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„Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu lösen...“ Goethe
Es gibt in Goethes Leben ein Zentrum, das den Großteil seiner Dichtung durchstrahlt: die starke Bindung an eine Frau. Ihr Tod stürzte ihn in jungen Jahren in Verzweiflungund Schuldgefühle, bis er endlich Beruhigung fand in ihrer lebenslangen Feier und, wie er gewiß war, in von ihr empfangenen Zeichen. Sein eigener Unsterblichkeitsglaubefand Bestätigung, indemer „Sie“ –Neuplatoniker,der er war – als einen Abglanz göttlicher Wahrheit erlebte. Dies behielt er für sich. Da er sich als Glied einer Reihe „wiederholter Spiegelungen“ in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Ha8s und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere „Schlüssel“, „das Rätsel zu lösen“. Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk.
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Leseprobe aus: "Goethe aus Goethe gedeutet" von Eva Hoffmann
„Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu lösen...“ Goethe
Es gibt in Goethes Leben ein Zentrum, das den Großteil seiner Dichtung durchstrahlt: die starke Bindung an eine Frau. Ihr Tod stürzte ihn in jungen Jahren in Verzweiflungund Schuldgefühle, bis er endlich Beruhigung fand in ihrer lebenslangen Feier und, wie er gewiß war, in von ihr empfangenen Zeichen. Sein eigener Unsterblichkeitsglaubefand Bestätigung, indemer „Sie“ –Neuplatoniker,der er war – als einen Abglanz göttlicher Wahrheit erlebte. Dies behielt er für sich. Da er sich als Glied einer Reihe „wiederholter Spiegelungen“ in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Ha8s und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere „Schlüssel“, „das Rätsel zu lösen“. Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk.
„Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu lösen...“ Goethe
Es gibt in Goethes Leben ein Zentrum, das den Großteil seiner Dichtung durchstrahlt: die starke Bindung an eine Frau. Ihr Tod stürzte ihn in jungen Jahren in Verzweiflungund Schuldgefühle, bis er endlich Beruhigung fand in ihrer lebenslangen Feier und, wie er gewiß war, in von ihr empfangenen Zeichen. Sein eigener Unsterblichkeitsglaubefand Bestätigung, indemer „Sie“ –Neuplatoniker,der er war – als einen Abglanz göttlicher Wahrheit erlebte. Dies behielt er für sich. Da er sich als Glied einer Reihe „wiederholter Spiegelungen“ in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Ha8s und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere „Schlüssel“, „das Rätsel zu lösen“. Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk.
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Warum ist Wahrheit fern und weit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Trilogie der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Pandora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Der Brutigam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5. Namen, Parechese und Paronomasie, Buchstaben. . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6. Vergangenheit und Gegenwart in Eins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7. Die Zahl Sieben. Harzreise im Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 8. Sonette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 9. Das geopferte Mdchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10. Helena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 11. Andere Grenzberschreitungen in Faust II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 12. akuntal. Indisches Vor-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 13. Das Nubraune Mdchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 14. Makarie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 15. Wandrer und Pchterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 16. Das Mrchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 17. West-stlicher Divan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 18. Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 19. Kstchen und Schlo; Schlssel und Schlssel. . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 20. Himmel: Firmament und Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 Abkrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Goethe-Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Benutzte Primr- und Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 5 1. Warum ist Wahrheit fern und weit? Dieses Buch geht, wie der Titel sagt, von Goethe aus. Es versucht, seinen Intentio- nen nachzudenken. ber alles von ihm in Worte Gefate liegt eine unbersehba- re Menge von Literatur vor. Sollte man dies nun eine Frage, die sich gleich zu Beginn dieser Arbeit vor ber dreiig Jahren stellte sollte man, wenn man einem Dichter auch als Person gerecht zu werden sucht und seine Absichten zu beden- ken trachtet, das, was er bewut nicht klar ausgesprochen oder worber er geschwiegen 1 hat, im Zwielicht belassen oder knnte es in mehrfachem Sinne das Rechte sein, aufzugreifen, was zwischen den Zeilen steht? Den Ausschlag geben die unzhligen und vielfltigen Andeutungen und Hinweise von Goethe selbst, die ber das gesamte Werk verstreut sind und, einmal als solche wahrgenommen, den Enkeln 2 eine Botschaft bereitgelegt haben: jene von der Nachwelt immer wieder zitierten und dennoch nie befriedigend zusammengefgten Bruchstcke einer groen Konfession. In zwiefachem Wortsinn 3 verstanden, wird sich diese Konfession auf Goethes Leben wie auch auf seine Religiositt beziehen lassen, vorausgesetzt, man nimmt die leisen Zeichen auf, die er zu geben nicht mde wurde. Ihre Relationen untereinander fgen sich zu einem Netzwerk, das die ganze Dichtung durchzieht, unleugbar vorhanden fr jeden, dem es, einmal gewahr geworden, eine neue Dimension in Goethes Leben und Werk aufschliet. Dabei mu festgehalten werden, da diese Arbeit ihren eigenen, auf Wegweiser des Dichters ausgerichteten Pfad geht und dabei keinerlei Versuch macht, An- dersmeinende bzw. gngige berlieferungen zu widerlegen. Da aufgenommene Erkenntnisse anderer Autoren unter allen Umstnden angegeben werden, ver- steht sich von selbst. Grundstzlich soll Goethe vor allem aus Goethe selbst erklrt werden. Dementsprechend gilt es als eine der wesentlichen Voraussetzungen dieser Stu- die, da Goethe nach eigenen Aussagen schrieb, was er erlebt, wenn auch nicht eben so, wie er es erlebt habe 4 , und nichts, das ihm nicht auf die Ngel brannte und zu schaffen machte 5 , wie er ja auch Liebesgedichte nur gemacht [habe], wenn [er] liebte 6 . Ja, er geht so weit, von der neuesten Ausgabe meiner Lebens- spuren zu sprechen, welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt. 7 Da fr Goethe die Identitt von lyrischem Ich, dramatischem Ich (auch aufgeteilt auf Personen, ja gerade auf Antagonisten), Erzhler-Ich, mit dem auktorialen Ich legitimerweise fr sein Schaffen durch alle Lebensabschnit- 1 Vgl. Josef Pieper, ber das Schweigen Goethes, Mnchen 1951. 2 Erwachsne gehn mich nichts mehr an, / Ich mu jetzt an die Enkel denken. (Ist denn das klug, Zahme Xenien I; FA 2, S. 621.) 3 Vgl. Bekenntnis heit nach altem Brauch / Gestndnis wie mans meint; / [] FA 2, S. 726. 4 Eckermann, Gesprche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Vollstndiger Text nach dem 24. Band der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gesprche Johann Wolfgang Goethes, Zrich 1976. 17. Februar 1830. S. 395. 5 Eckermann, 14. Mrz 1830; a. a. O., S. 733. 6 Ebd. 7 An Zelter, 23. Januar 1815. FA 34, S. 400. 6 te hindurch angenommen werden darf, hat er selbst insofern nahegelegt, als er in spten Jahren in Dichtung und Wahrheit bereits hinsichtlich der Leipziger Zeit (17651768) schreibt: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben ber nicht abweichen konnte, nmlich dasjenige was mich erfreute oder qulte, oder sonst beschftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darber mit mir selbst abzuschlieen, um sowohl meine Begriffe von den ueren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand ntiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extre- me in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstcke einer groen Konfession, welche vollstndig zu machen dieses Bchlein ein gewagter Versuch ist. 8
Aber obwohl alles von Goethe Mitgeteilte auf Lebenserfahrung beruhte 9 , wie er in einem wichtigen Brief festhlt, geschah solche Mitteilung, wie erwhnt, in ihrem Wie verndert, geschah sie auf mannigfache Weise verschlsselt. Fragen wir, welche Mittel der Dichter einsetzte, um auf ein im Mitgeteilten Verborgenes hin- zuweisen, so finden wir eine Vielzahl von Praktiken, die dem Zweck dienen, Geheimnisse zu umkreisen. Eine wesentliche, immer wieder angewandte Metho- de, ist die der Analogie. So stellt Goethe fest: Mittheilung durch Analogieen halt ich fr so ntzlich als angenehm; der Ana- loge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen, er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden: Mehrere analoge Flle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft die immer mehr anregt als giebt. 10 Wieder spricht Goethe hier von Mitteilungen, von Erlebtem. Dieser Verhalten- heit der Vermittlung von Inhalten entspricht auf der Ebene des Stils die Litotes oder Untertreibung. Ein Brief an Schiller klrt darber auf: [] Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rcken behaglich finde. So werde ich immer gern incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern whlen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbe- kannten, den unbedeutendern Gegenstand oder doch den weniger bedeuten- den Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin []. 11
Gem seinem Analogie-Denken suchte und fand Goethe auch in Leben und Werk frherer Dichter der verschiedensten Zeiten und Zonen Parallelen zu sei- nem eigenen Leben, was er zuweilen blo mit Zitaten anzeigte, die der Leser 8 DuW II, 7; FA 14, S. 309 f. 9 An Carl Jacob Ludwig Iken, 27. Sept. 1827; HA Briefe 4, S. 250. 10 Sprche in Prosa; FA 13, S. 77 (1.521; H 1247), s. auch: Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; [] ebd., S. 44 (1.282; H 532). 11 9. Juli 1796; Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben von Hans Gerhard Grf und Albert Leitzmann, Frankfurt a. M. / Wien / Zrich 1964. S. 179 f. 7 erkennen sollte. Auf diese Weise konnte Goethe problemlos an bereits vorgegebe- ne Situationen anknpfen. Meist lie er es aber nicht dabei bewenden, sondern berbot in solchen Fllen die Haltung des Vorgngers oder setzte einer negativen Einstellung eine eigene, positive, entgegen. Selber sprach er von Wiederholten Spiegelungen (von denen spter noch die Rede sein wird) oder er nannte solche Sichtweise in eigener Wortschpfung symphronistisch 12 , um mit dieser Bezeich- nung das rein Gedankliche, Logische der Analogie durch den Einschlu des Gemtes () zu erweitern. Analogie oder, eben umfassender, Symphronismus gab Goethe auch die Mglichkeit, sich selbst oder geliebte Mitmenschen in mythi- sche, allegorische oder Figuren der Literatur zu projizieren und so aus der Zeit zu heben. Des weiteren konnte er, Petrarca nachfolgend, Namen verschlsselt in seine Dichtung bernehmen oder sie in parechetischer Abwandlung in Teile trennen, um sie so in verschiedenster Variation, auch bersetzt, als Chiffren zu verwenden. Er spielte etymologisch mit Namen seiner Umwelt, holte aus Wortfeldern, denen sie angehren, Chiffren zu seinem Gebrauch, gelegentlich auch hier in berset- zung in eine andere Sprache. Zudem wurden ihm in der Nachfolge Dantes und Petrarcas auch gewisse Zahlen bedeutsam. Geheimes sollte verhllt bleiben, aber dennoch die Mglichkeit seiner Aufdek- kung bieten. Fingerzeige auf verborgene Wahrheit hat Goethe immer wieder gegeben, und im folgenden seien einige wenige seiner Hinweise auf Thesen und Methoden herausgegriffen: Das Wahre ist gotthnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir mssen es aus seinen Manifestationen erraten. (Aus: Makariens Archiv 13 .) Es ist nicht immer ntig da das Wahre sich verkrpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und bereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glok- kenton ernst-freundlich durch die Lfte wogt. (Aus: Betrachtungen im Sinne der Wanderer 14 ) Die beiden Aphorismen aus den Wanderjahren von 1829 verhelfen zu einem bes- seren Verstndnis des folgenden, wesentlich frher entstandenen Gedichts, in dem Goethe auf kleinstem Raum Einblick in einige seiner immer wieder ange- wandten sprachlichen Kunstmittel gewhrt. Dabei handelt es sich um Anklnge an Schriften, die als bekannt vorausgesetzt werden knnen, wie um heimliche Wortspiele, um eine immer wieder thematisch mittels Buchstabenkombinationen eingesetzte Sprachmusik, besonders auch um Metrik als Ausdrucksmittel und um bezeichnete wie auch um unausgesprochen belassene Symbole: Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Grnde? Niemand verstehet zur rechten Zeit! Wenn man zu rechter Zeit verstnde; 12 WMWJ, 2, 2; FA 10, S. 425, Z. 7. 13 FA 10, S. 746, Nr.3; auch in Sprche in Prosa, FA 13, S. 53, (1. 333; H 619). 14 FA 10, S. 561, Betrachtungen im Sinne der Wanderer, Nr. 26; auch FA 13, S. 40 (1. 250; H 466). 8 So wre Wahrheit nah und breit, Und wre lieblich und gelinde. (West-stlicher Divan, Buch der Sprche 15 ) Das Gedicht scheint Aussagen der Sprche schon vorwegzunehmen und poetisch darzustellen. Seine Frage setzt die Existenz der Wahrheit nicht in Zweifel, sondern gilt dem Grund ihrer Verborgenheit, entsprechend der etymologischen Deutung von als der Unverborgenheit! Ihre Existenz wird also a priori vorausge- setzt und, indem sie vermit wird, auch ihr wohltuendes Wesen. Die Antwort, die der Dichter gibt, weist auf mangelndes Verstndnis der Menschen und klingt an den Vers des Johannes-Evangeliums an: Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen. 16 . Im Gedicht liegt jedoch der Akzent auf dem Zeitpunkt: Niemand versteht zur rechten Zeit! Und eben diese Zeitbestim- mung wird in leichter Variation, ins Allgemeine gehoben, in der nchsten Zeile noch wiederholt, in Form der Protasis eines potentialen Konditionalsatzes: Wenn man zu rechter Zeit verstnde. Der Doppelpunkt danach hat starken Verwei- sungscharakter und leitet ber zu der die Mglichkeitsform weiterhaltenden Apo- dosis mit ihrem hoffnungsvollen So. Die wenigen Verse sind mit einer ganzen Reihe von Wortspielen durchsetzt, die die Wahrheit musikalisch umkreisen. Bereits der Beginn des Gedichts bringt im Warum einen Vorklang mit Assonanz und Alliteration, so da dem Wort Wahr- heit schon phonetisch der Weg bereitet scheint. In von a zu abgeschwchter Variation wiederholt sich der Vorgang in der fnften Zeile: So wre Wahrheit[], mit einem Nachklang in der sechsten und letzten, wo wre wieder die gleiche Position in Vers und Metrum innehat, jetzt aber ohne das Wort Wahrheit: Die Verborgenheit hat sich also auf der sprachlichen Ebene noch intensiviert. Und dennoch verstrkt sich die Gewiheit ihrer trstlichen Eigenschaften. Vom Gehalt und von den Phonemen angeregt, stellt sich, als von einem mglichen Keimpunkt des Gedichts die klangliche Assoziation eines Verses aus den Psalmen ein: Denn der Herr ist freundlich und seine Gnade whret ewig und seine Wahrheit fr und fr. 17 Aber es gibt mehr zu entdecken: die im Sprachgebrauch gngigen Wortfol- gen von nah und fern, und weit und breit erscheinen hier gegenseitig verstellt zu fern und weit (v. 1) und nah und breit (v. 5). Im Leser klingt das erwartete Partnerwort ohne eigenes Zutun auf. Das fehlende nah (zu fern) im tautologi- schen fern und weit reflektiert in seinem Ausbleiben intensivierend die Abwe- senheit der Wahrheit. Im fnften Vers geschieht das Umgekehrte: zu nah asso- ziieren wir unwillkrlich das fern der ersten Zeile; vor breit fgt sich das oben ebenfalls schon genannte weit, wobei die Wortpartner sich im Vergleich zu Vers 1 gewandelt haben und nun nicht mehr auf Trennung weisen, sondern auf universelle Gegenwart: nah und breit, eine an sich ungelenke und daher Auf- merksamkeit fordernde Wortverbindung, vereint verheiungsvoll nun beides: nah und fern und weit und breit. Es ist, als schwinge der Klppel einer Glocke leise hin und her. 15 FA 3/1, S. 64; (hier Z. 4 des Gedichts zitiert nach der minimal vernderten Version im Brief an Sulpiz Boissere vom 1. Mai 1818, HA Briefe 3, S. 429, an Stelle der buchstabengetreuen Wieder- holung der Zeitbestimmung von Z. 3). 16
Joh. 1. 5. 17 Psalm 100, 5. 9 Auf der Ebene des Satzes vollzieht sich ein hnliches. Zunchst einmal wandelt sich das negierende Pronomen niemand der dritten Zeile zum positiven man der vierten. Sodann wechseln Prdikat und Zeitbestimmung in diesem Verspaar ihren Ort; aus Niemand versteht zur rechten Zeit! wird Wenn man zu rechter Zeit verstnde auch hier die Bewegung des Glockenklppels diesmal im Platz- tausch von Verb und Adverbiale. Dabei wandelt sich das klanglich blasse, wenn auch durch seinen Indikativ bestimmtere, jedoch negierte versteht zum immer- hin potentialen verstnde, das mit seiner volleren Intonation, der strkeren Akzentuierung am Versende und seinem auf die utopisch-klimaktische Schluzei- le hinzielenden Reim Hoffnung erweckt. Der Glockenton, der ernst-freundlich durch die Lfte wogt man denke an das befreiende Luten der Osterglocken in Faust manifestiert sich auch im Metrum. Der ansteigende Klang der vierhebigen Jamben, den der erste Vers zunchst modellhaft kirchenlied-hnlich darstellt (etwa wie in Ein feste Burg ist unser Gott) wird unterbrochen. Die Verse 2 bis 4 kennzeichnet ein anderes Metrum: sie setzen jeweils mit einem Choriambus ein, ehe sie das jambische Vers- ma weiterfhren. Eine zweite Glocke scheint sich dazugesellt zu haben. Zu Ende des Gedichts stellt sich der steigende rein jambische Rhythmus des Beginns wieder her, die beiden Endverse sind von ihm getragen, das Wogen hat aufgehrt, bevor das Gedicht nun in Ruhe ausklingt. Wenn man sich nun den einzelnen Lauten zuwendet, bemerkt man das allite- rierende w, das im ersten Vers mit Warum und weit das Wort Wahrheit umrahmt, mit Wenn den vierten einleitet, dann im fnften in wre Wahrheit wieder aufscheint, innerlich ergnzt durch das w in weit, das wir bei breit mitdenken, und letztlich nochmals aufgenommen im nur wenig betonten wre des letzten Verses. Es ist, als nhme man anfangs und am Ende, da die Jamben ihren regulren Ablauf nehmen und das Wogen noch nicht oder nicht mehr erklingt, das Wehen des Luftstroms wahr, den die Glocke erzeugt. Ferner: wenn von der Wahrheit, ihrem Tun oder Sein, die Rede ist, taucht der helle i-Laut auf, eingefhrt durch den Diphthong ei, der phonetisch ja a und i vereint. In Birgt sich hinab in tiefste Grnde bestimmt das i den Vers fast ausschlielich, (denn auch das von Grnde wird zuletzt seinen Reimrespons in einem i-Wort fin- den), aber der helle Vokal kommt noch nicht zum Tragen und bleibt, dem Inhalt der Zeilen entsprechend, verhalten. Noch fehlt ihm der Konsonant, der vor dem letzten Vers im ganzen Gedicht kein einziges Mal vorkommt: das l. Mit dem drei- mal erklingenden und, wie man spter immer wieder sehen wird, von Goethe als Chiffre intensiver Bejahung, ja Beglckung, eingesetzten Phonem li 18 in lieb- lich und gelinde erreicht das Gedicht seinen Hhepunkt und seinen Ausklang. Zurck bleiben, nachschwingend, klangliche Assoziationen von Lindheit, Licht und Liebe als Erscheinungsformen der Wahrheit, ihren Hypostasen. Aber sie wer- den nur verhalten genannt. Der Konjunktiv wird nicht aufgehoben, das wre bleibt in Doppelung unvermindert bestehen, und dennoch wurde mgliche Erfl- lung gewi. Denn: Das Wahre ist gotthnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir mssen es aus seinen Manifestationen erraten. 18 Zu Goethes Sprachmusik und ihrer Auslegung siehe S. 3537. 10 Dies ist ein Leitsatz Goethes, gltig auch fr die Interpretation seiner Werke, wobei es sehr darauf ankommt, da man zur rechten Zeit verstehe, da man nicht hinweglese ber scheinbar Unbedeutendes, das sich oft erst sehr viel spter als relevant erweisen wird. So lt sich z. B. die von der Handlung her gnzlich unmotivierte doppelte Einfhrung einer Person in Goethes Novelle entdecken als Fingerzeig auf die Formstruktur der Wiederholung, die diesem Werk zugrunde- liegt. 19 Und hinsichtlich der Lehrjahre verriet Goethe Eckermann gegenber: Den anscheinenden Geringfgigkeiten des Wilhelm Meister liegt immer etwas Hheres zum Grunde, und es kommt blo darauf an, da man Augen, Welt- kenntnis und bersicht genug besitze, um im Kleinen das Grere wahrzu- nehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben gengen. 20
Zuletzt das wohl Wichtigste, das beim zitierten Gedicht bereits gezeigt, aber nicht benannt wurde: die Symbolik. Das Wahre, im zweiten der beiden Aphorismen umschrieben als Vergleich wie Glockenton, wird als Symbol in dem Gedicht als geistig umherschwebend und bereinstimmung bewirkend fhlbar und so, bei all seiner Verborgenheit, unausgesprochen erfahrbar gemacht. In gleichem Sinne lesen wir in Wilhelm Meisters Lehrbrief: [] Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Hchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. 21
Dieser Lehrsatz greift ber das Gedicht hinaus, weist aber ebenfalls die Richtung zu einer von Goethe nahegelegten Interpretation seiner Schriften, also, gegebe- nenfalls auch ber das geschriebene Wort hinauszudenken. In diesem Sinne soll einigen von den zahlreichen in seiner Dichtung angelegten Geheimnissen nach- gegangen werden, wobei die folgenden Aphorismen aus Wilhelm Meisters Lehr- brief als Leitstze gelten sollen: Des echten Knstlers Lehre schliet den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Und, folgend: Der echte Schler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln, und nhert sich dem Meister. 22 Noch konkreter wirkt Goethes Wunsch, [] da [der Erklrer] nicht gerade beschrnkt seyn soll, alles was er vortrgt aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern da es uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schne an dem Gedicht entwickelt. [] 23
19 Vgl. Peter Hfle in seinem Nachwort zu Goethe, Novelle, Frankfurt a. Main 2000. S. 14 und S. 16. 20 Eckermann, 25. Dezember 1825; a. a. O., S. 166 unten f. 21 WMLJ 7, 9; FA 9, S. 875. 22 Ebd. 23 ber Goethes Harzreise im Winter, in Kunst und Altertum III (1821); FA 21, S. 139. 11 Dabei sollte sit venia verbo in Goethes eigener behutsamer Weise vorgegangen sein. Wenn der Versuch glckt, knnten in anteilnehmendem Lesen die Ent- deckungen, die Verf. gemacht zu haben glaubt, nachvollzogen und jene Prmissen geprft werden, welche zu ungewohnten Perspektiven fhren. Dazu ist aber ntig, Goethes Texte bzw. diejenigen anderer Autoren, auf die er sich bezieht, auch vor Augen zu haben, weshalb diese Studie lieber zitiert, statt zu paraphrasieren oder sich auf bloe Stellenangaben zu beschrnken. Darber hinaus wird, was zur Unterbauung der Argumentation wichtig ist, meist im Text selbst aufgefhrt, anstatt es in die Funoten zu verbannen. Der Versuch geht von der spten Dichtung Trilogie der Leidenschaft 24 aus, in der, wie in einem geschliffenen Kristall, Leuchtkraft und Glut eines ganzen Lebens gesammelt und in vielen Facetten wieder ausgesprht erscheinen. So wird von hier aus ein frisches Licht 25 auch auf andere Werke des Dichters fallen, die, nun ihrerseits rckstrahlend, wiederum die Trilogie erhellen, gem der bekannten programmatischen uerung gegenber Iken, darin der alte Goethe anhand der Helena-Dichtung eine seiner wichtigsten Kompositionsmethoden darlegt: Auch wegen anderer dunkler Stellen in frheren und spteren Gedichten mchte ich folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfah- rungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen lt, so habe ich seit lan- gem das Mittel gewhlt, durch einander gegenbergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. 26 Der geheimere Sinn, das ist die innere Wahrheit des Gedichts oder Werks. Da Goethe in hohen Kunstwerken [] zugleich die hchsten Naturwerke 27 sah, so wandte er in der Kunst sein Konzept der Wirklichkeit an. Darin folgte er wesent- lich Platons Ideenlehre, doch bernahm er sie vielfach in der differenzierteren Form, wie sie der Neuplatoniker Plotin (205270) weiterentwickelt hat. Nicht als Schatten, die sich an der Rckwand einer dunklen Hhle abzeichnen 28 , erfate Plotin die dem Menschen mgliche Wahrnehmung der Welt der Ideen <hier Begriffe genannt>, sondern als deren Bild in einem Spiegel, in einem schaffen- den Spiegel. Alles Seiende, das in seinem Sein und Wesen verharrt, bringt aus sich selbst mit Notwendigkeit ein Wesen hervor, das an die gegenwrtige Kraft desselben geknpft ist, gleichsam ein Abbild des Urbildes, aus dem es entstanden ist 29 . 24 FA 2, S. 456 ff. 25 Vgl. wieder Brief an Carl Jakob Ludwig Iken v. 27. Sept. 1827. HA Briefe IV, S. 250. 26 Ebd. 27 Goethe, Italienische Reise, 6. Sept. 1786: Die hohen Kunstwerke sind sogleich <als> die hch- sten Naturwerke von Menschen nach wahren und natrlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkrliche, Eingebildete fllt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott. MA 15, S. 478. Vgl. auch Wolfgang Schadewaldt, Goethe-Studien, Zrich 1963. S. 300 u. Anm. 28 Vgl. Platon, Staat, 514 A515 B. 29 Enneaden V 1, 6. Vgl. Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 83. Goethes Lektre von Plotins Enneaden, hchstwahrscheinlich in der bersetzung Marsilio Ficinos, ist dokumentiert fr August und September 1805; s. Rose Unterberger, Die Goethe-Chronik, Frankfurt 2002, S. 259. 12 Und weiter: [] die Natur des Weltalls bildet mit wunderbarer Kunst alle Wesen nach dem Bilde der Begriffe, die sie besitzt, in jedem ihrer Werke ist der Begriff vereinigt mit der Materie, da er das Abbild des Begriffes ist, welcher vor der Materie war, mit dem gttlichen Geist verknpft, nach welchem er erzeugt wurde und auf welchen die Weltseele blickte bei ihrem Schaffen. 30 In Quintessenz bringt Franz Koch Plotins Konzept unserer Erfassung der wahr- nehmbaren Welt: Nach Plotin ist die Sinnenwelt nichts anders als die Welt der Ideen im Spiegel des Stoffes, der Materie, an der sich das Licht des Geistes bricht und von der es reflektiert wird. Dabei liegt besonderes Gewicht auf dem Umstande, da diese Spiegelung zugleich Weltschpfung ist, und da erst das Dasein dieser Spiegel- wand, der Materie, [] Ursache der Entstehung dieser Welt wird []. 31 Die Kunst nun vollzieht das kosmische Geschehen im kleinen. In Zusammenfas- sung einer These zur Kunsttheorie von Carl Philipp Moritz formuliert Goethe: Jedes schne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des hchsten Schnen, im Ganzen der Natur. (WA I, 47, S. 86) 32
Whrend der Renaissance entwickelte, in Nachfolge von Plotins Lehre, Marsi- lio Ficino (14331499) das Konzept weiter und entwarf eine ganze Stufenfolge von Phasen, in welchen der Geist fr den Menschen wahrnehmbar wird: so als wrde ein Knstler zuerst eine lebenshnliche Statue seiner selbst verfertigen, diese dann in einem Gemlde portrtieren, dieses Bild wieder in einem Spiegel auffangen und projizieren 33 , wobei diese letzte Stufe normaler Wahrnehmung entsprche. Aber whrend bei Platon, Plotin und Ficino das dem Menschen Vor- behaltene stufenweise immer mehr verblat, lt Goethes Konzept durchaus auch eine Steigerung zu 34 . Goethes Vertrautheit mit Ficinos Werken hat Bernhard Buschendorf in seiner Interpretation der Wahlverwandtschaften entlang deren Handlung und mit vielen Zitaten nachgewiesen. 35 Die Form, in der Goethe solche Spiegelung Ficinos als eigene Schaffensme- thode bernahm 36 , bekundet sich darin, da er Konstellationen aus Mythos und 30 Enn. IV. 3. 11; Franz Koch, Goethe und Plotin. Leipzig 1925, S. 83 f. 31 Ebd., S. 84 mit Nachweis der zusammengefaten Plotin-Stellen, S. 241, Anm. 4. 32 Vgl. Karl Pestalozzi, dieses Ganze // ist nur fr einen Gott gemacht in Von der Pansophie zur Welt- weisheit, hrsg. von Hans-Jrgen Schrader und Katharine Weder in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg, Tbingen 2004. S. 120. 33 Ebd., S. 117. 34 Vgl. Aus Makariens Archiv, Aphorismen 1725 (FA 10, S. 748 f.), welche eine in einem Brief an Zelter vom 29. 8. 1805 gesandte bersetzung Goethes aus Ficinos lateinischer Plotin-bertragung aus Enn. V. 8. 1 (Basel 1515) darstellen, whrend die drei folgenden Aphorismen 2628 (FA 10, S. 749) Plotins Aussage modifizieren, indem statt einer von Plotin angenommenen Abschw- chung der Bilderfolge auch eine Steigerung gewhrleistet ist. Vgl. Kommentar FA 10, S. 1257. 35 Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der Wahlverwandtschaf- ten, Frankfurt a. M. 1986. 36 Ein Hinweis auf Ficino expressis verbis findet sich bei Goethe in diesem Zusammenhang nicht, doch scheint der Name bereits in den Ephemerides (17701771) auf. Der junge Goethe, neu bearbei- tete Ausgabe in fnf Bnden, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963. Bd. 1, S. 426440. Zu Goethes Vertrautheit mit Ficinos Lehre vgl. auch Franz Koch a. a. O., S. 23 f.