere Probleme auftreten. Dies soll nun das
Bundesverwaltungsgericht klären. (Az: C-443/14 und C-444/14)

Die Wohnsitzauflage gilt für Flüchtlinge mit sogenanntem subsidiärem Schutz, die
zwar kein Asyl bekommen, die aber wegen der Situation in ihrem Heimatland nicht
dorthin zurückkehren können. Sie müssen in dem ihnen zugewiesenen Wohnort wohnen
bleiben, so lange sie Sozialleistungen erhalten. Dies soll die Integration
erleichtern, die Bildung sozialer Brennpunkte vermeiden und die sozialen Lasten
gleichmäßig auf die Kommunen verteilen.

Ein 1998 zugewanderter Syrer und eine 2001 eingereiste Syrerin wollten an einen
anderen Wohnort ziehen und hatten daher gegen die Wohnsitzauflage geklagt. Das
Bundesverwaltungsgericht legte den Streit dem EuGH vor.

Dieser betonte nun, dass Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz nicht schlechter
behandelt werden dürfen als andere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten, die sich
rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Eine Einschränkung der freien Wahl des
Wohnortes brauche daher besondere Gründe.

Lastenverteilung der Kommunen nicht anerkannt

Dabei erkannten die Luxemburger Richter das Argument der Lastenverteilung


zwischen den Kommunen nicht an. Denn weder bei anderen Ausländern noch bei
Deutschen, die Sozialleistungen beziehen, werde offenbar eine Beschränkung der
Wohnortwahl für notwendig gehalten.

Demgegenüber könne das Argument der Integration eine zulässige Rechtfertigung


sein. Voraussetzung sei, dass die geduldeten Flüchtlinge "in stärkerem Maß mit
Integrationsschwierigkeiten konfrontiert sind als andere Nicht-EU-Bürger, die
sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten und Sozialhilfe beziehen". Wenn sich
beide Gruppen "nicht in einer vergleichbaren Situation befinden", sei die
Wohnsitzauflage zulässig, entschied der EuGH. Dies soll nun das
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig überprüfen.

Die große Koalition plant auch eine Wohnsitzauflage für anerkannte Asylbewerber.
Damit soll verhindert werden, dass sie sich beliebig im Land niederlassen. In
dem vergangene Woche verabschiedeten Asylpaket II ist bereits eine
Residenzpflicht für Asylbewerber in den geplanten neuen Aufnahmezentrum
verankert.

Im Jahr 2015 erhielten rund 1700 Menschen in Deutschland den eingeschränkten


Schutz. Das entspricht 0,6 Prozent aller entschiedenen Asylanträge. Dabei
handelt es sich um Personen, die weder Schutz nach der Genfer
Flüchtlingskonvention noch nach dem Asylrecht zuerkannt bekommen, denen im
Heimatland aber dennoch ernsthafter Schaden droht (etwa Todesstrafe, Folter,
bewaffneter Konflikt).

UPDATE: 1. März 2016

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Freitag 4. März 2016 11:24 AM GMT+1

Umverteilung;
15 Flüchtlinge - Rumänien nimmt erste Asylbewerber auf

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 232 Wörter

HIGHLIGHT: Nach der im September vorigen Jahres beschlossenen Quote muss


Rumänien insgesamt 6351 Flüchtlinge aufnehmen. Dagegen hat sich das Land
vehement gewehrt. Jetzt sind die ersten 15 angekommen.

Im Spätsommer 2015 hatte die EU die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus
Griechenland und Italien beschlossen - jetzt hat Rumänien eine erste Gruppe von
15 Jemeniten und Syrern aus dem ihm zugewiesenen Kontingent aufgenommen.
"Darunter sind Jugendliche und Kinder", sagte eine Sprecherin der
Einwanderungsbehörde.

Die Flüchtlinge wurden aus einem griechischen Erstaufnahmelager (Hotspot) nach


Bukarest geflogen und von dort mit einem Bus zu einem Asylbewerberheim in der
östlichen Stadt Galati gebracht. Die Einrichtung aus dem Jahr 2004 hat 280
Plätze.

Insgesamt 950 Plätze zur Verfügung

Rumänien ist eines der ärmsten Länder der EU und hatte sich zunächst gegen die
Zuweisung von Kontingenten gewehrt. Das Land hat sich inzwischen verpflichtet,
nach dem Verteilschlüssel der EU insgesamt 6351 Flüchtlinge aufzunehmen, die
sich bereits auf EU-Boden befinden. Wann diese Gesamtzahl erreicht wird, konnte
die Immigrationsbehörde nicht sagen.

Insgesamt verfügt Rumänien derzeit über 950 Plätze in Flüchtlingsunterkünften.


An einer Erweiterung der Aufnahmekapazität wird gearbeitet. Rumänien gehört
nicht zu den Wunschzielen der meisten Flüchtlinge und lag bisher auch nicht auf
der Haupttransitroute des Flüchtlingszustroms nach Westeuropa.

Insgesamt kommt die Umverteilung der 160.000 Einwanderer nur sehr schleppend
voran. Beim EU-Gipfel vor zwei Wochen lag die Zahl nur bei etwas mehr als 500.

UPDATE: 4. März 2016

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Dienstag 8. März 2016 9:12 AM GMT+1

Grande-Synthe;
Neues Flüchtlingslager in Nordfrankreich eröffnet

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 421 Wörter

HIGHLIGHT: Der Bürgermeister der nordfranzösischen Stadt Grande-Synthe hielt die


Bilder des wilden Camps nicht mehr aus. Nun hat er gemeinsam mit Ärzte ohne
Grenzen ein Lager mit Holzhütten eröffnet.

Ein neues Flüchtlingslager mit Platz für 1500 Bewohner ist in Nordfrankreich am
Ärmelkanal eröffnet worden. Die ersten Flüchtlinge bezogen am Montag die
Holzhütten des Camps in der an Dünkirchen angrenzenden Gemeinde Grande-Synthe,
das nach Angaben der Verantwortlichen als erstes Flüchtlingslager dieser Art in
Frankreich internationalen Standards entspricht.

In dem von der Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und der Stadtverwaltung
von Grande-Synthe errichteten Lager sollen in erster Linie Flüchtlinge
unterkommen, die bislang in einem nahe gelegenen illegalen Camp unter miserablen
hygienischen Bedingungen lebten. Im Lager von Basroch harrten zuletzt mehr als
1000 Menschen aus, die meisten von ihnen irakische Kurden. Anfang Dezember waren
es den Behörden zufolge noch 2900.

In dem am Montag eröffneten Lager wurden 220 hölzerne Wohncontainer errichtet.


Ihre Zahl soll bald auf 375 anwachsen - dann hätte das Lager Platz für 2500
Menschen. Es gibt Duschen und Toiletten, außerdem Küchen und Unterrichtsräume.

Präfektur hatte sich gegen die Hütten ausgesprochen

"Heute ist ein Tag voller Menschlichkeit", sagte der grüne Bürgermeister von
Grande-Synthe, Damien Carême, am Montag. "Ich gleiche ein Versagen des Staates
aus." Die Bilder des wilden Lagers von Basroch habe er nicht mehr "ausgehalten".

Die Präfektur der Region hatte sich gegen die Errichtung der Holzhütten
ausgesprochen - sie will die Flüchtlinge in Aufnahmezentren in anderen
Landesteilen bringen. Bewohner der Region befürchten, das neue Lager in
Grande-Synthe könne noch mehr Flüchtlinge dazu bringen, in die Region zu kommen.
Tatsächlich hoffen die meisten Flüchtlinge, die in Nordfrankreich ausharren, mit
Fähren oder durch den Eurotunnel heimlich nach Großbritannien zu gelangen.
Bekannt geworden ist besonders das Flüchtlingslager im keine 40 Kilometer
westlich von Grande-Synthe gelegenen Calais. Seit einer Woche lassen die
Behörden den südlichen Teil des sogenannten Dschungels abreißen.

Frankreich ist von der Flüchtlingskrise deutlich weniger betroffen als andere
europäische Länder - die meisten Flüchtlinge zieht es nicht nach Frankreich. Die
französische Regierung hat sich bereit erklärt, im Zuge der Umverteilung von
Flüchtlingen in Europa 30.000 Menschen aufzunehmen.

Die Umverteilung kommt aber kaum voran. Am Montag wurden zwar 152 Flüchtlinge -
die meisten von ihnen Syrer und Iraker - von Griechenland aus nach Frankreich
geflogen. Damit hat Frankreich aber bislang erst knapp 300 der insgesamt 30.000
zugesagten Flüchtlinge aufgenommen.

UPDATE: 9. März 2016

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Mittwoch 9. März 2016 4:20 AM GMT+1

Balkanroute dicht;
Slowenien und Serbien lassen keine Flüchtlinge mehr durch

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 782 Wörter

HIGHLIGHT: Auf dem EU-Türkei-Gipfel wurde gestritten, ob die Balkanroute


geschlossen werden solle - jetzt schaffen Slowenien und Serbien Fakten. Sie
kündigten an, wieder streng die Schengenregeln anzuwenden.

Deutschland wirbt für Geduld, doch auf dem Balkan werden Fakten geschaffen:
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat trotz des Drucks durch die Landtagswahlen an
diesem Sonntag mehr Zeit für einen europäischen Flüchtlingspakt mit der Türkei
erbeten. "Manchmal könnte es schneller gehen. Aber ich glaube, insgesamt bewegt
sich die Sache in die richtige Richtung", sagte sie am Dienstag nach einem
EU-Gipfel mit der Türkei im Südwestrundfunk.

Slowenien, Serbien und Mazedonien wollen sich damit offenkundig nicht zufrieden
geben: Die Länder kündigten an, die Balkanroute für Flüchtlinge solle abrupt
geschlossen und die bisherige Absprachepraxis der Anrainerländer damit beendet
werden.

Merkel sagte im SWR, für eine endgültige Vereinbarung bis zum nächsten Gipfel am
17. und 18. März gebe es noch viel Arbeit zu erledigen. Kernpunkte sind neue
Vorschläge zur Rücknahme von Flüchtlingen, die Türkei will zugleich mehr
Milliardenhilfe der EU. EU-Gipfelchef Donald Tusk sagte: "Ich habe keinen
Zweifel, dass wir den endgültigen Erfolg erzielen werden." Die "Tage der
ungeregelten Migration" in die EU seien vorüber.

Einreise nur noch mit gültigen Pässen und Visa

Über die Balkanroute waren im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen
nach Westeuropa gelangt. Sloweniens Regierung kündigte nun an, künftig wieder
streng die Schengen-Regeln anzuwenden und nur noch Menschen mit gültigen Pässen
und Visa einreisen zu lassen. Diese Regelung gelte ab Mitternacht.

Serbien als weiter südlich gelegener Anrainer reagierte in gleicher Weise. Es


werde die neuen Regelungen ebenso an seiner Grenze zu Mazedonien und Bulgarien
anwenden, teilte das serbische Innenministerium mit. "Damit wird die Balkanroute
praktisch geschlossen", zitierten serbische Medien eine entsprechende Erklärung
des Ministeriums. Auch Kroatien, das zwischen Slowenien und Serbien liegt, werde
in dieser Weise reagieren.

Slowenien werde in Zukunft pro Monat 40 bis 50 Menschen Asyl gewähren, zitierte
das nationale slowenische Radio Regierungschef Miro Cerar. Früher waren die
Menschen auf der Balkanroute von einem an den nächsten Staat weitergereicht
worden, weil sie in der Regel nach Österreich und vor allem nach Deutschland
wollten.

Ankara fordert Verdoppelung der EU-Hilfszusagen

Bei dem eintägigen Sondergipfel in Brüssel hatte der türkische Regierungschef


Ahmet Davutoglu ein weitreichendes Paket vorgelegt, das viele EU-Chefs
überraschte. Das Angebot sieht unter anderem vor, dass die EU alle Flüchtlinge,
die unerlaubt aus der Türkei auf die griechischen Inseln übersetzen, wieder in
die Türkei zurückschicken kann.

Zugleich soll aber für jeden Syrer, der zurück in die Türkei gebracht wird,
einer legal in die EU kommen können. Unklar blieb, welche EU-Staaten sie
aufnehmen könnten. Zudem fordert Ankara eine Verdoppelung der EU-Hilfszusagen
für in der Türkei lebende Flüchtlinge von drei Milliarden auf sechs Milliarden
Euro. Dazu gab es kein klares Signal des EU-Gipfels.

SPD-Chef Sigmar Gabriel bezeichnete diesen Zwischenstand als wichtigen Schritt


nach vorn. Die angestrebten Vereinbarungen seien der beste Weg, "um den
Menschenhändlern und Schleppern das Handwerk zu legen". Der CSU-Vorsitzende
Horst Seehofer äußerte sich kritisch. Leistung und Gegenleistung müssten
übereinstimmen, aber bei der von der Türkei geforderten vollen Visafreiheit für
Reisen in die EU habe man "sehr große Bedenken".

Tsipras warnt vor Euphorie, Österreich bleibt unnachgiebig

Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras warnte vor Euphorie, da noch


zahlreiche Schritte nötig seien. Er verwies auf die "tragischen Bilder" im Lager
Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo Tausende Flüchtlinge unter
miserablen Bedingungen festsitzen, während täglich Hunderte weitere von den
griechischen Inseln aufs Festland nachkommen.
Später sagte Tsipras bei einem Treffen mit Davutoglu in Izmir, Griechenland und
die Türkei würden die Zusammenarbeit ihrer Küstenwachen zur Bekämpfung des
Menschenschmuggels ausbauen. Davutoglu sagte, das Mittelmeer dürfe nicht "ein
Meer der Trauer und des Dramas" werden.

Österreich will indes an seiner restriktiven Flüchtlingspolitik festhalten.


Kanzler Werner Faymann (SPÖ) legte Deutschland nahe, ebenfalls eine
Asylbewerber-Obergrenze auszurufen. Solange der "deutsche Nachbar keine Zahl
nennt, die er sich vorstellen kann, die er tatsächlich schaffen kann, (...)
bleibt das ein Hin- und Hergeschiebe von Problemen zwischen nationalen Grenzen
und Einzellösungen". Analog zu der von Österreich festgelegten Quote könnte ein
Limit für Deutschland bei 400 000 Asylbewerbern liegen, sagte Faymann in Wien.
Merkel lehnt eine nationale Obergrenze, die auch die CSU verlangt, strikt ab und
kritisierte Österreich scharf.

UPDATE: 9. März 2016

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Donnerstag 10. März 2016 11:13 AM GMT+1

Presse über Kanzlerin;


"Merkel in der Falle zwischen Wunsch und Wirklichkeit"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 734 Wörter

HIGHLIGHT: "Europa war nie armseliger": Auch Tage nach dem EU-Gipfel fragt sich
die Presse, ob sich der Deal mit der Türkei nicht als Bumerang für die EU
erweise. Merkel habe ihr Szenario nicht zu Ende gedacht.

Selten hallte das Medienecho der europäischen Presse derart lange nach wie nach
dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel am Montag. Und in der Tat geben die
gegenseitigen Lippenbekenntnisse - eine finale Vereinbarung soll erst kommende
Woche erfolgen - Grund zur Diskussion.

Ankara schlug vor, dass die EU alle illegal ankommenden Migranten von den
griechischen Inseln wieder in die Türkei zurückschicken kann. Im Gegenzug sollen
aber auch Visaerleichterungen für türkische Bürger erreicht werden sowie die
Beitrittsverhandlungen in die EU ausgeweitet werden.

Und als sich Europas Gazetten kurz nach dem Gipfeltreffen noch die Frage
stellten, ob sich Europa zur Geisel Ankaras gemacht habe, machten Länder wie
Slowenien und Serbien die Balkan-Route dicht. Auch am Donnerstag bewerteten die
ausländischen Medien vor allem eins - die Außenpolitik von Kanzlerin Angela
Merkel.

"Neue Zürcher Zeitung", Schweiz: "Deutschland zwischen Wunsch und Wirklichkeit"

"Angela Merkel sitzt in der Falle zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Da lässt sie
verbreiten, sie könne doch nicht alle ertrinken lassen. Doch wer will denn das?
Auf die Idee, die Fluchtursachen direkt anzugehen, kommt die Kanzlerin nicht.
Denn dann müsste man über Schutzzonen für Syrer nachdenken, diese einrichten und
sichern. Das erforderte ein unschönes militärisches Engagement, das man sich
nicht leisten will. Die Schmutzarbeit machen die anderen, Merkel hat die Moral."

"Sega", Bulgarien: "Türkei schafft 29-Staaten-Format für die EU"

"Europa war kaum jemals armseliger in Bezug auf die Türkei als jetzt. (.) Ankara
hat schon immer bemerkenswerte Geduld und Hartnäckigkeit gezeigt, um nun mit
mehr als einem halben Jahrhundert Verspätung die Sternstunde der Türkei zu
erleben. Jetzt diktiert die Türkei - und nicht Brüssel - ihre Bedingungen für
eine EU-Mitgliedschaft. (.)

Der nächste EU-Rat Ende kommender Woche wird weiter überlegen, was die EU beim
Gipfel der Türkei zugestanden hatte. Ankara wird wieder ein zentraler Faktor bei
der Diskussion sein - auch ohne dass ihr Regierungschef (Ahmet Davutoglu)
anwesend ist. Die EU beginnt wohl, im Format von 29 Staaten zu funktionieren."

"Rossijskaja Gaseta", Russland: "EU-Abkommen mit Türkei zerstört Schengen-Raum"

"In einer Woche muss bei einem außerplanmäßigen Gipfeltreffen des Europäischen
Rats die Vereinbarung zwischen der Türkei und Brüssel zur Regelung der
Flüchtlingskrise getroffen werden. Das Dokument, welches möglicherweise im Lauf
der Geschichte die Schande Europas genannt werden wird, macht Ankara (...)
endgültig zum "Herrn des Spiels" und beendet den ekelerregenden Anblick
europäischer Politiker, die sich beim türkischen Präsidenten Erdogan
einschmeicheln.

Die für das Abendland absolut ungünstigen Bedingungen des Abkommens drohen den
Schengen-Raum und, was noch katastrophaler ist, das Vertrauen zwischen den
EU-Ländern endgültig zu zerstören."

"Aftenposten", Norwegen: "Flüchtlingsabkommen mit Türkei ist problematisch"

"Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei ist kontrovers und
problematisch. Aber gute Alternativen sind nicht leicht zu erkennen. Das Beste
an dem Abkommen, wenn es nach Plan durchgeführt wird, ist, dass es ein direkter
Angriff auf das zynische Geschäftsmodell der Menschenschmuggler ist. (...) Ein
großes und möglicherweise gefährliches Unsicherheitsmoment ist, dass die EU sich
so abhängig von dem unvorhersehbaren und immer autoritäreren Regime in Ankara
macht."

"de Volkskrant", Niederlande: "Merkel braucht die Türkei"

"Bei dem Versuch, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, pokert Merkel
hoch. Ihre Verhandlungen mit der Türkei sind eine Übung in Realpolitik. Sie
betrachtet die Türkei als unverzichtbar für die Eindämmungen der
Flüchtlingskrise. Doch dies ist ein Partner mit zweifelhafter Glaubwürdigkeit.

Ministerpräsident Davutoglu erscheint mit seinem Auftreten und seinem Lächeln ja


noch annehmbar, aber das gilt nicht für den starken Mann Recep Tayyip Erdogan.
Der türkische Präsident entwickelt sich zu einem neo-ottomanischen Potentaten.

Kurz vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel ging er gegen die oppositionelle


Zeitung "Zaman" vor. Wenn das keine Provokation war, dann war es zumindest ein
Zeichen völliger Unbekümmertheit. Normalerweise hält Merkel so jemanden am
liebsten auf Abstand. Das kann sie nun aber nicht. Sie braucht ihn und er
fordert dafür einen hohen Preis. Europas Türen sollen sich für die Türkei und
die Türken öffnen."

UPDATE: 10. März 2016

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Donnerstag 10. März 2016 1:30 PM GMT+1

Presserat;
Medien wollen Täter-Herkunft nicht verheimlichen

AUTOR: Christian Meier

RUBRIK: KULTUR; Kultur

LÄNGE: 1283 Wörter

HIGHLIGHT: Nach den Vorfällen in Köln wurde diskutiert: Dürfen Journalisten die
Herkunft von Straftätern nennen? Müssen Sie es sogar? Der Deutsche Presserat
sieht das anders als viele Chefredakteure.

Jahrelang wurde der Deutsche Presserat, gegründet 1956 als ein vom Staat
unabhängiges Organ der Selbstkontrolle, als "zahnloser Tiger" belächelt. Der
Regeln für Presseethik aufstellt, die im Ernstfall nicht durch Sanktionen
durchzusetzen sind, wenn ein Medium sich querstellt. Der mit einer steigenden
Beschwerdezahl zu tun hat, tendenziell aber unterfinanziert ist. Bis 2009 war
man für medienethische Verfehlungen auf den Online-Seiten der Print-Presse gar
nicht zuständig.

Seit einigen Monaten hat den Presserat nun auch die Flüchtlingskrise erreicht.
Konkreter: Die Silvesternacht von Köln hat eine Regel im Kodex, die ohnehin als
umstritten galt, infrage gestellt. Ziffer 12.1. besagt: "In der
Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder
Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn
für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.
Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten
schüren könnte." Einen Grundsatz gegen Diskriminierung gibt es seit 1971.

Einzeltäter oder organisierte Kriminalität?

Konkret: Klaut ein Mann aus Afghanistan jemandem die Brieftasche oder bricht ein
Rumäne in eine Wohnung ein, sollte bei einer Meldung auf die Nennung der
Herkunft verzichtet werden. Bei Tätern deutscher Nationalität wird dies
schließlich auch nicht extra vermerkt. Doch was wäre, handelte es sich bei dem
Diebstahl um einen Fall organisierter Kriminalität?

Zwei Fälle aus dem Redaktionsalltag. In der Silvesternacht sollen zwei Mädchen
in Weil am Rhein von insgesamt vier Tätern vergewaltigt worden sein. Der
Südwestrundfunk (SWR) hatte zuerst berichtet. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa)
griff den Fall in zwei Absätzen auf. In einer Notiz für die Redaktionen lieferte
die Agentur den zusätzlichen Hinweis, dass es sich bei den Verdächtigen um Syrer
handele. Aber: "Den Angaben zufolge ist kein Zusammenhang mit den Übergriffen in
Köln erkennbar." Manche Redaktionen - darunter die "Welt" - nannten dennoch die
Nationalität der Verdächtigen.

Ein zweiter Fall aus dieser Woche. Ein zwölfjähriges Mädchen soll auf einer
Rutsche in einem Freizeitbad bei Köln unsittlich berührt worden sein. Zunächst
hieß es, gleich sechs Männer wären beteiligt gewesen, woraufhin dpa die
Nationalitäten der Männer aufzählte. Als sich herausstellte, dass der Vorwurf
nur einen Mann betrifft, ist in dem nachfolgenden Bericht auch die Herkunft des
Mannes nicht mehr veröffentlicht worden. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" nannte die
Nationalitäten dennoch, verwies aber auch darauf, dass sexuelle Belästigungen in
Schwimmbädern keine Frage des "kulturellen Hintergrunds" seien.

Nach Köln nannten Medien die Herkunft der Täter

Zurück zur Silvesternacht in Köln. Dass es sich bei den übergriffigen Tätern auf
der Domplatte laut Zeugen vorwiegend um Männer mit nordafrikanischer und
arabischer Herkunft gehandelt haben soll, dass auch Flüchtlinge unter den Tätern
waren, kam erst mit einiger Verzögerung heraus. Fraglich ist allerdings, ob
diese Verzögerung von einigen Tagen auf die Zurückhaltung von Redaktionen
zurückzuführen ist - oder nicht eher auf die Tatsache, dass Details über die
Geschehnisse erst langsam publik wurden, auch gebremst durch die anfänglich
unzulängliche Informationspolitik der Kölner Polizei. Denn in der Woche nach
Silvester wurden in nahezu allen Berichten immer wieder die Zeugenaussagen zur
vermutlichen Herkunft der Täter zitiert. Viele Medien sahen den "begründbaren
Sachbezug" offenbar gegeben.

Journalisten sind keine Pädagogen

Ausgerechnet ein Fall also, bei dem Medien den Verhaltenskodex souverän
ausgelegt haben, sorgt nun für eine Debatte. Die Mitglieder des Presserats
beratschlagten jetzt, ob die Ziffer 12.1. hinreichend klar formuliert und den
Realitäten im Alltag von Redaktionen angemessen ist. Der Journalismusprofessor
Horst Pöttker urteilte in einem Interview mit "heute": "Diese Regel beruht auf
der Vorstellung, dass das Publikum nicht mündig ist, dass es Vorurteile hat und
mit Informationen nicht umgehen kann." Journalisten seien nun mal keine
Pädagogen. Tanit Koch, die Chefin der "Bild"-Zeitung, sieht in der Regel gar
eine "ungerechtfertigte Selbstzensur", die "das Misstrauen gegenüber der
journalistischen Arbeit" schüre.

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) setzt sich dagegen für die Beibehaltung
der Regel in ihrer jetzigen Form ein. Ein "Verbot der Diskriminierung" im Kodex
müsse beibehalten werden. Der DJV ist einer der Trägervereine des Presserats.
Bei einer Tagung von Chefredakteuren, zu der die dpa eingeladen hatte, sprach
sich dagegen eine Mehrheit für eine Änderung der Ziffer 12.1. aus. Der Presserat
sei kein "Selbstgeißelungsorgan", der Passus gehe "an der Wirklichkeit vorbei".
Chefredakteur Sven Gösmann sagt dazu: "Die Meinungen unserer Kunden sind ebenso
heterogen wie unsere Kundschaft." Er selbst glaubt indes nicht, dass die Regel
die Berichterstattung behindere.

Der Presserat bleibt bei seiner Richtlinie

Am Mittwoch hatten die 28 Mitglieder des Presserates Gäste eingeladen. Zu denen


zählte Peter Pauls, der Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeiger". Er sagt: "Die
Richtlinie gibt den Redaktionen ja durchaus die Möglichkeit, zu einem eigenen
Urteil zu kommen. So machen wir das in der Flüchtlingskrise dann auch immer
wieder. Wir dürfen das Vertrauen unserer Leser nicht verlieren. Was auch nicht
heißt, dass wir in jedem Fall die Nationalität nennen."

Am Ende der Diskussion beim Presserat stand die Entscheidung, die Richtlinie
beizubehalten. Es gab es nur eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen. "Der
Presserat ist nicht der Vormund von Journalisten und Medien", sagte anschließend
der Sprecher des Presserats, Manfred Protze. "Er gibt mit seinem Kodex lediglich
Handlungsorientierungen."

"In der neuen Informationswelt können wir nicht mehr entscheiden, was unsere
Leser wissen dürfen und was nicht", sagt Peter Pauls. Einerseits, doch
andererseits müssen und können Medien weiterhin ihre eigenen Entscheidungen
treffen. Wenn Rolf Seelheim, der Chefredakteur der Oldenburger
"Nordwest-Zeitung", vom zahnlosen Tiger Presserat "klarer gefasste Regelungen"
fordert, was sagt das dann aus? Die neue Debatte um den Pressekodex kann daher
auch als ein Indiz für eine gestiegene Verunsicherung gedeutet werden, für einen
Bedarf an einem neuen Koordinatensystem. In einer Zeit, wo Medien eigentlich
mehr Souveränität brauchen. Denn leben wir tatsächlich und urplötzlich in einer
neuen Welt mit völlig neuen Regeln der Berichterstattung? Wohl kaum. Was aber
stimmt: Die intensive Beschäftigung der Medien mit den Flüchtlingen markiert
sehr viel deutlicher als bisher die Grenze zwischen angewandter Presseethik und
spürbar lauter gewordenen Forderungen nach maximaler journalistischer
Transparenz.

Hintergrund zum Presserat

Der Pressekodex listet presseethische Regeln auf. Darunter beispielsweise die


Achtung der Menschenwürde, Sorgfaltspflicht, Verbot von Schleichwerbung und
Jugendschutz. Die Richtlinien dienen als Leitplanken im Tagesgeschäft. Die nicht
in Stein gemeißelt sein müssen, denen sich Journalisten vieler Medien aber
grundsätzlich verpflichtet fühlen. Jeder Bürger kann sich über Beiträge
beschweren; ein Ausschuss beschäftigt sich mit der Kritik. Ein Streitfall aus
dem vergangenen Jahr betraf die Namensnennung des Germanwings-Piloten Andreas
Lubitz. In diesem Fall, befand der Beschwerdeausschuss des Presserats, sei die
Nennung gerechtfertigt gewesen, weil das öffentliche Interesse berechtigterweise
groß gewesen sei. Im vergangenen Jahr gab es einen Rekord, was die Zahl der
eingereichten Beschwerden angeht. Es waren 2.358. Seit das Gremium auch für
Online-Berichte zuständig ist, nimmt die Zahl zu.

UPDATE: 10. März 2016


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Samstag 12. März 2016 9:06 AM GMT+1

Johanna Mikl-Leitner;
Österreich will Grenzkontrollen deutlich ausweiten

AUTOR: Christoph B. Schiltz

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 600 Wörter

HIGHLIGHT: Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner plant, die


Kontrollen auf zwölf weitere Grenzübergänge auszudehnen. Die Aufnahme neuer
Flüchtlinge knüpft sie zudem an eine Bedingung.

Nach der Schließung der Balkanroute treibt Österreich konkrete Planungen für
weitere Grenzkontrollen voran und geht damit weiter auf Konfrontationskurs mit
der Eruopäischen Union. Bereits am Donnerstag hatte sich die österreichische
Innenministerin Johanna Mikl-Leitner für eine dauerhafte Schließung der
Balkan-Route ausgesprochen.

Gegenüber der "Welt am Sonntag" schätzt die ÖVP-Politikerin die aktuelle


Situation der Flüchtlinge nun so ein: "Es ist davon auszugehen, dass die
Flüchtlinge versuchen werden, nach der Schließung der Balkanroute auf andere
Routen auszuweichen. Sich darauf zu verlassen, dass die Massenmigration quer
durch Europa bereits nachhaltig beendet ist, wäre eine Fehleinschätzung."

Deswegen bereite sich Österreich nun vor, "die österreichische Grenze auch an
anderen Grenzübergängen zu sichern". Dazu habe sie neben Spielfeld - also dem
Übergang zwischen Österreich und Slowenien - "Grenzkontrollen an zwölf weiteren
Orten im Fokus". Optional seien dort auch Zäune, Gitter, Container und
Überprüfungen durch Polizisten und Soldaten geplant. Mikl-Leitner sagte, die
Maßnahmen könnten "je nach Entwicklung der Lage zeitnah umgesetzt werden".

Ganz konkret nennt die Innenministerin als Grenzübergänge den Brenner oder den
Karawankentunnel (zwischen Österreich und Slowenien). Österreich müsse dabei
gegebenenfalls in der Lage sein, in "kurzer Zeit" an den verschiedenen
Grenzübergängen "intensive Kontrollen" hochzuziehen.
Gegenüber der "Welt am Sonntag" äußerte sich Mikl-Leitner auch kritisch zur
geplanten Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union und
knüpfte die Aufnahme weiterer Flüchtlinge an eine Bedingung: "Solange nicht
sicher gestellt ist, dass die unkontrollierten Migrationsströme quer durch
Europa stillgelegt sind, wird Österreich keine Flüchtlingskontingente
aufnehmen." Grundvoraussetzung Syrer aufzunehmen, die aus Griechenland und der
Türkei verteilt würden, sei die Sicherung der EU-Außengrenzen und das "Ende der
Asyloptimierung quer durch Europa".

Kritik am Abkommen mit der Türkei

Österreich habe aus humanitärer Sicht bereits enorm viel geleistet, so die
Innenministerin. "Wir haben im vergangenen Jahr 90.000 Flüchtlinge aufgenommen,
und wir sind auch in diesem Jahr in Vorleistung gegangen mit einer Obergrenze
von 37.500 Flüchtlingen. Damit werden wir auch 2016 mehr machen als viele andere
Länder in Europa".

Bedenken hat Mikl-Leitner außerdem beim geplanten Flüchtlingsabkommen mit der


Türkei. Vor allem das im Abkommen vorgesehene Ende der Visumspflicht für
türkische Staatsangehörige, die in die EU reisen, sieht die Österreicherin
kritisch. Es sei richtig, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, "aber nicht um
jeden Preis." Europa dürfe nicht neue Risiken schaffen, indem zu "weitgehende
Schritte" bei der Visafreiheit gemacht würden.

"Wir müssen uns als Europäer schon fragen, ob wir uns und unsere Werte noch
ernst nehmen, wenn wir mit einem Land über eine Beschleunigung der Visafreiheit
reden, das kurz davor regierungskritische Medien unter Zwangsaufsicht gestellt
hat", sagte Mikl-Leitner in Anspielung auf die zahlreichen Angriffe auf die
Pressefreiheit durch die Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip
Erdogan.

Es sei ein "mehr als bedenkliches Signal", ein Land mit einer beschleunigten
Visafreiheit zu belohnen, das gerade erst die Pressefreiheit massiv untergraben
habe. Als Voraussetzung für eine künftige Visafreiheit müssten zahlreiche
Bedingungen erfüllt sein. "Und da darf es keine Ausnahmen für die Türkei geben.
Die Türkei muss wie jeder andere Drittstaat behandelt werden und alle diese
Kriterien erfüllen".

UPDATE: 12. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Montag 14. März 2016 7:34 AM GMT+1


NRW;
Warnung vor zu vielen Ärzten aus dem Ausland

AUTOR: Till-R. Stoldt

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 1165 Wörter

HIGHLIGHT: Lange galt der Ärztemangel als lösbares Problem. Bei Bedarf hole man
einfach mehr ausländische Ärzte, so hieß es. Doch plötzlich brechen Politik und
Experten in NRW mit diesem Glauben.

In einem westfälischen Krankenhaus kam es jüngst zu einem bezeichnenden


Missverständnis. Ein Patient wurde vom diensthabenden Arzt untersucht.
Anschließend telefonierte der Arzt mit dem zuständigen Chirurgen und teilte ihm
mit, es habe sich um "blinden Alarm" gehandelt. Doch der Chirurg verstand
"Blinddarm". Und begann mit den Vorbereitungen. Der OP-Saal musste fertig
gemacht werden. Die Schwestern waren zu instruieren. Und der Patient über die
bevorstehende OP zu informieren. Zum Glück klärte sich das Missverständnis
rechtzeitig auf. Der Chirurg entschuldigte sich, er sei mit den Feinheiten der
Sprache nicht vertraut, er komme ja aus dem Ausland und spreche erst seit Kurzem
Deutsch.

Solche Geschichten, die die Probleme mit ausländischen Ärzten schildern,


gelangen üblicherweise nicht an die Öffentlichkeit, sie kursieren meist nur
unter Oberärzten, Klinikleitern und Ärztevertretern. Dabei wäre deren Kenntnis
für so manchen Entscheider im Gesundheitswesen vermutlich ein Gewinn.
Schließlich setzen einige Kassenvertreter, Politiker und Wirtschaftsinstitute
sehr weitgehend auf die Zuwanderung ausländischer Ärzte, um den für die
kommenden Jahre prognostizierten Ärztemangel in NRW und Deutschland zu beheben.
So attestierte es zum Beispiel die Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ihr zufolge stehe für die Zukunft ein
probates Lösungsmittel bereit: eine verstärkte Anwerbung ausländischer Ärzte. Da
habe Deutschland innerhalb Europas und NRW innerhalb Deutschlands noch
Nachholbedarf.

Doch diese Sichtweise ist nicht frei von Naivität. Das betonen nun Ärzteverbände
wie der Hartmannbund und der Marburger Bund, die Krankenhausgesellschaft NRW,
große Träger wie die westfälische Diakonie, aber auch die grüne
NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens. Es sei blauäugig, allein auf
Zuwanderung als Allheilmittel zu vertrauen. Dafür werde der Ärztemangel viel zu
massiv ausfallen. Zudem entstünden durch eine forcierte Zuwanderung
ausländischer Ärzte bislang meist unterschätzte Probleme, etwa folgenschwere
Missverständnisse bei der Behandlung, Konflikte zwischen deutschen und
ausländischen Ärzten, aber auch atmosphärische Verschlechterungen zulasten der
Patienten und ihrer Genesung.

Wirtschaftsberater: Bis 2030 fehlen Zehntausende Ärzte

Zwar räumen sie alle ein, der Ärztemangel sei derzeit in der Tat noch kein
dramatisches Problem. Schließlich muss in NRW niemand mehr als 20 Kilometer bis
zum nächsten Krankenhaus zurücklegen. Und auf einen Hausarzt kommen selten mehr
als 1671 Menschen pro Bezirk. Womit die Versorgung nach gängiger Definition als
gesichert gilt. Aber das dürfte sich bald ändern.
So werden den Wirtschaftsberatern von PriceWaterhouseCoopers (PwC) zufolge bis
2030 Zehntausende Ärzte fehlen. Ursächlich dafür ist zum einen, dass laut
Hartmannbund jeder dritte Hausarzt und jeder vierte niedergelassene Facharzt in
NRW in maximal fünf Jahren verrentet wird - während weniger junge Ärzte
nachkommen.

Zum anderen wird demografisch bedingt gerade die Bevölkerungsgruppe immer länger
leben, die den höchsten Behandlungsbedarf aufweist: die der Senioren. Das ist
schön. Aber: Dadurch wird es laut Ministerin Steffens auch zu "mehr
Mehrfacherkrankungen, mehr chronischen Erkrankungen, mehr Menschen mit
Einschränkungen und einem steigenden Versorgungsbedarf" kommen.

Naive Hoffnung auf Fachkräftemarkt

Gleichwohl bestreitet niemand, dass NRW von der Zuwanderung bislang profitierte.
Und niemand möchte auch nur einen der (Stand Ende 2014) 10.147 ausländischen
Ärzte nach Hause schicken. Schließlich ist der prognostizierte Mangel ja
unbestritten. Da kann man keinen entbehren. Und schon jetzt tragen ausländische
Ärzte dazu bei, die Versorgungsdichte angesichts der nahenden Probleme
hochzuhalten. Im Rheinland sind rund neun, in Westfalen-Lippe rund 15 Prozent
der Ärzte keine Deutschen. Von den Assistenzärzten in Westfalen ist jeder zweite
Ausländer. In einzelnen Kreisen liegt ihr Anteil sogar bei 80 Prozent. Am
stärksten waren zum Jahresende 2014 griechische Ärzte vertreten (1188), gefolgt
von Rumänen (982) und Syrern (565).

Dass man diese Zahlen aber so massiv erhöhen kann, bis sie den künftigen
Ärztebedarf stillen, bezweifelte am Dienstag auf dem Gesundheitskongress des
Westens ausgerechnet ein ausgewiesener Kenner des internationalen
Fachkräftemarktes: Carsten Klein, der Vorsitzende der Zentralen Auslands- und
Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit. Ihm zufolge werde unterschätzt,
dass Deutschland um die medizinischen Fachkräfte nicht nur mit Europa, sondern
auch mit Nordamerika konkurriere. Die Zahl der für Deutschland zu gewinnenden
Ärzte sei daher überschaubar.

Muttersprachler müssen Bürokratie übernehmen

Aber selbst wenn man den hiesigen Ärzte-Bedarf mit Ausländern komplett sättigen
könnte, wäre das gar nicht wünschenswert, so mahnen der Sozialverband VdK und
die Krankenhausgesellschaft NRW (KGNW). Deren Sprecher Lothar Kratz betont, die
Häuser bräuchten einen "ausgewogenen Mix aus einheimischen und zugewanderten
Ärzten", sonst drohten den Patienten Unannehmlichkeiten. Tatsächlich beobachten
Krankenhausleiter mit Sorge, dass ab einem bestimmten Prozentsatz ausländischer
Ärzte gerade bei älteren Patienten das Vertrautheitsgefühl im Krankenhaus rapide
abnimmt. Wenn die tiefe Vertrautheit fehle, die aus einer gemeinsamen Kultur und
Muttersprache resultiere, könne dies der Genesung schaden. Aus dieser Einsicht
heraus plädieren übrigens auch Pflegeexperten dafür, dass beispielsweise
eingewanderte Türken in türkischen Pflegeheimen betreut werden. Und dann gibt es
da noch eine weitere heikle Gefahr infolge forcierter Zuwanderung: Es kommt
Rivalität zwischen deutschen und ausländischen Ärzten auf. Deutsche Ärzte in
NRW-Krankenhäusern beklagten sich offenbar schon mehrfach darüber, es gebe in
ihrem Haus zu viele ausländische Kollegen. Die seien sicher wunderbare Menschen
und versierte Fachleute.

Ab einer bestimmten Menge von Fremdsprachlern werde die Arbeit für die
Muttersprachler jedoch unzumutbar, weil sie zu viel von dem auffangen müssten,
was die Fremdsprachler nicht leisten könnten. So berichten Stefan Schröter vom
Hartmannbund und Rudolf Henke vom Marburger Bund übereinstimmend, in
Krankenhäusern komme es zu einer für deutsche Ärzte problematischen
Arbeitsteilung. Die Muttersprachler müssten oft die gesamte bürokratische
Schriftarbeit übernehmen, Arztbriefe schreiben und Krankenkassenanfragen
beantworten - während die Zugewanderten operieren dürften und dadurch eine
ungleich bessere Ausbildung genössen. Das wiederum führt laut Stefan Schröter
"zu Verstimmungen bei deutschen Ärzten, über die niemand gerne spricht, die aber
leider nicht selten sind".

All das hat wohl auch die grüne Gesundheitsministerin Steffens bewogen, nun
deutlich die Grenzen der Zuwanderung zu betonen: So hilfreich sie in gewissem
Umfang auch sei - eins müsse jedem klar sein: "Allein durch Ärztinnen und Ärzte
aus dem Ausland werden wir die medizinische Versorgung nicht zukunftsfest machen
können."

UPDATE: 14. März 2016

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Donnerstag 17. März 2016 11:02 AM GMT+1

Johanna Mikl-Leitner;
"Kündigungsklausel" in Türkei-Deal gefordert

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 403 Wörter

HIGHLIGHT: Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat vor dem Gipfel


mit der Türkei vor zu viel Abhängigkeit gewarnt. Wenn die Türkei Vereinbarungen
nicht einhalte, müsse die EU schnell reagieren.

Vor dem EU-Türkei-Gipfel zur Flüchtlingskrise hat die österreichische


Innenministerin Johanna Mikl-Leitner vor zu großen Zugeständnissen an die Türkei
gewarnt. "Natürlich müssen wir mit der Türkei zusammenarbeiten, aber nicht um
jeden Preis", sagte Mikl-Leitner im ZDF-"Morgenmagazin". "Es geht darum, dass
wir unsere Werte nicht über Bord werfen."

Mikl-Leitner erinnerte daran, dass Ankara Anfang März die regierungskritische


Zeitung "Zaman" unter "Zwangsaufsicht" gestellt habe. Wenn die Türkei "daraufhin
auch noch belohnt wird mit Verhandlungen zur Vorverlegung der
Visa-Liberalisierung", dann müsse sich die EU die Frage stellen lassen, "ob wir
uns noch ernst nehmen".
Bei den Verhandlungen zur Visa-Liberalisierung müsse daher gelten, dass "alle
Kriterien eingehalten werden", sagte die österreichische Innenministerin.
Mikl-Leitner forderte eine "Kündigungsklausel". Die EU müsse die Vereinbarungen
"rasch kündigen" können, wenn die Türkei ihre Verpflichtungen nicht einhalte.
"Wir dürfen uns nicht in die volle Abhängigkeit mit der Türkei begeben", sagte
die Politikerin.

Grenz- und Außenschutz gewährleisten

Mikl-Leitner verteidigte zudem erneut die Einführung von Tageskontingenten zur


Flüchtlingsaufnahme durch Österreich. Beim jüngsten EU-Gipfel hätten die Staats-
und Regierungschefs vereinbart, dass die "Politik des Durchwinkens" beendet
werden müsse, und Österreich habe in diesem Sinne reagiert. Mithilfe der
Tageskontingente und in Abstimmung mit den Balkanstaaten sei es gelungen, die
Balkanroute für Flüchtlinge zu schließen. "Jetzt geht es weiter, alles
daranzusetzen, dass dieser gemeinsame Grenz- und Außenschutz auch wirklich
gewährleistet werden kann", sagte Mikl-Leitner.

Die EU-Staats- und -Regierungschefs suchen bei ihrem Gipfel ab Donnerstag einen
Durchbruch in den Verhandlungen mit der Türkei in der Flüchtlingskrise. Ankara
hat angeboten, alle neu auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge
zurückzunehmen. Im Gegenzug soll die EU für jeden so abgeschobenen Syrer einen
anderen legal aufnehmen. Ziel ist es, das Geschäft krimineller Schlepper zu
zerstören.

Gegen die geplanten Abschiebungen gibt es jedoch rechtliche Bedenken. Zudem


stoßen andere Forderungen Ankaras auf Vorbehalte. So droht Zypern mit einem Veto
gegen eine Ausweitung der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen. In Deutschland
stößt bei der CSU der geforderte Fall des Visa-Zwangs für türkische Bürger auf
Widerstand.

UPDATE: 17. März 2016

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Freitag 18. März 2016 11:47 AM GMT+1

Ifo-Chef;
Sinn skizziert für Deutschland Grenzen des Machbaren

RUBRIK: WIRTSCHAFT; Wirtschaft

LÄNGE: 214 Wörter


HIGHLIGHT: Ifo-Chef Sinn wirbt dafür, die Migration nach Europa zu stoppen. Wenn
Deutschland alle Bürgerkriegsflüchtlinge aus Afrika wie Syrer behandeln wolle,
überschreite das Land die Grenzen des Machbaren.

Der scheidende Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat sich gegen
eine weitere Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland ausgesprochen. "Die
Migration der Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa sollte gestoppt werden", sagte
Sinn der "Frankfurter Neuen Presse" (Freitag). "Wenn wir alle
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Afrika mit der gleichen Begründung aufnehmen
wollten, würden wir die Grenzen des technisch und soziologisch Machbaren um ein
Vielfaches überschreiten."

Man müsse den Leuten vor Ort oder in unmittelbaren Nachbarländern helfen, wo sie
in Sicherheit seien, forderte der Ökonom. Das sehe auch die Genfer
Flüchtlingskonvention so vor. "Im Übrigen haben wir natürlich eine historische
und auch im Grundgesetz verankerte Verpflichtung, den von Staaten politisch
Verfolgten, also nicht den Bürgerkriegsflüchtlingen, Asyl zu gewähren." Der
Anteil dieser Menschen habe im vergangenen Jahr aber nur 0,7 Prozent der
erledigten Anträge betragen.

Sinn steht seit 1999 an der Spitze des Ifo-Instituts. Der monatlich
veröffentlichte Ifo-Geschäftsklimaindex gilt als wichtigster Frühindikator für
die deutsche Wirtschaft. Sinns Nachfolger wird im April der Mannheimer
Wirtschaftsprofessor und Präsident des Zentrums für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW), Clemens Fuest.

UPDATE: 18. März 2016

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Samstag 26. März 2016 8:40 AM GMT+1

Idomeni;
Wie Schlepper ihre tödlichen "Spiele" verkaufen

AUTOR: Paul Nehf

RUBRIK: DEBATTE; debatte

LÄNGE: 571 Wörter


HIGHLIGHT: Wer Tausende Kilometer bis nach Griechenland geflohen ist, kann nicht
verstehen, dass es nicht mehr weiter geht. Schlepper haben Alternativen: das
"Taxispiel", das "Zugspiel" oder das "Bootspiel".

Zum Umgang mit der Flüchtlingskrise gehört, dass mit politischen Parolen
komplexe Rechts- und Gesetzeslagen vereinfacht werden. Und dass an anderer
Stelle mit gut klingenden Rechtsbegriffen vermeintlich einfache Lösungen für die
komplizierte Realität präsentiert werden.

Beliebt ist es in diesen Tagen, zwischen Wirtschaftsflüchtlingen auf der einen


und Kriegsflüchtlingen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Es klingt ja auch
so einfach: Wer vor Krieg flieht, der darf in die EU, wer aus wirtschaftlichen
Gründen flieht, der nicht. Als Trennlinien gelten Staatsgrenzen: Iraker, Syrer
und Jemeniten ins Töpfchen, der Rest ins Kröpfchen.

Deshalb dürfen Menschen aus anderen Ländern auch nicht an den


Umsiedlungsprogrammen teilnehmen, mit denen eben jene "Kriegsflüchtlinge" aus
Griechenland in andere EU-Staaten verteilt werden. Politiker aber vergessen
dabei zu erwähnen, dass das Asylrecht solche Unterscheidungen gar nicht kennt.

Wer das für Paragrafenreiterei hält, dem sei ein Gespräch mit den vielen
afghanischen Flüchtlingen ans Herz gelegt, die nun in Griechenland gestrandet
sind. Deren Asylanträgen, wenn sie sie denn stellen, wird in der großen Mehrheit
stattgegeben, weil sie in der Heimat einem bürgerkriegsähnlichen Zustand und der
Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind.

Die Hasara, Todfeinde der Taliban

Es ist eben nicht nur moralisch verwerflich, unter Opfern des IS und der Taliban
zu unterscheiden. Es ist auch rechtlich unzulässig, die einen als
Kriegsflüchtlinge zu akzeptieren und den anderen pauschal zu unterstellen, nur
aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu fliehen.

Die meisten Afghanen, die ich in Griechenland getroffen habe, sind Hasara. Das
sieht man ihnen schon an ihren asiatischen Gesichtszügen an. Die Hasara sind
eine schiitische Minderheit, die in Afghanistan seit Jahrzehnten verfolgt wird.
Wegen ihres Glaubens sind sie Todfeinde der radikalsunnitischen Taliban. Und die
sind auf dem Vormarsch.

Wenn ich den Afghanen nun erklären musste, dass es für sie erst einmal nicht
weitergehen würde, weil sie als Wirtschaftsmigranten gelten, konnten sie es
nicht glauben. Sie hatten eine Tausende Kilometer lange Reise hinter sich. Zu
Fuß über Berge und durch Flüsse, in Lkw quer durch den Iran und die Türkei, und
am Ende im Schlauchboot auf die griechischen Inseln.

Hilfsbereitschaft hat Grenzen

Sie sagten, sie hätten nirgendwo unterwegs bleiben können, die einzige Chance,
zu überleben, sei in Europa. Und sie erinnerten daran, dass in dem Krieg in
ihrer Heimat in den vergangenen 15 Jahren auch Tausende westliche Soldaten
gestorben sind.

Aus Athen hatte ich über zwei Afghanen berichtet, beide 16 Jahre alt, die mir
von den Angeboten der Schlepper erzählten. Diese nennen die Fluchtmöglichkeiten
euphemistisch "Spiele": Das Taxispiel hinter die mazedonische Grenze, das
Zugspiel quer über den Balkan - oder das unweit teurere Bootspiel von der
albanischen Küste aus über das Mittelmeer nach Italien.

Auf den Artikel hin meldete sich ein Rentner aus Köln bei mir. Er wollte Masood
und Surhab bei sich aufnehmen und bemühte sich darum, ein Visum für die beiden
zu bekommen. Doch er hatte, wenig überraschend, kein Glück. Die schlechte
Nachricht, die ich Masood daraufhin schickte, hat er bis heute nicht gelesen.
Ich frage mich, ob er am Ende gespielt hat.

Der Autor ist Volontär der Axel Springer Akademie, hat Politik des Nahen und
Mittleren Osten studiert und war gerade in Griechenland.

UPDATE: 26. März 2016

SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH

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Samstag 26. März 2016 11:29 AM GMT+1

Sechs Wochen Flucht;


Vergewaltiger und in ihn verliebte Wärterin gefasst

RUBRIK: PANORAMA; Panorama

LÄNGE: 389 Wörter

HIGHLIGHT: Es klingt wie eine Szene aus einem Actionfilm: Ein Sexualstraftäter
bricht mithilfe einer Wärterin aus dem Gefängnis aus. Die beiden verstecken
sich, schicken eine Videobotschaft. Etwas verrät sie.

Ende einer langen Flucht: Ein in der Schweiz aus der Haft geflohener Krimineller
und die in ihn verliebte Gefängniswärterin sind in Italien geschnappt worden.
Das Paar sei am Freitag in Romano di Lombardia in Norditalien festgenommen
worden, teilte ein Polizeisprecher mit. Die Wärterin hatte dem Häftling die
Flucht ermöglicht, die beiden waren sechs Wochen lang gemeinsam unterwegs. Bei
dem Ausbrecher handelt es sich um einen 27-jährigen Mann, der wegen
Vergewaltigung verurteilt worden war.

Die beiden lebten ersten Ermittlungen zufolge in den vergangenen Wochen in


Romano di Lombardia und waren kurz davor, in den Nahen Osten weiterzureisen. Es
gebe aber keinen "terroristischen Hintergrund", sagte ein italienischer
Polizeisprecher. Vielmehr handele es sich um eine "Gefühlsangelegenheit". Nach
seiner Festnahme soll das Paar nun an die Schweiz ausgeliefert werden.
Hassan K. ist ein Sexualstraftäter. Der gebürtige Syrer soll 2012 eine
19-Jährige in einer Asylunterkunft im schweizerischen Eschlikon missbraucht
haben. Zuletzt soll er laut "Blick" im November 2014 eine 16-Jährige
vergewaltigt haben. Vier Jahre hat er im Dezember 2015 dafür bekommen. Bis vor
Kurzem saß er in der Haftanstalt Limmattal im zürcherischen Dietikon.

Tischtuch mit Schmetterlingsmuster

Bei der Flucht Anfang Februar soll ihn die 32-jährige Angela M. aus der Zelle
befreit haben. Sie war Aufseherin in der Justizvollzugsanstalt - und
Kampfsportlerin. Beide waren in einem schwarzen BMW X1 unterwegs.

Nach Informationen des "Tagesanzeigers" hatten die Gefängnisaufseherin und der


Häftling am 16. März eine Videobotschaft veröffentlicht, in der die Frau sich
bei der Familie entschuldigte und der wegen Vergewaltigung verurteilte Mann
seine Unschuld beteuerte.

Auffällig im Film war ein Tischtuch mit buntem Schmetterlingsmuster. Unklar ist,
ob die Polizei durch den Film auf die Spur gebracht wurde. Der "Tagesanzeiger"
zitiert den Sprecher der Kantonspolizei mit den Worten: "Wir hatten das Paar
schon einige Tage vorher im Visier und hätten es auch ohne Videobotschaft
gefunden."

Bei der Identifikation des Hauses hätten die Aufnahmen, die M. verschickt hatte,
eine wichtige Rolle gespielt. Im Hintergrund sei klar eine Wohnung zu erkennen
gewesen. Die Bilder hätten der Polizei Anhaltspunkte gegeben, nach welcher Art
von Gebäude sie hätten suchen müssen.

UPDATE: 26. März 2016

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Mittwoch 30. März 2016 11:22 AM GMT+1

Asylbewerber;
Wenn jugendliche Flüchtlinge zu Pflegeeltern kommen

AUTOR: Klaus Tscharnke

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 817 Wörter


HIGHLIGHT: Meist leben sie in Heimen oder Wohngruppen, immer mehr junge
Flüchtlinge finden aber auch einen Platz bei deutschen Pflegeeltern. Ein
fränkisches Ehepaar hat sich dieser Herausforderung gestellt.

Susanne Philipp macht aus ihren anfänglichen Bedenken keinen Hehl: "Wir haben
Neuland betreten. Das war ein stückweit ein Wagnis". Trotzdem haben sie und ihr
Ehemann Karl-Heinz den Schritt bis heute nicht bereut. Denn am Ende hatte die
Überzeugung den Ausschlag gegeben: "Da müssen wir helfen." Und inzwischen
empfindet Susanne Philipp nur noch Glück. "Wenn Jamal (Name von der Redaktion
geändert) die Treppe herunterkommt, geht die Sonne auf", erzählt die 52-Jährige.

Jamal - das ist ein 17 Jahre alter afghanischer Flüchtling. Nach monatelanger
Flucht war der junge Afghane im April 2015 nach Nürnberg gelangt - der Bruder
tot, die Eltern seit seiner Flucht aus dem bürgerkriegszerrütteten Land
vermisst. Seit dem vergangenen Herbst sind Karl-Heinz und Susanne Philipp seine
neue Familie. Das im fränkischen Rednitzhembach (Landkreis Roth) lebende Ehepaar
hat Jamal als Pflegekind aufgenommen - neben ihrer 18 Jahre alten Tochter.
Insgesamt haben sie drei leibliche Kinder.

Deutschkurs am Küchentisch

Viel hatte Jamal von Deutschland nicht gewusst, als er im November 2014 aus
Afghanistan floh. Aber ein Freund seines Vaters sei der Meinung gewesen,
Deutschland sei ein gutes Land. In Nürnberg von Vertretern des Jugendamtes vor
die Wahl gestellt, in ein Heim oder eine Wohngruppe oder eben bei Pflegeltern
unterzukommen, musste Jamal nicht lange nachdenken: "Bei Pflegeeltern, da lerne
ich viel schneller Deutsch. Im Heim bin ich wieder nur unter Afghanen", erzählt
er in ganz passablem Deutsch.

In seiner neuen Heimatstadt Rednitzhembach, eine halbe S-Bahn-Stunde von


Nürnberg entfernt, besucht er inzwischen die 9. Klasse der Mittelschule.
Verkäufer will er einmal werden. Seine Lieblingsfächer sind Deutsch und Sport.
In seiner Freizeit kickt er in der B-Jugend des SV Rednitzhembach. Schon im
Afghanistan habe er viel Sport getrieben - meist aber nur im Garten seines
Elternhauses. "Denn das Haus zu verlassen, war gefährlich. Überall lauerten die
Taliban", erzählt der aus der Provinz Wardak stammende Afghane.

Pflegeletern sind längst zu Eltern geworden

In seiner neuen Familie fühlt sich der in schwarz-weißem Batik-T-Shirt


gekleidete junge Afghane sichtlich wohl. "Mit meinen neuen Eltern", so
versichert Jamal immer wieder voller Dankbarkeit, "habe ich keine Probleme". Und
auch für die beiden Pflegeeltern war nach zwei bis drei gemeinsamen
Probe-Wochenenden klar: "Die Chemie stimmt. Das passt". Daran habe sich auch
nach Monaten nichts geändert, versichert der 57-Jährige Pflegevater.

Dass man sich mit einem Moslem als neuem Familienmitglied auf manche
Einschränkung habe einstellen müssen, das war Philipp freilich von Anfang an
klar. Auf den Tisch im verglasten Wintergarten des Vorstadt-Reihenhauses kommt
afghanisch-fränkische Küche mit viel Reis und Gemüse. So bestand das
Weihnachtsmenü der Familie aus afghanischem Hühnchen mit sauren fränkischen
Bratwürsten.

Integration beim Abendessen

Dass das Hähnchen "halal", also nach islamischen Glaubensvorschriften


geschlachtet sein musste, machte die Vorbereitung des Weihnachtsessens nicht
gerade einfacher. "Das bekamen wir nur in einem speziellen Laden in Nürnberg",
erzählt Karl-Heinz Philipp. Klar, sei manches etwas komplizierter. Dafür habe
die Familie viel gelernt. "Wir sitzen oft zusammen. Dabei erzählt uns Jamal von
seinem früheren Leben", berichtet Susanne Philipp.

Wenn es darum geht, etwa die afghanische Art des Brotbackens zu erklären, hilft
auch schon mal das Internet-Videoportal Youtube. "Das Brot, das meine Mutter
gebacken hat, war köstlich", schwärmt er. Heimweh habe er dennoch nur selten,
versichert er. "Ich habe dort eh niemanden mehr." Richtig traurig werde er, wenn
er in den TV-Nachrichten Bilder von Anschlägen in Afghanistan sieht. "Jeden Tag
dieser Terror und die ganzen Menschen, die dabei sterben", sagt Jamal mit
stockender Stimme.

Flüchtlinge privat aufnehmen immer noch die Ausnahme

Nach Angaben der Diakonie Rummelsberg, die auch Jamal betreut und vermittelt
hat, ist die Unterbringung junger Flüchtlinge in einer deutschen Pflegefamilie
eher die Ausnahme. Nicht viele Familien seien dazu bereit. "Einen 15 oder 16
Jahre alten Syrer oder Afghanen in die Familie aufzunehmen, ist schon was
Besonderes", räumt Elisabeth Schröder ein. Sie ist in der Nürnberger
Clearingstelle der Rummelsberger Diakonie für die Erstversorgung der
unbegleiteten jungen Flüchtlinge zuständig.

Manche Jugendliche hätten an einer Unterbringung bei Pflegeltern auch gar kein
Interesse. "Viele haben ja noch ihre leiblichen Eltern in ihrer Heimat oder
irgendwo in Europa. Andere sehen allerdings im Leben in einer deutschen Familie
auch eine große Chance", berichtet Schröder. Die meisten unbegleiteten jungen
Flüchtlinge seien in Heimen und Wohngruppen mit bis zu zehn Mitglieder
untergebracht. Allein im Jahr 2015 hatte die Rummelsberger Diakonie 15 solche
Flüchtlings-WGs neu geschaffen. "Das war für uns schon ein großer Kraftakt."

UPDATE: 30. März 2016

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Freitag 1. April 2016 1:03 PM GMT+1

Flüchtlingskrise;
Kanadas Migrationsminister erklärt Merkel zur "Heldin"

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 280 Wörter


HIGHLIGHT: 44.000 Flüchtlinge kommen dieses Jahr, sagt Kanadas
Einwanderungsminister John McCallum. Nicht zu vergleichen mit der Situation in
Europa. Für die deutsche Kanzlerin fühlt er allergrößte Hochachtung.

Der kanadische Einwanderungsminister John McCallum hat den Einsatz von


Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für Flüchtlinge gewürdigt. Sie sei "eine
Heldin", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Merkel vermittle, dass es moralisch richtig sei, für Flüchtlinge offen zu sein
und bleibe bei dieser Haltung. "Das ist erstaunlich und von einer
unvergleichlichen Großzügigkeit und Menschlichkeit", so McCallum.

Die Ausmaße der Flüchtlingssituation in Europa könne man sich in Nordamerika


kaum vorstellen, fügte der Minister hinzu. Das liege teils an geografischen
Gründen: Für viele Flüchtlinge sei es einfacher, nach Europa zu gelangen.

Auch habe die kanadische Regierung stets betont, dass "die Türen weit geöffnet
sind für Flüchtlinge", es sich jedoch "um eine kontrollierte Größenordnung
handeln muss". Aufgenommen würden die Schwächsten, erklärte McCallum.

Insgesamt sollen dieses Jahr 44.000 Flüchtlinge nach Kanada kommen. 25.000 von
diesen 44.000 würden mit staatlicher Unterstützung kommen, die anderen mit
privater.

Die Angaben über die 25.000 mit staatlicher Unterstützung gekommenen Flüchtlinge
wurde jüngst um 10.000 nach oben geschraubt. Damit reagiere die Regierung auch
auf die zahlreichen Meldungen von Kanadiern, die die Aufnahme von Flüchtlingen
privat finanzieren wollten, sagte McCallum in einem CBS-Interview während seiner
Deutschlandreise.

Die Liberale Partei hatte im Oktober die Parlamentswahl gewonnen und


angekündigt, mehr Flüchtlingen ein Zuhause zu geben. Wegen des seit Jahren
andauernden Bürgerkrieges sind fast fünf Millionen Syrer ins Ausland geflohen,
die meisten haben in den Nachbarländern Türkei, Libanon, Jordanien und Irak
Zuflucht gefunden.

UPDATE: 1. April 2016

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Freitag 8. April 2016 10:43 AM GMT+1

Empfang in Bellevue;
Hier photobombt Gauck eine Journalistin

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 235 Wörter

HIGHLIGHT: Live-Interviews sind dank Smartphones nicht unbedingt sofort als


solche zu erkennen: So platzte Bundespräsident Joachim Gauck mitten in eine
WDR-Sendung - sehr zur Freude aller Beteiligten.

Am Donnerstagabend lud Bundespräsident Joachim Gauck zu einer


Flüchtlingsdiskussionsrunde im Schloss Bellevue ein. Unter den Gästen befand
sich auch der Journalist, Schauspieler und Syrer Sami Alkomi, der als Experte
zum Thema redete. Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung wurde er von der
WDR-Redakteurin Isabel Schayani interviewt.

Das Gespräch der beiden wurde live via Facebook für die WDR-Sendung "WDRforyou"
gestreamt, die sich gezielt der Integration von Flüchtlingen widmet. Sie führten
ihr Interview auf Arabisch und Persisch, um zuschauende Flüchtlinge live an dem
Abend in Bellevue teilhaben zu lassen. Plötzlich tauchte ein Mann hinter der
Journalistin auf: Es war der Bundespräsident persönlich. Gauck schaute erst
ernst in die Kamera, die Redakteurin drehte sich um und beide brachen in
schallendes Gelächter aus.

Vor lauter Schreck keine Fragen

Schayani war sichtlich geschmeichelt von der Aufmerksamkeit Gaucks und erklärte
ihm, was sie gerade machten. "Ist ja toll", freute sich Gauck. Allerdings wurde
er dann etwas unbeholfen neben Alkomi gefilmt, ohne dass er selbst vor der
Kamera etwas sagte.

"Lustig, aber warum habt ihr ihn denn nichts gefragt?", lautete daher einer der
Kommentare beim Kurznachrichtendienst Twitter, wo der WDR einen Ausschnitt des
Videos veröffentlichte. Ein anderer User lobte das spontane Video dagegen als
"sehr, sehr süß, eine wirklich herzerwärmende Aufnahme".

UPDATE: 8. April 2016

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Sonntag 10. April 2016 11:27 AM GMT+1

Alarmbereitschaft;
Griechische Polizei befürchtet Aufstand in Idomeni

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 473 Wörter

HIGHLIGHT: Alarmstufe bei der griechischen Polizei: Im Lager Idomeni wurde zu


einem Aufstand aufgerufen. Auf den Inseln in Griechenland sind die
Flüchtlingszahlen nach dem EU-Türkei-Pakt aber deutlich gesunken.

Ein neues Flugblatt hat die Sicherheitskräfte in der nordgriechischen Grenzstadt


Idomeni in Alarmbereitschaft versetzt.

Die mehr als 11.000 Flüchtlinge des Elendslagers werden darauf in arabischer
Sprache aufgefordert, sich am Sonntagmorgen um neun Uhr zu versammeln, um über
die Grenze nach Mazedonien zu marschieren, berichtete der Radiosender Athina
984. Wer die Flugblätter verteilt habe, sei bisher nicht bekannt.

Bereits Mitte März hatte ein ähnliches Flugblatt für einen Sturm auf den
Grenzzaun gesorgt. Rund 2000 Flüchtlinge waren damals der Aufforderung gefolgt,
einen reißenden Fluss zu überqueren.

Drei Menschen waren dabei ertrunken. Wer es nach Mazedonien schaffte, wurde von
den dortigen Sicherheitskräften umgehend zurückgeschickt.

Griechische Medien vermuten, dass Aktivisten hinter diesen gefährlichen Aktionen


stecken. Die freiwilligen Helfer stehen in Griechenland zunehmend in der Kritik,
weil sie zum Teil eigene politische Ziele wie die Grenzöffnung verfolgen.

80 Prozent weniger Flüchtlinge in Griechenland

Nach Griechenland sind seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens vor drei


Wochen 80 Prozent weniger Flüchtlinge aus der Türkei gelangt. Das berichtet die
"Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" auf Grundlage von Zahlen der
EU-Grenzschutzbehörde Frontex.

Von Anfang des Jahres bis zum EU-Gipfel am 18. März, bei dem der Pakt zur
Rücknahme von Flüchtlingen aus der Türkei vereinbart wurde, kamen im
Durchschnitt 1676 Flüchtlinge nach Griechenland. Seitdem das Abkommen gilt,
seien es dann nur noch 337 Menschen am Tag gewesen.

Griechenland hatte im Rahmen des Flüchtlingspaktes mit Ankara am vergangenen


Montag die ersten Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben. Am selben Tag waren die
ersten Syrer aus türkischen Flüchtlingslagern in Deutschland und einigen an
deren EU-Ländern aufgenommen worden. Am Samstag waren zum ersten Mal seit
Inkrafttreten des Abkommens wieder Flüchtlinge in der Ägäis ertrunken.

Vatikan mischt sich ein

Die Lage der Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos wurde vom Vatikan
kritisiert. Die Voraussetzungen für einen "angemessenen Empfang" seien dort
"unzureichend", sagte Kardinal Antonio Maria Veglio in einem Interview der
vatikanischen Tageszeitung "Osservatore Romano".

Mit seinem Besuch der Insel am kommenden Samstag wolle Papst Franziskus die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diese Zustände lenken.

Zugleich wandte sich der Präsident des Päpstlichen Rates für Migranten gegen das
Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Es handele sich um eine
"kurzsichtige" Vereinbarung, die die Steuerung der Flüchtlingsströme unter
Achtung der Menschenwürde nicht zulasse.

Veglio forderte die Einrichtung "humanitärer Korridore", die eine sichere


Einreise nach Europa ermöglichten. Dafür wolle der Papst mit seiner Reise nach
Lesbos und der Begegnung mit Flüchtlingen eintreten.

UPDATE: 10. April 2016

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Montag 11. April 2016 12:56 PM GMT+1

Mazedonische Grenze;
Polizei drängt Flüchtlinge aus Idomeni mit Tränengas zurück

RUBRIK: POLITIK; Mit Audio Kommentar

LÄNGE: 432 Wörter

HIGHLIGHT: Dramatische Zuspitzung der Ereignisse an der griechisch-mazedonischen


Grenze: Die mazedonische Polizei stoppt die Flüchtlinge aus Idomeni mit
Tränengas, die versuchen die Absperrungen zu durchbrechen.

Die Lage im griechischen Grenzort Idomeni eskaliert erneut. Hunderte Flüchtlinge


und andere Migranten versuchten am Sonntag, den mazedonischen Grenzzaun zu
stürmen. Der Zaun steht nicht exakt auf der Grenzlinie, sondern einige Meter
landeinwärts auf mazedonischem Gebiet.

Videos von Reportern vor Ort zeigen, wie die Menschen über eine große Weide in
Richtung Grenzzaun rennen. Sie werfen Steine, die mazedonischen
Sicherheitskräfte antworten mit Tränengas, dumpfe Explosionen sind zu hören.
Tweets von Beobachtern vor Ort zeigen Menschen, die nach dem Einsatz von
Tränengas behandelt werden müssen.

Bei den Ausschreitungen sind mehr als 300 Menschen verletzt worden.

Mazedonien bestätigte die von Griechenland gemeldeten Tumulte vom Sonntagmittag,


machte aber griechische Beamten für den Tränengaseinsatz verantwortlich..

Auslöser für die Eskalation war griechischen Medien zufolge ein Flugblatt auf
Arabisch, das bereits am Samstag verbreitet worden war. Darin wurden die rund
11.000 Flüchtlinge des Elendslagers für Sonntagmorgen zum "Marsch auf die
mazedonische Grenze" aufgerufen.

Griechische Medien berichteten, dass sich diese Nachricht schnell auch in


anderen Flüchtlingslagern in Grenznähe verbreitet habe. Flüchtlinge seien
deshalb am Sonntag extra in der Hoffnung nach Idomeni gereist, die Grenze
passieren zu können.

Bereits Mitte März hatte ein ähnliches Flugblatt für einen Sturm auf den
Grenzzaun gesorgt. Rund 2000 Flüchtlinge waren damals der Aufforderung gefolgt,
einen reißenden Fluss zu überqueren.

Drei Menschen waren dabei ertrunken. Wer es nach Mazedonien schaffte, wurde von
den dortigen Sicherheitskräften umgehend zurückgeschickt.

80 Prozent weniger Flüchtlinge in Griechenland

Nach Griechenland sind seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens vor drei


Wochen 80 Prozent weniger Flüchtlinge aus der Türkei gelangt. Das berichtet die
"Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" auf Grundlage von Zahlen der
EU-Grenzschutzbehörde Frontex.

Von Anfang des Jahres bis zum EU-Gipfel am 18. März, bei dem der Pakt zur
Rücknahme von Flüchtlingen aus der Türkei vereinbart wurde, kamen im
Durchschnitt 1676 Flüchtlinge nach Griechenland. Seitdem das Abkommen gilt,
seien es dann nur noch 337 Menschen am Tag gewesen.

Griechenland hatte im Rahmen des Flüchtlingspaktes mit Ankara am vergangenen


Montag die ersten Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben. Am selben Tag waren die
ersten Syrer aus türkischen Flüchtlingslagern in Deutschland und einigen anderen
EU-Ländern aufgenommen worden. Am Samstag waren zum ersten Mal seit
Inkrafttreten des Abkommens wieder Flüchtlinge in der Ägäis ertrunken.

UPDATE: 11. April 2016

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Samstag 16. April 2016 11:59 AM GMT+1

Griechenland-Besuch;
Papst soll angeboten haben, Flüchtlinge mitzunehmen

RUBRIK: POLITIK; Politik

LÄNGE: 423 Wörter

HIGHLIGHT: Ministerpräsident Tsipras und hohe orthodoxe Geistliche haben dem


Papst einen herzlichen Empfang in Griechenland bereitet. Franziskus setzt auf
Lesbos ein Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen.

Papst Franziskus hat am Sonntag zusammen mit Führern der orthodoxen Kirche auf
der griechischen Insel Lesbos ein Zeichen der christlichen Solidarität mit
Flüchtlingen gesetzt. Bei seiner Ankunft auf den Flughafen in Mytilene wurde er
vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras begrüßt, der den Besuch des
katholischen Kirchenoberhaupts historisch nannte.

Zusammen mit dem geistlichen Oberhaupt der orthodoxen Christen, Patriarch


Bartholomaios I., und dem Athener Erzbischof und Oberhaupt der griechischen
Kirche Hieronymos II. wollte Franziskus mit 250 Flüchtlingen sprechen, denen
nach dem Abkommen der EU mit der türkischen Regierung die Abschiebung in die
Türkei droht.

Große Erwartungen

Dutzende von Migranten, die nicht zu diesen Auserwählten gehörten, versammelten


sich in dem Flüchtlingslager und hießen Franziskus willkommen. Auf ihren
Plakaten und Spruchbändern stand "Papst, Sie sind unsere Hoffnung", "Retten Sie
bitte das jesidische Volk" und "Wir sind auch Menschen".

Der griechische Fernsehsender ERT berichtete, Franziskus habe angeboten, nach


seinem fünfstündigen Aufenthalt auf Lesbos zehn Flüchtlinge in seinem Flugzeug
mit nach Italien zu nehmen - offenbar acht Syrer und zwei Afghanen. Die Mitnahme
der Afghanen wäre eine sehr starke Geste in einer Zeit, in der Flüchtlinge aus
diesem Land in der EU nicht mehr mit der Anerkennung ihrer Asylanträge rechnen
können. Vatikansprecher Federico Lombardi wollte sich zu dem Bericht nicht
äußern.

Tsipras erklärte, der Papstbesuch auf Lesbos biete Anlass die Notwendigkeit zu
betonen, legale Fluchtwege für Menschen zu öffnen, die vor Kriegen und
Konflikten fliehen. Er sei zudem stolz auf das griechische Volk, das Flüchtlinge
willkommen heiße trotz der eigenen Not durch Sparmaßnahmen, die ihm von EUund
IWFauferlegt worden seien.

Tsipras nennt Besuch historisch

"Ich bin stolz darauf, insbesondere in einer Zeit, wenn einige unsere Partner -
sogar im Namen des christlichen Europas - Mauern und Zäune errichten, um
schutzlose Menschen davon abzuhalten, ein besseres Leben zu finden. Deshalb
stufe ich Ihren Besuch als historisch und wichtig ein", erklärte Tsipras bei der
Begrüßung des Papstes.
Franziskus und die orthodoxen Kirchenführer begrüßten sich mit großer
Herzlichkeit. Mit acht Flüchtlingen wollten sie zusammen Mittag essen und dabei
ihren Berichten von Flucht vor Konflikten, Kriegen und Armut zuhören. Danach
wollten sie zusammen beten und zum Gedenken an die bei der Überfahrt von der
türkischen Küste ertrunkenen Flüchtlingen einen Blumenkranz ins Meer werfen.

UPDATE: 16. April 2016

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Mittwoch 20. April 2016 9:36 AM GMT+1

Polizeieinsatz;
Schießerei in München nach Sorgerechtsstreit

RUBRIK: REGIONALES; Regionales

LÄNGE: 219 Wörter

HIGHLIGHT: Großeinsatz in München: Ein Familienkrach eskaliert, ein Mann zieht


eine Waffe. Schwer bewaffnete Polizisten riegeln das Viertel ab, das SEK kann
den Schützen schließlich überwältigen.

Ein eskalierter Sorgerechtsstreit hat einen Großeinsatz der Polizei am


Dienstagabend in München ausgelöst. Darauf deuteten erste Erkenntnisse hin,
teilte die Polizei mit. Ein 40 Jahre alter Mann aus dem Irak hatte dabei einem
24-Jährigen Syrer mit Schüssen schwere Verletzungen zugefügt. Dann drohte er mit
der Waffe in der Hand auf dem Gehweg über drei Stunden lang, sich selbst zu
erschießen. Spezialeinsatzkräfte konnten den Mann schließlich überwältigen.

Bei dem Polizeieinsatz erlitt der 40-Jährige eine leichte Schusswunde. Er wurde
wie auch der schwer verletzte 24-Jährige in ein Krankenhaus gebracht. Die
24-jährige Frau des mutmaßlichen Schützen, die in den Streit involviert war,
blieb unverletzt. Die beiden haben gemeinsame Kinder. Der Angeschossene soll
ersten Berichten zufolge der Onkel der Syrerin sein. Die Ermittler wollen im
Lauf des Tages weitere Einzelheiten mitteilen.

Der Streit war am Dienstagabend im beliebten Wohnviertel Maxvorstadt unweit der


Münchner Innenstadt zwischen den Beteiligten eskaliert. Als die Polizei eintraf,
versuchte sie es zunächst mit Verhandlungen. Dann musste aber doch ein
Spezialeinsatzkommando (SEK) eingreifen. "Das war ein richtiger Zugriff, weil er
nicht zugänglich war für Argumente", berichtete ein Polizeisprecher. "Da hat man
sich andere Maßnahmen überlegt."

UPDATE: 20. April 2016

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