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Жарова И.И., Рывкина О.Е. - Wir Lesen Deutsch
Жарова И.И., Рывкина О.Е. - Wir Lesen Deutsch
И.И.Жарова, О.Е.Рывкина
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ
«Феникс»
Ростов-на-Дону
2000
ББК 81.3. Нем.
Ж 35
й«
О Составление: Жарова И. И. ,
Рывкина O.E. 2000
О Оформление: издательство
«Феникс», 2000
ПРЕДИСЛОВИЕ
ff
SINNGEDICHTE UND FABELN
An einen Autor
Mit so bescheiden stolzem Wesen
Tagst du dein neustes Buch - welch ein Geschenk! - mir an.
Doch, wenn ich’s nehme, grundgelehrter Mann,
Mit Gunst: muß ich es dann auch lesen?
Der Strauß
“Jetzt will ich fliegen”, rief der gigantische Strauß, und das
ganze Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn ver
sammelt. “Jetzt will ich fliegen”, rief er nochmals, breitete die
gewaltigen Fittiche weit aus2 und schoß gleich einem Schiffe
mit aufgespannten Segeln auf dem Boden dahin3, ohne ihn mit
einem Tritte zu verlieren4.
Sehet da, ein poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die
in den ersten Zeilen ihrer ungeheuren Oden mit stolzen Schwin
gen prahlen, sich über Wolken und Sterne zu erheben drohen
und dem Staube doch immer getreu bleiben!
1 durch seine fürchterliche Stimme die Tiere sollte jagen helfen - своим
ужасным голосом должен был помогать ему загонять зверей.
2 eine naseweise Krähe - любопытная ворона.
3 ihrer Gemeinschaft würdigen - удостаивают своего общества.
4 der ihn statt seines Jägerhorns brauchte - которому он был нужен вместо .
охотничьего рожка.
5 ein andrer Esel von seiner Bekanntschaft - другой знакомый ему осел.
6 was dir anstünde - что бы тебе подошло.
7 das Äußere würde sich vortrefflich zu dem Innern schicken - внешнее
прекрасно соответствовало бы внутреннему.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 8
“Ich höre sie freilich,” versetzte der Schäfer. “Aber nur dein
Schweigen ist schuld, daß ich sie höre.”
Der Phönix
Nach vielen Jahrhunderten gefiel es dem Phönix, sich wie
der einmal sehen zu lassen. Er erschien, und alle Tiere und Vögel
versammelten sich um ihn. Sie gafften, sie staunten, sie be
wunderten und brachen in entzückendes Lob aus.
Bald aber verwandten die besten und geselligsten mitleids
voll ihre Blicke und seufzten: “Der unglückliche Phönix! Ihm
ward das harte Los, weder Geliebte noch Freund zu haben; denn
er ist der einzige seiner Art!”
/
Die Sperlinge
Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester
gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze da
stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu
suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. “Zu was”, schrien
sie, “taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den
unbrauchbaren Steinhaufen!”
Vogel als du. Denn du kannst nicht fliegen; ich aber fliege, ob
gleich nicht hoch, obgleich nur ruckweise.”
Der leichte Dichter eines fröhlichen Trinkliedes, eines klei
nen verliebten Gesanges ist mehr ein Genie als der schwunglose
Schreiber einer langen Hermanniade.
Der Geizige
“Ich Unglücklicher!” klagte ein Geizhals seinem Nachbar.
“Man hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben
hatte, diese Nacht entwendet und einen verdammten Stein an
dessen Stelle gelegt.”
“Du würdest”, antwortete ihm der Nachbar, “deinen Schatz
doch nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein
Schatz; und du bist nichts ärmer.”
“Wäre ich auch schon nichts ärmer”, erwiderte der Geizhals;
“ist ein andrer nicht um so viel reicher? Ein andrer um so viel
reicher! Ich möchte rasend werden.”
Der Rabe
Der Fuchs sähe, daß der Rabe die Altäre der Götter be
raubte und von ihren Opfern mit lebte. Da dachte er bei sich
selbst: Ich möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern
hat, weil er ein prophetischer Vogel ist; oder ob man ihn für
11 GOTHOLD E P H R A IM LE SSIN G
einen prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer
mit den Göttern zu teilen.
Der Dornstrauch
“Aber sage doch”, fragte die Weide den Domstrauch, “warum
du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig
bist? Was willst du damit? Was können sie dir helfen?”
“Nichts!” sagte der Domstrauch. “Ich will sie ihm auch nicht
nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.”
Die Wohltaten
“Hast du wohl einen größeren Wohltäter unter den Tieren
als uns?” fragte die Biene den Menschen.
“Jawohl!” erwiderte dieser.
“Und wen?”
“Das Schaf! Denn seine Wolle ist mir notwendig, und dein
Honig ist mir nur angenehm”.
“Und willst du noch einen Gmnd wissen, warum ich das Schaf
für meinen großem Wohltäter halte als dich, Biene? Das Schaf
schenket mir seine Wolle ohne die geringste Schwierigkeit; aber
wenn du mir deinen Honig schenkest, muß ich mich noch immer
vor deinem Stachel fürchten.”
Der Adler
Man fragte den Adler: “Warum erziehest du deine Jungen so
hoch in der Luft?” Der Adler antwortete: “Würden sie sich,
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 12
erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der
Erde erzöge?”
Am 30. Julius..
Albert ist angekommen, und ich werde gehen; und wenn er
der beste, der edelste Mensch wäre, unter den ich mich in jeder
Betrachtung zu stellen bereit wäre,1 so wär’s unerträglich, ihn
vor meinem Angesicht im Besitz so vieler Vollkommenheiten zu
sehen. - Besitz! - Genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein
1 Unter den ich mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit wäre - и я готов
n любом отношении признать его выше себя.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 14
Am 8. August.
Abends.
Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachlässigte, fiel
mir heut’ wieder in die Hände1, und ich sah erstaunt, wie ich so
wissentlich in das alles, Schritt vor Schritt, hineingegangen bin!
Wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen2 und doch
gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe und es
noch keinen Anschein zur Besserung hat.
Am 30. August.
Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betrügst du dich nicht
selbst? Was soll diese tobende endlose Leidenschaft? Ich habe
kein Gebet mehr, als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint
keine andere Gestalt, als die ihrige, und alles in der Welt um
mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht
mir denn so manche glückliche Stunde - bis ich mich wieder
von ihr losreißen muß! Ach Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft
drängt!3 - Wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden,
und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem himmli
schen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe4 und nun nach und
nach alle meine Sinne aufgespannt werden, mir’s düster vor
den Augen wird, ich kaum noch höre, und es mich an die Gurgel
faßt wie ein Meuchelmörder,5 dann mein Herz in wilden Schlä
gen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht6 und ihre Ver
wirrung nur vermehrt - Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf
der Welt bin! Und - wenn nicht manchmal die Wehmut das
Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt,
1 fiel mir heut* wieder in die Hände - попался мне сегодня под руку.
2 wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen ... habe - как ясно я
видел свое состояние.
3 wozu mich mein Herz oft drängt! - куда порой влечет меня мое сердце!
4 mich an ihrer Gestalt ... geweidet habe - наслаждался ... ее обликом.
5 und es mich an die Gurgel faßt wie ein Meuchelmörder - и мое горло как
будто сжимает вероломный убийца.
6 ...mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen
sucht - мое сердце дикими ударами пытается дать выход смятенным чувствам.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 16
Am 15. März
...Der Graf von C. liebt mich, distinguiert mich4, das ist be
kannt, das hab’ ich dir schon hundertmal gesagt. Nun war ich
gestern bei ihm zu Tafel5, eben an dem Tage, da abends die
noble Gesellschaft von Herren und Frauen bei ihm zusammen
kommt, an die ich nie gedacht hab’, auch mir nie aufgefallen ist,
daß wir Subaltern nicht hineingehören.6 Gut. Ich speise bei dem
Grafen, und nach Tische gehn wir in dem großen Saal auf und
ab, ich rede mit ihm, mit dem Obristen B., der dazukommt, und
so rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß,
an nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S. mit Ihrem
Herrn Gemahl und wohlausgebrüteten Gänslein Tochter7 mit
der flachen Brust und niedlichem Schnürleib8, machen en pas
sant9 ihre hergebrachten hochadligen Augen und Naslöcher, und
1auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen - выплакать над ее рукой
мою тоску.
2 für Müdigkeit und Durst - от усталости и жажды.
3 ich sehe dieses Elends kein Ende als das Grab - я не вижу другого конца
этому страданию, кроме могилы.
4 distinguiert mich - отличает меня.
5 war ich ... bei ihm zu Tafel - был у него за обедом.
6 wir Subaltern nicht hineingehören - нам, подчиненным, там не место.
7 ...wohlausgebrüteten Gänslein Tochter - свежевылупившейся гусыней
дочкой.
8 mit ... niedlichem Schnürleib - с хорошеньким корсетом.
9 en passant (фр.) - мимоходом.
17 JO H A N N W OLFGANG GOETHE
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wie mir die Nation von Herzen zuwider ist1, wollt’ ich mich
eben empfehlen und wartete nur, bis der Graf vom garstigen
Gewäsche frei wäre,2 als meine Fräulein B. hereintrat. Da mir
das Herz immer ein bißchen aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb
ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und bemerkte erst nach
einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als sonst, mit einiger
Verlegenheit mit mir redte. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all
das Volk, dacht’ ich und war angestochen3 und wollte gehn, und
doch blieb ich weil ich sie gerne entschuldigt hätte und es nicht
glaubte und noch ein gut Wort von ihr hoffte und - was du willst.
Unterdessen füllt sich die Gesellschaft. Der Baron F. mit der
ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des Ersten4
her, der Hofrat R. mit seiner tauben Frau etc.5 ... und ich rede
mit einigen meiner Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch sind.
Ich dachte - und gab nur auf meine B. acht. Ich merkte nicht,
daß die Weiber am Ende des Saals sich in die Ohren flüsterten,
daß es auf die Männer zirkulierte, daß Frau von S. mit dem Grafen
redte (das alles hat mir Fräulein B. nachher erzählt), bis endlich
der Graf auf mich losging und mich in ein Fenster nahm.6 - Sie
wissen, sagt’ er, unsere wunderbaren Verhältnisse7; die Gesell
schaft ist unzufrieden, merk’ ich, Sie hier zu sehen; ich wollte
nicht um alles - Ihro Exzellenz, fiel ich ein8, ich bitte tausend
mal um Verzeihung; ich hätte eher dran denken sollen, und ich
weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz9; ich wollte schon
1 wie mir die Nation von Herzen zuwider ist - так как эта порода мне
глубоко противна.
2 vom garstigen Gewäsche frei wäre - освободится от скверной болтовни.
3 war angestochen - был уязвлен.
4 mit der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des Ersten - во
всей амуниции времен коронации Ф ранца I (австрийский им ператор
Франц I был коронован в 1745 г. - прим. сост.)
5 etc. {фр.) = und so weiter.
6 ...mich in ein Fenster nahm - отвел меня к окну.
7 Sie wissen unsere wunderbaren Verhältnisse - Вам известны наши странные
нравы.
8 Ihro Exzellenz, fiel ich ein - Ваше сиятельство, перебил я.
9 Sie vergeben mir diese Inkonsequenz - извините мне мою опрометчивость.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 18
*
* *
An demselben Tage, als Werther den letzten Brief an seinen
Freund geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam
er abends zu Lotten und fand sie allein. Sie beschäftigte sich,
einige Spielwerke in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen
Geschwistern zum Christgeschenke zurechtgemacht hatte. Er re
dete von dem Vergnügen, das die Kleinen haben würden... - Sie
sollen, sagte Lotte, indem sie ihre Verlegenheit unter ein liebes
Lächeln verbarg, Sie sollen auch beschert kriegen,1 wenn Sie
recht geschickt sind... - Und was heißen Sie geschickt sein?
rief er aus; wie soll ich sein? wie kann ich sein? beste Lotte! -
Donnerstag abend, sagte sie, ist Weihnachtsabend, da kommen
die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das seinige, da kom
men Sie auch - aber nicht eher. - Werther stutzte. - Ich bitte
Sie, fuhr sie fort, es ist nun einmal so, ich bitte Sie um meiner
Ruhe willen,2 es kann nicht, es kann nicht so bleiben. - Er wen
dete seine Augen von ihr, ging in der Stube auf und ab und mur
melte das: “Es kann nicht so bleiben!” zwischen den Zähnen.
Lotte, die den schrecklichen Zustand fühlte, worein ihn diese
Worte versetzt hatten, suchte durch allerlei Fragen seine Gedan
ken abzulenken, aber vergebens. - Nein, Lotte, rief er aus, ich
werde Sie nicht wiedersehn! - Warum das? versetzte sie, Wer
ther, Sie können, Sie müssen uns Wiedersehen, nur mäßigen Sie
1 Sie sollen auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind - Вы тоже
должны получить подарок, если будете умницей.
2 um meiner Ruhe willen - ради моего спокойствия.
19 JO H A N N W OLFGANG GOETHE
*
* *
Montags früh, den einundzwanzigsten Dezember, schrieb er
folgenden Brief an Lotten, den man nach seinem Tode versiegelt
auf seinem Schreibtische gefunden und ihr überbracht hat...
B E A N TW O R TE N S IE FO LG END E FRAG EN :
М. Ю.Лермонтов.
WANDERERS NACHTLIED ИЗ ГЕТЕ
ERLKÖNIG
ЛЕСНОЙ ЦАРЬ
EIGENTUM
DIE LIEBENDE
ERINNERUNG
Friedrich SCHILLER
(1759-1805)
“Wenn Ihre fürsterliche Huld sich nicht ekelt, bis zu mir herun
terzusteigen, wenn Verbrecher meiner Art nicht außerhalb Ih
rer Erbarmung liegen, so gönnen Sie mir Gehör, durchlauchtigster
Oberherr! Ich bin Mörder und Dieb, das Gesetz verdammt mich
zum Tode, die Gerichte suchen mich aus - und ich biete mich
an, mich freiwillig zu stellen.1 Aber ich bringe zugleich eine
seltsame Bitte vor Ihren Thron. Ich verabscheue mein Leben
und fürchte den Tod nicht; aber schrecklich ist m ir’s, zu ster
ben, ohne gelebt zu haben. Ich möchte leben, um einen Teil des
Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu
versöhnen, den ich beleidigt habe. Meine Hinrichtung wird ein
Beispiel sein für die Welt, aber kein Ersatz meiner Taten. Ich
hasse das Laster und sehne mich feurig nach Rechtschaffen
heit und Tugend. Ich habe Fähigkeiten gezeigt, meinem Vater
lande furchtbar zu werden; ich hoffe, daß mir noch einige übrigge
blieben sind, ihm zu nützen...
Es ist Gnade, um was ich flehe. Einen Anspruch auf Gere
chtigkeit, wenn ich auch einen hätte, wage ich nicht mehr gel
tend zu machen.2 - Doch an etwas darf ich meinen Richter
erinnern. Die Zeitrechnung meiner Verbrechen fängt mit dem
Urteilsspruch an, der mich auf immer um meine Ehre
brachte...Lassen Sie Gnade für Recht ergehen,3 mein Fürst!
Wenn es in Ihrer fürstlichen Macht steht, das Gesetz für mich
zu erbitten, so schenken Sie mir das Leben! Es soll Ihrem Dien
ste von nun an gewidmet sein...”
Diese Bittschrift blieb ohne Antwort, wie auch eine zweite
und dritte... Seine Hoffnung zu einem Pardon erlosch gänzlich; er
faßte also den Entschluß, aus dem Lande zu fliehen und im Dien
ste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben.
1 ich biete mich an, mich freiw illig zu stellen - я предлагаю явиться
добровольно.
2 einen Anspruch auf Gerechtigkeit ... wage ich nicht mehr geltend zu ma
chen - я больше не смею требовать справедливости.
3 lassen Sie Gnade für Recht ergehen - смените гнев на милость.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 38
“Wer seid Ihr?” fragt der Richter mit ziemlich brutalem Ton.
“Ein Mann, der entschlossen ist, auf keine Frage zu antworten,
bis man sie höflicher einrichtet.”
“Wer sind Sie?”
“Für was ich mich ausgab. Ich habe ganz Deutschland
durchreist und die Unverschämtheit nirgends als hier zu Hause
gefunden.”
“Ihre schnelle Flucht macht Sie sehr verdächtig. Warum flohen
Sie?”
“Weil ich’s müde war, der Spott Ihres Pöbels zu sein.”
“Sie drohten, Feuer zu geben.”
“Meine Pistole war nicht geladen.” Man untersuchte das
Gewehr, es war keine Kugel darin.
“Warum führen Sie heimliche Waffen bei sich?”
“Weil ich Sachen von Wert bei mir trage und weil man mich
vor einem gewissen Sonnenwirt gewarnt hat, der in diesen Ge
genden streifen soll.”
“Ihre Antworten beweisen sehr viel für Ihre Dreistigkeit, aber
nichts für Ihre gute Sache. Ich gebe Ihnen Zeit bis Morgen, ob
Sie mir die Wahrheit entdecken wollen.”
...Den Morgen darauf überlegte der Oberamtmann, der Frem
de möchte doch wohl unschuldig sein; die befehlshaberische
Sprache würde nichts über seinen Starrsinn vermögen, es wäre
vielleicht besser getan, ihm mit Anstand und Mäßigung zu be
gegnen...
“Verzeihen Sie es der ersten Aufwallung, mein Herr, wenn
ich Sie gestern etwas hart anließ.”1
“Sehr gern, wenn Sie mich so fassen.”
1...wenn ich Sie gestern etwas hart aniieß - что я вчера так грубо набросился
на Вас.
39 FRIEDRICH SCHILLER
HOFFNUNG (1798)
AN (1802)
UNVERHOFFTES WIEDERSEHEN
sie endlich, “um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und
den mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht
Tage vor der Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und nim
mer gekommen.” Da wurden die Gemüter aller Umstehenden
von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige
Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters
und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie
in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme der jugendlichen
Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund nimmer
zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie
ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die
einzige, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein
Grab gerüstet sei auf dem Kirchhofe. Den anderen Tag, als das
Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute hol
ten, schloß sie ein Kästchen auf, legte ihm das schwarzseidene
Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntags
gewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner
Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab
legte, sagte sie: “Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im
kühlen Hochzeitbett, und laß dir die Zeit nicht lang werden. Ich
habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s
wieder Tag.” - “Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird
sie zum zweitenmal auch nicht behalten”, sagte sie, als sie fort
ging und noch einmal umschaute.
Brüder GRIMM
(Jakob, 1785-1863; Wilhelm, 1786-1859)
DORNRÖSCHEN
Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden
Tag: „Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“, und kriegten im
mer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß,
daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr
sprach: „Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr ver
geht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“ Was der Frosch
gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen,
das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen
wußte und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht bloß seine
Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen
Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären.
Es war ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf
goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so mußte
eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller Pracht
gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen
das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die an
ЧИТА ЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 48
dere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum und so mit allem,
was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben
getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich
dafür rächen, daß sie nicht eigeladen war, und ohne jemand zu
grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: „Die
Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spin
del siechen und tot hinfallen.“ Und ohne ein Wort weiter zu
sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Aile waren
erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch
übrig hatte, und weil sie den bösen Spiuch nicht aufheben, sondern
nur ihn mildem konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein,
sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welche die Königs
tochter fällt.“
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern be
wahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindel im
ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Mäd
chen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich er
füllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig,
daß es jedermann, der es ansah, liebhaben mußte. Es geschah,
daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der
König und die Königin nicht zu Haus waren und das Mädchen
ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es allerorten herum,
besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam end
lich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe
hinauf und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß steckte
ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe
auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit
einer Spindel und spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du al
tes Mütterchen“, sprach die Königstochter, „was machst du da?“
- „Ich spinne“, sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. „Was
ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“ sprach das
Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte
sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Er
füllung, und sie stach sich damit in den Finger.
49 BRÜDER GRIMM
röschen sehen.“ Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte,
er hörte nicht auf seine Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und
der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte.
Als der Königssohn sich der Dornhecke näherte, waren es lau
ter große, schöne Bäume, die taten sich von selbst auseinander
und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie
sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schloßhof sah er die
Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem
Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den
Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen
an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als
wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem
schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter'
und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und
oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da ging er
noch weiter, und alles war so still, daß einer seinen Atem hören
konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe
zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es
und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte,
und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es mit dem
Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte
und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen
herab, und der König erwachte und die Königin, und der ganze
Hofstaat, und sahen einander mit großen Augen an. Und die
Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde
sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das
Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins
Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in
der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten
fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine
Ohrfeige, daß er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig.
Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dorn-
51 BRÜDER GRIMM
B E A N T W O R T E N S IE FO LG EN D E FRAG EN :
1. Was stellte der König an, als seine Tochter zur Welt kam?
2. Womit beschenkten die zwölf weisen Frauen das Mäd
chen?
3. Warum wurde die dreizenhte von ihnen nicht eingeladen?
4. Wie wollte sie an der Königsfamilie rächen?
5. Was unternahm der König, um sein liebes Kind vor dem
Unglück zu bewahren?
6. Was passierte der Königstochter an dem Tag, als sie fünf
zehn Jahre alt wurde?
7. Was passierte auch im ganzen Hofstaat?
8. Warum heißt das Märchen „ Dornröschen“?
9. Konnten die Königssöhne durch die Domhecke in das Schloß
dringen?
10. Wie lange sollte das Mädchen schlafen?
11 .Warum konnte einer der Königssöhne unbeschädigt hin
durchkommen?
12. Wodurch weckte der tapfere Jüngling das Dornröschen?
In der Schweiz lebte einmal ein alter Graf, der hatte nur ei
nen einzigen Sohn, aber er war dumm und konnte nichts lernen.
Da sprach der Vater: „Höre, mein Sohn, ich bringe nichts in
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 52
deinen Kopf, ich mag es anfangen, wie ich will. Du mußt fort
von hier, ich will dich einem berühmten Meister übergeben, der
soll es mit dir versuchen.“ Der Junge ward in eine fremde Stadt
geschickt und blieb bei dem Meister ein ganzes Jahr. Nach Ver
lauf dieser Zeit kam er wieder heim, und der Vater fragte: „Nun,
mein Sohn, was hast du gelernt?“ - „Vater, ich habe gelernt,
was die Hunde bellen“, antwortete er. „Daß Gott erbarm“, rief
der Vater aus, „ist das alles, was du gelernt hast? ich will dich in
eine andere Stadt zu dem ändern Meister tun.“ Der Junge ward
hingebracht und blieb bei diesem Meister auch ein Jahr. Als er
zurückkam, fragte der Vater wiederum: „Mein Sohn, was hast
du gelernt?“ Er antwortete: „Vater, ich habe gelernt, was die
Vögel sprechen.“ Da geriet der Vater in Zorn und sprach: „O du
verlorener Mensch, hast du kostbare Zeit hingebracht und nichts
gelernt und schämst dich nicht, mir unter die Augen zu treten?
Ich will dich zu einem dritten Meister schicken, aber lernst du
auch diesmal nichts, so will ich dein Vater nicht mehr sein.“ Der
Sohn blieb bei dem dritten Meister ebenfalls ein ganzes Jahr,
und als wieder nach Haus kam und der Vater fragte: „Mein
Sohn, was hast du gelernt?“, so antwortete er: „Lieber Vater,
ich habe dieses Jahr gelernt, was die Frösche quaken.“ Da geriet
der Vater in den höchsten Zorn, sprang auf, rief seine Leute
herbei und sprach: „Dieser Mensch ist mein Sohn nicht mehr,
ich stoße ihn aus und gebiete euch, daß ihr ihn hinaus in den
Wald führt und ihm das Leben nehmt.“ Sic führten ihn hinaus,
aber als sie ihn töten sollten, konnten sie nicht vor Mitleiden und
ließen ihn gehen. Sie schnitten einem Reh Augen und Zunge
aus, damit sie dem Alten die Wahrzeichen bringen konnten.
Der Jüngling wanderte fort und kam nach einiger Zeit zu
einem Burg, wo er um Nachtherberge bat. „Ja“, sagte der Burg
herr, „wenn du da unten in dem alten Turm übernachten willst,
so gehe hin, aber ich warne dich, es ist lebensgefährlich, denn
er ist voll wilder Hunde, die bellen und heulen in einem fort, und
zu gewissen Stunden müssen sie einen Menschen ausgeliefert
53 BRÜDER GRIMM
haben, den sie auch gleich verzehren.“ Die ganze Gegend war
darüber in Trauer und Leid, und konnte doch niemand helfen.
Der Jüngling aber war ohne Furcht und sprach: „Laßt mich nur
hinab zu den bellenden Hunden, und gebt mir etwas, das ich
ihnen vorwerfen kann; mir sollen sie nichts tun.“ Weil er nun
selber nicht anders wollte, so gaben sie ihm etwas Essen für die
wilden Tiere und brachten ihn hinab zu dem Turm. Als er hinein
trat, bellten ihn die Hunde nicht an, wedelten mit den Schwän
zen ganz freundlich um ihn herum, fraßen, was er ihnen hin
setzte, und krümmten ihm kein Härchen. Am anderen Morgen
kam er zu jedermanns Erstaunen gesund und unversehrt wieder
zum Vorschein und sagte zu dem Burgherrn: „Die Hunde haben
mir in ihrer Sprache offenbart, warum sie da hausen und dem
Lande Schaden bringen. Sie sind verwünscht und müssen einen
großen Schatz hüten, der unten im Turme liegt, und kommen
nicht eher zur Ruhe, als bis er gehoben ist, und wie dies gescheh
en muß, das habe ich ebenfalls aus ihren Reden vernommen.“
Da freuten sich alle, die das hörten, und der Burgherr sagte, er
wollte ihn an Sohnes Statt annehmen, wenn er es glücklich voll
brächte. Er stieg wieder hinab, und weil er wußte, was er zu tun
hatte, so vollführte er es und brachte eine mit Gold gefüllte Truhe
herauf. Das Geheul der wilden Hunde ward von nun an nicht
mehr gehört, sie waren verschwunden, und das Land war von
der Plage befreit.
Über eine Zeit kam es ihm in den Sinn, er wollte nach Rom
fahren. Auf dem Wege kam er an einem Sumpf vorbei, in welchem
Frösche saßen und quakten. Er horchte auf, und als er ver
nahm, was sie sprachen, ward er ganz nachdenklich und trau
rig. Endlich langte er in Rom an, da war gerade der Papst gestor
ben und unter den Kardinälen großer Zweifel, wen sie zum Nach
folger bestimmen sollten. Sie wurden zuletzt einig, deijenige sollte
zum Papst erwählt werden, an dem sich ein göttliches Wunderzei
chen offenbaren würde. Und als das eben beschlossen war, in
demselben Augenblick trat der junge Graf in die Kirche, und
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 54
Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke
unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun
55 BRÜDER GRIMM
und sie trocknen will; aber weil morgen zum Sonntag Gäste kom
men, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen und hat der
Köchin gesagt, sie wollte mich morgen in der Suppe essen, und
da soll ich mir heut abend den Kopf abschneiden lassen. Nun
schrei ich aus vollem Hals, solang ich noch kann.“ - „Ei was, du
Rotkopf“, sagte der Esel, „zieh lieber mit uns fort, wir gehen
nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall;
du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren,
so muß es eine Art haben.“ Der Hahn ließ sich den Vorschlag
gefallen, und sie gingen alle vier zusammen fort.
Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht errei
chen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten
wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen
Baum, die Katze und der Hahn machten sich in die Äste, der
Hahn aber flog bis in die Spitze, wo es am sichersten für ihn
war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier
Winden um, da deuchte ihn, er sähe in der Ferne ein Fünkchen
brennen, und rief seinen Gesellen zu, es müßte nicht gar weit
ein Haus sein, denn es scheine ein Licht. Sprach der Esel: „So
müssen wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die
Herberge schlecht.“ Der Hund meinte, ein paar Knochen und
etwas Fleisch dran täten ihm auch gut. Also machten sie sich
auf den Weg nach der Gegend, wo das Licht war, und sahen es
bald heller schimmern, und es ward immer größer, bis sie vor
ein hell erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der Größte,
näherte sich dem Fenster und schaute hinein. „Was siehst du,
Grauschimmel?“ fragte der Hahn. „Was ich sehe?“ antwortete
der Esel, „einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken,
und Räuber sitzen daran und lassen’s sich wohl sein.“ - „Das
wäre was für uns“, sprach der Hahn. „Ja, ja, ach, wären wir
da!“ sagte der Esel. Da ratschlagten die Tiere, wie sie es anfan
gen müssen, um die Räuber hinauszujagen, und fanden endlich
ein Mittel. Der Esel mußte sich mit den Vorderfüßen auf das
Fenster steilen, der Hund auf des Esels Rücken springen, die
57 BRÜDER GRIMM
Katze auf den Hund klettern, und endlich flog der Hahn hinauf
und setzte sich der Katze auf den Kopf. Wie das geschehen
war, fingen sie auf ein Zeichen insgesamt an ihre Musik zu ma
chen; der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute, und
der Hahn krähte; dann stürzten sie durch das Fenster in die
Stube hinein, daß die Scheiben klirrten. Die Räuber fuhren bei
dem entsetzlichen Geschrei in die Höhe, meinten nicht anders,
als ein Gespenst käme herein, und flohen in größter Furcht in
den Wald hinaus. Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch,
nahmen mit dem vorlieb, was übriggeblieben war, und aßen, als
wenn sie vier Wochen hungern sollten.
Wie die vier Spielleute fertig waren, löschten sie das Licht
aus und suchten sich eine Schl afslätte, jeder nach seiner Natur
und Bequemlichkeit. Der Esel legte sich auf den Mist, der Hund
hinter die Türe, die Katze auf den Herd bei die warme Asche,
und der Hahn setzte sich auf den Hahnenbalken; und weil sie
müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie auch bald ein.
Als Mitternacht vorbei war und die Räuber von weitem sahen,
daß kein Licht mehr im Haus brannte, auch alles ruhig schien,
sprach der Hauptmann: „Wir hätten uns doch nicht sollen ins
Bockshorn jagen lassen“, und hieß einen hingehen und das Haus
untersuchen. Der Abgeschickte fand alles still, ging in die Küche,
ein Licht anzuzünden, und weil er die glühenden, feurigen Au
gen der Katze für lebendige Kohlen ansah, hielt er ein Schwefel
hölzchen daran, daß es Feuer fangen sollte. Aber die Katze
verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht, spie und kratzte.
Da erschrak er gewaltig, lief und wollte zur Hintertüre hinaus,
aber der Hund, der da lag, sprang auf und biß ihn ins Bein; und
als er über den Hof an dem Miste vorbeirannte, gab ihm der
Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß; der Hahn
aber, der vom Lärmen aus dem Schlaf geweckt und munter ge
worden war, rief vom Balken herab „Kikireki!“ Da lief der Räu
ber, was er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und spach:
„Ach, in dem Haus sitzt eine greuliche Hexe, die hat mich ange
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 58
haucht und mit ihren langen Fingern mir das Gesicht zerkratzt;
und vor der Türe steht ein Mann mit einem Messer, der hat
mich ins Bein gestochen; und auf dem Hof liegt ein schwarzes
Ungetüm, das hat mit einer Holzkeule auf mich losgeschlagen;
und oben auf dem Dache, da sitzt der Richter, de rief: »Bringt
mir den Schelm her.' Da machte ich, daß ich fortkam.“ Von nun
an getrauten sich die Räuber nicht weiter in das Haus, den vier
Bremer Musikanten gefiel’s aber so wohl darin, daß sie nicht
wieder heraus wollten. Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist
der Mund noch warm.
16. Was entdeckten die Räuber im Haus, als alles still wurde
und sie zurückkehren konnten?
17. Getrauten die Räuber wieder ins Haus?
18. Wo blieben die vier Bremer Musikanten?
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 60
Heinrich HEINE
(1797-1856)
1... dort immatrikuliert und bald darauf konsiliiert wurde - был туда зачислен
и вскоре после этого отчислен...
2 war vollständig eingerichtet mit Schnurren, Pudeln, Dissertationen, Thedan
sants, Wäscherinnen, Kompendien, Taubenbraten, Guelfenorden, Promotions
kutschen, Pfeifenköpfen, Hofräten, Justizräten, Relegationsräten, Profaxen und
anderen Faxen - полностью укомплектован педелями (педели - универ
ситетские служители, наблюдали за поведением студентов - прим. сост.),
пуделями, диссертациями, чаями с танцами, прачками, компендиумами, жа
реными голубями, гвельфскими орденами, профессорскими каретами, го
ловками для трубок, гофратами, юстицратами, релегационератами, про
фессорами, профокусами и прочими фокусами.
3 ...jeder deutsche Stamm habe damals ein ungebundenes Exemplar seiner
Mitglieder darin zurückgelassen... - каждое германское племя оставило там
тогда по одному буйному экземпляру своих членов...
4 vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind - эти четыре
сословия отнюдь не строго между собой разграничены.
5 Die Namen ... aller ordentlichen und unordentlichen Professoren hierher
zuzählen, wäre zu weitläuftig... - Перечислять имена ... всех ординарных и
неординарных профессоров было бы слишком долго...
63 HEINRIC H HEINE
der Göttinger Philister muß sehr groß sein, wie Sand, oder bes
ser gesagt, wie Kot am Meer; wahrlich wenn ich sie des Mor
gens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnun
gen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt
sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur soviel Lumpen
sack erschaffen konnte.
*
* *
Es ist der erste Mai, und ich denke deiner, du schöne Ilse -
oder soll ich dich “Agnes” nennen, weil dir dieser Name am
besten gefällt? - ich denke deiner, und ich möchte wieder Zusehen,
wie du leuchtend den Berg hinabläufst. Am liebsten aber möchte
ich unten im Tale stehen und dich auffangen in meine Arme. -
Es ist ein schöner Tag! Überall sehe ich die grüne Farbe, die
Farbe der Hoffnung. Überall, wie holde Wunder, blühen hervor
die Blumen, und auch mein Herz will wieder blühen. Dieses
Herz ist auch eine Blume, eine gar wunderliche. Es ist kein be
scheidenes Feilchen, keine lachende Rose, keine reine Lilie oder
sonstiges Blümchen, das mit artiger Lieblichkeit den Mädchensinn
erfreut und sich hübsch vor den hübschen Busen stecken läßt,
und heute welkt und morgen wieder blüht. Dieses Herz gleicht
mehr jener schweren, abenteuerlichen Blume aus den Wäldern
Brasiliens, die der Sage nach alle hundert Jahre nur einmal blüht.1
Ich erinnere mich, daß ich als Kind eine solche Blume gesehen.
Wir hörten in der Nacht einen Schuß, wie von einer Pistole, und
am folgenden Morgen erzählten mir die Nachbarskinder, daß es
ihr “Aloe” gewesen, die mit solchem Knalle plötzlich aufgeblüht
sei. Sie führten mich in ihren Garten, und da sah ich zu meiner
Verwunderung, daß das niedrige, harte Gewächs mit den när
risch breiten, scharfgezackten Blättern, woran man sich leicht
verletzen konnte, jetzt ganz in die Höhe geschossen war2 und
1die der Sage nach alle hundert Jahre nur einmal blüht - который согласно
легенде цветет лишь раз в сто лет.
2 ... in die Höhe geschossen war - сильно вытянулся вверх.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 64
oben, wie eine goldene Krone, die herrlichste Blüte trug. Wir
Kinder konnten nicht mal so hoch hinaufsehen, und der alte,
schmunzelnde Christian, der uns liebhatte, baute eine hölzerne
Treppe um die Blume herum, und da kletterten wir hinauf wie
die Katzen und schauten neugierig in den offenen Blumenkelch,
woraus die gelben Strahlenfäden und wildfremden Düfte mit
unerhörter Pracht hervordrangen.
Ja, Agnes, oft und leicht kommt dieses Herz nicht zum Blühen;
soviel ich mich erinnere, hat es nur ein einziges Mal geblüht, und
das mag schon lange her sein, gewiß schon hundert Jahr. Ich
glaube, so herrlich auch damals seine Blüte sich entfaltete, so
mußte sie doch aus Mangel an Sonnenschein und Wärme elen
diglich verkümmern, wenn sie nicht gar von einem dunkeln Win
tersturme gewaltsam zerstört worden. Jetzt aberregt und drängt
es sich wieder in meiner Brust, und hörst du plötzlich den Schuß -
Mädchen, erschrick nicht! ich hab’ mich nicht totgeschossen, sondern
meine Liebe sprengt ihre Knospe und schießt empor in strahlenden
Liedern, in ewigen Dithyramben, in freudigster Sangesfülle.
Ist dir aber diese hohe Liebe zu hoch, Mädchen, so mach es
dir bequem und besteige die hölzerne Treppe und schaue von
dieser hinab in mein blühendes Herz.
Es ist noch früh am Tage, die Sonne hat kaum die Hälfte
ihres Weges zurückgelegt, und mein Herz duftet schon so stark,
daß es mir betäubend zu Kopfe steigt, daß ich nicht mehr weiß,
wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt, daß ich die Luft
mit meinen Seufzern bevölkere, und daß ich selbst wieder zerrin
nen möchte in süße Atome, in die unerschaffene Gottheit; - wie
soll das erst gehen, wenn es Nacht wird und die Sterne am Himmel
erscheinen, “die unglücksel’gen Sterne, die dir sagen können
Es ist der erste Mai, der lumpigste Ladenschwengel1 hat
heute das Recht, sentimental zu werden, und dem Dichter wolltest
du es verwehren?
*
* *
...Als ich noch ein Knabe war, dachte ich an nichts als1 an
Zauber- und Wundergeschichten, und jede schöne Dame, die
Straußfedern auf dem Kopfe trug, hielt ich für eine Elfenköni
gin, und bemerkte ich gar, daß die Schleppe ihres Kleides naß
war, so hielt ich sie für eine Wassernixe2. Jetzt denke ich anders,
seit ich aus der Naturgeschichte weiß, daß jene symbolischen
Federn von dem dümmsten Vogel herkommen, und daß die
Schleppe eines Damenkleides auf sehr natürliche Weise naß
werden kann. Hätte ich mit jenen Knabenaugen die erwähnte
junge Schöne, in erwähnter Stellung, auf dem Brocken3 geseh
en, so würde ich sicher gedacht haben: das ist die Fee des Berges,
und sie hat eben den Zauber ausgesprochen, wodurch dort unten
alles so wunderbar erscheint. Ja, in hohem Grade wunderbar
erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken,
alle Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke, und diese,
meistens verschiedenartig, sogar sich widersprechend, verbin
den sich in unserer Seele zu einem großen, noch unentworre-
nen, unverstandenen Gefühl. Gelingt es uns, dieses Gefühl in
seinem Begriffe zu erfassen, so erkennen wir den Charakter
des Berges. Dieser Charakter ist ganz deutsch, sowohl in Hin
sicht seiner Fehler als auch seiner Vorzüge. Der Brocken ist ein
Deutscher. Mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns, klar und
deutlich, wie ein Riesenpanorama, die vielen hundert Städte,
Städchen und Dörfer, die meistens nördlich liegen, und ringsum
alle Berge, Wälder, Flüsse, Flächen, unendlich weit. Aber eben
dadurch erscheint alles wie eine scharf gezeichnete, rein illu
minierte Spezialkarte, nirgends wird das Auge durch eigentlich
schöne Landschaften erfreut; wie es denn immer geschieht, daß
1 an nichts als - ни о чем кроме.
2 so hielt ich sie für eine Wassernixe - то я считал ее русалкой.
3 Brocken - самая высокая гора Гарца. По легенде в ночь с 30 апреля
на 1 мая на ее вершине ежегодно происходит шабаш ведьм (Вальпургиева
ночь).
3 . Читаем по-немецки
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 66
Kapitel XX
Sic war liebenswürdig, und Er liebte Sie;
Er aber war nicht liebenswürdig, und Sie
liebte Ihn nicht.
(Altes Stück)
schlief es mit mir ein, und es erwachte, sobald ich wieder die
Augen aufschlug. Als ich größer wurde, wuchs auch das Elend
und wurde endlich ganz groß und zersprengte mein.
Wir wollen von ändern Dingen sprechen, vom Jungfemkranz,
von Maskenbällen, von Lust und Hochzeitfreude - lalarallala,
lalarallala, lalaral-la-la-la.
*
* *
Sie haben mich gequälet. Они меня истерзали
Geärgert blau und blaß. И сделали смерти бледней, -
Die einen mit ihrer Liebe, Одни своею любовыо,
Die ändern mit ihrem Haß. Другие враждою своей.
*
* *
Es stehen unbeweglich
Die Sterne in der Höh,
Viel tausend Jahr, und schauen
Sich an mit Liebesweh.
69 HEINRICH HEINE
Pirlipats Mutter war die Frau eines Königs, mithin eine Kö
nigin, und Pirlipat selbst in demselben Augenblick, als sie ge-
Ar
eine große Hofhaltung unter dem Herde/ Die Königin war eine
gute mildtätige Frau, wollte sie daher auch sonst Frau Mause
rinks nicht gerade als Königin und als ihre Schwester anerken
nen,1 sö gönnte sie ihr doch von Herzen an dem festlichen Tage
die Schmauserei, und rief: ‘ Kommt nur hervor, Frau Mause
rinks, Ihr möget immerhin von meinem Speck genießen.” Da
kam auch Frau Mauserinks sehr schnell und lustig hervorge
hüpft, sprang auf den Herd, und ergriff mit den zierlichen klei
nen Pfötchen ein Stückchen Speck nach dem ändern, daß ihr
die Königin hinlangte. Aber nun kamen alle Gevattern und Muhmen
der Frau Mauserinks hervorgesprungen, und auch sogar ihre
sieben Söhne, recht unartige Schlingel, die machten sich über
den Speck her, und nicht wehren konnte ihnen die erschrockene
Königin. Zum Glück kam die Oberhofmeisterin dazu, und ver
jagte die zudringlichen Gäste, so daß noch etwas Speck übrig
blieb, welcher, nach Anweisung des herbei gerufenen Hofma
thematikers sehr künstlich auf alle Würste verteilt wurdet- Pauken
und Trompeten erschallten, alle anwesenden Potentaten und
Prinzen zogen in glänzenden Feierkleidern zum Teil auf weißen
Zeltern, zum Teil in kiistallnen Kutschen zum Wurstschmause.
Der König empfing sie mit herzlicher Freundlichkeit und Huld,
und setzte sich dann, als Landesherr mit Krön und Szepter an
getan, an die Spitze des Tisches. Schon in der Station der Le
berwürste sah man, wie der König immer mehr und mehr er
blaßte, wie er die Augen gen Himmel hob - leise Seufzer ent
flohen seiner Brust - ein gewaltiger Schmerz schien in seinem
Innern zu wühlen! Doch in der Station der Blutwürste sank er
laut schluchzend und ächzend, in den Lehnsessel zurück, er hielt
beide Hände vors Gesicht, er jammerte und stöhnte. - Alles
sprang auf von der Tafel, der Leibarzt bemühte sich vergebens
des unglücklichen Königs Puls zu erfassen, ein tiefer, namen
1 ...wollte sie daher auch sonst Frau Mauserinks nicht gerade als Königin und
als ihre Schwester anerkennen - хотя она и не хотела признавать г-жу Мау-
зеринкс королевой и своей сестрой...
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 74
1 ...daß sie den Tod ihrer Söhne und Verwandten nicht ungerächt hingehen
lassen würde - что она не оставит неотомщенной смерть своих сыновей и
родственников.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 76
Pforte zum Geheimnis, ich will anklopfen, und sie wird sich
öffnen!” Er bat sogleich um die Erlaubnis, mit dem Hofastro
nom sprechen zu können, und wurde mit starker Wache hingeführt.
Beide Herren umarmten sich unter vielen Tränen, da sie zärtliche
Freunde waren, zogen sich dann in ein geheimes Kabinett zurück,
und schlugen viele Bücher nach, die von dem Instinkt, von den
Sympathien und Antipathien und ändern geheimnisvollen Dingen
handelten. Die Nacht brach herein, der Hofastronom sah nach
den Sternen, und stellte mit Hilfe des auch hierin sehr geschick
ten Droßelmeiers das Horoskop der Prinzessin Pirlipat. Das war
eine große Mühe, denn die Linien verwirrten sich immer mehr
und mehr, endlich aber - welche Freude, endlich lag es klar vor
ihnen, daß die Prinzessin Pirlipat, um den Zauber, der sie ver-
häßlicht, zu lösen, und um wieder so schön zu werden, als vorher,
nichts zu tun hätte, als den süßen Kern der Nuß Krakatuk zu
genießen.
Die Nuß Krakatuk hatte eine solche harte Schale, daß eine
achtundvierzigpfündige Kanone darüber wegfahren konnte, ohne
sie zu zerbrechen. Diese harte Nuß mußte aber von einem Manne,
der noch nie rasiert worden und der niemals Stiefeln getragen,
vor der Prinzessin aufgebissen und ihr von ihm mit geschlos
senen Augen der Kern dargereicht werden. Erst nachdem er
sieben Schritte rückwärts gegangen, ohne zu stolpern, durfte
der junge Mann wieder die Augen erschließen. Drei Tage und
drei Nächte hatte Droßelmeier mit dem Astronomen ununter
brochen gearbeitet und es saß gerade des Sonnabends der König
bei dem Mittagstisch, als Droßelmeier, der Sonntag in aller Frühe
geköpft werden sollte, voller Freude und Jubel hineinstürzte, und
das gefundene Mittel, der Prinzessin Pirlipat die verlorene Schön
heit wiederzugeben, verkündete. Der König umarmte ihn mit
heftigem Wohlwollen, versprach ihm einen diamanten Degen,
vier Orden und zwei neue Sonntagsröcke. “Gleich nach Tische”,
setzte er freundlich hinzu, “soll es ans Werk gehen, sorgen Sie,
teurer Arkanist, daß der junge unrasierte Mann in Schuhen mit
79 E R N ST THEODOR AMADEUS HOFFMANN
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der Nuß Krakatuk gehörig bei der Hand sei,1 und lassen Sie ihn
vorher keinen Wein trinken, damit er nicht stolpert, wenn er
sieben Schritte rückwärts geht wie ein Krebs, nachher kann er
erklecklich saufen!” Droßelmeier wurde über diese Rede des
Königs sehr bestürzt, und nicht ohne Zittern und Zagen2 brachte
er stammelnd heraus, daß das Mittel zwar gefunden wäre, beides,
die Nuß Krakatuk und der junge Mann zum Aufbeißen der
selben aber erst gesucht werden müßten, wobei es noch oben
ein zweifelhaft bliebe, ob Nuß und Nußknacker jemals gefunden
werden dürften. Hocherzürnt schwang der König den Szepter
über das gekrönte Haupt, und schrie mit einer Löwenstimme:
“So bleibt es bei dem Köpfen.”3 Ein Glück war es für den in
Angst und Not versetzten Droßelmeier, daß dem Könige das
Essen gerade den Tag sehr wohl geschmeckt hatte, er mithin in
der guten Laune war, vernünftigen Vorstellungen Gehör zu ge
ben, an denen es die großmütige und von Droßelmeiers Schick
sal gerührte Königin nicht mangeln ließ.4 Droßelmeier faßte
Mut und stellte zuletzt vor, daß er doch eigentlich die Aufgabe,
das Mittel, wodurch die Prinzessin geheilt werden könne, zu
nennen, gelöst, und sein Leben gewonnen habe. Der König nannte
das dumme Ausreden und einfältigen Schnickschnack,5 beschloß
aber endlich, nachdem er ein Gläschen Magenwasser zu sich
genommen, daß beide, der Uhrmacher und der Astronom, sich
auf die Beine machen und nicht anders als mit der Nuß Krakatuk
in der Tasche wiederkehren sollten. Der Mann zum Aufbeißen
derselben sollte, wie es die Königin vermittelte, durch mehr
maliges Einrücken einer Aufforderung in einheimische und
1 ...gehörig bei der Hand sei - надлежащим образом был под рукой.
2 nicht ohne Zittern und Zagen - со страхом и трепетом.
5 so bleibt es bei dem Köpfen - тогда остается казнь (обезглавливание).
4 ...vernünftigen Vorstellungen Gehör zu geben, an denen es die großmütige
... Königin nicht mangeln ließ - прислушаться к разумным возражениям,
на которые не поскупилась великодушная королева.
5 der Schnickschnack - вздор, чепуха.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 80
Gottfried KELLER
(1819-1890)
nutzen und den Herren die Pacht zahlen?“ - „Ja, bis es sich
entschieden habe, wem der Acker gehöre und was mit ihm an
zufangen sei. Ich ... sagte, sie sollten den Acker nur verkaufen
und den Ertrag au flleben, bis sich ein Eigentümer gefunden, was
wohl nie geschehen wird.“
... Sie schwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an:
„Schad’ ist es aber, daß der gute Boden so daliegen muß, es ist
nicht zum Ansehen, das geht nun schon in die zwanzig Jahre so,
und keine Seele fragt darnach; denn hier im Dorf ist niemand,
der irgendeinen Anspruch auf den Acker hat.
... Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiegespräch der Bauern
geendet, und sie erhoben sich, den Rest ihrer heutigen Vormit
tagsarbeit zu vollbringen. Die beiden Kinder hingegen, welche
schon den Plan entworfen hatten, mit den Vätern nach Hause
zu ziehen, zogen ihr Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Lin
den und begaben sich dann auf einen Streifzug in dem wilden
Acker, da derselbe mit seinen Unkräutern, Stauden und Stein
haufen eine ungewohnte und merkwürdige Wildnis darstellte.
... Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen
legte sich das Dimchen auf den Rücken, da es müde war, und
begann in eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die
nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half... Die Sonne
schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund,
beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und durchschim
merte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und
dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neu
gierig untersuchend, rief er: „Rate, wie viele Zähne hat man?“
Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich
nachzählte, und sagte dann aufs Geratewohl: „Hundert!“ -„Nein,
zweiunddreißig!“ rief er, „wart, ich will einmal zählen!“ Da zählte
er die Zähnchen des Kindes, und weil er nicht zweiunddreißig
herausbrachte, so fing er immer von neuem an. Das Mädchen
hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam,
raffte es sich auf und rief: „Nun will ich deine zählen!“ ... und es
87 GOTTFRIED KELLER
zählte: „Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins“; denn die kleine Schöne
konnte noch nicht zählen.
... Inzwischen hatten die Väter ihre Äcker fertiggepflügt und
in frisch duftende braune Furchen umgewandelt. Als nun, mit
der letzten Furche zu Ende gekommen, der Knecht des einen
halten wollte, rief sein Meister: „Was hältst du? Kehr noch ein
mal um!“ - „Wir sind ja fertig!“ sagte der Knecht. „Halt’s Maul
und tu, wie ich dir sage!“ Und sie kehrten um und rissen eine
tüchtige Furche in den mittleren herr enlosen Acker hinein, daß
Kraut und Steine flogen.
... So ging es rasch die Höhe empor, und als man oben ange
langt und das liebliche Windeswehen eben wieder den Kappen
zipfel des Mannes zurückwarf, pflügte auf der anderen Seite
der Nachbar vorüber, mit dem Zipfel nach vom, und schnitt eben
falls eine ansehnliche Furche vom mittleren Acker, daß die Schol
len nur so zur Seite flogen. Jeder sah wohl, was der andere tat,
aber keiner schien es zu sehen, und sie entschwanden sich wieder,
indem jedes Sternbild still am anderen vorüberging und hinter
diese runde Welt hinabtauchte. So gehen die Weberschiffchen
des Geschickes aneinander vorbei...
Es kam eine Ernte um die andere, und jede sah die Kinder
größer und schöner und den herrenlosen Acker schmäler zwi
schen seinen breit gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen
verlor er hüben und drüben eine Furche, ohne daß ein Wort
darüber gesprochen worden wäre und ohne daß ein Men
schenauge den Frevel zu sehen schien. Die Steine wurden im
mer mehr zusammengedrängt und bildeten schon einen ordentli
chen Grat auf der ganzen Länge des Ackers, und das wilde
Gesträuch darauf war schon so hoch, daß die Kinder, obgleich
sie gewachsen waren, sich nicht mehr sehen konnten, wenn
eines dies- und das andere jenseits ging. Denn sie gingen nun
nicht mehr gemeinschaftlich auf das Feld, da der zehnjährige
Salomon oder Sali, wie er genannt wurde, sich schon wacker
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 88
auf Seite der größeren Burschen und der Männer hielt; und das
braune Vrenchen, obgleich es ein feuriges Dimchen war, mußte
bereits unter den Obhut seines Geschlechts gehen, sonst wäre
es von den anderen als Bubenmädchen ausgelacht worden.
... Indessen sollte der Acker doch endlich verkauft und der
Erlös einstweilen amtlich aufgehoben werden. Die Versteigerung
fand an Ort und Stelle statt, wo sich aber nur einige Gaffer
einfanden außer den Bauern Manz und Marti, da niemand Lust
hatte, das seltsame Stückchen zu erstehen und zwischen den
zwei Nachbaren zu bebauen.
... Manz und Marti waren also die einzigen, welche ernstlich
auf den Acker boten; nach einem ziemlich hartnäckigen Über
bieten erstand ihn Manz, und er wurde ihm zugeschlagen. Die
Beamten und Gaffer verloren sich vom Felde; die beiden Bauern,
welche sich auf ihren Äckern noch zu schaffen gemacht, trafen
beim Weggehen wieder zusammen, und Marti sagte: „Du wirst
nun dein Land, das alte und das neue, wohl zusammenschlagen
und in zwei gleiche Stücke teilen? Ich hätte es wenigstens so
gemacht, wenn ich das Ding bekommen hätte.“ - „Ich werde es
allerdings auch tun“, antwortete Manz, „denn als ein Acker würde
mir das Stück zu groß sein. Doch was ich sagen wollte: Ich
habe bemerkt, daß du neulich noch am untern Ende dieses Ak-
kers, der jetzt mir gehört, schräg hineingefahren bist und ein
gutes Dreieck abgeschnitten hast. Du hast es vielleicht getan in
der Meinung, du werdest das ganze Stück an dich bringen undes
sei dann sowieso dein. Da es nun aber mir gehört, so wirst du
wohl einsehen, daß ich eine solche ungehörige Einkrümmung nicht
brauchen noch dulden kann, und wirst nichts dagegen haben, wenn
ich den Strich wieder gradmache! Streit wird das nicht abgeben
sollen!“
Marti erwiderte ebenso kaltblütig, als ihn Manz angeredet
hatte: „Ich sehe auch nicht, wo der Streit herkommen soll! Ich
denke, du hast den Acker gekauft, wie er da ist, wir haben ihn
89 GOTTFRIED KELLER
als Zank und Sorge war. Vrenchen hatte anscheinend einen schlim
meren Stand als Sali, da seine Mutter tot und es einsam in einem
wüsten Hause der Tyrannei eines verwilderten Vaters anheim
gegeben war. Als es sechzehn Jahre zählte, war es schon ein
schlank gewachsenes, ziervolles Mädchen; seine dunkelbrau
nen Haare ringelten sich unablässig fast bis über die blitzenden
braunen Augen, dunkelrotes Blut durchschimmerte die Wangen
des bräunlichen Gesichtes und glänzte als tiefer Purpur auf den
frischen Lippen, wie man es selten sah und was dem dunklen
Kinde ein eigentümliches Ansehen und Kennzeichen gab. Feurige
Lebenslust und Frölichkeit zitterte in jeder Fiber dieses Wesens;
es lachte und war aufgelegt zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter
nur im mindesten lieblich war, das heißt, wenn es nicht zu sehr
gequält wurde und nicht zuviel Sorgen ausstand.
... Sali erging es nicht so hart auf den ersten Anschein; denn
er war nun ein hübscher und kräftiger junger Bursche, der sich
zu wehren wußte und dessen äußere Haltung wenigstens eine
schlechte Behandlung von selbst unzulässig machte.
... Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feind
schaft seines Vaters gegen alles, was Marti hieß und an diesen
erinnerte. Doch wußte er nichts anderes, als daß Marti seinem
Vater Schaden zugefügt und daß man in dessen Hause ebenso
feindlich gesinnt sei, und es fiel ihm daher nicht schwer, weder
den Marti noch seine Tochter anzusehen und seinerseits auch
einen angehenden, doch ziemlich zahmen Feind vorzustellen.
Vrenchen hingegen, welches mehr erdulden mußte als Sali und
in seinem Hause viel verlassener war, fühlte sich weniger zu
einer förmlichen Feindschaft auferlegt und glaubte sich nur ver
achtet von dem wohl gekleideten und scheinbar glücklicheren
Sali; deshalb verbarg sie sich vor ihm, und wenn er irgendwo in
der Nähe war, so entfernte sie sich eilig, ohne daß er sich die
Mühe gab, ihr nachzublicken. So kam es, daß er das Mädchen
schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe gesehen und
gar nicht wußte, wie es aussah, seit es herangewachsen. Und
91 GOTTFRIED KELLER
haben nur noch den, und hole etwas Gemüse. Ich weiß, daß
niemand weiter dort sein wird, weil die Leute anderswo
schneiden; wenn du willst, so komm dorthin, aber jetzt geh und
nimm dich in acht, daß dich niemand sieht! Wenn auch kein
Mensch hier mehr mit uns umgeht, so würden sie doch ein solches
Gerede machen, daß es der Vater sogleich vernähme.“
... Obgleich es kaum eine Viertelstunde währte, bis Vrenchen
nachkam, und er an nichts anderes dachte als an sein Glück und
dessen Namen, stand es doch plötzlich und unverhofft vor ihm,
auf ihn niederlächelnd, und froh erschreckt sprang er auf. „ Vree-
li!“ rief er, und dieses gab ihm still und lächelnd beide Hände,
und Hand in Hand gingen sie nun das flüsternde Korn entlang
bis gegen den Fluß hinunter und wieder zurück, ohne viel zu
reden; sie legten zwei- oder dreimal den Hin- und Herweg zurück,
still, glückselig und ruhig, so daß dieses einige Paar nun auch
einem Sternbilde glich, welches über die sonnige Rundung der
Anhöhe und hinter derselben niederging, wie einst die sicher
gehenden Pflugzüge ihrer Väter.
... „Bei Gott, Vreeli, wie schön bist du!“ Vrenchen lachte ihn
nur noch mehr an und hauchte dazu aus klangvoller Kehle eini
ge kurze mutwillige Lachtöne, welche dem armen Sali nicht anders
dünkten als der Gesang einer Nachtigall. „O du Hexe!“ rief er,
„wo hast du das gelernt? Welche Teufekskünste treibst du da?“
- „Ach du lieber Gott!“ sagte Vrenchen mit schmeichelnder
Stimme und nahm Salis Hand, „das sind keine Teufelskünste!
Wie lange hätte ich gern einmal gelacht! Ich habe wohl zuweilen,
wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen müssen,
aber es war nichts Rechts dabei; jetzt aber möchte ich dich
wohl immer und ewig anlachen, wenn ich dich sehe, und ich
möchte dich wohl immer und ewig sehen! Bist du mir auch ein
bißchen recht gut?“ - О Vreeli!“ sagte er und sah ihr ergeben
und treuherzig in die Augen, „ich habe noch nie ein Mädchen
angesehen, es war mir immer, als ob ich dich einst liebhaben
müßte, und ohne daß ich wollte oder wußte, hast du mir doch
93 GOTTFRIED KELLER
Sali aufsprang und laufen wollte, streckte es ihm die Hand nach
und rief ihn zurück: „Komm aber nicht mit zurück und sage nichts,
wie es zugegangen, ich werde auch schweigen, man soll nichts
aus mir herausbringen!“ sagte es, und sein Gesicht, das cs dem
armen ratlosen Burschen zuwandte, überfloß von schmerzlichen
Tränen. „Komm, küß mich noch einmal! Nein, geh, mach dich
fort! Es ist aus, es ist ev/ig aus, wir können nicht zusammenkom-
men!“
Heinrich MANN
(1871-1950)
möge sich nur nicht die Zunge verbrennen,1 man könne nie wis
sen, mit wem man es zu tun habe. Als er dann den Sieg erstrit
ten hatte und die Damen abgezogen waren, kam statt ihrer eine
andere. Diederich sah ihr entschlossen entgegen, aber sie zog
einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und aß sie aus der Hand,
wobei sie ihm zulächelte. Da rüstete er ab, erwiderte, breit glän
zend, ihre Sympathie und sprach sie an. Es stellte sich heraus,
daß sie aus Netzig war. Er nannte seinen Namen, worauf sie
frohlockte, sie seien alte Bekannte! “Nun?” Diederich betra
chtete sie forschend: das dicke, rosige Gesicht mit dem fleischi
gen Mund und der kleinen, frech eingedrückten Nase; das weißli
che Haar, nett, glatt und ordentlich, den Hals, der jung und fett
war, und in den Halbhandschuhen die Finger, die die Wurst hielten
und selbst rosigen Würstchen glichen. “Nein”, entschied er, “ken
nen tu ich Sie nicht, aber kolossal appetitlich sind Sie. Wie ein
frischgewaschenes Schweinchen.” Und er griff ihr um die Taille.
Im selben Augenblick hatte er eine Ohrfeige. “Die sitzt”, sagte
er und rieb sich. “Haben Sie mehr solche zu vergeben?” - “Es
langt für alle Frechmöpse.”2 Sie lachte aus der Kehle und zwinker
te ihn mit ihren kleinen Augen unzüchtig an. “Ein Stück Wurst
können Sie haben, aber sonst nichts.” Ohne zu wollen, verglich
er ihre Art, sich zu wehren, mit Agnes’ Hilflosigkeit, und er
sagte sich: “So eine könnte man getrost heiraten.” Schließlich
nannte sie selbst ihren Vornamen und als er noch immer nicht
weiterfand, fragte sie nach seinen Schwestern. Plötzlich rief er:
“Gusti Daimchen!” Und beide schüttelten sich vor Freude. “Sie
haben mir doch immer Knöpfe geschenkt von den Lumpen in
ihrer Papierfabrik. Das vergeß ich ihnen nie, Herr Doktor! Wis
sen Sie, was ich mit den Knöpfen gemacht hab? Die hab ich
gesammelt, und wenn meine Mutter mir mal Geld für Knöpfe
gab, hab ich mir Bonbons gekauft.”
“Praktisch sind Sie auch!” Diederich war entzückt. “Und
dann sind Sie immer zu uns über die Gartenmauer geklettert, Sie
kleine Göre, Hosen hatten Sie meistens keine an, und wenn der
Rock raufrutschte, kriegte man hinten was zu sehen.”
Sie kreischte; ein feiner Mann habe für so was kein Gedächtnis.
“Jetzt muß es aber noch schöner geworden sein”, setzte Diederich
noch hinzu. Sie ward plötzlich ernst.
“Jetzt bin ich verlobt.”
Mit dem Wolfgang Buck war sie verlobt! Diederich verstum
mte, mit enttäuschter Miene. Dann erklärte er zurückhaltend, er
kenne Buck. Sie sagte vorsichtig: “Sie meinen wohl, er ist ein
bißchen überspannt? Aber die Bucks sind auch eine sehr feine
Familie. Naja, in anderen Familien ist wieder mehr Geld”, set
zte sie hinzu. Hierdurch betroffen,' sah Diederich sie an. Sie
zwinkerte. Er wollte eine Frage stellen; aber er hatte den Mut
verloren.
Kurz vor Netzig fragte Fräulein Daimchen: “Und Ihr Herz,
Herr Doktor, ist noch frei?”
“Um die Verlobung bin ich noch herumgekommen.”2 Er nickte
gewichtig. “Ach! Das müssen Sie mir erzählen”, rief sie. Aber
sie fuhren schon ein. “Wir sehen uns hoffentlich bald wieder”,
schloß Diederich. “Ich kann Ihnen nur sagen, ein junger Mann
kommt manchmal in verdammt brenzliche Sachen hinein.3 Für
ein Ja oder Nein ist das Leben verpfuscht.”
Seine beiden Schwestern standen am Bahnhof. Wie sie Guste
Daimchen erblickten, verzogen sie zuerst das Gesicht, dann aber
stürzten sie herbei und halfen das Gepäck tragen. Sie erklärten
ihren Eifer, kaum daß sie mit Diederich allein waren. Guste hatte
1 hierdurch betroffen - озадаченный этим.
2 um die Verlobung bin ich noch herumgekommen - от помолвки я пока
отвертелся.
3 ...kommt manchmal in verdammt brenzliche Sachen hinein - попадает
иногда в чертовски щекотливые положения.
4 . Читаем по-немецки
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 98
vorlaute Wort ab.1 “Dein Bruder weiß das besser als wir.”
Vorsichtig setzte sie hinzu: “Manches Mädchen wäre glücklich,
wenn sie sein Herz gewinnen könnte” - und sie hielt, seines
Zornes gewärtig, die Hand vor den Mund. Aber Diederich er
rötete nur. Da wagte sie, ihn zu umarmen. “Es wäre mir ja ein
so entsetzlicher Schmerz”, schluchzte sie, “wenn mein Sohn,
mein lieber Sohn aus dem Hause ginge. Für eine Witwe ist es
doppelt schwer. Die Frau Oberinspektor Daimchen kriegt es
nun auch zu fühlen, denn ihre Guste heiratet ja den Wolfgang
Buck.”
“Oder auch nicht”, sagte Emmi, die Ältere. “Denn der Wolf
gang soll doch was mit einer Schauspielerin haben.” Frau Heßling
vergaß ganz, die Tochter zu berufen. “Aber wo doch so viel
Geld da ist! Eine Million, sagen die Leute!”
Diederich stieß verachtungsvoll hervor, den Buck kenne er,
der sei nicht normal. “Es liegt wohl in der Familie. Der Alte hat
doch auch schon eine Schauspielerin geheiratet.”
“Man sieht die Folgen”, sagte Emmi. “Denn von seiner
Tochter, der Frau Lauer, hat man sich allerlei erzählt.”
“Kinder!” bat Frau Heßling ängstlich. Aber Diederich beruhigte
sie.
“Laß nur, Mutter, es wird Zeit, daß man der Katze die Schelle
umhängt.2 Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Bucks ihre
Stellung hier in der Stadt schon längst nicht mehr verdienen. Sie
sind eine verrottete Familie.” ••
“Die Frau von Moritz, dem Altesten”, sagte Magda, “ist ein
fach eine Bäuerin. Neulich waren sie mal in der Stadt, er ist
auch schon ganz verbauert.” Emmi empörte sich.
*
* *
...Er schlief diese Nacht unruhig. Schon um sieben ging er in
die Fabrik hinunter und schlug sofort Lärm, weil noch die Bier
flaschen von gestern umherlagen. “Hier wird nicht gesoffen,
hier ist keine Kneipe. Herr Sötbier, das steht doch wohl im Re
giment.” - “Regiment?” sagte der alte Buchhalter. “Wir haben
gar keins.” Diederich war sprachlos; er schloß sich mit Sötbier
im Kontor ein. “Kein Regiment? Dann wundert mich allerdings
gar nichts mehr. Was sind das für lächerliche Bestellungen, mit
denen Sie sich da abgeben?” - und er warf die Briefe auf dem
Pult umher. “Es scheint höchste Zeit gewesen zu sein, daß ich
eingreife.1 Das Geschäft versumpft in Ihren Händen.”
“Versumpfen, junger Herr?”
“Ich bin für Sie der Herr Doktor!” Und er verlangte, daß
man einfach alle anderen Fabriken unterbieten solle.2
“Das halten wir nicht aus”, sagte Sötbier. “Überhaupt wären
wir gar nicht imstande, so große Aufträge auszuführen wie
Gausenfeid.”
“Und Sie wollen ein Geschäftsmann sein? Dann stellen wir
eben mehr Maschinen ein.”
“Das kostet Geld”, sagte Sötbier.
“Dann nehmen wir welches auf! Ich werde hier Schneid hi
neinbringen.3Wenn Sie mich nicht unterstützen wollen, mache
ich es allein.”
Sötbier wiegte den Kopf. “Mit Ihrem Vater, junger Herr, war
ich immer einig. Wir haben zusammen das Geschäft in die Höhe
gebracht.”
“Jetzt ist eine andere Zeit, merken Sie sich das. Ich bin mein
eigener Geschäftsführer.”
1cs scheint höchste Zeit gewesen zu sein, daß ich eingreife - видимо, самое
время мне вмешаться.
2 alle anderen Fabriken unterbieten - зд.: сбить цену по сравнению со
всеми другими фабриками.
3 ich werde hier Schneid hineinbringen - я внесу оживление в дела.
103 HEINRIC H M ANN
“Ihr Benehmen ist mir schon längst verdächtig! Sie tun ihren
Dienst nicht, sonst hätte ich die beiden Leute nicht abgefaßt.”
“Ich bin kein Aufpasser”, warf der Mann dazwischen.
“Sie sind ein widersetzlicher Bursche, der die ihm unterstellten
Leute an Zuchtlosigkeit gewöhnt. Sie arbeiten für den Umsturz!
Wie heißen Sie überhaupt?”
“Napoleon Fischer”, sagte der Mann. Diederich stockte.
“Nap-. Auch das noch! Sie sind Sozialdemokrat?”
“Jawohl.”
“Dachte ich mir. Sie sind entlassen.”
Er wandte sich nach den Leuten um: “Merkt euch das!” -
und verließ schroff den Raum. Auf dem Hof lief Sötbier ihm
nach. “Junger Herr!” Er war in großer Aufregung und wollte
nichts sagen, bevor sie nicht die Tür des Privatkontors hinter
sich geschlossen hatten. “Junger Herr!”, sagte der Buchhalter,
“das geht nicht, der Mann ist ein Organisierter.”1 - “Deswegen
soll er raus”, erwiderte Diederich. Sötbier setzte auseinander,
daß das nicht gehe, weil dann alle die Arbeit niederlegen würden.
Diederich wollte es nicht begreifen. Waren denn alle organi
siert? Nein. Nun also. Aber, erklärte Sötbier, sie hatten Furcht
vor den Roten, sogar auf die alten Leute war kein Verlaß mehr.
“Ich schmeiß sie raus!” rief Diederich. “Samt und sonders,
mit Kind und Kegel!”2
“Wenn wir dann nur andere kriegten”, sagte Sötbier und sah
unter seinem grünen Augenschirm mit einem dünnen Lächeln
dem jungen Herrn zu, der vor Zorn gegen die Möbel anrannte.
Thomas MANN
(1875-1955)
BUDDENBROOKS (AUSZÜGE)
1 ...was für eine Bewandtnis es mit uns hatte - зд.: с нами случилось что-
то необыкновенное.
2 die Frau hätte gescholten - хозяйка бы бранилась.
111 THOMAS M ANN
“Das weiß Gott, Anna, wie die Dinge gehen werden! Man
bleibt nicht immer jung... du bist ein kluges Mädchen, du hast
niemals etwas von Heiraten gesagt und dergleichen...”
“Nein, behüte!... daß ich das von dir verlange...”
“Man wird getragen, siehst du... Wenn ich am Leben bin,
werde ich das Geschäft übernehmen, werde eine Partie ma
chen... ja, ich bin offen gegen dich, beim Abschied... Und auch
du... das wird so gehen... Ich wünsche dir alles Glück, meine
liebe, gute, kleine Anna! Aber wirf dich nicht weg, hörst du?...
Denn bis jetzt hast du dich nicht weggeworfen, das sage ich
dir...!”
Hier drinnen war es warm. Ein feuchter Duft von Erde und
Blumen lag in dem kleinen Laden. Draußen schickte schon die
Wintersonne sich an, unterzugehen. Ein zartes, reines und wie
auf Porzellan gemalt blasses Abendrot schmückte jenseits des
Flusses den Himmel. Das Kinn in die aufgeschlagenen Kragen
ihrer Überzieher versteckt, eilten die Leute am Schaufenster
vorüber und sahen nichts von den beiden, die in dem Winkel des
kleinen Blumenladens voneinander Abschied nahmen.
* *
Oftmals, wenn die trüben Stunden kamen, fragte sich Tornas
Buddenbrook, was er eigentlich noch sei, was ihn eigentlich noch
berechtige, sich auch nur ein wenig höher einzuschätzen als ir
gendeinen seiner einfach veranlagten, biderben und kleinbür
gerlich beschränkten Mitbürger. Die phantasievolle Schwungkraft,
der muntere Idealismus seiner Jugend war dahin. Im Spiele zu
arbeiten und mit der Arbeit zu spielen, mit einem halb ernst, halb
spaßhaft gemeinten Ehrgeiz nach Zielen zu streben, denen man
nur einen Gleichniswert zuerkennt, - zu solchen heiter-skepti
schen Kompromissen und geistreichen Halbheiten gehört viel
Frische, Humor und guter Mut; aber Thomas Buddenbrook fühlte
sich unaussprechlich müde und verdrossen.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 112
* *
Die Ehe, aus welcher der kleine Johann Buddenbrook her
vorgegangen war, hatte, als Gesprächsgegenstand genommen,
in der Stadt niemals an Reiz verloren.1 So gewiß wie jedem der
beiden Gatten etwas Extravagantes und Rätselhaftes eigen war,
so gewiß trug diese Ehe selbst den Charakter des Ungewöhnli
chen und Fragwürdigen.... Und in Wohn- und Schlafstuben, in
Klubs und Kasinos, ja selbst an der Börse sprachen die Leute
über Gerda und Thomas Buddenbrook desto mehr, je weniger
sie von ihnen wußten.
Wie hatten diese beiden sich gefunden, und wie standen sie
zueinander? Man erinnerte sich der jähen Entschlossenheit, mit
der vor achtzehn Jahren der damals dreißigjährige Thomas Bud
denbrook zu Werke gegangen war. “Diese oder keine”, das war
sein Wort gewesen, und er mußte sich mit Gerda wohl ähnlich
verhalten haben, denn sie hatte in Amsterdam bis zu ihrem sie
benundzwanzigsten Jahre Körbe ausgeteilt2 und diesen Bewer
ber alsbald erhört. Eine Liebesheirat also, dachten die Leute in
ihrem Sinne; denn so schwer es ihnen wurde, mußten sie ein
räumen, daß Gerdas Dreihunderttausend doch wohl nur eine
Rolle zweiten Ranges bei der Sache gespielt hatten. Allein von
Liebe wiederum, von dem, was man unter Liebe verstand, war
zwischen den beiden von Anbeginn höchst wenig zu spüren gewe
sen. Von Anbeginn vielmehr hatte man nichts als Höflichkeit in
ihrem Umgang konstatiert, eine zwischen Gatten ganz außeror
dentliche, korrekte und respektvolle Höflichkeit, die aber unver
ständlicherweise nicht aus inneren Femheit und Fremdheit, sondern
aus einer sehr eigenartigen, stummen und tiefen gegenseitigen
Vertrautheit und Kenntnis, einer beständigen gegenseitigen Rück
Franz KAFKA
(1883-1924)
EIN LANDARZT
mir übel; nur aus diesem Grunde lehne ich es ab zu trinken. Die
Mutter steht am Bett und lockt mich hin; ich folge und lege,
während ein Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den Kopf an
die Brust des Jungen, der unter meinem nassen Bart erschauert.
Es bestätigt sich, was ich weiß: der Junge ist gesund, ein wenig
schlecht durchblutet,1 von der sorgenden Mutter mit Kaffee
durchtränkt, aber gesund und am besten mit einem Stoß aus
dem Bett zu treiben.2 Ich bin kein Weltverbesserer und ich lasse
ihn liegen. Ich bin vom Bezirk angestellt und tue meine Pflicht
bis zum Rand, bis dorthin, wo es fast zu viel wird. Schlecht
bezahlt, bin ich doch freigiebig und hilfsbereit gegenüber den
Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen, dann mag der Junge
recht haben und auch ich will sterben. Was tue ich hier in diesem
endlosen Winter! Mein Pferd ist verendet, und da ist niemand
im Dorf, der mir seines leiht. Aus dem Schweinestall muß ich
mein Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich
mit Säuen fahren.3 So ist es. Und ich nicke der Familie zu. Sie
wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, würden sie es
nicht glauben. Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich
mit den Leuten verständigen ist schwer. Nun, hier wäre also
mein Besuch zu Ende, man hat mich wieder einmal unnötig be
müht, daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert
mich der ganze Bezirk, aber daß ich diesmal auch noch Rosa
hingeben mußte, dieses schöne Mädchen, das jahrelang, von
mir kaum beachtet, in meinem Hause lebte - dieses Opfer ist zu
groß, und ich muß es mir mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise in
meinem Kopf irgendwie zurechtlegen, um nicht auf diese Fami
lie loszufahren,4 die mir ja beim besten Willen Rosa nicht zurück
1ein wenig schlecht durchblutet - несколько нарушено кровообращение.
2 ...und am besten mit einem Stoß aus den Bett zu treiben - и лучше всего
его выкинуть из постели.
3 wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren - если бы это
случайно не оказались лошади, мне пришлось бы ехать на свиньях
4 und ich muß es mir mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise in meinem Kopf irgendwie
zurechllegen, um nicht auf diese Familie loszufahren - и мне приходится временно
прибегнуть ко всей своей собранности, чтобы не наброситься на эту семью.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 122
geben kann. Als ich aber meine Handtasche schließe und nach
meinem Pelz winke, die Familie beisammensteht, der Vater schnup
pernd über dem Rumglas in seiner Hand, die Mutter, von mir
wahrscheinlich enttäuscht-ja, was erwartet denn das Volk? -,
tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein schwer
blutiges Handtuch schwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter
Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist.1
Ich gehe zu ihm, er lächelt mir entgegen, als brächte ich ihm
etwa die allerstärkste Suppe - ach, jetzt wiehern beide Pferde
- und nun finde ich: ja, der Junge ist krank. In seiner rechten
Seite, in der Hüftengegend hat sich eine handtellergroße Wunde
aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen,2 dunkel in der Tiefe,
hellwerdend zu den Rändern, zartkömig, mit ungleichmäßig sich
aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus
der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung.
Wer kann das ansehen, ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke
und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und
außerdem blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde fest
gehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht.
Armer Junge, dir ist nicht zu helfen.3 Ich habe deine große Wunde
aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.
Die Familie ist glücklich, sie sieht mich in Tätigkeit; die Schwester
sagt’s der Mutter, die Mutter dem Vater, der Vater einigen Gäs
ten, die auf den Fußspitzen, mit ausgestreckten Armen ba
lancierend, durch den Mondschein der offenen Tür hereinkom
men. “Wirst du mich retten?” flüstert schluchzend der Junge,
ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde. So sind die
Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt ver
langen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt
zu Hause und zerzupft die Meßgewänder,4 eines nach dem ändern;
1...bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzugeben - я в какой-то сте
пени, при определенных обстоятельствах, готов признать...
2 rosa, in vielen Schattierungen - розовая, со множеством оттенков.
3 dir ist nicht zu helfen - тебе нельзя помочь.
4 ...zerzupft die Meßgewänder - разрывает церковное облачение на мел
кие клочки.
123 F R A N Z KAFKA
aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen
Hand. Nun, wie es beliebt: ich habe mich nicht angeboten; ver
braucht ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch das mit
mir geschehen;1 was will ich Besseres, alter Landarzt, meines
Dienstmädchens beraubt! Und sie kommen, die Familie und die
Dorfältesten, und entkleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer
an der Spitze steht vor dem Haus und singt eine äußerst einfache
Melodie auf den Text:
Dann bin ich entkleidet und sehe, die Finger im Barte, mit
geneigtem Kopf die Leute ruhig an. Ich bin durchaus gefaßt
und allen überlegen2 und bleibe es auch, trotzdem es mir nicht
hilft, denn jetzt nehmen sie mich beim Kopf und bei den Füßen
und tragen mich ins Bett. Zur Mauer, an die Seite der Wunde
legen sie mich. Dann gehen alle aus der Stube; die Tür wird
zugemacht; der Gesang verstummt; Wolken treten vor den Mond;
warm liegt das Bettzeug um mich; schattenhaft schwanken die
Pferdeköpfe in den Fensterlöchern. “Weißt du”, höre ich, mir
ins Ohr gesagt, “mein Vertrauen zu dir ist sehr gering. Du bist ja
auch nur irgendwo abgeschüttelt,3 kommst nicht auf eigenen
Füßen. Statt zu helfen, engst du mir mein Sterbebett ein. Am
liebsten kratzte ich dir die Augen aus.” - “Richtig”, sage ich,
“es ist eine Schmach. Nun bin ich aber Arzt. Was soll ich tun?
Glaube mir, es wird auch mir nicht leicht.” - “Mit dieser Ent
schuldigung soll ich mich begnügen? Ach, ich muß wohl. Immer
muß ich mich begnügen. Mit einer schönen Wunde kam ich auf
1 ...lasse ich auch das mit mir geschehen - с этим я тоже примирюсь.
2 ich bin durchaus gefaßt und allen überlegen - я совершенно собран и
чувствую свое превосходство.
3 du bist ja auch nur irgendwo abgeschüttelt - от тебя где-то там отделались.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 124
1im spitzen Winkel mit zwei Hieben der Hacke geschaffen - это получилось
от двух ударов киркой под острым углом.
2 nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt... - нагой,
незащищенный от стужи этого злосчастнейшего столетия...
125 F R A N Z KAFKA
ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen,
ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem bewegli
chen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betro
gen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist
niemals gutzumachen.
B E A N T W O R T E N S IE FO LG END E FRAG EN :
“Guten Tag, Ewald Ich trat an sein Fenster, wie ich im
mer zu tun pflegte,1 im Vorübergehen. “Ich war verreist”. “Wo
waren Sie?” fragte er mit ungeduldigen Augen. “In Rußland”.
“Oh so weit -” er lehnte sich zurück, und dann: “Was ist das für
ein Land, Rußland? Ein sehr großes, nicht wahr?” “Ja”, sagte
ich, “groß ist es und außerdem -” “Habe ich dumm gefragt?”
lächelte Ewald und wurde rot. “Nein, Ewald, im Gegenteil. Da
Sie fragen: was ist das für ein Land? wird mir verschiedenes
klar. Zum Beispiel woran Rußland grenzt.” “Im Osten?” warf
mein Freund ein. Ich dachte nach: “Nein”. “Im Norden?” for
schte der Lahme. “Sehen Sie”, fiel mir ein, “das Ablesen von
der Landkarte hat die Leute verdorben. Dort ist alles plan und
eben, und wenn sie die vier Weltgegenden bezeichnet haben,
scheint ihnen alles getan. Ein Land ist doch aber kein Atlas. Es
hat Berge und Abgründe. Es muß doch auch oben und unten an
etwas stoßen.” “Hm -” überlegte mein Freund, “Sie haben recht.
Woran könnte Rußland an diesen beiden Seiten grenzen?” Plöt
zlich sah der Kranke wie ein Knabe aus. “Sie wissen es”, rief
ich. “Vielleicht an Gott?” “Ja”, bestätigte ich, “an Gott.” “So” -
nickte mein Freund ganz verständnisvoll. Erst dann kamen ihm
einzelne Zweifel: “Ist denn Gott ein Land?” “Ich glaube nicht”,
erwiderte ich, “aber in den primitiven Sprachen haben viele Dinge
denselben Namen. Es ist da wohl ein Reich, das heißt Gott, und
der es beherrscht, heißt auch Gott. Einfache Völker können ihr
Land und ihren Kaiser oft nicht unterscheiden; beide sind groß
und gütig, furchtbar und groß”.
“Ich verstehe”, sagte langsam der Mann am Fenster. “Und
merkt man in Rußland diese Nachbarschaft?” “Man merkt sie
bei allen Gelegenheiten. Der Einfluß Gottes ist sehr mächtig.
Wie viel man auch aus Europa bringen mag,2 die Dinge aus
dem Westen sind Steine, sobald sie über die Grenze sind. Mit
1 Wie ich immer zu tun pflegte - как я всегда делал.
2 wie viel man auch aus Europa bringen mag - как бы много ни привозили
из Европы.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 128
unter kostbare Steine, aber eben nur für die Reichen, die soge
nannten “Gebildeten”, während von drüben aus dem anderen
Reich das Brot kommt, wovon das Volk lebt.” “Das hat das
Volk wohl im Überfluß?” Ich zögerte: “Nein, das ist nicht der
Fall,1 die Einfuhr aus Gott ist durch gewisse Umstände er
schwert.” Ich suchte ihn von diesem Gedanken abzubringen. “Aber
man hat vieles aus den Gebräuchen jener breiten Nachbarschaft
angenommen. Man spricht zu dem Zaren ähnlich wie zu Gott.”
“So, man sagt also nicht: Majestät?” “Nein, man nennt beide
Väterchen.”2 “Und man kniet vor beiden?” “Man wirft sich vor
beiden nieder, fühlt mit der Stirn den Boden und weint und sagt:
“Ich bin sündig, verzeih mir, Väterchen”. Die Deutschen, welche
das sehen, behaupten: eine ganz unwürdige Sklaverei. Ich den
ke anders darüber. Was soll das Knien bedeuten? Es hat den
Sinn zu erklären: Ich habe Ehrfurcht. Dazu genügt es auch, das
Haupt zu entblößen, meint der Deutsche. Nun ja, der Gruß, die
Verbeugung, gewissermaßen sind auch sie Ausdrücke dafür,
Abkürzungen, die entstanden sind in den Ländern, wo nicht so
viel Raum war, daß jeder sich hätte niederlegen können auf die
Erde. Aber Abkürzungen gebraucht man bald mechanisch und
ohne sich ihres Sinnes mehr bewußt zu werden. Deshalb ist es
gut, wo noch Raum und Zeit dafür ist, die Gebärde auszu
schreiben,3 das ganze schöne und wichtige Wort: Ehrfurcht.”
“Ja, wenn ich könnte, würde ich auch niederknien”, träumte
der Lahme. “Aber es kommt” - fuhr ich nach einer Pause fort
- “in Rußland auch vieles andere von Gott. Man hat das Gefühl,
jedes Neue wird von ihm eingeführt, jedes Kleid, jede Speise,
jede Tugend und sogar jede Sünde muß erst von ihm bewilligt
werden, ehe sie in Gebrauch kommt.” Der Kranke sah mich
fast erschrocken an. “Es ist nur ein Märchen, auf welches ich
1der schreckliche Zar Iwan wollte den benachbarten Fürsten Tribut auferle-
gen - грозный царь Иван захотел наложить дань на соседних князей.
2 die Tonne - бочка, бадья.
3 wo gerade die Kirche für Wassilij, den Nackten, gebaut wurde - где как раз
строился храм Василия Блаженного.
4 er wußte auf keine der drei Fragen etwas zu erwidern - он ничего не мог
ответить ни на один из трех вопросов.
5. Ч итаем п о -н ем ец к и
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 130
1 er war schon dabei angelangt, den Dachstuhl zu zimmern und die kleinen
Latten darüberzulegen - зд.: он уже сделал стропила купола и теперь
покрывал их маленькими рейками.
2 und er schärfte ihm die drei Antworten der Reihe nach ein - зд.: и он назвал
ему по порядку три ответа.
131 R A IN E R M ARIA RILK E
lieh unverständlich, was sich begeben hatte, und daß der ver
meintliche Bauer niemand anderes gewesen sei, als Gott selbst.”
“Ob er wohl recht gehabt hat damit?” meinte mein Freund
leise, nachdem meine Geschichte verklungen war.
“Vielleicht -”, entgegnete ich, “aber wissen Sie, das Volk ist
- abergläubisch - indessen, ich muß jetzt gehen, Ewald.”
“Schade”, sagte der Lahme aufrichtig. “Wollen Sie mir nicht
bald wieder eine Geschichte erzählen?” “Gerne - , aber unter
einer Bedingung.” Ich trat noch einmal an das Fenster heran.
“Nämlich?” staunte Ewald. “Sie müssen alles gelegentlich den
Kindern in der Nachbarschaft weitererzählen”, bat ich. “Oh,
die Kinder kommen jetzt so selten zu mir.” Ich vertröstete ihn:
“Sie werden schon kommen. Offenbar haben Sie in der letzten
Zeit nicht Lust gehabt, ihnen etwas zu erzählen, und vielleicht
auch keinen Stoff, oder zu viel Stoffe. Aber wenn einer eine
wirkliche Geschichte weiß, glauben Sie, das kann verborgen
bleiben? Bewahre, das spricht sich herum, besonders unter den
Kindern!”
“Auf Wiedersehen.” Damit ging ich.
Und die Kinder haben die Geschichte noch an demselben
Tage gehört.
Robert MUSIL
(1880-1942)
den. “Und ein solcher Junge will ein Mann werden!?” hieß es
ungefähr. Sah man davon ab, daß die Sache mit dem Wollen
nicht ganz klar war, so bewies das übrige wenigstens, daß Cha
rakter etwas sei, das wir erst später brauchen sollten; wozu
also dann jetzt schon die überfasteten Vorbereitungen? Dies wäre
ganz das gewesen, was auch wir meinten.
1 daß sich die Lebenslagen, in die man gerät, niemals ganz mit denen de k-
ken - что жизненные ситуации, в которые попадают, никогда полностью
не совпадают с теми...
2 wenn eine angebetete Frau unsere Gefühle mit Füßen tritt - когда обожаемая
женщина попирает наши чувства.
3 ...läßt einen die Literatur immer im Stich - литература всегда бросает
человека на произвол судьбы.
139 R O B E R T M U SIL
1 welchem meiner Charaktere ich recht geben soll - какому из моих ха-
рактеров отдать предпочтение.
2 aber man blieb ihm schon aus Neugier gewogen - но к нему испытывали
расположение уже просто из любопытства.
141 R O B E R T M U SIL
Als ich ihn wiedersah, besaß er ein Auto, jene Frau, die nun
sein Schatten war, und eine angesehene, einflußreiche Stellung.
Wie er das angefangen hatte, weiß ich nicht; aber was ich ver
mute, ist, daß das ganze Geheimnis darin lag, daß er dick wur
de. Sein eingeschtichterles, bewegliches Gesicht war fort. Genau
er gesehen, es war noch da, aber es lag unter einer dicken Hülle
von Fleisch. Seine Augen, die einst, wenn er etwas angestellt
hatte, so rührend sein konnten wie die eines traurigen Äffchens,
hatten eigentlich ihren aus dem Innern kommenden Glanz nicht
verloren; aber zwischen den hoch gepolsterten Wangen hatten
sie jedesmal Mühe, wenn sie sich nach der Seite drehen wollten,
und stierten darum mit einem hochmütig gequälten Ausdruck-
So war nun auch der Mensch geworden. Sein irrlichtender Geist1
hatte feste Wände und dicke Überzeugungen bekommen. Manch
mal blitzte noch etwas in ihm auf; aber es verbreitete keine
Helligkeit mehr in dem Menschen, sondern war ein Schuß, den
er abgab, um zu imponieren oder ein bestimmtes Ziel zu errei
chen. Er hatte eigentlich viel gegen früher verloren.2 Von allem,
was er äußerte, ging jetzt zwölf auf ein Dutzend,3 wenn das
auch ein Dutzend guter, verläßlicher Ware war. Und seine Ver
gangenheit behandelte er so, wie man sich an eine Jugendtorheit
erinnert.
Einmal gelang es mir, ihn auf unseren alten Gesprächsge
genstand, den Charakter, zurückzubringen. “Ich bin überzeugt,
daß die Entwicklung des Charakters mit der Kriegführung zusam
menhängt”, legte er mir in atemknapper Sprache dar, “und daß
er darum heute auf der ganzen Welt nur noch unter Halbwilden
zu finden ist. Denn wer mit Messer und Speer kämpft, muß ihn
haben, um nicht den kürzeren zu ziehen.4 Welcher noch so
entschlossene Charakter hält aber gegen Panzerwagen, Flam
1 sein irrlichtender Geist - его мятущийся дух.
2 er hatte viel gegen früher verloren - он многое утратил по сравнению
с прежним временем.
3 zwölf auf ein Dutzend - двенадцать на дюжину (= как все).
4 um nicht den kürzeren zu ziehen - чтобы не остаться в проигрыше.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 142
Stefan ZWEIG
(1881-1942)
Die Revolution ist der Feind - dies der Standpunkt der Kö
nigin. Die Königin ist das Hindernis - dies die Grundüberzeu
gung der Revolution. Mit ihrem untrüglichen Instinkt spürt die
Masse des Volkes in der Königin die einzige elementare Widersa
cherin, von Anfang an wendet sich die volle Wut des Kampfes
gegen ihre Person. Ludwig XYI. zählt nicht im Guten, nicht im
Bösen, das weiß schon der letzte Bauer im Dorf, das jüngste
Kind auf der Straße. Diesen ängstlichen, scheuen Mann kann
man mit ein paar Schüssen so schrecken, daß er zu jeder Forderung
ja und amen sagt; man kann ihm die rote Mütze aufsetzen, und
er wird sie tragen, und würde man ihm energisch befehlen, er
solle rufen: “Nieder mit dem König! Nieder mit dem Tyrannen!”
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 144
Й » ................................................................................................................. --------------- -----------
...Zu früh und üppig hatte das Geschick sie verwöhnt, eine
hohe Geburt und eine noch höhere Stellung waren ihr ohne An
strengung zugefallen; so meinte sie, sich nicht anstrengen zu
müssen, sie brauchte sich nur leben zu lassen, wie sie wollte,
und alles schien recht. Die Minister dachten, das Volk arbeitete,
die Bankleuie zahlten für ihre Bequemlichkeit, und die Verwöhnte
nahm alles hin ohne Gedanken und ohne Dank. Jetzt erst, her
ausgefordert von dem ungeheuren Anspruch, dies alles, ihre Krone,
ihre Kinder, ihr eigenes Leben, gegen den großartigsten Auf-
ruhr der Geschichte verteidigen zu müssen,“ sucht sie in sich
selbst nach Kräften des Widerstands und holt plötzlich unausge-
nutzte Reserven der Intelligenz, der Tatkraft aus sich heraus.
Der Durchbruch ist endlich erfolgt. “Erst im Unglück weiß man,
wer man ist”, dieses schöne, dieses erschütterte und erschüt
ternde Wort blitzt jetzt plötzlich in einem ihrer Briefe auf. Die
Mahner, die Mutter, die Freunde haben jalirzehntelang keine Macht
gehabt Uber diese trotzige Seele. Es war zu früh für die Unbe
lehrbare. Das Leid ist der erste wirkliche Lehrer Marie Antoi
nettes, der einzige, von dem die Unbelehrbare gelernt hat.
Eine neue Epoche beginnt mit dem Unglück im inneren Le
ben dieser seltsamen Frau. Aber Unglück verwandelt eigentlich
niemals einen Charakter, es preßt keine neuen Elemente in ihn
hinein; es bildet nur längst vorhandene Anlagen aus... Sie hatte
bisher mit dein Leben nur gespielt - das fordert keine Kraft -
und nie mit ihm gekämpft... Marie Antoinette denkt und über
legt erst, seit sie denken muß. Sie arbeitet, weil sie gezwungen
ist zu arbeiten. Sie erhöht sich, weil sie vom Schicksal genötigt
ist, groß zu sein... Eine völlige Umstellung ihres äußeren und
inneren Lebens beginnt nun. Dieselbe Frau, die zwanzig Jahre
lang keinen Vortrag eines Gesandten aufmerksam bis zu Ende
anhören konnte, die niemals ein Buch las, die sich um nichts
bekümmerte als um Spiel, Sport, Mode und ähnliche Unwich
tigkeiten, verwandelt ihren Schreibtisch in eine Staatskanzlei,
ihr Zimmer in ein diplomatisches Kabinett...
Dieser wie eine Fahne vor der Welt hochgetragene Stolz kostet
allerdings Marie Antoinette mehr, als die ändern ahnen dürfen.
Denn im innersten Grunde ist diese Frau weder hochmütig noch
stark, keine Heroine, sondern eine sehr weibliche Frau, für Hingabe
und Zärtlichkeit und nicht für den Kampf geboren. Der Mut,
den sie zeigt, soll nur den ändern Mut machen; sie selbst glaubt
zutiefst an bessere Tage nicht mehr...
sei für uns. Ich glaube nichts davon, wenigstens was meine Person
betrifft. In den meisten Fällen ist das bezahlt, und das Volk liebt
uns nur, sofern wir tun, was es fordert. Es ist unmöglich, das
dies noch lange so weitergeht. Es besteht noch weniger Sicher
heit in Paris als vordem, denn man hat sich daran gewöhnt, uns
erniedrigt zu sehen...”
1 nach jedem harten Schlag setzt sie immer wieder einen Augenblick aus -
после каждого тяжелого удара она всегда на мгновение останавливается.
2 ...den Gefangenen ihr Gefängnis möglichst annehmlicher zu gestalten -
сделать заключенным их тюрьму по возможности приемлемой.
3 nicht weniger als dreizehn Angestellte sind für seinen Tisch tätig - к его
столу приставлено не менее тринадцати служащих.
147 S T E F A N Z W E IG
nette; vielleicht fühlen sie sich sogar beide entlastet. Denn von
jetzt an haben sie für ihr eigenes Schicksal und das des Staates
keine Verantwortung mehr, sie können nichts mehr falsch tun
oder versäumen und brauchen für nichts mehr zu sorgen als für
das kleine Stück Leben, das man ihnen vielleicht läßt. Am be
sten jetzt, sich an kleinen menschlichen Dingen zu freuen, der
Tochter bei Näharbeiten oder am Clavecin zu helfen, dem Kna
ben die Schulaufgaben zu verbessern, die er mit seiner großen,
steifen, kindischen Schrift schreibt (freilich, sie müssen jetzt immer
rasch das Blatt zerreißen, wenn das Kind auf das Papier - wie
sollte der sechsjährige Knabe die Geschehnisse verstehen? -
noch sein mühsam erlerntes “Louis Charles Dauphin”1 schreibt...
Und vor allem: man versucht zu vergessen, was man einst gewe
sen, und sucht an das zu denken,2 was kommt und un venneidlich
kommen muß.
Jetzt wäre, so scheint es, die Revolution am Ziel. Der König
ist abgesetzt, er hat ohne Einspruch verzichtet und wohnt still
mit Frau und Kind in seinem Turme... Aber, abgesetzt und ohne
Krone, ist dieser unglückselige, ungefährliche Mann noch im
mer ein Symbol... So glauben die Führer, den politischen Tod
Ludwigs XYI. noch körperlich vollziehen zu müssen, um vor
jedem Rückfall sicher zu sein.3
...Ferner wird Ludwig XYI. von seiner Familie getrennt.
Obwohl im selben Turm wohnend, nur ein Stockwerk unter den
Seinen, was die Grausamkeit dieser Maßregel verschärft, darf
er von diesem Tage an weder Frau noch Kinder sehen... Ein
Stockwerk tiefer, nur durch die eine Wand getrennt, hört seine
Frau den schweren Schritt ihres Gatten und darf ihn nicht seh
en, darf ihn nicht sprechen: unsägliche Qual durch eine völlig
... Nun ist die unterste Stufe erreicht, der Weg geht zu Ende...
Die den Luxus liebte und die tausendfältigen kunstvollen und
künstlerischen Kostbarkeiten des Reichtums rings um ihr Le
ben, nun hat sie nicht einmal mehr einen Schrank, einen Spiegel,
einen Lehnstuhl, nur das äußerst Notwendige, einen Tisch, ei
nen Sessel, ein eisernes Bett...
eine Spanne vor dem Tod,1 beginnt Marie Antoinette durch eigene
Kraft jene Hoheit zu erringen, die ihr bisher nur äußerlich
verliehen war.2 Auf die formelle Frage, wie sie heiße, antwortet
sie laut und klar: “Marie Antoinette von Österreich-Lothrin
gen, achtunddreißig Jahre alt, Witwe des Königs von Frank
reich”.
B E A N TW O R TE N S IE FO LG END E F RAG EN :
1 die Göttin der Freiheit, in ihren weißen Stein gebannt - богиня свободы,
скованная своим белым камнем (имеется в виду статуя - прим. ред.).
2 streng blickt sie über das wilde und törichte Tun der Menschen hinweg -
она строго смотрит вдаль поверх диких и глупых действий людей.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 156
Lion FEUCHTWANGER
(1884-1958)
Der Alte - sein Name war Francois Arouet, die Welt kannte
ihn unter dem Namen Voltaire - reiste nach Paris. Das Theatre
Fran^ais bereitete die Aufführung seines letzten Stückes vor,
der Tragödie “Irene”, und er wollte die Proben leiten.
Er hatte seine Vaterstadt lange nicht mehr gesehen, sieben
undzwanzig Jahre lang nicht. Es war ihm das Betreten der Stadt
Paris nicht ausdrücklich verboten; doch hatte der letzte König,
der Fünfzehnte Louis, erklärt, er wünsche diesen Mann nicht
mehr in seiner Hauptstadt zu sehen. Jetzt indes war seit Jahren
ein neuer König da, ein Sechzehnter Louis, und Toinette und der
Fliederblaue Klüngel bewunderten den Alten.
Trotzdem hatte er lange geschwankt, ehe er sich auf den
Weg machte. Sein treuer Freund und Sekretär, Wagniere, der
ihn jetzt begleitete, hatte dringlich abgeraten. Der Dreiundacht-
157 LIO N FEUCH TW ANG ER
ber.” Der Beamte beschaute ihn, rief: “Mein Gott, das ist ja der
Herr Voltaire.” Sofort liefen die Leute zusammen.
*
* *
Und mehr Gäste kamen und immer mehr, ein Strom von al
ten Bekannten. So hatte sich’s Voltaire gewünscht, Menschen,
Menschen. Er empfing im Schlafrock, Zipfelmütze und Pantof
feln. Er hatte ein vortreffliches Gedächtnis, er erinnerte sich
jedes einzelnen, auch wenn er ihn Jahrzehnte nicht gesehen hatte,
und hatte für jeden ein hübsches, gescheites, persönliches Wort.
Unter den Kommlingen war auch Monsieur Pierre de Beau
marchais.
Die Nachricht vom Eintreffen Voltaires hatte ihn aufgerührt.
Er spührte, der respektlose Pierre, vor diesem alten Manne Ehr
furcht und Bewunderung. Der hatte seine dreiundachtzig Jahre
so gelebt, wie sich Pierre sein eigenes Leben wünschte. Hatte
alle seine Tage angefüllt mit Leidenschaft, großer Literatur, kleinen
Intrigen, mit Ruhm, Erfolg, Theater, Geld und mit sieggekrönten
Kämpfen für Freiheit und Vernunft. Nun lebte er als Schloßherr,
umgeben von seinen Untertanen, eine Kaiserin und ein großer
König behandelten ihn als gleichen, sein Name klang über die
Länder und die Meere. Seine Erfolge im Kampf gegen das Un
recht und gegen die privilegierte Dummheit waren Geschichte.
Dieser Greis durfte sich sagen: wenn die Welt jetzt, da er sich
anschickte, sie zu verlassen1, ein wenig gescheiter und gere
chter war als zu der Zeit, da er sie betreten hatte, so war dies zu
einem großen Teil sein Verdienst.
Es war erhebend, daß Pierre seit Jahren von diesem Manne
als gleichwertig geschätzt und geehrt wurde. Voltaire hatte in
seinem Privattheater in Ferney den “Barbier”2 spielen lassen,
seit den ältesten Zeiten verknüpft gewesen sei mit Blitzen und
Gewittern. Vor allem aber hatte dieser Voltaire mehr als jeder
andere beigetragen zur Verbreitung der Ideen, auf denen das
freie Amerika errichtet war. So fand sich Franklin in beinahe
festlicher Stimmung bei seinem großen Kollegen ein.
...Voltaire sagte, er freue sich, Franklin persönlich Glück zu
wünschen zu den Siegen, die seine Truppen erfochten hätten.
Er sprach englisch. Franklin erwiderte, wer sich in Amerika mit
Literatur befasse, sehe in Voltaire den Vater der amerikanischen
Republik. “Wäre ich so jung wie Sie, verehrter Mann”, ant
wortete Voltaire, “dann reiste ich übers Meer, um mir Ihr glück
liches Land anzuschauen.” Und er zitierte aus dem Gedächtnis
Verse aus Thomsons “Ode an die Freiheit”, die vor vierzig Jahren
große Mode gewesen war und an die sich Franklin undeutlich
erinnerte. Voltaires Nichte, im Namen1 der übrigen Anwesenden,
beklagte sich, daß die Unterhaltung englisch geführt werde und
niemand sie verstehe. “Ich bitte um Verzeihung,” sagte Vol
taire, “daß ich der eiteln Genugtuung nachgab,2 dieselbe Sprache
zu sprechen wie Doktor Franklin.”
B E A N T W O R T E N S IE FO LG END E FRAG EN :
1 im Namen - от имени.
2 ...daß ich der eiteln Genugtuung nachgab - что я поддался тщеславному
удовлетворению .
6*
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 164
Hermann HESSE
(1877-1962)
ф
DER WALDMENSCH
' ...wo man das furchtbare Nichts im tödlichen Sonnenbrände gleißen sähe -
где видно, как ужасное Ничто сверкает в смертельном солнечном жаре.
2 ...der das Auge inwendig hat - имеющий внутреннее око.
3 die Mutigeren schlichen zuweilen des Nachts aus dem Dickicht hervor -
более смелые иногда ночью прокрадывались из чащи.
167 H E R M A N N H E SSE
erjagen und erlegen werde. Es kam aber weder Pfeil noch Lan
ze, weder Sonne noch Blitzstrahl, es kam nichts als eine tiefe
Erschaffung und die brüllende Stimme des Hungers
Da stand Kubu wieder auf und kroch aus dem Baume, nüchtern
und beinahe mit einem Gefühl von Enttäuschung.
“Es ist nichts mit dem Fluch des Priesters”, dachte er ver
wundert, und dann suchte er sich Speise, und als er gegessen
hatte und wieder das Leben durch seine Glieder kreisen fühlte,1
da kam Stolz und Haß in seine Seele zurück. Jetzt wollte er
nicht mehr zu den Seinen zurückkehren. Jetzt wollte er ein Ein
samer und Ausgestoßener sein, einer, den man haßte und dem
der Priester, das blinde Vieh, ohnmächtige Verfluchungen nach
rief. Er wollte allein sein und allein bleiben, zuvor aber wollte er
seine Rache nehmen.
Und er ging und sann. Er dachte über alles nach, was ihm
jemals Zweifel erweckt hatte und als Trug erschienen war, und
vor allem über die Trommel des Priesters und seine Feste, und
je mehr er dachte und je länger er allein war, desto klarer konnte
er sehen: ja, es war Trug, es war alles nur Trug und Lüge. Und
da er schon so weit war, dachte er noch weit und richtete sein
wachsam gewordenes Mißtrauen vollends auf alles, was als wahr
und heilig galt. Wie stand es zum Beispiel mit dem Waldgotte
und mit dem heiligen Waldliede? Oh, auch damit war es nichts,
auch das war Schwindel! Und ein heimliches Entsetzten über
windend, stimmte er das Waldlied an, höhnisch mit verächtli
cher Stimme und alle Worte verdrehend, und er rief dreimal den
Namen der Waldgottheit, den außer dem Priester niemand bei
Todesstrafe nennen durfte, und es blieb alles ruhig, und kein
Sturm brach los, und kein Blitz zuckte nieder!
Manche Tage und Wochen irrte der Vereinsamte so umher,
Falten über den Augen und mit stechendem Blick. Er ging auch,
was noch niemand gewagt hatte, bei Vollmond an das Ufer des
1 ...und wieder das Leben durch seine Glieder kreisen fühlte - и почувствовал,
что жизнь снова заструилась по его жилам.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 170
gegen den Fluß, näherte sich lauernd dem glitzernden Ufer und
suchte mit bangen Augen das Bildnis der Sonne im Wasser. Der
Glanz schmerzte heftig in den geblendeten Augen, er mußte
sich rasch wieder schließen, aber nach einer Weile wagte er es
wieder und dann nochmals, und es gelang. Es war möglich, es
war zu ertragen, und es machte sogar froh und mutig. Kubu
hatte Vertrauen zur Sonne gefaßt. Er liebte sie, auch wenn sie
ihn töten sollte, und er haßte den alten, finstern, faulen Wald, wo
die Priester quäkten und wo er, der Junge und Mutige, verfemt
und ausgestoßen worden war.
Jetzt war sein Entschluß reif geworden, und er pflückte die
Tat wie eine süße Frucht. Mit einem neuen, zügigen Hammer
aus Eisenholz, dem er einen ganz dünnen und leichten Stiel gegeben
hatte,1 ging er in der nächsten Morgenfrühe dem mata dalam
nach, fand seine Spur und fand ihn selbst, schlug ihm den Ham
mer auf den Kopf und sah seine Seele aus dem gekrümmten
Maul entfliehen. Er legte ihm seine Waffe auf die Brust, damit
man wisse, durch wen der Alte gestorben sei, und auf die glatte
Fläche des Hammers hatte er mit einer Muschelscherbe müh
sam eine Schilderung geritzt, einen Kreis mit mehreren geraden
Strahlen: das Bildnis der Sonne.
Mutig trat er seine Wanderschaft nach dem fernen “Draußen"
an und ging vom Morgen bis zur Nacht in gerader Richtung und
schlief nachts im Gezweige und setzte in der Frühe sein Wan
dern fort, viele Tage lang, über Bäche und schwarze Sümpfe,
...immer durch den ewigen Wald, so daß er am Ende zweifel
haft und traurig wurde und den Gedanken erwog, vielleicht möchte
es doch den Geschöpfen des Waldes von einem Gotte verboten
sein, ihre Heimat zu verlassen.
Und da kam er eines Abends ... unversehens an ein Ende. Der
Wald hörte auf... Zu sehen war nichts als eine ferne schwache P.öte
und oben einige Sterne, denn die Nacht hatte schon begonnen.
1 dem er einen ganz dünnen und leichten Stiel gegeben hatte - к которому
он приделал очень тонкую и легкую рукоятку.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 172
Bild des toten Priesters. Auf Händen und Füßen kletterte Kubu
den steilen Abgrund hinab, dem Licht und dem Meere entge
gen, und über seine Seele zitterte in flüchtigem Glücksrausch
die traumhafte Ahnung einer hellen, von der Sonne regierten
Erde,1 auf welcher helle, befreite Wesen im Lichte lebten und
niemand untertan wären als der Sonne.
1... und über seine Seele zitterte in flüchtigem Glücksrausch die traumhafte
Ahnung einer hellen, von der Sonne regierten Erde - и в его душе в мимолетном
порыве счастья затрепетало волшебное предчувствие светлой земли,
которой правит солнце.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 174
Bertolt BRECHT
(1898-1956)
1die Herren schlepperten ... nach Metall nicht weniger, als wenn sie in Kriegs
panzern gekommen wären - эти господа тащили с собой ... металла не
меньше, как если бы они прибыли в военных доспехах.
2 Konkurse uns Zahlungseinstellungen - банкротства и приостановки
платежей.
3 sittliche Verfaultheit - моральное разложение.
4 weil er sich nicht befugt hielt... - потому что он считал себя не вправе.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 178
1 Die City hielt nichts von “mit gutem Beispiel vorangehen” und morali
schen Redensarten - Сити не придавал никакого значения тому, чтобы “по
давать хороший пример” , и морализаторской болтовне.
2 Die Herren verrichteten ihr Amt nämlich ehrenhalber - То есть господа
несли свою почетную службу (не получая оплаты).
3 Bei so hohen Idealen blieb ihnen natürlich nichts übrig, als zu stehlen -
При таких высоких идеалах им, разумеется, ничего не оставалось делать,
как воровать.
4 sich ins Benehmen setzen - войти в соглашение, договориться.
5 Cicero - Цицерон, великий древнеримский оратор, писатель и госу
дарственный деятель.
6 also stahlen sie denen, die sie ausplünderten, auch noch die eventuellen
Prozeßkosten - так что они крали у тех, кого они обирали, еще и возможные
издержки на процесс.
179 BERTO LT BRECHT
weilen setzte er sogar Gedichte und Reden an und las sie ihnen
vor; die sie nicht bewunderten, nannte er Dummköpfe und Bar
baren, drohte ihnen auch oft unter Lachen, daß er sie noch auf
hängen lassen wolle. Die Piraten amüsierten sich sehr über ihn
und nahmen seine freien Reden als charmante Späße.
Aber sobald das Lösegeld aus Milet eingetroffen und er in
Freiheit gesetzt war, bemannte er im Hafen von Milet einige
Fahrzeuge mit Bewaffneten und lief gegen die Piraten aus. Er
fand sie auch noch an der Insel vor Anker liegen1 und bekam
die meisten in seine Gewalt. Ihre Reichtümer betrachtete er als
eine rechtmäßige Beute, sie selbst aber lieferte er in das Gefäng
nis von Pergamos und begab sich dann zu Junius, dem Statthal
ter von Asien, um bei ihm die Bestrafung seiner Gefangenen zu
erwirken.2 Da dieser aber sein ganzes Augenmerk auf das den
Piraten Abgenommene richtete, welches freilich eine ansehnli
che Summe ausmachte, und daher die unbestimmte Antwort
gab, er hätte im Augenblick nicht die Zeit, sich um die Gefan
genen zu kümmern, ging Caesar, ohne sich weiter an ihn zu
kehren, nach Pergamos zurück und ließ die Piraten sämtlich aus
eigener Machtvollkommenheit3 ans Kreuz schlagen, wie er es
ihnen auf der Insel so oft scherzhaft vorausgesagt hatte.”
Der Alte hatte fast bei jedem Satz genickt... Weitergehend
sagte er:
“So sieht fast alles in seinem Leben jetzt schon aus. Ich werde
Ihnen sagen, was es war. Es war Sklavenhandel. Das kleine
Geschäft fällt in die Zeit, wo C. das Begräbnis seiner ersten
Frau und seiner Tante zu einer Demonstration für die Demokratie
ausnützte, und unmittelbar nachdem er die Prozesse gegen die
Übergriffe der Senatoren in den Provinzen angestrengt hatte.4
1 vor Anker liegen - стоять на якоре.
2 ...um bei ihm die Bestrafung seiner Gefangenen zu erwirken - чтобы
добиться у него наказания своих пленных.
3 aus eigener Machtvollkommenheit - в силу своих полномочий.
4 ...nachdem er die Prozesse gegen die Übergriffe der Senatoren in den Provinzen
angestrengt hatte - после того как он возбудил дела против злоупотреб
лений властью сенаторами в провинциях.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 182
ner und hörte sich sogar geduldig seine Gedichte an. Die guten
Kleinasier ließen sich auch diese Brutalität gefallen1 und blie
ben höflich. Er sollte nur die Schadenersatzsumme bezahlen,
die nach der Größe der geschmuggelten Ladung berechnet wurde.
Es waren 20 Talente.
Das Weitere, was ich Ihnen erzähle, habe ich von dem Prokon
sul Junius... Er untersuchte die Angelegenheit, weil ein großer
Skandal entstand.
C. wandte sich zunächst durch Boten an die kleinasiatischen
Städte um das Geld. Er verbarg, daß es sich um einen Schaden
ersatz für Sklavenhandel handelte,2 und behauptete, es sei von
Piraten erpreßtes Lösegeld. Und er forderte nicht 20 Talente,
sondern 50. Sie wurden angebracht. Er zahlte sie niemals zurück.
Freigelassen, reiste er nach Milet, bemannte ein paar Schiffe
mit Fechtersklaven3 und nahm den Kleinasiaten das “Lösegeld”
sowie seine Sklavenladung wieder ab. Außerdem verschleppte
er nicht nur die Mannschaft des kleinasiatischen Kaperschiffes,
sondern auch einige Sklavenhändler, die es ausgeschickt hatten,
sowie alle Sklavenvorräte, die er bei ihnen vorfand, nach Perga-
mos. Von Junius darüber zur Rede gestellt,4 verlangte er, daß
die Kleinasier samt und sonders als Piraten behandelt würden,
und als Junius ihm das verweigerte und sich allzu eindringlich
nach den näheren Umständen des Falls erkundigte, reiste er bei
Nacht und Nebel nach Pergamos ab und ließ die Kleinasiaten
mit gefälschten Orders ans Kreuz hängen, damit sie nichts ge
gen ihn aussagen konnten.
...Sie dürfen nicht aus dem Auge verlieren,5 daß C. hier
Kaufleute aufhängen ließ... Es war damals noch nicht so, daß
1 ...ließen sich auch diese Brutalität gefallen - терпеливо сносили даже
эту жестокость.
2 ...daß es sich um einen Ersatz für Sklavenhandel handelte - что речь идет
о возмещении ущерба за работорговлю.
3 ...bemannte ein paar Schiffe mit Fcchtersklaven - укомплектовал два
судна вооруженными рабами.
4 von Junius darüber zur Rede gestellt - когда Юний потребовал у него
объяснений.
5 aus dem Auge verlieren - упускать из виду.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 184
1...unsere Anschauung der Dinge zur Geltung brigen - выразить наш взгляд
на вещи.
2 ...daß man ihnen unmenschliche Behandlung der Ware vorwarf - что их
обвиняли в бесчеловечном обращении с товаром.
3 ...viel mehr auf dem Transport litt - гораздо больше страдал при
транспортировке.
4 Sie halfen der Stimmung auf dem Forum etwas nach, indem sie gelegentlich
einige römische Getreideschiffe durch irgendwelche griechischen Freibeuter kapern
ließen - они несколько повлияли на настроение на форуме, когда при случае
позволили каким-то греческим пиратам захватить несколько римских
судов с зерном.
185 B E R T O L T BR E C H T
1940
HOLLYWOOD
Bernhard KELLERMANN
(1879-1951)
*
* *
7 . Читаем п о - н е ме цк и
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 194
Und Ethel fuhr fort: “Ich spiele jetzt nicht mehr Komödie,
Mac. Das ist vorbei. Ich mußte Komödie spielen, um dich zu
bekommen, aber nun, da ich dich habe, brauche ich es nicht
mehr. Nun kann ich ganz aufrichtig sein, und du wirst sehen,
daß ich nicht nur ein launenhaftes und garstiges Geschöpf bin,
das die Menschen quält. Höre, Mac, ich muß dir alles sagen,
damit du mich kennenlemst... Du hast mir gefallen, als ich dich
zuerst sah! Dein Werk, deine Kühnheit, deine Energie bewunderte
ich. Ich bin reich, ich wußte es schon als Kind, daß ich reich sei.
Mein Leben sollte groß und wunderbar werden, so dachte ich
bei mir. Ich dachte es nicht klar, aber ich empfand es. Mit sechzehn
Jahren träumte ich davon, einen Prinzen zu heiraten, und mit
siebzehn wollte ich mein Geld verschenken an die Armen. Das
war alles Nonsens. Mit achtzehn hatte ich schon keinen bestim
mten Plan mehr. Ich lebte genau wie andere junge Leute, die
reiche Eltern haben. Aber das wurde bald schrecklich langweilig.
Ich war nicht unglücklich, aber ich war auch nicht gerade glück
lich. Ich lebte von einem Tag zum ändern, amüsierte mich und
schlug die Zeit tot, so gut ich es konnte. Ich dachte in dieser Zeit
überhaupt nichts, so scheint cs mir wenigstens jetzt. Dann kam
Hobby, dein Freund zu Pa mit deinem Projekt. Aus purer Neu
gierde drang ich in Pa, mich einzuweihen, denn die zwei taten
sehr geheimnisvoll. Ich studierte mit Hobby deine Pläne und tat,
als verstände ich alles. Dein Projekt interessierte mich außeror
dentlich, das ist die Wahrheit. Hobby erzählte mir von dir und
was für ein prachtvoller Mensch du seist, und schießlich war
ich ungeheuer neugierig, dich zu sehen. Nun, ich sah dich! Ich
hatte einen solch riesenhaften Respekt vor dir, wie noch nie vor
einem Menschen! Du gefielst mir! So einfach, so stark und ge
sund sahst du aus. Und ich wünschte: möchte er doch nett zu
mir sein! Aber du warst ganz gleichgültig. Wie oft habe ich an
diesen Abend gedacht! Ich wußte, daß du verheiratet warst,
Hobby hatte mir ja alles erzählt, und es kam mir auch gar nicht
in den Sinn - damals -, daß ich dir mehr werden könnte als eine
195 B E R N H A R D K E LLE R M A N N
Freundin, Später aber fing ich an, auf Maud eifersüchtig zu werden.
Verzeihe, daß ich ihren Namen nenne! Wo man stand und ging,
hörte und sah man deinen Namen. Und ich dachte, warum
könntest du nicht an Mauds Stelle sein. Das wäre herrlich! Es
hätte dann auch Sinn, reich zu sein! Das war nicht möglich, ich
sah es ein, und ich wollte mich zufrieden geben, wenn ich mich
zu deinen Freunden zählen dürfte. Um das zu erreichen, kam
ich damals öfter zu euch hinaus, aus keinem anderen Grund.
Denn wenn ich auch verrückte Pläne schmiedete: wie ich es
anstellen könnte, dich in mich verliebt zu machen, so verliebt,
daß du Frau und Kind verließest, so meinte ich das doch nicht
ernst und glaubte selbst nicht daran. Aber auch freundschaftlich
kam ich dir nicht näher, Mac! Du verschlössest dich, du hattest
weder Zeit noch Gedanken für mich. Ich bin nicht sentimental,
Mac, aber damals war ich sehr, sehr unglücklich!
Dann kam die Katastrophe. Glaube mir, ich hätte alles hingege
ben, um das Schreckliche ungeschehen zu machen. Ich schwöre
es dir! Es war grausam, und ich litt schrecklich damals. Aber
ich bin ein Egoist, Mac, ein großer Egoist! Und während ich
noch weinte um Maud, kam es mir zum Bewußtsein, daß du ja
nun frei warst, Mac! Du warst frei! Und von diesem Augen
blick an trachtete ich dir näherzukommen, Mac, ich wollte dich
haben! Der Streik, die Sperre, der Bankrott, all das kam mir
gelegen - das Schicksal arbeitete mir plötzlich in die Hände. Ich
drang monatelang in Vater, sich für dich einzusetzen. Aber Pa
sagte: “Es ist unmöglich!” In diesem Januar bestürmte ich ihn
von neuem. Aber Pa sagte: “Es ist ganz unmöglich.” Da sagte
ich zu Pa: “Es muß möglich sein, Pa! Denke nach, du mußt es
möglich machen!” Ich quälte Pa, den ich liebe, bis aufs Blut.
Tagelang. Endlich sagte er zu. Er wollte an dich schreiben und
dir seine Hilfe anbieten. Da aber dachte ich nach. Was dann?
dachte ich. Mac wird Pas Hilfe annehmen, ein paarmal bei uns
speisen - und dann wird er sich wieder in die Arbeit vergraben,
und du siehst ihn nicht mehr. Ich sah ein, daß ich nur eine ein
7*
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 196
zige Waffe gegen dich hatte - und das war Pas Geld und Name!
Verzeih, Mac, daß ich so offen bin! Ich zögerte nicht, diese
Waffe zu gebrauchen. Ich verlangte von Pa, nur zu tun, was ich
wollte, einmal in seinem Leben, und nicht nach meinen Gründen
zu fragen. Ich drohte ihm, meinem kleinen, lieben, alten Pa, daß
ich ihn verlassen würde und er mich nie, nie mehr sehen sollte,
wenn er mir nicht gehorchte. Das war schlecht von mir, aber
ich konnte nicht anders. Ich hätte Pa ja doch nicht verlassen,
denn ich liebe und verehre ihn, aber ich jagte ihn ins Bockshorn.1
Mac, und das andere kennst du. Ich handelte nicht schön - aber
es gab für mich keinen anderen Weg zu dir! Ich habe gelitten
darunter, aber ich wollte bis ins Äußerste gehn.2 Wie du mir im
Car den Auftrag machtest, hätte ich gleich annehmen wollen.
Aber ich wollte doch auch, daß du dir ein wenig Mühe um mich
gäbest, Mac...”
Ethel sprach mit halblauter Stimme, und oft flüsterte sie nur.
Sie lächelte dabei, weich und anmutig, sie zog die Wangen lang
und legte die Stirn in Falten, daß sie traurig aussah, sie schüt
telte den schönen Kopf, sie sah schwärmerisch zu Allan empor.
Häufig hielt sie bewegt inne.
“Hörtest du mich, Mac?” fragte sie nun.
“Ja!” sagte Allan leise.
“Das alles mußte ich dir sagen, Mac, ganz offen und ehrlich.
Nun weißt du es. Vielleicht können wir trotz allem gute Kame
raden und Freunde werden?”
Sie sah mit einem schwärmerischen Lächeln in Allans Au
gen, die müde und vergrämt waren wie vorhin. Er nahm ihren
schönen Kopf in beide Hände und nickte.
“Ich hoffe es, Ethel!” erwiderte er, und seine fahlen Lippen
zuckten.
Ich ging wieder zu Pat hinauf. Sie lag schwer atmend, mit
vielen Kissen im Rücken. “Willst du nicht Ski laufen?” fragte
sie. Ich schüttelte den Kopf. “Der Schnee ist zu schlecht. Es
taut überall.”
“Willst du dann nicht mit Antonio Schach spielen?”
“Nein”, sagte ich. “Ich will hier bei dir bleiben.”
“Armer Robby!” Sie versuchte eine Bewegung zu machen.
“Hol dir doch wenigstens was zu trinken.”
“Das kann ich tun.”
Ich ging in mein Zimmer und holte eine Flasche Kognak und
ein Glas. “Willst du ein bißchen?” fragte ich. “Du darfst, das
weiß ich doch.” Sie nahm einen kleinen Schluck und nach einer
Weile noch einen. Dann gab sie mir das Glas zurück. Ich schenkte
es voll und trank es aus.
“Du sollst nicht aus demselben Glas trinken wie ich”, sagte
Pat.
199 E R IC H M A R IA REM ARQ U E
“Das wäre ja noch schöner.” Ich goß das Glas noch einmal
voll und stürzte es herunter.
Sie schüttelte den Kopf. “Du mußt das nicht tun, Robby. Du
darfst mich auch nicht mehr küssen. Du darfst überhaupt nicht
mehr so viel bei mir sein. Du sollst nicht krank werden.”
“Ich werde dich küssen und mich den Teufel um etwas sche
ren”,1 erwiderteich.
“Nein, du darfst nicht. Du darfst auch nicht mehr in meinem
Bett schlafen.”
“Gut, dann schlaf du mit mir in meinem.”
Sie bewegte abwehrend den Mund. “Laß das, Robby. Du
mußt noch lange leben. Ich will, daß du gesund bleibst und Kinder
hast und eine Frau.”
Sie lag eine Weile still. “Ich hätte gern ein Kind von dir ge
habt, Robby”, sagte sie dann und legte ihr Gesicht an meine
Schulter. “Früher wollte ich es nie. Ich konnte es mir gar nicht
vorstellen. Aber jetzt denke ich oft daran. Es wäre schön, wenn
etwas von einem bleibe. Das Kind würde dich dann manchmal
ansehen und du würdest dich an mich erinnern. Dann wäre ich
wieder da so lange.”
“Wir werden noch ein Kind haben”, sagte ich. “Wenn du
wieder gesund bist. Ich möchte gern ein Kind von dir haben,
Pat. Es muß aber ein Mädchen sein, das auch Pat heißt.”
Sie nahm mir das Glas aus der Hand und trank einen Schluck.
“Vielleicht ist es besser, daß wir keins haben, Liebling. Du
sollst nichts mitnehmen. Du sollst mich vergessen, Und wenn
du an mich denkst, sollst du nur denken, daß es schön war mit
uns, - mehr nicht. Daß es vorbei gegangen ist, das werden wir
doch nie begreifen. Traurig sollst du nicht sein.”
“Ich bin traurig, wenn du so etwas sagst.”
Sie sah mich eine Zeitlang an. “Wenn man so liegt, denkt
man über manches nach. Und vieles kommt einem sonderbar
vor, was man sonst gar nicht beachtet. Weißt du, was ich jetzt
nicht mehr verstehen kann? Daß man sich so liebt wie wir, und
daß trotzdem einer stirbt.”
“Sei still”, sagte ich. “Einer muß immer zuerst sterben, im
mer im Leben. Aber so weit sind wir noch lange nicht.”
“Man dürfte nur sterben, wenn man allein ist. Oder wenn
man einander haßt; - aber nicht wenn man sich liebt.”
Ich zwang mich zu einem Lächeln. “Ja, Pat”, sagte ich und
nahm ihre heiße Hand in meine, “wenn wir die Welt machen
würden, würde sie besser aussehen, was?”
Sic nickte. “Ja, Liebling. Wir würden solche Sachen nicht
zulassen. Wenn man nur wüßte, was dahinter ist. Glaubst du,
daß es weitergeht, nachher?”
“Ja”, erwiderte ich. “Es ist so schlecht gemacht, daß es nicht
zu Ende sein kann.”
Sie lächelte. “Das ist auch ein Grund. Aber findest du das
auch schlecht gemacht?” Sie zeigte auf einen Busch gelber Rosen
neben ihrem Bett.
“Das ist es ja gerade”, erwiderte ich. “Die Einzelheiten sind
wunderbar, aber das Ganze hat keinen Sinn. Als wenn es von
einem gemacht ist, dem auf die wunderbare Vielfalt des Lebens
nichts anderes eingefallen ist, als es wieder zu vernichten.”
“Und es wieder neu zu machen”, sagte Pat.
“Auch da sehe ich den Sinn nicht”, erwiderte ich. “Besser
ist es dadurch bis heute nicht geworden.”
“Doch, Liebling”, sagte Pat, “mit uns, das hat er schon gut
gemacht. Besser gings gar nicht. Nur zu kurz. Viel zu kurz.”-
Ein paar Tage später spürte ich Stiche in der Brust und hustete.
Der Chefarzt hörte den Lärm, als er über den Korridor ging und
steckte den Kopf in mein Zimmer. “Kommen Sie doch mal mit
ins Sprechzimmer.”
“Es ist weiter nichts”, sagte ich.
201 E R IC H M A R IA REM ARQ U E
Strom des Lebens schwächer würde und fast erlosch, - und nur
vor dieser Stunde hatte sie Furcht und wollte nicht allein sein.
Sonst war sie so tapfer, daß ich oft die Zähne zusammenbeißen
mußte.
Ich ließ mein Bett in ihr Zimmer stellen und setzte mich zu
ihr, wenn sie erwachte und wenn in ihre Augen das verzweifel
te Flehen kam. Ich dachte oft an die Morphiniumampullen in
meinem Koffer, und ich hätte es ohne Nachdenken getan, wenn
sie nicht so dankbar für jeden neuen Tag gewesen wäre.
Ich saß bei ihr am Bett und erzählte ihr, was mir gerade
einfiel. Sie durfte nicht viel sprechen, und sie hörte gern zu,
wenn ich ihr erzählte, was mir alles schon so passiert war. Am
liebsten hörte sie Geschichten aus meiner Schulzeit, und manchmal,
wenn sie kurz vorher noch einen Anfall gehabt hatte und blaß
und zerschlagen in den Kissen saß, verlangte sie schon wieder,
daß ich ihr irgendeine Type von meinen Lehrern vormachte...
Ich erfand täglich neue hinzu, und Pat wußte allmählich unter
den Raufbolden und Lümmeln unserer Klasse, die den Lehrern
immer neuen Ärger bereitet hatten, sehr gut Bescheid.1
...Langsam sickerte dann das Tageslicht durch das Fenster.
Die Bergrücken wurden messerhafte, schwarze Silhouetten. Der
Himmel hinter ihnen fing an, kalt und blaß zurückzuweichen.
Die Nachttischlampe verrostete zu bleichem Gelb, und Pat legte
ihr feuchtes Gesicht in meine Hände. “Es ist vorbei, Robby. Jetzt
habe ich wieder einen Tag dazu.”
Ich sagte ihr alles, was ich ihr sagen konnte, um sie darüber
weg zu bringen. Aber sie schüttelte den Kopf. “Ich bin nicht
traurig, Liebling. Du mußt das nicht glauben. Ich bin nicht trau
rig, wenn ich weine. Es kommt wohl mal so, aber nicht lange.
Dafür denke ich viel zuviel nach.”
“Worüber denkst du denn nach?” fragte ich und küßte ihr
Haar.
“Über das einzige, worüber ich noch nachdenken kann, -
über Leben und Sterben. Wenn ich dann traurig bin und nichts
mehr verstehe, sage ich mir, daß es besser ist, zu sterben, wenn
man noch leben möchte, als zu sterben und man möchte auch
sterben. Was meinst du?”
“Ich weiß nicht.”
“Doch.” Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. “Wenn man
noch leben möchte, dann ist etwas da, was man liebt. Es ist
schwerer, aber auch leichter. Sieh, sterben hätte ich doch müs
sen, und nun bin ich dankbar, daß ich dich hatte. Ich hätte ja
auch allein und unglücklich sein können. Dann wäre ich gern
gestorben. Jetzt ist es schwer; aber dafür bin ich auch ganz voll
Liebe, wie eine Biene voll Honig, wenn sie abends in den Stock
zurückkommt. Wenn ich wählen sollte, - ich würde zwischen
beiden immer wieder dasselbe wählen.”
Sie sah mich an. “Pat”, sagte ich, “es gibt noch ein drittes, -
wenn der Föhn1 aufhört, dann wird es besser gehen, und wir
werden hier fortfahren.”
Sie blickte mich weiter prüfend an. “Um dich habe ich Angst,
Robby. Für dich ist es viel schwerer als für mich.”
“Wir wollen nicht mehr darüber sprechen”, sagte ich.
“Ich habe es nur gesagt, damit du nicht denkst, ich sei trau
rig”, erwiderte sie.
“Ich glaube auch nicht, daß du traurig bist”, sagte ich.
Ich legte ihre Hand auf meinen Arm. “Willst du nicht die
Zigeuner wieder spielen lassen?”
“Willst du sie hören?”
“Ja, Liebling.”
Ich stellte den Apparat wieder an, und leise, dann immer
voller klang die Geige mit den Flöten und den gedämpften Ar-
peggien der Zimbals durch das Zimmer.
“Schön”, sagte Pat. “Wie ein Wind. Ein Wind, der einen
wegträgt.”
Es war ein Abendkonzert aus einem Gartenrestaurant in
Budapest. Das Gespräch der Gäste war manchmal durch das
Raunen der Musik zu vernehmen, und ab und zu hörte man ei
nen hellen, fröhlichen Ruf. Man konnte denken, daß jetzt auf
der Margarethinsel1 die Kastanien schon das erste Laub hatten
und daß es blaß im Monde schimmerte und sich bewegte, als
würde es durch den Geigenwind angeweht. Vielleicht war es
schon ein warmer Abend, und die Leute saßen im Freien und
hatten Gläser mit dem gelben ungarischen Wein vor sich stehen,
die Kellner liefen in ihren weißen Jacken hin und her, die Zigeu
ner spielten, nachher ging man durch die grüne Frühjahrsdäm
merung müde nach Hause, und da lag Pat und lächelte und würde
nie wieder aus diesem Zimmer herauskommen, nie wieder aus
diesem Bette aufstehen.
Dann, plötzlich, ging alles sehr schnell. Das Fleisch des ge
liebten Gesichtes schmolz. Die Backenknochen traten hervor,
und an den Schläfen kam die Stirn durch. Die Arme waren dünn
wie Kinderarme, die Rippen spannten sich unter der Haut, und
das Fieber raste in immer neuen Stößen durch den schmalen
Körper. Die Schwester brachte Sauerstoffballons, und der Arzt
kam jede Stunde.
Ich nahm den Spiegel und die Puderdose fort und legte meine
Hände vorsichtig um ihren Kopf. Nach einiger Zeit wurde sie
unruhig.
“Was ist, Pat?” fragte ich.
“Es tickt so laut”, flüsterte sie.
“Was? Die Uhr?”
Sie nickte. “Es dröhnt so
Ich machte die Uhr von meinem Handgelenk los.
Sie blickte angstvoll auf den Sekundenzeiger. ‘Tu sie weg
Ich nahm die Uhr und warf sie gegen die Wand. “So, jetzt
tickt sie nicht mehr. Jetzt steht die Zeit still. Wir haben sie mit
ten dui ci'.gerissen. Nur wir beide sind noch da, nur wir beide, du
und ich, und niemand sonst.”
Sie sah mich an. Ihre Augen waren sehr groß. “Liebling
flüsterte sie.
Ich konnte ihren Blick nicht ertragen. Er kam von weit her
und ging durch mich hindurch, irgendwohin. “Alter Bursche”,
murmelte ich, “mein geliebter, tapferer, alter Bursche.”
B E A N TW O R TE N S IE FO LG END E FRAG EN :
Hans FALLADA
(1893-1947)
halt ohne Mann ist nichts wert, vorläufig hat sie gar nichts mehr,
weder die beiden Jungen noch den Mann, noch den Haushalt.
Statt dessen hat sie den Mund zu halten, sehr vorsichtig zu sein
und ekelhafte Feldpostbriefe auszutragen, die nicht mit der Hand,
sondern mit der Maschine geschrieben sind und als Absender
den Regimentsadjutanten nennen.
Sie klingelt bei Persickes, sagt “Heil Hitler!” und gibt dem
alten Saukopp seinen Schulungsbrief. Er hat auf dem Rockauf
schlag das Partei- und das Hoheitsabzeichen sitzen und fragt:
“Wat jibt’s denn Neuet?”1
Sie antwortet: “Haben Sie denn die Sondermeldung nicht
gehört? Frankreich hat kapituliert.”
Persicke ist durchaus nicht mit ihr zufrieden. “Mensch, Frol-
lein, det weeß ick natürlich; aber Sie saren det so, als ob Se
Schrippen vakoofen täten!2 Det müssen Se zackig rausbringen!
... Der zweite Blitzkrieg, hätten wa ooch geschafft, und nu ab
Trumeau nach England! In ‘nem Vierteljahr sind die Tommys
erledigt,3 und denn sollste mal sehen, wie unser Führer uns le
ben läßt! Denn können die ändern bluten, und wir sind die Herren
der Welt! Komm rin, Mächen, trink ‘nen Schnaps mit! Amalie,
Erna, August, Adolf, Baldur - alle ran! Heute wird blaujemacht,4
heute wird keene Arbeet anjefaßt! Heute begießen wie uns mal
die Neese, und am Nachmittag gehen wa bei de olle Jüdsche in
de vierte Etage, und det Aas muß uns Kaffee und Kuchen je-
ben!...”
Während Herr Persicke, von seiner Familie umstanden, sich
in immer aufgeregter Ausführungen ergeht und die ersten
Schnäpse schon hinter die Binde zu gießen beginnt,5 ist die Brief
1wat jib t’s denn Neuet? = was gibt es Neues?
2 ...als ob Se Schrippen vakoofen täten - как будто Вы продаете булочки
{диалект.)
3 ...sind die Tommys erledigt - покончим с Томми (Томми - презрительная
кличка английских солдат).
4 heute wird blaujemacht (=blaugemacht) - сегодня прогуливаем (разг.).
5 in ... Ausführungen ergeht und die ersten Schnäpse schon hinter die Binde
/u gießen beginnt - разразился длинной речью и начал уже выпивать.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 212
und langsamer, als scheute sie sich vor jedem kommenden Wort.
Der Mann hat sich vorgebeugt und die Hände aus den Taschen
genommen. Die Zähne sitzen jetzt fest auf der Unterlippe, er
ahnt Unheil. Es ist ganz still in der Stube. Nun fängt der Atem
der Frau an, keuchend zu werden.
Plötzlich stößt sie einen leisen Schrei aus, einen Laut, wie
ihn ihr Mann noch nie gehört hat. Ihr Kopf fällt vornüber, schlägt
erst gegen die Garnrollen auf der Maschine und sinkt zwischen
die Falten der Näharbeit, den verhängnisvollen Brief verdek-
kend.
Quangel ist mit zwei Schritten hinter ihr. Mit einer bei ihm
ganz ungewohnten Hast legt er seine große, verarbeitete Hand
auf ihren Rücken. Er fühlt, daß seine Frau am ganzen Leibe
zittert. “Anna!” sagt er. “Anna, bitte!” Er wartet einen Augen
blick, dann wagt er es: “Ist was mit Otto? Verwundet, wie?
Schwer?”
Das Zittern geht fort durch den Leib der Frau, aber kein
Laut kommt von ihren Lippen. Sie macht keine Anstalten, den
Kopf zu heben und ihn anzusehen.
Er blickt auf ihren Scheitel hinunter, er ist so dünn geworden
in den Jahren, seit sie verheiratet sind. Nun sind sie alle Leute;
wenn Otto wirklich was zugestoßen ist1, wird sie niemanden
haben und bekommen, den sie liebhaben kann, nur ihn, und er
fühlt immer, an ihm ist nicht viel zum Liebhaben. Er kann ihr nie
und mit keinem Wort sagen, wie sehr er an ihr hängt. Selbst
jetzt kann er sie nicht streicheln, ein bißchen zärtlich zu ihr sein,
sie trösten. Er legt nur seine schwere Hand auf ihren dünnen
Scheitel, er zwingt sanft ihren Kopf hoch, seinem Gesicht ent
gegen, er sagt halblaut: “Was die uns schreiben, wirst du mir
doch sagen, Anna?”
Aber obwohl jetzt ihre Augen ganz nahe den seinen sind,
sieht sie ihn nicht an, sondern hält sie fest geschlossen. Ihr Ge
1 wenn Otto wirklich was zugestoßen ist... - если с O rro действительно
что-то случилось.
215 H A N S F A LLA D A
Sie hörte die Flurtür klappen. Und kaum wußte sie ihn wirklich
fort, drehte sie sich wieder nach der Nähmaschine und strich
die Schnitzelchen des verhängnisvollen Feldpostbriefes zusam
men. Sie versuchte, sie aneinanderzupassen, aber sie sah schnell,
daß das jetzt zu lange dauern würde, sie mußte vor allen Dingen
sein Essen fertigmachen. So tat sie denn das Zerrissene sorg
fältig in den Briefumschlag, den sie in ihr Gesangbuch legte.
Am Nachmittag, wenn Otto wirklich fort war, würde sie die
Zeit haben, die Schnitzel zu ordnen und aufzukleben. Wenn es
auch alles dumme Lügen, gemeine Lügen waren, es war doch
das Letzte von Ottochen! Sie werde es trotzdem aufbewahren
und der Trudel zeigen. Vielleicht würde sie dann weinen kön
nen, jetzt stand es noch wie Flammen in ihrem Herzen. Es würde
gut sein, weinen zu können!
Sie schüttelte zornig den Kopf und ging an die Kochmaschine.
Willi BREDEL
(1901-1964)
Щ)
B E A N T W O R T E N S IE FO LG END E F RAG EN :
Johannes R. BECHER
(1891-1958)
GOETHES TOD
(Aus dem „Buch der Gestalten“)
REGEN
(Aus „Glück der Ferne - leuchtend nah“)
WARTEN
DICH ZU BESCHREIBEN
DANK-SONETTE
I
Ich danke euch. Euch allen Dank zu sagen
Beginne ich damit, daß ich zuerst
Dir, Mutter, danke. Denn was war gewesen,
Wenn du, Mutter, nicht gewesen wärst.
V
Ich danke euch. Was soll ich Namen nennen?!
Dir, Liebe, namenlos, die mich umwacht.
Ich danke dir, durch dich lem ich mich kennen
Du bist es, die mich stark und stärker macht.
DER WEITGEREISTE
Kurt TUCHOLSKY
(1890-1935)
FAMILIENBANDE
1 stärker als alle drei beide - но сильнее, чем все они, вместе взятые...
239 K U R T TU CH O LSKY
B E A N TW O R TE N S IE FO LG END E F RA G EN :
Wolfgang BORCHERT
(1921-1947)
LESEBUCHGESCHICHTEN
Der Mann mit dem weißen Kittel schrieb Zahlen auf das
Papier. Er machte ganz kleine zarte Buchstaben dazu.
Dann zog er den weißen Kittel aus und pflegte eine Stunde
lang die Blumen auf der Fensterbank. Als er sah, daß eine Blume
eingegangen war, wurde er sehr traurig und weinte.
Und auf dem Papier standen die Zahlen. Danach konnte man
mit einem halben Gramm in zwei Stunden tausend Menschen
tot machen.
Die Sonne schien auf die Blumen.
Und auf das Papier.
241 W OLFGANG B O R C H E R T
kleine Kreuze. Er stand auf und lachte. Nahm eine neue Kugel
und ließ sie über die Bahn rollen. Es donnerte leise. Dann stürz
ten hinten die Kegel. Sie sahen aus wie kleine Männer.
Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er
hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot.
1 Die gehen drauf - они обречены, они погибнут {разг.).
2 ‘türlich = natürlich.
243 W O LFG ANG BO RC H ERT
Es waren mal zwei Menschen. Als sie zwei Jahre alt waren,
da schlugen sie sich mit den Händen.
Als sie zwölf waren, schlugen sie sich mit Stöcken und warfen
mit Steinen.
Als sie zweiundzwanzig waren, schossen sie mit Gewehren
nach einander.
Als sie zweiundvierzig waren, warfen sie sich mit Bomben.
Als sie zweiundsechzig waren, nahmen sie Bakterien.
Als sie zweiundachtzig waren, da starben sie. Sie wurden
nebeneinander begraben.
Als sich nach hundert Jahren ein Regenwurm durch ihre beiden
Gräber fraß, merkte er gar nicht, daß hier zwei verschiedene
Menschen begraben waren. Es war dieselbe Erde. Alles die
selbe Erde.
1. Wie meinen Sie, was ist “der Mann mit dem weißen Kit
tel” von Beruf?
2. Wie ist die Rolle des Studienrates?
3. Warum achtet Borchert darauf, was der Studienrat auf
das Papier gemalt hat?
4. Wie wird solch eine Art Literatur genannt (Novelle,
Erzählung, Parabel)?
DIE KÜCHENUHR
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er
fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran
sah man, daß er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem
alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen,
was er in der Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der
Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja, ich
habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben.
245 W O LFG ANG B O R C H E R T
nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden.
Nein. Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur
nicht. Das ist nämlich der Witz, daß sie gerade um halb drei
stehengeblieben ist. Und nicht um viertel nach vier oder um sie
ben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts,
meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz.
Er sah die anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm
weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu:
Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging im
mer gleich in die Küche. Da war es dann fast immer halb drei.
Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so
leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn
ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich
das Licht an.1 Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit
einem roten Schal um. Und barfuß. Immer barfuß. Und dabei
war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz
klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon
geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So
spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und
sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße anein
ander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhen zog sie nachts
nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann
hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem
Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es
so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstver
ständlich, fand ich, daß sie mir nachts um halb drei in der Küche
das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat
das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder.
Aber das sagte sie jedesmal. Und ich dachte, das könnte nie
aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das alles. Es war
doch immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann
sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand
sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Ge
sicht: Jetzt, jetzt weiß ich, daß es das Paradies war. Das rich
tige Paradies.
Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und
Ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern?
Ja, die sind auch mit weg.1 Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich
vor. Alles weg.
Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen
ihn nicht an.
Da hob er wieder die Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur
sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, daß sie ausgerechnet
um halb drei stehengeblieben ist. Ausgerechnet um halb drei.
Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht.
Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er
sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.
1. Wie sah der Mann mit der Uhr aus und wie alt war er?
2. Was war von seinem Haus übriggeblieben?
3. Warum war es für ihn so wichtig, daß die Uhr ausgerech
net um halb drei stehengeblieben war?
4. Warum sahen die Menschen auf der Bank ihm nicht ins
Gesicht?
5. Warum nannte er sein früheres Leben “Paradies”?
Heinrich BOLL
(1917-1985)
1 ...daß sie vor Fröhlichkeit fast zu platzen schienen - казалось, что они
нот-вот лопнут от радости.
2 ...und doch war ich so sicher, beobachtet zu werden - тем не менее я был
настолько уверен, что за мной наблюдают.
ЧИТАЕМ ПО-НЕМЕЦКИ 250
Erste Frage: Halten Sie es für richtig, daß der Mensch nur
zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?
Hier erntete ich zum ersten Male die Früchte meiner Nach
denklichkeit und schrieb ohne Zögern hin: “Selbst vier Arme,
Beine, Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die
Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.”
Zweite Frage: Wieviel Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?
Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer
Gleichung ersten Grades. “Wenn es nur sieben Telefone sind”,
schrieb ich, “werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich
vollkommen ausgelastel”.
Dritte Frage: Was machen Sie nach Feierabend?
Meine Antwort: “Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr
- an meinem fünfzehnten Geburtstag strich ich es aus meinem
Vokabular, denn am Anfang war die Tat”.1
Ich bekam die Stelle. Tatsächlich fühlte ich mich sogar mit
den neun Telefonen nicht ganz ausgelastet. Ich rief in die Mu
scheln der Hörer: “Handeln Sie sofort!” oder: “Tun Sie etwas!”
- “Es muß etwas geschehen - Es wird etwas geschehen - Es
ist etwas geschehen - Es sollte etwas geschehen.” Doch meis
tens - denn das schien mir der Atmosphäre gemäß - bediente
ich mich des Imperativs.
Interessant waren die Mittagspausen, wo wir in der Kantine,
von lautloser Fröhlichkeit umgeben, vitaminreiche Speisen aßen.
Es wimmelte in Wunsiedels Fabrik von Leuten, die verrückt darauf
waren, ihren Lebenslauf zu erzählen, wie eben handlungsstarke
Persönlichkeiten es gern tun. Ihr Lebenslauf ist ihnen wichtiger
als ihr Leben, man braucht nur auf einen Knopf zu drücken, und
schon erbrechen sie ihn in Ehren.
Wunsiedels Stellvertreter war ein Mann mit Namen Broschek,
der seinerseits einen gewissen Ruhm erworben hatte, weil er
als Student sieben Kinder und eine gelähmte Frau durch Nacht-
1 am Anfang war die Tat - Zitat aus Goethes “Faust”, Periphrase des bibli
schen Spruchs “Am Anfang war das Wort”.
251 H E IN R IC H B Ö L L
AN DER BRÜCKE
Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten
gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die
neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit
mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen
Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen
Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer
auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu
schenken.
Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner
Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und
sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele
Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke...
Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt
nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es ver
stehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken.
Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unter
schlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein
paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich
wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den
Durchschnitt an,1 manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn
mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzü
gigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen.2 Sie sind ja so
glücklich! Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedesmal aus
1 ...gebe ich nur den Durchschnitt an - я даю только средний результат.
2 ...lasse ich meine Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen - я
выражаю свое великодушие пятизначным числом.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 256
der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf
die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und da fangen sie an zu mul
tiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was.
Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke
gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen
sein werden.1 Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre
Spezialität - und doch, es tut mir leid, daß alles nicht stimmt...
Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt - und
sie kommt zweimal am Tage -, dann bleibt mein Herz einfach
stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach
aus, bis sie an die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und
alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. Diese
zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir
nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt
aus ihrer Eisdiele, wenn sie auf der anderen Seite des Gesteiges
meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muß, dann
setzt mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu
zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist. Und alle, die das Glück
haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilie
ren, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmän
ner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur
der Statistik nicht mitmarschieren werden...
Es ist klar, daß ich sie liebe. Aber sie weiß nichts davon, und
ich möchte auch nicht, daß sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen,
auf welche ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den
Haufen wirft,2 und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren
langen braunen Haaren und den zarten Füßen in ihre Eisdiele
marschieren, und sie soll viel Trinkgeld bekommen. Ich liebe
sie. Es ist ganz klar, daß ich sie liebe.
Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der
anderen Seite sitzt und die Autos zählen muß, hat mich früh
1...und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden - и сколько
пройдет через мост за 10 лет (Futurum II).
2 ...auf welche ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den Haufen wirft
- каким неслыханным образом она срывает все расчеты.
257 H E IN R IC H B Ö L L
genug gewarnt, und ich habe höllisch aufgepaßt. Ich habe gezählt
wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der
Oberstatistiker selbst hat sich drüben auf die andere Seite ge
stellt und hat später das Ergebnis einer Stunde mit meinem Stun
denplan verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine
kleine Geliebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben
werde ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur transportieren
lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und
dividiert und in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein
Herz hat mir geblutet, daß ich zählen mußte, ohne ihr nachseh-
en zu können, und dem Kumpel drüben, der die Autos zählen
muß, bin ich sehr dankbar gewesen. Es ging ja glatt um meine
Existenz.
Der Oberstatistiker hat mir auf die Schulter geklopft und hat
gesagt, daß ich gut bin, zuverlässig und treu. “Eins in der Stunde
verzählt”, hat er gesagt, “macht nicht viel. Wir zählen sowieso
einen gewissen prozentualen Verschleiß hinzu. Ich werde bean
tragen, daß sie zu den Pferdewagen versetzt werden”.
Pferdewagen ist natürlich die Masche.1 Pferdewagen ist ein
Lenz2 wie nie zuvor. Pferdewagen gibt es höchstens fünf
undzwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem
Gehirn die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz!
Pferdewagen wäre herrlich. Zwischen vier und acht dürfen über
haupt keine Pferdewagen über die Brücke und ich könnte Spa
zierengehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange anschauen
oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine
ungezählte Geliebte...
Leonhard FRANK
( 1882 - 1961 )
1 Auschwitz - Освенцим.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 260
Sie trat auf die Seite. Das hätte auch ein Hund getan. Aber
sie war nicht zum Tier geworden, sie hatte Bewußtsein, sie erin
nerte sich, daß in der zerstörten Bahnhofsstraße ein weißes Hemd
/um Trocknen im Fensterloch gehangen hatte.
Der Bauer hielt an. Ob sie ins Dorf mitfahren wolle. Sie
schüttelte den Kopf. Ein Vogel zwitscherte. Sie hörte es. Der
Hauer sagte: “Ich hab mir nur gedacht, auf dem Bock war Platz
für zwei. Alsdann, adieu.”
Sie blieb noch eine Weile stehen. Sie schloß die gestrickte
rosa Bettjacke, die nur noch drei Knöpfe hatte, große Perlmut
terknöpfe. Der obere Knopf fehlte. Auf den Falten des zu weiten
schwarzen Rockes lag Staub, auch auf dem schwarzen Haar
knoten. Die schnurgerade breite Waldstraße war in der weiten
ferne nur noch ein Kreidestrich im Grün.
Sie ging langsam durch die Dörfer. Blicke folgten ihr. Ruth
erregte keine Teilnahme, da in ihrem Gesicht kein Leidenszug
war. Gegen Abend kaufte sie von dem Geld, das der amerika
nische Ordonnanzoffizier ihr gegeben hatte, ein Stück Brot. Sie
trank einen Schluck Wasser aus dem Zinkbecher, der an den
Dorfbrunnen angekettet war, und ging langsam weiter. Es war
dunkel. Sie legte sich in den Wald. Hier lagen abgefallene Äste.
Sie lag gestreckt auf dem Rücken. Auf dem schwarzen Boden
schimmerte das weiße Gesicht wie ein Stein im Wald.
Ruth hatte im blutigen Zerstörungswirbel der ersten Tage
die Stunde verpaßt, da es ihr noch möglich gewesen wäre, sich
das Leben zu nehmen, und dann war alles gleich gewesen. Sie
hatte auch nie mehr geträumt von den Erlebnissen im Bordell.
Sie litt nicht. Der Körper schlief.
...Ruth war klein und dünn. Sie hatte dunkle Augen, sehr
dünne Brauen und lange Wimpern. Wenn das Gesicht gelebt
hätte, wäre es schön gewesen. Auch der Mund hatte keinen
Ausdruck. Es waren Lippen. Der Fährmann setzte das tote
Mädchen über den Fluß.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 262
Eine halbe Stunde später wurde sie gefunden, von dem elf
jährigen Töchterchen der Gutsbesitzerin. Der Knecht trug sie
auf den Hof.
Sie lag im Wohnzimmer auf dem Kanapee. Die Gutsbesitzerin,
eine blonde dickliche Frau, städtisch gekleidet, erkannte sie so
fort. Sie erinnerte sich, daß die zwei kleinen Freundinnen immer
zusammen nur aus einem Milchglas getrunken und die Milch
aus dem zweiten Glas nachgegossen hatten.
Zuerst sah Ruth, als sie aus der Ohnmacht erwachte, die
große Photographie des Gutsbesitzers, in Offiziersuniform, die
auf dem Kamin stand, hinter einer Reihe grüner Äpfel. Er war
in Stalingrad gefallen. Sie wurde sofort klar und erkannte, wo
sie sich befand. Sie nahm die Kompresse von der Stim und sagte:
“Danke.”
Die Gutsbesitzerin wußte, daß Ruth nach Auschwitz und dann
nach Warschau in ein Bordell gebracht war. Jeder Mensch in
Würzburg wußte es. Sie führte ihr Töchterchen aus dem Zim
mer und blickte dann wieder ratlos hinunter auf Ruth. “Hier
bleiben kann sie jedenfalls nicht. Was weiß man? Ich geb ihr zu
essen.” Sie sagte: “Ihre frühere Freundin Johanna war vor ei
nigen Tagen hier bei mir. Sie wohnt jetzt in dem Ziegenstall auf
dem Weidenland.”
Ruth hatte mit Johanna oftmals auf dem Weidenland gespielt.
Sie kannte den Ziegenstall. Sie sah ihn. Ihr Blick war nicht im
Zimmer, während die Gutsbesitzerin ein niedriges Tischchen, auf
dem Brot, Milch und ein Ei waren, zum Kanapee rollte.
Auf dem Gutshof wohnten drei Ausgebombte, die hier für
ein paar Wochen Unterkunft gefunden hatten. Professor Häber-
lein, der an der Würzburger Universität Geschichte gelehrt hatte,
schüttelte staunend den Kopf. “Kein kleines Wunder, das sie
mit dem Leben davongekommen ist.”1
1 ...daß sie mit dem Leben davongekommen ist - что она осталась в живых.
265 LEO NH ARD FRANK
“Ich hab sie gut gekannt und auch den Jungen, der mit ihr
verlobt war”, sagte der Instrumentenmacher Sims, ein im ganzen
1.and berühmter Geigenbauer. “Sie war ein besonders reizendes
und rührendes Mädchen. Es ist ein entsetzliches Schicksal.”
“Was ist da so entsetzlich! Eine kleine Judenhur! Mein Gott,
das kommt alle Tage vor.”
Der Geigenmeister starrte den Privatier Philippi an. “Das
sollte Ihnen auch auf dem Sterbebett nicht verziehen werden.”
Iä ging ins Haus.
“Herr Sims ist ein bißchen übertrieben”, sagte der Geschichts
professor lächelnd. “Aber auch ich kann da nicht mit Ihnen über-
cinstimmen, Herr Philippi. Dieser Fall liegt denn doch anders.1
Schließlich ist sie ja nicht freiwillig ins Bordell gegangen. Aller
dings ist die Tatsache, daß sie im Bordell war, nicht mehr aus
der Welt zu schaffen.2 Und eine Tatsache, wie immer sie zustande
gekommen sein möge, hat nun einmal ihre Konsequenzen.”
Ruth ging langsam an den zwei Männern vorüber und aus
dem Hof hinaus. Die Gutsbesitzerin blickte ihr vom Fenster auch
nach. Ihr Blick war vor Ratlosigkeit stumpf. Sie bewegte sich
nicht, bis Ruth in der Feme hinter dem Gebüsch verschwunden
war.
Der Geschichtsprofessor sagte kopfschüttelnd: “Ich kann nur
nicht verstehen, daß sie nach Würzburg zurückkehrt, wo jeder
sie kennt. Warum geht sie nicht in eine Stadt, wo niemand et
was von ihr weiß? Nicht zu verstehen.”
Sie ging am Kloster vorüber. Zwei junge Nonnen knieten im
Gemüsegarten und zogen gelbe Rüben heraus. Sie waren mit
Ruth und Johanna zur Schule gegangen. Sie erröteten vor Schreck
und senkten die Gesichter. Eine bekreuzigte sich.
...Johanna saß am Ufer und wusch sich die•• Füße. Zuerst
glaubte sie nicht, was ihre Augen sahen. Die Ähnlichkeit er
1 dieser Fail liegt denn doch anders - это все же иной случай.
2 allerdings ist die Tatsache... nicht aus der Welt zu schaffen - тем не менее
нельзя не считаться с тем фактом, что...
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 266
war voll von Brandgeruch. Der Himmel war rot von Flammen
und Rauch. Die Öfen des Krematoriums.”
Johanna packte Ruths Hand, ohne aufzublicken.
“Sie sortierten die Angekommenen - alte Männer, junge
Männer, alte Frauen und auch die jungen Frauen und Mädchen
in eine Reihe. Auf dem Weg zum Lager lagen ein paar hundert
Tote. Weil sie aus der Reihe getreten waren, sagte der Soldat.
I)oktor Mengele1 stand vor dem Tor des Lagers. Er sagte nichts.
Lr deutete nur. Nach links und nach rechts, wohin die Leute
zu gehen hatten. Sie klammerten sich an und schrien, weil sie
von ihren Verwandten getrennt wurden. Sie wurden mit Gum
miknüppeln auseinandergeschlagen. Sie sahen ihre Verwandten
nicht wieder. In der Nacht kamen noch sechsunddreißigtausend
Gefangene nach Auschwitz. Am Morgen lebten noch zweit
ausend.”
Johanna riß das Gesicht hoch und rüttelte Ruth, als wollte sie
eine Schlafende aufwecken. “Ruth! Dein Bruder lebt. Er ist
hier. Er lebt.”
“So? ... Ich kam nach Warschau in ein Bordell.” Sie sah die
noch Unberührte an, das Gesicht, das Haar, die Augen, mit run
dem, leerem Blick. “In Warschau war ich zwei Jahre.”
“Soll ich ihn holen, Ruth? Soll ich?”
“Wenn du willst.”
Johanna zog ihre Buchenholzsandalen an. Sie wollte noch
sagen, daß sie gleich zurückkomme. Aber Ruth war einge
schlafen. Noch zitternd blickte Johanna das Gesicht an. Es war
die Totenmaske eines Mädchens, das ruhig atmete.
Мах FRISCH
(1911-1991)
сп davon, daß wir uns wirklich liebten. Ich erinnere mich ger
an jene Zeit, Parteitag in Nürnberg, wir saßen vor dem Rad
Verkündung der deutschen Rassengesetze.1 Im Grunde war
Hanna, die damals nicht heiraten wollte; ich war bereit da;
Als ich von Hanna hörte, daß sie die Schweiz binnen vierze
Tagen zu verlassen habe, war ich in Thun als Offizier; ich fi
sofort nach Zürich, um mit Hanna zur Fremdenpolizei2 zu g<
en, wo meine Uniform nichts ändern konnte, immerhin gelangi
wir zum Chef der Fremdenpolizei. Ich erinnere mich noch h<
te, wie er das Schreiben betrachtete, das Hanna vorwies, u
sich das Dossier kommen ließ, Hanna saß, ich stand. Dann sei
wohlmeinende Frage, ob das Fräulein meine Braut sei, und i
sere Verlegenheit. Wir sollten verstehen: die Schweiz sei <
kleines Land, kein Platz für zahllose Flüchtlinge, Asylrecht, al
Hanna hätte doch Zeit genug gehabt, ihre Auswanderung
betreiben. Dann endlich das Dossier, und es stellt sich hera
daß gar nicht Hanna gemeint war, sondern eine Emigrantin gl
chen Namens, die bereits nach Übersee ausgewandert war. 1
leichterung allerseits! Im Vorzimmer nahm ich meine Offizie
handschuhe, meine Offiziersmütze, als Hanna nochmals an с
Schalter gerufen wurde, Hanna kreidebleich. Sie mußte nc
zehn Rappen3 zahlen, Porto für den Brief, den man fälsch
cherweisc an ihre Adresse geschickt hatte. Ihre maßlc
Empörung darüber! Ich fand es einen Witz. Leider mußte i
am selben Abend wieder nach Thun zu meinen Rekruten; <
jener Fahrt kam ich zum Entschluß, Hanna zu heiraten, falls
je die Aufenthaltsbewilligung etnzogen werden sollte.4 Kurz dar;
(wenn ich mich richtig erinnere) starb ihr alter Vater. Ich v
entschlossen, wie gesagt, aber es kam nicht dazu. Ich weiß eige
1 Verkündung der deutschen Rassengesetze - оглашение германских
совых законов (законы о чистоте расы, принятые нацистами).
2 Die Fremdenpolizei - полиция, ведающая делами иностранцев.
3 der Rappen - раппен, швейцарский сантим (мелкая денежная едини)
4 falls ihr je die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden sollte - в слу1
если когда-нибудь ее соберутся лишить разрешения на жительство
271 M A X F R IS C H
lieh nicht warum. Hanna war immer sehr empfindlich und sprung
haft, ein unberechenbares Temperament; wie Joachim sagte:
manisch-depressiv. Dabei hatte Joachim sie nur ein oder zwei
Mal gesehen, denn Hanna wollte mit Deutschen nichts zu tun
haben. Ich schwor ihr, daß Joachim, mein Freund, kein Nazi ist;
aber vergeblich. Ich verstand ihr Mißtrauen, aber sie machte es
mir nicht leicht, abgesehen davon, daß unsere Interessen sich
nicht immer deckten.1 Ich nannte sie eine Schwärmerin und
Kunstfee. Dafür nannte sie mich: Homo Faber.2 Manchmal hatten
wir einen regelrechten Krach, wenn wir beispielweise aus dem
Schauspielhaus kamen, wohin sie mich immer wieder nötigte;
1lanna hatte einerseits einen Hang zum Kommunistischen, was
ich nicht vertrug, und andererseits zum Mystischen, um nicht zu
sagen: zum Hysterischen. Ich bin nun einmal der Typ, der mit
beiden Füßen auf der Erde steht. Nichtsdestoweniger waren
wir sehr glücklich zusammen, scheint mir, und eigentlich weiß
ich wirklich nicht, warum es damals nicht zur Heirat kam. Es
kam einfach nicht dazu. Ich war, im Gegensatz zu meinem Vater,
kein Antisemit, glaube ich; ich war nur zu jung wie die meisten
Männer unter dreißig, zu unfertig, um Vater zu sein. Ich arbeite
te noch an meiner Dissertation, wie gesagt, und wohnte bei meinen
Eltern, was Hanna durchaus nicht begriff. Wir trafen uns immer
in ihrer Bude. In jener Zeit kam das Angebot von Escher-Wyss,
eine Chance sondergleichen für einen jungen Ingenieur, und was
mir dabei Sorge machte, war nicht das Klima von Bagdad, sondern
l lanna in Zürich. Sie erwartete damals ein Kind. Ihre Offen
barung hörte ich ausgerechnet an dem Tage, als ich von meiner
eisten Besprechung mit Escher-Wyss kam, meinerseits entschlos-
Nen, die Stelle in Bagdad anzutreten sobald als möglich. Ihre
Behauptung, ich sei zu Tode erschrocken, bestreite ich noch
beute; ich fragte bloß: Bist du sicher? Immerhin eine sachliche
1 ...daß unsere Interessen sich nicht immer deckten - наши интересы не
iu егда совпадали.
1 Homo Faber - здесь игра слов: Фабер - фамилия главного героя.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 212
sagt, falls wir, das Mädchen und ich, seine Hilfe verlangen. Ich
war ihm sehr dankbar, etwas verlegen, aber froh, daß er keine
große Geschichte draus machte; er sagte bloß: Du bist am Zug!1
Ich meldete Hanna, daß alles kein Problem ist. Es war Hanna,
die plötzlich Schluß machen wollte; sie packte ihre Koffer, plötz
lich ihre wahnsinnige Idee, nach München zurückzukehren. Ich
stellte mich vor sie, um sie zur Vernunft zu bringen;2 ihr einziges
Wort: Schluß! Ich hatte gesagt: Dein Kind, statt zu sagen: Un
ser Kind. Das war es, was mir Hanna nicht verzeihen konnte.
*
* *
Es ist mir heute noch ein Rätsel, wieso Hanna und Joachim
geheiratet und wieso sie mich, Vater des Kindes, nie haben wis
sen lassen, daß dieses Kind zur Welt gekommen ist.
Ich kann nur berichten, was ich weiß.
Es war die Zeit, als die jüdischen Pässe annuliiert wurden.
Ich hatte mir geschworen, Hanna keinesfalls im Stich zu lassen,
und dabei blieb es. Joachim war bereit, Trauzeuge zu sein. Meinen
bürgerlichen und besorgten Eltern war es auch recht, daß wir
nicht eine Hochzeit mit Droschken und Klimbim wollten;3 nur
Hanna machte sich immer noch Zweifel, ob es denn richtig wäre,
daß wir heirateten, richtig für mich. Ich brachte unsere Papiere
aufs zuständige Amt, unsere Eheverkündigung stand in der Zei
tung. Auch im Fall einer Scheidung, so sagte ich mir, blieb Han
na jedenfalls Schweizerin und im Besitz eines Passes. Die Sa
che eilte, da ich meine Stelle in Bagdad anzutreten hatte. Es
war ein Samstagvormittag, als wir endlich - nach einem komi
schen Frühstück bei meinen Eltem, die dann das Kirchengeläute
1 Du bist am Zug! - твой ход.
2 ...um sie zur Vernunft zu bringen - чтобы образумить ее.
3 Meinen bürgerlichen und besorgten Eltern war es auch recht, daß wir nicht
eine Hochzeit mit Droschken und Klimbim wollten - моих буржуазных и оза
боченных родителей тоже устраивало, что мы не хотим свадьбу с из
возчиком и пиром горой.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 274
'...meine Eltern, die dann das Kirchengeläute doch vermißten! - мои родители
все-таки жалели об отсутствии колоколов!
2 nicht zu bewegen - зд.: ее нельзя было сдвинуть с места.
275 M A X F R ISC H
* *
...Sie tat wirklich (wie es die Art aller Frauen ist, vermute
ich, auch wenn sie noch so intellektuell sind) wie eine Henne,
die ihr Junges unter die Flügel nehmen muß; daher meine Be
merkung mit der Henne, ein Wort gab das andere,' Hanna war
;iußer sich wegen meiner Bemerkung, weibischer als ich sie je
gesehen habe. Ihr ewiges Argument:
“Sie ist mein Kind, nicht dein Kind.”
Daher meine Frage:
“Stimmt es, daß Joachim ihr Vater ist?”
Darauf keine Antwort.
“Laß mich!” sagt sie. “Was willst du überhaupt von mir? Ich
habe Elsbeth ein halbes Jahr lang nicht gesehen, plötzlich dieser
Anruf vom Hospital, ich komme und finde sie bewußtlos - weiß
nicht, was geschehen ist.”
Ich nahm alles zurück.
“Du”, sagt sie, “du - was hast du zu sprechen mit meiner
Tochter? Was willst du überhaupt von ihr? Was hast du mit ihr?”
Ich sah, wie sie zitterte.
...Ich verstand ohne weiteres, daß Hanna an ihrem Kind hängt,
«laß sie die Tage gezählt hat, bis das Kind wieder nach Hause
kommt, und daß es für eine Mutter nicht leicht ist, wenn das
Kind, das einzige, zum ersten Mal in die Welt hinaus reist.
“Sie ist ja kein Kind mehr”, sagt sie, “ich selber habe sie ja
a u f diese Reise geschickt, eines Tages muß sie ja ihr eigenes
I.eben führen, das ist mir klar, daß sie eines Tages nicht wieder
kommt”.
Ich ließ Hanna sprechen.
“Das ist nun einmal so”, sagt sie, “wir können das Leben
nicht in unseren Armen behalten, Walter, auch du nicht”.
“Ich weiß!” sage ich.
Sprache, die ihr immer unrecht gibt.1 Hanna bereut, daß sie Dr.
phil. geworden ist. Solange Gott ein Mann ist, nicht ein Paar,
kann das Leben einer Frau, laut Hanna, nur so bleiben, wie es
heute ist, nämlich erbärmlich, die Frau als Proletarier der Schöp
fung, wenn auch noch so elegant verkleidet2 - Ich fand sie ko
misch, eine Frau von fünfzig Jahren, die wie ein Backfisch3
philosophiert, eine Frau, die noch so tadellos aussieht wie Han
na, geradezu attraktiv, dazu eine Persönlichkeit, das ist mir klar...
Ich sehe nicht ein, wieso ihr Leben verpfuscht sein sollte. Im
Gegenteil. Ich finde es allerhand,4 wenn jemand ungefähr so
lebt, wie er’s sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Ich bewun
dere sie. Ich habe, offen gesprochen, nie daran geglaubt, daß
Philologie und Kunstgeschichte sich bezahlt machen. Dabei kann
man nicht einmal sagen, Hanna sei unfraulich. Es steht ihr, eine
Arbeit zu haben. Schon in der Ehe mit Joachim, scheint es, hat
sie stets gearbeitet, Übersetzungen und Derartiges, und in der
IEmigration sowieso. In Paris, nach ihrer Scheidung von Joachim,
arbeitete sie in einem Verlag. Als dann die Deutschen kamen,
Iloh sie nach England und sorgte allein für ihr Kind. Joachim
war Arzt in Rußland, somit zahlungsunfähig. Hanna arbeitete
als deutsche Sprecherin bei BBC.5 Heute noch ist sie britische
Staatsbürgerin.
...Obschon sie in den folgenden Jahren nicht ohne Männer
lebt, opfert sie ihr ganzes Leben für ihr Kind. Sie arbeitet in
Paris, später in London, in Ostberlin, in Athen. Sie flieht mit
ihrem Kind. Sie unterrichtet ihr Kind, wo es keine deutschsprachige
Schule gibt, selbst und lernt mit vierzig Jahren noch Geige, um
ihr Kind begleiten zu können. Nichts ist Hanna zuviel, wenn es
1 ...nur eine Sprache, die ihr immer unrecht gibt - ...только один язык, на
к»»юром она всегда не права.
2 ...wenn auch noch so elegant verkleidet - пусть даже так элегантно
t.i маскированные.
4 der Backfisch - девочка-подросток.
4 Ich finde es allerhand... - я считаю, что это немало...
5 ВВС - Би-Би-Си (английская радиостанция).
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 279
um ihr Kind geht.1. Sie pflegt ihr Kind in einem Keller, als die
Wehrmacht nach Paris kommt, und wagt sich auf die Straße,
um Medikamente zu holen. Hanna hat ihr Kind nicht verwöhnt;
dazu ist Hanna zu gescheit, finde ich, auch wenn sie sich selbst2
(seit einigen Tagen) immerzu als Idiotin bezeichnet. Warum ich
das gesagt habe? fragt sie jetzt immerzu. Damals: Dein Kind,
statt unser Kind. Ob als Vorwurf oder nur aus Feigheit? Ich
verstehe ihre Frage nicht. Ob ich damals gewußt hätte, wie
recht ich habe?3 Und warum ich neulich gesagt habe: Du be
nimmst dich wie eine Henne! Ich habe diesen Ausspruch schon
mehrmals zurückgenommen und widerrufen, seit ich weiß, was
Hanna geleistet hat; aber es ist Hanna, die nicht davon loskommt.4
Ob ich ihr verzeihen könne! Sie hat geweint, Hanna auf den
Knien, Hanna, die meine Hand küßt, dann kenne ich sie gar
nicht. Ich verstehe nur, daß Hanna, nach allem was geschehen
ist, Athen nie wieder verlassen wird, das Grab unseres Kindes...
Es ist Hanna schon schwer genug gefallen, das Mädchen allein
auf die Reise zu lassen, wenn auch nur für ein halbes Jahr. Hanna
hat immer schon gewußt, daß ihr Kind sie einmal verlassen wird;
aber auch Hanna hat nicht ahnen können, daß Sabeth auf dieser
Reise gerade ihrem Vater begegnet, der alles zerstört.
1Niehls ist Hanna zuviel, wenn es um ihr Kind geht - ничто не кажется ей
слишком трудным, когда речь идет о ее ребенке.
2 ...auch wenn sie sich selbst - пусть даже она сама...
3Ob ich damals gewußt hätte, wie recht ich habe? - Знал ли я тогда, насколько
я прав?
4 aber es ist. Hanna, die nicht davon loskommt - но Ханна никак не осво
бодится от этого.
279 M A X F R ISC H
B E A N TW O R TE N S IE FO LG END E FRAG EN :
Günter GRASS
(1927)
DIE LINKSHÄNDER
Erich beobachtet mich. Auch ich lasse kein Auge von ihm.
Beide halten wir Waffen in der Hand, und beschlossen ist, daß
wir diese Waffen gebrauchen, einander verletzen werden. Un
sere Waffen sind geladen. In langen Übungen erprobte, gleich
nach den Übungen sorgfältig gereinigte Pistolen haben wir vor
uns, das kühle Metall langsam erwärmend. Auf die Länge nimmt
sich solch ein Schießeisen harmlos aus... Nie darf in mir der
Gedanke reifen, Erichs Waffe könnte blind, harmlos, ein Spielzeug
sein. Auch weiß ich, daß Erich keine Sekunde an der Ernsthaf
tigkeit meines Werkzeuges zweifelt. Zudem haben wir, etwa
vor einer halben Stunde, die Pistolen auseinandergenommen, gerei
nigt, wieder zusammengesetzt, geladen und entsichert. Wir sind
keine Träumer. Zum Ort unserer unvermeidlichen Aktion haben
wir Erichs Wochenendhäuschen bestimmt. Da das einstöckige
Gebäude mehr als eine Wegstunde von der nächsten Bahnsta
tion, also recht einsam liegt, dürfen wir annehmen, daß jedes
unerwünschte Ohr, in des Wortes wahrer Bedeutung, weitab
2X1 GÜNTER G R A SS
' ...die ein verwandtes Gebrechen drückt - кого гнетет похожий недостаток.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 28 |
■...daß auch mir diese falale Ähnlichkeit mit einem dieser zweideutigen Lein
wandhelden anhaftet? - ... что мне тоже присуще это фатальное сходство
с одним из этих двусмысленных экранных персонажей?
2 auf Gedeih und Verderb - на веки вечные.
283 G Ü N TER G R ASS
Blicke treffen sich ruhiger und deshalb auch mutiger; wir zielen.
Jeder meint die gewisse Hand des anderen. Ich bin ganz sicher,
daß ich nicht fehlen werde; und auch auf Erich kann ich mich
verlassen. Zu lange haben wir geübt, fast jede freie Minute in
einer verlassenen Kiesgrube am Stadtrand zugebracht, um heu
te, da sich so vieles entscheiden soll, nicht zu versagen.
Ihr werdet schreien, das grenzt an Sadismus, nein, das ist
Selbstverstümmelung. Glaubt mir, all diese Argumente sind uns
bekannt. Nichts, kein Verbrechen haben wir uns nicht vorge
worfen. Wir stehen nicht zum ersten Mal in diesem ausgeräumten
Zimmer. Viermal sahen wir uns so bewaffnet, und viermal ließen
wir, erschreckt durch unser Vorhaben, die Pistolen sinken. Erst
heute haben wir Klarheit. Die letzten Vorkommnisse persönli
cher Art und auch im Vereinsleben geben uns recht, wir müssen
es tun. Nach langem Zweifel - wir haben den Verein, das Wol
len des extremen Flügels in Frage gestellt - greifen wir nun
endgültig zu den Waffen. So bedauerlich es ist, wir können nicht
mehr mitmachen. Unser Gewissen verlangt, daß wir uns von
den Gepflogenheiten der Vereinskameraden distanzieren. Hat
sich doch da ein Sektierertum breitgemacht, und die Reihen der
Vernünftigsten sind mit Schwärmern, sogar Fanatikern durch
setzt. Die einen himmeln nach rechts, die anderen schwören
auf links. Was ich nie glauben wollte, politische Parolen werden
von Tisch zu Tisch geschrien, der widerliche Kult des eidbedeu
tenden, linkshändigen Nägeleinschlagens wird so gepflegt, daß
manche Vorstandssitzung einer Orgie gleicht, in der es gilt, durch
heftiges und besessenes Hämmern in Ekstase zu geraten. Wenn
es auch niemand laut ausspricht und die offensichtlich dem Laster
Verfallenen bislang kurzerhand ausgestoßen wurden, es läßt sich
nicht leugnen: jene verfehlte und mir ganz unbegreifliche Liebe
zwischen Geschlechtsgleichen hat auch bei uns Anhänger ge
funden. Und um das Schlimmste zu sagen: Auch mein Verhält
nis zu Monika hat gelitten. Zu oft ist sie mit ihrer Freundin, einen
labilen und sprunghaften Geschöpf, zusammen. Zu oft wirft sie
287 G Ü N TER G R ASS
Siegfried LENZ
(1926)
VORGESCHICHTE
nur Unruhe, und die bestand darin, daß du dir selbst unwillkür
lich Rechenschaft gabst über das, was du in der vergange
nen Woche getan hattest.
Es ist verrückt, aber immer, wenn Bard mich so freimütig
anschaute, begann ich damit, mich zu rechtfertigen, und es er
ging nicht nur mir allein so. Schon an jenem Sonntag erhielt ich
einen Vorgeschmack davon: ich dachte nur an Vater und daran,
was ihn und Bard hätte verbinden können, und unwillkürlich tastete
ich mich durch Vaters Biographie auf der Suche nach einem
Erlebnis oder nach einer Begegnung, erinnerte mich an Namen,
die er genannt hatte - ich fand keinen Anhaltspunkt. Nie war
der Name Bards aufgetaucht, und gerade das machte uns be
sorgt, ließ uns zu gleicher Zeit eine unbestimmte Bedrohung
empfinden, Mutter nicht weniger als mich: während er dort un
ten lautlos mit Vater verhandelte, glaubte ich, daß er mit jeder
Minute mehr gewönne, und darum entschloß ich mich, ging hin
ab, klopfte an die Tür des Arbeitszimmers. Ich mußte mehrmals
klopfen, bis Vater öffnete; dann stand er vor mir in einer Hal
tung von unabänderlicher Resignation, müde, mitgenommen, mir
einem Blick, der sofort preisgab, was ich in ihm suchte: die Nie
derlage. Vater hatte verloren, das sah ich, ohne zu wissen, worum
es gegangen war, und ich fand die Bestätigung, als ich Bards
Gesicht im Hintergrund erkannte, das ebenmäßige Treibhaus
gesicht, das gezeichnet war von den Lichtgittern, die die Ja
lousien warfen. Und ich erhlielt die letzte Bestätigung, als Vater
tonlos sagte, daß sein Besucher zum Mittagessen bleibe, worauf
sich Bard ironisch-gehorsam verneigte.
Er blieb, Christina, mit einer Selbstverständlichkeit, als seien
wir ihm diese Einladung schuldig gewesen, und ich erinnere mich,
daß er uns während des Essens von einem seiner Freunde in
der Hauptstadt erzählte... Während Bard von diesem Freund
erzählte, beobachtete ich nur Vater, und ich sah, daß er grinste
und sich amüsierte - oder vorgab, sich zu amüsieren, so beflis
sen, weißt du, qualvoll bemüht; denn er konnte nie etwas an-
293 SIE G F R IE D L E N Z
Du wirst dir denken können, daß ich kein sehr gutes Gefühl
dabei hatte, als ich losfuhr, um in seiner Vergangenheit zu gra
ben, aber ich mußte erfahren, was es zwischen Vater und ihm
gab und woher Bards Einfluß stammte, ich mußte ihm auf die
Spur kommen. Dieser verdammte Wunsch führte mich schließlich
zu Bard selbst; denn dort, woher er gekommen war, erfuhr ich
nichts, obwohl ich verschiedene seiner Freunde ausfindig machte.
Sie alle schwiegen mit bedeutungsvollem Grinsen, sobald ich sie
nach Bard fragte.. Bard vermied es nicht, mir zu begegnen, aber
es schien ihm auch nichts daran zu liegen: eine gleichgültige,
etwas herablassende Höflichkeit war alles, was er mir entge
genbrachte. Es hatte den Anschein, als ob er von mir weder
etwas erwartete noch befürchtete.
...Heute weiß ich, daß Bard damals nichts anderes tat als
arbeiten, hartnäckig, umsichtig... Es verließ sich nie auf sein
Glück. Er mißtraute allen Geschenken des Zufalls. Was er gewann
oder eroberte, war immer ein Ergebnis seiner methodischen
Anstrengung; selbst die Aufmerksamkeit, mit der er Mutter be
handelte, lag ein Plan zugrunde.
Ich weiß nicht, Christina, warum ich so lange brauchte, um
ihn zu stellen1 - wahrscheinlich aber, weil ich mich insgeheim
vor dem fürchtete, was er zu erzählen hatte. Und als es dann
geschah... Bard wollte etwas sagen und wußte nicht wie; denn
sein Gesicht verriet, daß er meine Fragen kannte und Antworten
darauf bereit trug, nicht erst seit jenem Abend. Mag sein, daß
er meine Frage durch mein Schweigen aufnahm, jedenfalls sagte
er, bevor ich den Mund aufgemacht hatte, daß ich besser daran
getan hätte, zu ihm zu kommen, als mich bei seinen Freunden zu
erkundigen - wenn ich schon darauf aus sei, alles über ihn zu
erfahren.
Das sagte er ohne Vorwurf, Christina, auch ohne Spott...Wie
hätte ich mich schließlich ihm gegenüber rechtfertigen sollen
und je länger ich ihn suchte, desto wütender wurde ich, und
schließlich hatte ich den Verdacht, daß er mein Fest verlassen
hatte und in die Stadt gegangen war. Ich fragte alle - niemand
wußte, wo er war, und zuletzt, als ich an Bards Zimmer vor
beikam, sah ich dies Stück Papier an der Tür kleben, las in Vaters
penibler Handschrift die Worte: Herein, ich bin tot.
Sicher, Christina, es klang wie ein makabrer Witz, doch die
l ur war verschlossen, und als Bard sie gewaltsam öffnete...
Vater war tot. Bard schnitt ihn ab von seinem Gürtel, an dem er
sich erhängt hatte, Bard wollte ihn auffangen, doch Vater stürzte
auf ihn mit seinem ganzen Gewicht, drückte und zwang ihn nieder,
als ob er ihn endlich im Tod überwältigt hätte mit seinen schwe
ren, schlappen Armen...
Bald jährt sich sein Todestag, bald jährt sich auch der Tag
unserer Hochzeit, den wir nie gefeiert haben. Acht Jahre, Chris-
lina, und vielleicht sollte ich wieder anfangen, mich für die Verbin
dung zu interessieren, die zwischen Vater und Bard bestand:
was meinst du? In den letzten Jahren vergaß ich es offenbar.
Übrigens läuft Bards Zug jetzt bald ein; ich glaube, ich muß
mich fertigmachen und dann zur Bahn, um ihn abzuholen.
Kommst du mit, Christina?
B E A N T W O R T E N S IE FO LG END E FRAG EN :
Anna SEGHERS
(1900-1983)
Bei der Ankunft in Prag hatte Hoffmann noch ein paar Stunden
Z e it, bevor er das Cafe aufsuchen mußte, in dem er mit dem
unbekannten Freund verabredet war. Gogol hatte ihm geschrie-
Iн и, er wolle gern auf seiner Reise aus Italien nach der Ukraine
mit Hoffmann Zusammenkommen. Er hätte mit großem Genuß
Verschiedenes von ihm gelesen.
Auf der Karte fand Hoffmann die Straße, in der das angege
b ene Cafe lag. - Wie viele Geschichten er auch in seinem Le
ben geschrieben hatte und Leserbriefe empfangen, es lockte
ilm besonders stark, diesen Mann zu sehen. Ohnedies lag Dres
den, wo er manches besorgen mußte, nicht allzuweit von Prag.
A uch Gogol verlor nicht viel Zeit, wenn er von hier aus in sein
e i g n e s Land fuhr. Es mußte grenzenlos sein, dachte Hoffmann,
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 304
1 ...wie lästig es ist, beim Schreiben gestört zu werden - как тягостно, когда
мешают писать.
2 meine Zeit, leider, ist wirklich sehr knapp - у меня, к сожалению, дей-
i иштельно очень мало времени.
' kam ich auch nicht genug zum Schreiben - я писал слишком мало.
4 verzeihen Sie die Bitte eines Wildfremden - простите эту просьбу co-
мгршенно незнаком ом у человеку.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 30d
Und doch, wie Sie sehen, ich schreibe ein bißchen. Bin noch
mal hier in meinem Cafe und mache mir was vor.” - “Was heißt
denn das: Vormachen?” sagte Hoffmann, “ich hatte mir nichts
vorgemacht. Sondern beschlossen, bis zur letzten Minute zu
schreiben, obwohl oder vielleicht gerade weil es dem Innenmi
nister lieber gewesen wäre, ich hätte damit aufgehört.”1 . “Was
haben Sie im Leben getan, verehrter E.T.A., wenn Sie nicht
schrieben?”
“Musik liebe ich sehr. Nur Musik hat es fertiggebracht, mich
loszureißen vom Schreiben.2 Außerdem war mir mein Beruf
immer wieder von Nutzen. Früher, als man mich noch zu etwas
zwingen konnte, mußte ich Jura studieren.” - “Ich auch!” rief
Kafka. “Wo haben Sie studiert?” - “In Königsberg.” - “Dort
gab es den Professor Kant?” - “Ich glaube, den gab es. Ich
war aber nie in seinen Vorlesungen. Ich kannte ihn gar nicht.”
“Warum sind Sie jetzt in Prag?” - “Ich bin mit einem Dichter
berabredet. Ein Mann, der mehr kann als ich und vielleicht auch
als Sie. Denn Sie haben mir immer noch nicht meinen Wunsch
erfüllt und mir wenigstens eine halbe Seite vorgelesen. Der Schrift
steller, der gleich kommen wird, heißt Gogol. Er ist Russe. Er
schrieb einen wunderbar wunderlichen Roman, “Die toten
Seelen”. Kennen Sie dieses Buch?” - “Gewiß!” rief Kafka.
“Und wie ich’s bewundere. Sein Land ist sicher so grenzenlos,
und seine Bewohner sind herrlich und bodenlos im Guten und
Schlechten wie in ihren Wünschen.3 Ich hab mir immer ge
wünscht, diesen Gogol einmal im Leben zu sehen. Ich liebe auch
viele Geschichten, die er schrieb. “Der Mantel”, “Die Nase”,
sein Theaterstück “Der Revisor”.
1 ...obwohl oder vielleicht gerade weil es dem Innenminister lieber gewesen
wäre, ich hätte damit aufgehört - хотя или, скорее, именно потому, что министр
внутренних дел предпочел бы, чтобы я с этим покончил.
2 nur Musik hat es fertiggebracht, mich loszureißen vom Schreiben - только
музыке удавалось оторвать меня от письма.
3 und seine Bewohner sind herrlich und bodenlos im Guten und Schlechten
wie in ihren Wünschen - а ее жители великолепны и не знают меры в добре
и зле и в своих желаниях.
ANNA SEGHERS
---------------------------------------------------------------------------------- «X
...Ein Fremder war an ihren Tisch getreten. Er hatte die Hände
auf Hoffmanns Schultern gelegt. Er sagte auf französisch: “Sie
sind sicher Hoffmann.” Sie umarmten sich. Schweigend, sehr
aufmerksam sah Kafka der Begrüßung zu. Gogols Gesicht, ob
wohl er es von der Abbildung kannte, enttäuschte ihn. Es mißfiel
ihm. Gekünstelt einfach kam es ihm vor1 - sein Schnurrbart,
seine spitzen Augen, seine Kleidung mit vielen Knöpfen, als seien
die Augen wie Knöpfe aufgereiht. Er hätte ihn für einen Ober-
lorster gehalten oder irgendeinen Beamten dieser Art, wenn er
nicht gewußt hätte, daß einer der ganz großen Dichter Ruß
lands vor ihm stand.
ln einem Gemisch von Sprachen unterhielten sich Hoffmann
und Gogol. Kafka verstand ein gut Teil, da er nicht nur Deutsch,
sondern auch Tschechisch sprach und etwas Französisch. Doch
I loffmann war immer besorgt um Kafka, als kenne er ihn seit
Jahren, und übersetzte ihm, was wichtig war. Er sagte dazwi
schen: “Gogol ist von Reisefieber gepackt.2 Oft bin ich es auch.
IJald ist er in Deutschland zur Kur, bald in der Schweiz. Bald
lalirt er nach Rom, bald nach Paris. Die Sprachen, wo er auch
durchfahrt, scheinen einfach an ihm hängenzubleiben. Unter
wegs schrieb er an dem Roman von den “Toten Seelen”, dem
großen Kunstwerk.” - Gogol sagte: “In Paris erfuhr ich Pusch-
kms Tod. Die Idee zu diesem Roman hat er mir geschenkt.”
Das sagt er, dachte Kafka, obwohl ihm seine Freunde, Popen
und Adlige, die Liebe zu Puschkin austreiben wollen.
Mit dünnen Lippen fuhr Gogol fort: “Man muß gerecht zu
den Toten sein. Übrigens ist der Roman durchaus nicht wunder-
It.ir. Wenn ich wieder daheim bin, werde ich die neuen Kapitel
/t i ieißen, denn ich sehe ein, daß sie nicht viel taugen.” - “Nichts
i.uigcn?” riefen Hoffmann und Kafka zugleich.
“Das reden Sie sich nur ein”, sagte Kafka, “oder man redet
es Ihnen ein. Die einen loben ein Buch bis zum Himmel, die
anderen lassen daran kein gutes Haar”.1
“Es kommt darauf an, wer es lobt und wer es verdammt.”
Gogol betrachtete Kafka ein wenig spöttisch, als dächte er: Was
ist denn das für ein Bürschlein?
Kafka dachte: Auch ich will nichts übriglassen von meiner
Arbeit, aber aus einem völlig anderen Grund. Man muß sie ver
nichten, wenn ich gestorben bin. Die Leute werden nur alles
mißverstehen, und ich werde mich nicht mehr wehren können.
Hoffmann betrachtete Gogol aufmerksam, und er dachte:
Warum aber, im Grunde genommen, so viel Wesens um die
Nachwelt?2 Doch dieser Mann wird wirklich die letzten Kapitel
vernichten. Aus Angst vor der Hölle, mit der ihm die Popen
drohen. Ja, wird er. Jetzt ist er ein anderer geworden, als er in
der Zeit war, in der er den Roman schrieb. Warum hat er sich
verändert? Was ist mit ihm los?
Gogol fuhr fort: “Jeder hat Schuld an dem, was er schreibt.
Am Jüngsten Tag muß jeder dafür geradestehen”.3
“Woran sollten Sie schuld sein in diesem Roman?” rief Hoff
mann, “schuldig nenne ich die, die Sie hindern wollen, die Wahr
heit zu schreiben. Auch mich hat man oft hindern wollen. Was
die Leute für pure Phantasie halten, kann manchmal auch ein
Stück handfeste Wirklichkeit enthalten. Mir hat man die letzte
Lebenszeit verbittert, weil ich in dem Märchen “Meister Floh”
den Innenminister und seine Gehilfen verhöhnte. Mein Verleger
hat die betreffenden Stellen herausnehmen müssen... Hoffent
lich werden sie eines Tages in irgendeiner Nachausgabe wieder
eingesetzt.”
1 ...die anderen lassen daran kein gutes Haar - другие разбирают его по
косточкам.
2 warum ... so viel Wesens um die Nachwelt? - почему столько шумихи
вокруг грядущих поколений?
3 Am Jüngsten Tag muß jeder dafür geradestehen - в день Страшного суда
каждый ответит за это.
309 ANNA SEGHERS
1 nach dem Tode Akakis krallt sich nachts sein Gespenst in den Mantel des
m .« *tsrats - после смерти Акакия ночью его призрак впивается в шинель
< I н е к о го советника.
von Schrecken gepackt - охваченные страхом.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 312
Wir drei, wir säßen hier doch gar nicht beisammen an diesem,
Tisch, wenn wir ernstlich die Zeit einhalten würden.1 War ich
nicht lange vor Ihnen, Gogol, geboren? Und Sie, Gogol, fast hundert
Jahre vor Kafka?”
Kafka sagte halb zu sich selbst: “Die Zeit ist unbedingt ver
bunden mit meinem Leben und Schreiben. Gesichter brauchen
meine Gestalten nicht, die können die Leser sich selbst ausden
ken. Mich geht ihr Verhalten an, ihre Gemütsart in einer bestim
mten Lage... Ich kann mich aber hineindenken, wie es einem
zumut ist, wenn eine rätselhafte Macht einen bedroht.”2
...Gogol sagte: “Als Schuljunge, da saugte ich alles in mich
auf, was ich von den Dekabristen hörte. Und später, als ich
Dichter war, war es nicht eigentlich meine Absicht, zwischen
Recht und Unrecht zu unterscheiden, zwischen arm und reich;
es kam von selbst, wenn ich der Wirklichkeit treu blieb.”
Das sagst du. Dabei wagst du es nicht mehr, dachte Hoff
mann, deinen Lehrer, deinen Freund Belinski, öffentlich zu tref
fen. Jetzt hast du Angst, jemand von deinen adligen Freunden
könnte dich mit ihm zusammen sehen.
Er sagte: “Ich flehe Sie geradezu an, nichts zu verändern3 an
Ihrem Buch “Die toten Seelen”, es zeigt für immer und ewig die
Wahrheit über das Leben der Menschen während der Leibeigen
schaft... Beinah vollkommen erscheint mir die Einheit von Wort
und Inhalt am Ende der “Toten Seelen”.
“Was Sie jetzt Ende nennen”, sprach Gogol dazwischen, “wird
einmal ein Mittelstück sein!”
Hoffentlich nicht, dachte Hoffmann, und Kafka dachte: Es
ist nicht schlecht für die Kunst, wenn du das angeklebte Ende
Lesen Sie, was ich schrieb, als mich der Tod schon umzin
gelt hatte,1 lesen Sie mal eine meiner letzten Geschichten, “Des
Vetters Eckenfenster”.
“Die kenn ich”, sagte Kafka, und er dachte: Dieser Hoff
mann hat Mut. Mit all seinen Zaubereien, mit all seinem Spuk -
gelähmt, ohne sich bewegen zu können, hat er über sich selbst
wie über einen Dritten geschrieben, der aus dem Eckfenster den
Markt beobachtet und all die Leute, die da unten herumgehen.
“Halt! Halt!” sagte Gogol. “Sie bringen es vielleicht fertig,
sich nicht an den Ablauf derZeit zu halten.2 Sie müssen sich
aber auf jeden Fall an die Wirklichkeit halten.”
“Gewiß”, sagte Hoffmann, “an was sonst? Symbolische oder
phantastische Darstellungen, Märchen und Sagen wurzeln doch
irgendwie in der Wirklichkeit. Genausogut wie greifbare Dinge.
I an richtiger Wald gehört zur Wirklichkeit, doch auch ein Traum
von einem Wald. Entstand das Hexenhäuschen von Hänsel und
( iietel3 vielleicht nicht aus der Wirklichkeit? Ich sage euch: aus
der bittersten Wirklichkeit, als Eltern im Dreißigjährigen Krieg
ihre eigenen Kinder in den wilden Wald schickten, damit sie
nicht vor ihren Augen verhungern”.
Gogol sagte: “Sie haben sehr viel gesprochen. Ich will über
alles nachdenken -”
Er stand auf: “Ich muß leider jetzt gehen, denn ich habe ein
Icsies Reiseprogramm. Es hat mir gutgetan, mit euch zusam
men zu sein.”
Er rief den Kellner: “Tut mir leid, ich hab kein tschechisches
( КId.”
1 als mich der Tod schon umzingelt hatte - когда смерть уже окружила
М. ПЯ.
’ Sie bringen es vielleicht fertig, sich nicht an den Ablauf der Zeit zu halten
но ш ожно, Вам удается не считаться с течением времени.
' das Hexenhäuschen von Hänsel und Gretel - домик колдуньи из сказки
1 п п ел ь и Гретель” (в обработке братьев Гримм), в которой родители
•и 1 .1 иляют своих детей в лесу, чтобы не умереть всем вместе от голодной
»игр! и.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 316
DAS D IC K E K IN D
mir gerichtet hatte, ins Zimmer zu tragen. Kurz vorher hatte ich
einen Besuch gehabt und dieser mußte wohl vergessen haben,
die Eingangstür zu schließen. So kam es, daß das dicke Kind
ganz plötzlich vor mir stand, gerade als ich das Tablett auf den
Schreibtisch niedergestellt hatte und mich umwandte, um noch
etwas in der Küche zu holen. Es war ein Mädchen von viel
leicht zwölf Jahren, das einen altmodischen Lodenmantel und
schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte und an einem Riemen
ein Paar Schlittschuhe trug, und es kam mir bekannt, aber doch
nicht richtig bekannt vor,1 und weil es so leise hereingekommen
war, hatte es mich erschreckt.
Kenne ich dich? fragte ich überrascht.
Das dicke Kind sagte nichts. Es stand nur da und legte die
Hände über seinem runden Bauch zusammen und sah mich mit
seinen wasserhellen Augen an.
Möchtest du ein Buch? fragte ich.
Das dicke Kind gab wieder keine Antwort... Ich war es ge
wohnt, daß die Kinder schüchtern waren und daß man ihnen
helfen mußte. Also zog ich ein paar Bücher heraus und legte sie
vor das fremde Mädchen hin. Dann machte ich mich daran,
eine der Karten auszufüllen, auf welchen die entliehenen Bü
cher aufgezeichnet wurden.
Wie heißt du denn? fragte ich.
Sie nennen mich die Dicke, sagte das Kind.
Soll ich dich auch so nennen? fragte ich.
Es ist mir egal, sagte das Kind. Es erwiderte mein Lächeln
nicht, und ich glaube mich jetzt zu erinnern, daß sein Gesicht
sich in diesem Augenblick schmerzlich verzog.
Aber ich achtete darauf nicht.
Wann bist du geboren? fragte ich weiter.
Im Wassermann,2 sagte das Kind ruhig.
Diese Antwort belustigte mich und ich trug sie auf der Karte
ein, spaßerhalb gewissermaßen, und dann wandte ich mich wieder
den Büchern zu.
Möchtest du etwas Bestimmtes? fragte ich.
Aber dann sah ich, daß das fremde Kind gar nicht die Bü
cher ins Auge gefaßt,1 sondern seine Blicke auf dem Tablett
ruhen ließ, auf dem mein Tee und meine belegte Brote standen.
Vielleicht möchtest du etwas essen, sagte ich schnell.
Das Kind nickte, und in seiner Zustimmung lag etwas wie
ein gekränktes Erstaunen darüber, daß ich erst jetzt auf diesen
Gedanken kam. Es machte sich daran, die Brote eins nach dem
ändern zu essen. Dann saß es wieder da und ließ seine trägen
kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es lag etwas in
seinem Wesen, das mich mit Ärger und Abneigung erfüllte. Ja
gewiß, ich habe dieses Kind von Anfang an gehaßt. Alles an
ihm hat mich abgestoßen, seine trägen Glieder, sein hübsches,
fettes Gesicht, seine Art zu sprechen, die zugleich schläfrig und
anmaßend war. Und obwohl ich mich entschlossen hatte, ihm
zuliebe meinen Spaziergang aufzugeben, behandelte ich es doch
keineswegs freundlich, sondern grausam und kalt.
Oder soll man es etwa freundlich nennen, daß ich mich nun
an den Schreibtisch setzte und meine Arbeit vornahm und über
meine Schulter weg sagte, lies jetzt, obwohl ich doch ganz genau
wußte, daß das fremde Kind gar nicht lesen wollte? Und dann
saß ich da und wollte schreiben und brachte nichts zustande,2
weil ich ein sonderbares Gefühl der Peinigung hatte, so, wie
wenn man etwas erraten soll und errät es nicht, und ehe man es
nicht erraten hat, kann nichts mehr so werden, wie es vorher
war. Und eine Weile lang hielt ich das aus, aber nicht sehr lange,
und dann wandte ich mich um und begann eine Unterhaltung,
und es fielen mir nur die törichsten Fragen ein.
Hast du noch Geschwister? fragte ich.
1 ...gar nicht die Bücher ins Auge gefaßt - смотрит совсем не на книги.
2 und brachte nichts zustande - и ничего не выполнила.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 320
hatte Lust, das Kind mit meinen Händen aus dem Zimmer zu
stoßen, wie man ein lästiges Tier vertreibt. Aber dann stieß ich
es nicht aus dem Zoimmer, sondern sprach nur wieder mit ihm,
und wieder auf dieselbe grausame Art.
Gehst du jetzt aufs Eis, fragte ich.
Ja, sagte das dicke Kind.
Kannst du gut Schlittschuhlaufen? fragte ich und deutete auf
die Schlittschuhe, die das Kind noch immer am Arm hängen
hatte.
Meine Schwester kann gut, sagte das Kind, und wieder er
schien auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Schmerz und Trauer
und wieder beachtete ich ihn nicht.
Wie sieht deine Schwester aus? fragte ich. Gleicht sie dir?
Ach nein, sagte das dicke Kind. Meine Schwester ist ganz
dünn und hat schwarzes, lockiges Haar. Im Sommer, wenn wir
auf dem Land sind, steht sie nachts auf, wenn ein Gewitter
kommt, und sitzt oben auf der obersten Galerie auf dem Geländer
und singt.
Und du? fragte ich.
Ich bleibe im Bett, sagte das Kind. Ich habe Angst.
Deine Schwester hat keine Angst, nicht wahr? sagte ich.
Nein, sagte das Kind. Sie hat niemals Angst. Sie springt auch
vom obersten Sprungbrett Sie macht einen Kopfsprung, und dann
schwimmt sie weit hinaus...
Was singt deine Schwester denn? fragte icn neugierig.
Sie singt, was sie will, sagte das dicke Kind traurig. Sie macht
Gedichte.
Und du? fragte ich.
Ich tue nichts, sagte das Kind. Und dann stand es auf und
sagte, ich muß jetzt gehen. Ich streckte meine Hand aus, und es
legte seine dicken Finger hinein, und ich weiß nicht genau, was
ich dabei empfand, etwas wie eine Aufforderung, ihm zu folgen,
einen unhörbaren dringlichen Ruf. Komm einmal wieder, sagte
1 1 . Читаем п о-н ем е ц к и
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И ъгг
ich, aber es war mir nicht ernst damit,1 und das Kind sagte!
nichts und sah mich mit seinen kühlen Augen an. Und dann war
es fort, und ich hätte eigentlich Erleichterung spüren müssen.
Aber kaum, daß ich die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte,2
lief ich auch schon auf den Korridor hinaus und zog meinen
Mantel an. Ich rannte ganz schnell die Treppe hinunter und er
reichte die Straße in dem Augenblick, in dem das Kind um die
nächste Ecke verschwand.
Ich muß doch sehen, wie diese Raupe Schlittschuh läuft,
dachte ich. Ich muß doch sehen, wie sich dieser Fettkloß3 auf
dem Eise bewegt. Und ich beschleunigte meine Schritte, um
das Kind nicht aus den Augen zu verlieren.
Es war am frühen Nachmittag gewesen, als das dicke Kind'
zu mir ins Zimmer trat, und jetzt brach die Dämmerung herein.
Obwohl ich in dieser Stadt einige Jahre meiner Kindheit ver
bracht hatte, kannte ich mich doch nicht mehr gut aus, und während
ich mich bemühte, dem Kinde zu folgen, wußte ich bald nicht
mehr, welchen Weg wir gingen, und die Straßen und Plätze, die
vor mir auftauchten, waren mir völlig fremd. Ich bemerkte auch
plötzlich eine Veränderung in der Luft. Es war sehr kalt gewe- !
sen, aber nun war ohne Zweifel Tauwetter eingetreten und mit
so großer Gewalt, daß der Schnee schon von den Dächern tropfte
und am Himmel große Wolken ihres Weges zogen. Wir kamen
von der Stadt hinaus, dorthin, wo die Häuser von großen Gärten ,
umgeben sind, und dann waren gar keine Häuser mehr da, und
dann verswchwand plötzlich das Kind und tauchte eine Böschung
hinab.4 Und wenn ich erwartet hatte, nun einen Eislaufplatz vor
mir zu sehen, helle Buden und Bogenlampen und eine glitzernde
Fläche voll Geschrei und Musik, so bot sich mir jetzt ein ganz
anderer Anblick. Denn dort unten lag der See, von dem ich
1 es war mir nicht ernst damit - но я сказала это не всерьез.
2 aber kaum, daß ich die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte - но еще прежде
чем я услышала, как захлопнулась дверь квартиры.
3 der Fettkloß - зд.: жирная туша.
4 ...tauchte eine Böschung hinab - вновь появилась под откосом.
323 M A R IE L U IS E K A S C H N IT Z
Nein gewiß, sie hörten sie nicht. Denn sonst hätte sich die
Dicke, dieses ängstliche Geschöpf, nicht auf den Weg gemacht,
sie wäre nicht mit ihren kratzigen unbeholfenen Stößen immer
weiter hinausgestrebt,1 und die Schwester draußen hätte nicht
gewinkt und gelacht und sich wie eine Ballerina auf der Spitze
ihres Schlittschuhs gedreht, um dann wieder ihre schönen Ach
ter zu ziehen, und die Dicke hätte die schwarzen Stellen ver
mieden, vor denen sie jetzt zurückschreckte, um sie dann doch
zu überqueren, und die Schwester hätte sich nicht plötzlich hoch
aufgerichtet und wäre nicht davongeglitten, fort, fort, einer der
kleinen einsamen Buchten zu...
Ich konnte das Gesicht des dickes Kindes sehen, das einen
dumpfen und zugleich sehnsüchtigen Ausdruck hatte. Ich konnte
auch die Risse sehen, die jetzt überall aufbrachen und aus denen
wie Schaum vor die Lippen des Rasenden, ein wenig schäu
mendes Wasser trat. Und dann sah ich natürlich auch, wie unter
dem dicken Kinde das Eis zerbrach. Denn das geschah an der
Stelle, an der die Schwester vordem getanzt hatte und nur weni
ge Armlängen vor dem Ende des Stegs.
Ich muß gleich sagen, daß dieses Eisbrechen kein lebens
gefährliches war. Der See gefriert in ein paar Schichten, und
die zweite lag nur einen Meter unter der ersten und war noch
ganz fest. Alles, was geschah, war, daß die Dicke einen Meter
tief im Wasser stand, im eisigen Wasser freilich, aber wenn sie
nur ein paar Schritte durch das Wasser watete, konnte sie den
Steg erreichen und sich dort hinaufziehen, und ich konnte ihr
dabei behilflich sein. Aber ich dachte trotzdem gleich, sie wird
es nicht schaffen, und es sah auch so aus, als ob sie es nicht
schaffen würde, wie sie da stand, zu Tode erschrocken, und nur
ein paar unbeholfene Bewegungen machte, und das Wasser
strömte um sie herum, und das Eis unter ihren Händen zerbrach.
1sie wäre nicht mit ihren kratzigen unbeholfenen Stößen immer weiter hinaus-
gestrebt - она бы не стремилась все дальше своими скребущими бес
помощными толчками.
3*5 M A R IE L U IS E K A S C H N IT Z
Der Wassermann, dachte ich, jetzt zieht er sie hinunter, und ich
spürte gar nichts dabei, nicht das geringste Erbarmen und rührte
mich nicht.
Aber nun hob die Dicke plötzlich den Kopf, und weil es jetzt
vollends Nacht geworden und der Mond hinter den Wolken er
schienen war, konnte ich deutlich sehen, daß etwas in ihrem
Gesicht sich verändert hatte. Es waren dieselben Züge und doch
nicht dieselben, aufgerissen waren sie von Willen und Leiden
schaft, als ob sie nun, im Angesicht des Todes, alles Leben tränken,
alles glühende Leben der Welt. Ja, das glaubte ich wohl, daß
der Tod nahe und dies das letzte sei, und beugte mich über das
Geländer und blickte in das weiße Antlitz unter mir, und wie ein
Spiegelbild sah es mir entgegen aus der schwarzen Flut. Da
aber hatte das dicke Kind den Pfahl erreicht. Es streckte die
Hände aus und begann sich heraufzuziehen... Sein Körper war
zu schwer, und seine Finger bluteten, und es fiel wieder zurück,
aber nur, um wieder von neuem zu beginnen. Und es war ein
langer Kampf, ein schreckliches Ringen um Befreiung und Ver
wandlung, wie das Ausbrechen einer Schale oder eines Gespin
stes,1 dem ich da zusah, und jetzt hätte ich dem Kinde wohl
helfen mögen, aber ich wußte, ich brauchte ihm nicht mehr zu
helfen2- ich hatte es erkannt...
An meinen Heimweg an diesem Abend erinnere ich mich
nicht. Ich weiß nur, daß ich auf unserer Treppe einer Nachbarin
erzählte, daß es noch jetzt ein Stück Seeufer gäbe mit Wiesen
und schwarzen Wäldern, aber sie erwiderte mir, nein, das gäbe
es nicht. Und daß ich dann die Papiere auf meinem Schreibtisch
durcheinandergewühlt fand und irgendwo dazwischen ein altes
Bildchen, das mich selbst darstellte, in einem weißen Wollkleid
mit Stehkragen, mit hellen wässrigen Augen und sehr dick.
1 wie das Ausbrechen einer Schale oder eines Gespinstes - как прорывание
оболочки или паутины.
2 aber ich wußte, ich brauchte ihm nicht mehr zu helfen - но я знала, что
больше не должна помогать ему.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 326
Christa WOLF
(1929)
Als er damals vor zwei Jahren in unser Dorf kam, fiel er mir
sofort auf. Manfred Herrfurth. Er wohnte bei einer Verwandten,
die vor niemandem Geheimnisse hatte. Da wußte ich bald so
gut wie jeder andere, daß der junge Mann ein studierter Chemiker
war und daß er sich im Dorf erholen wollte. Vor seiner Dok
torarbeit, unter der dann stand: „Mit Auszeichnung“. Ich hab’s
selbst gesehen. Aber das kommt später.
Wenn Rita, die mit Mutter und Tante in einem winzigen Häus
chen am Waldrand lebte, früh ihr Rad bergauf bis zur Chaussee
schob, stand der Chemiker halbnackt bei der Pumpe hinter dem
Haus seiner Kusine und ließ sich das kalte Wasser über Brust
und Rücken laufen. Rita sah prüfend zu dem blauen Himmel
hoch, in das klare Morgenlicht, ob es angetan war, einem über
arbeitenden Kopf Entspannung zu geben.
Sie war zufrieden mit ihrem Dorf: Rotdächrige Häuser in
kleinen Gruppen, dazu Wald und Wiese und Feld und Himmel in
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 328
* * *
Rita weiß seit ihrem fünften Jahr, daß man immer auf eine
plötzliche Veränderung des ganzen Lebens gefaßt sein muß.
Dunkel erinnert sie sich an ihre frühe Kindheit in einem blaugrünen
hügligen Land, an das Auge des Vaters mit dem eingeklemmten
Vergrößerungsglas, an den feinen Pinsel in seiner Hand, der
flink und genau winzig kleine Muster auf Mokkatassen malte,
aus denen Rita niemals einen Menschen trinken sah.
Ihre erste große Reise fiel fast genau mit dem Ende des
Krieges zusammen und führte sie inmitten trauriger, wütender
Menschen für immer fort aus den böhmischen Wäldern. Die
Mutter wußte eine Schwester des Vaters in einem mitteldeut
schen Dorf. An ihre Tür klopften sie eines Abends wie Schiff
brüchige. Sie fanden Einlaß, Bett und Tisch, ein enges Zimmer
für die Mutter, eine weißgetünchte Kammer für Rita. Und sooft
die Mutter in der ersten Zeit sagte: Hier bleibe ich nicht, nie und
nimmer! - sie blieben, an die allgemeine Not und an die unsinni
ge Hoffnung gefesselt, eines Tages werde doch eine Nachricht
vom Vater, der an der Front vermißt war, dieses sichere kleine
Haus erreichen.
Wie die Hoffnung schwand und an ihre Stelle Trauer trat,
dann schmerzende Erinnerung, vergingen die Jahre. Rita lernte
in diesem Dorf lesen und schreiben, sie lernte die Abzählreime
der einheimischen Kinder und die altüberlieferten Mutproben
am Bach. Die Tante war trocken und genau, ihr Leben, an dieses
Häuschen gekettet, hatte ihr großes Glück und großes Unglück
versagt, hatte ihr jeden Tropfen Sehnsucht ausgesogen und zu
letzt sogar den Neid auf andere in ihr getilgt. Sie pochte auf ihr
331 CH RISTA W OLF
Besitzrecht an den zwei Stuben und der Kammer, aber sie liebte
das Kind auf ihre Weise.
Den Platz auf dem Herd und die Liebe des Kindes zu teilen,
kostete der Mutter mehr Kraft, als sie Rita ahnen ließ. Rita war
anhänglich und aufgeschlossen, jedermann war freundlich zu
ihr, jedermann glaubte sie zu kennen. Aber worüber sie sich
wirklich freute und woran sie wirklich litt, das zeigte sie keinem.
Der junge Lehrer, der später in ihr Dorf kam, sah, daß sie oft
einsam war. Er gab ihr Bücher und nahm sie auf seine Streif
züge in die Umgebung mit. Er wußte auch, was es ihr kostete,
die Schule zu verlassen und in dieses Büro zu gehen. Aber sie
blieb starrsinnig bei ihrem Entschluß. Uiretwegen hatte die Mutter
auf den Feldern und dann in der Textilfabrik gearbeitet. Da sie
krank war, hatte nun ihre Tochter die Pflicht, für sie zu sorgen.
„Sie werden’s noch manchesmal schwer haben“, sagte der Lehrer.
Er war wütend auf sie.
Rita war damals siebzehn Jahre alt. Starrsinn ist gut, wenn
man gegen sich selbst angehen muß, aber ewig hält er nicht vor.
Etwas anderes ist es, mutig einen unangenehmen Entschluß zu
fassen, ein Opfer, meinetwegen - etwas anderes, dann Tag für
Tag in einem engen Büro zu sitzen, allein (denn wieviel Ange
stellte brauchte schon so eine kleine ländliche Zweigstelle von
einer großen Versicherung?); tagtäglich Zahlenreihen in end
lose Listen zu schreiben und mit immer den gleichen Worten
immer die gleichen säumlichen Zahler an ihre Pflichten zu erin
nern. Gelangweilt sah sie die Autos kommen, denen anleitende,
lobende, tadelnde Männer für ihr Büro entstiegen - immer die
gleichen. Gelangweilt sah sie sie wieder wegfahren.
Einst hatte der junge, blasse, begeisterte Lehrer ihre Ansprüche
an das Leben bestärkt: Sie erwartete Außerordentliches, außer
ordentliche Freuden und Leiden, außerordentliche Geschehnisse
und Erkenntnisse. Das ganze Land war in Unruhe und Auf
bruchstimmung (das fiel ihr nicht auf, sie kannte es nicht anders);
aber wo blieb einer, der ihr half, einen winzigen Teil dieses großen
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 332
wirklich rasend schnell, wenn sie mit ihm zusammen war. „Wir
lassen den Roman einfach ablaufen.“
„Zum Beispiel?“ fragte er gespannt.
„Zum Beispiel sagt die Heldin jetzt zum Helden: Komm, wir
steigen in den blauen Bus ein, der da gerade um die Ecke biegt.
Dann bring ich dich nach Hause, und du kommst mit mir zu
meinen Leuten, die noch keine Ahnung haben, daß es dich gibt,
und die dich kennenlernen müssen, damit sie dich zur Weih
nachtsgans einladen können. Genug Handlung für einen Tag?“
In der Schaufensterscheibe begegnete sie seinen Blick.
„Genug“, sagte er überrascht. „Übergenug. Das hast du gut
gemacht...“
Sie lachten ein bißchen und stiegen dann in den blauen Bus
ein, der vor der Schaufensterscheibe hielt, und sie brachte ihn
zu seiner Kusine, und er begleitete sie zu ihren Leuten, die fast
keine Ahnung hatten, daß es ihn gab, und die ihn minutenlang
schweigend musterten. Sehr männlich, dachte die Tante, aber
zu alt für das Kind. Ein Chemiedoktor, dachte die Mutter. Wenn
er sie nimmt, hat sie ausgesorgt, und ich kann beruhigt sterben.
Und beide sagten gleichzeitig: „Kommen sie Weihnachten zum
Gänsebraten?“
Wenn Rita heute daran denkt: Weihnachten in dem verschneiten
Dörfchen - denn zu Heiligabend war Schnee gefallen, wie es
sein muß - und sie gingen ganz still, Arm in Arm, die einsame
Dorfstraße hinunter, dann fragt sie sich: Wann war es noch ein
mal so? Wann kann es noch mal so sein? Die beiden Hälften
der Erde paßten ganz genau ineinander, und auf der Nahtstelle
spazierten sie, als wäre es nichts.
Vor ihrer Haustür zog Manfred einen schmalen silbernen
Armreifen aus der Tasche und gab ihn ihr, ungeschickter, als er
je einem Mädchen etwas geschenkt hatte. Rita hatte längst be
griffen, daß ein für allemal sie die Geschicktere sein mußte. Sie
zog ihre Hände aus den dicken Wollhandschuhen, die in den
Schnee fielen, und legte sie an Manfreds kalte Wange. Er hielt
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 334
ganz still und sah sie an. „Warm und weich und braun“, sagte er
und blies ihr die Haare aus dem Gesicht. Das Blut schoß ihm in
die Augen, er blickte weg.
„Sieh mich ruhig an“, sagte sie leise.
„So?“ fragte er.
„So“, erwiderte Rita.
Sein Blick hatte sie getroffen wie ein Stoß. Den ganzen Abend
lang mußte sie verbergen, daß ihre Hände zitterten, dann hatte
er es doch gemerkt und lächelte, und sie verdachte ihm das
Lächeln, obwohl sie ihn weiter und weiter ansehen mußte. Sie
war ein wenig zu lebhaft, aber die Tante und die Mutter hatten
nie erfahren oder längst vergessen, wie ein Mädchen beklem
mende Liebe zu verbergen suchte. Sie sorgten sich um das Gelingen
des Bratens.
Später hob man die Gläser und trank einander zu. „Auf Ihr
Examen“, sagte die Mutter zu Manfred. „Daß alles gur geht.“ -
„Auf die lieben Eltern“, versuchte es die Tante. Sie hatte bis
jetzt zu wenig von dem jungen Mann erfahren.
„Danke“, sagte er trocken. Rita könnte heute noch lachen
über sein Gesicht. Er war damals neunundzwanzig Jahre alt und
eignete sich ein für allemal nicht für den liebevollen Schwieger
sohn. Er sagte: „Heut nacht hab ich geträumt, wir feiern zu Hause
Weihnachten. Mein Vater, hab ich geträumt, hebt sein Glas und
trinkt mir zu. Da hab ich - im Traum! - alle Teller und Gläser,
die ich zu fassen kriegte, nacheinander an die Wand geschmis
sen.“
„Mußt du die Menschen so erschrecken?“ fragte Rita ihn
später an der Gartenpforte.
Er zuckte die Achseln. „Warum erschrecken sie?“
„Dein Vater...“
„Mein Vater ist ein deutscher Mann. Im ersten Krieg hat er
durch den Verlust eines Auges für den zweiten vorgesorgt. So
macht er’s heute noch: Opfere ein Auge, behalte das Leben.“
„Du bist ungerecht.“
335 C H R ISTA W OLF
* * *
versuchte er, sich zu lösen, bis er einsah, daß dies nicht in seiner
Macht lag.
Er war mißtrauisch. Er prüfte Rita auf verschiedene Weise.
Sie bestand jede Probe, lächelnd und unbewußt. Gerade daß sie
ihre Vorzüge nicht kannte, gewann ihn, der alles an ihr für sie
beide entdeckte. Er war wütend, daß sie Hoffnungen weckte,
die er begraben hatte. Dann gab er sich zögernd der Hoffnung
hin...
Das Leben hat vor ihnen gelegen, und sie hatten darüber zu
befinden. Alles war möglich, nur daß sie sich wieder verloren,
war unmöglich.
Alfred ANDERSCH
(1914-1980)
TOCHTER
Nach der Abfahrt hatte Dr. Wenger noch eine Weile die
“Times” gelesen. Er hatte das Blatt im Basler Bahnhof gekauft,
um nachzusehen, was in London los war. Vielleichet würde er
an dem einen Abend, der ihm blieb, wenn er Therese in Oxford
abgeliefert hatte, ins Theater gehen.
Sie lagen sich auf den unteren Bänken gegenüber, er und
Therese, mit Wolldecken zugedeckt.
“Es hat was von einer Skihütte, findest du nicht?” hatte er
gesagt.
“Ich kann Skihütten nicht leiden”, hatte Therese geantwortet.
Ehe er die Leselampe löschte, hatte er zu ihr hinübergeseh
en. Sie schlief schon. Sie hatte sich zur Wand hin gerollt, und er
sah von ihr nur die Masse ihres dunklen Haars, das ihr immer
solche Schwierigkeiten bereitete, mit dem sie Kämpfe ausfocht.
Sie brauchte auch diesen Morgen lange Zeit, um sich zu fri
sieren. Als sie aus dem Waschraum kam, fragte sie: “Seh’ ich
ordentlich aus, Daddy?”
“Bildhübsch!” sagte Wenger.
“Ich und hübsch!”
“Gut - also, du bist häßlich.”
“Nein”, erwiderte sie, “häßlich bin ich auch nicht. Ich bin nur
einfach nicht besonders hübsch.”
Sie standen im Gang, und Therese ließ sich durch die Land
schaft draußen von dem Thema ihres Aussehens ablenken. Sie
war begeistert von den handtuchschmalen Häusern, die an den
Chausseen zwischen St. Omer und Calais standen.
“Das sind Häuser!” rief sie. “Nicht so blöd wie alle die Cha
lets in Davos.”
“Findest du unser Haus blöd?” fragte Wegner. “Es ist doch
auch ein Chalet.”
“Ach, Daddy”, sagte sie, “ich find unser Haus wunderbar,
besonders innen. Wenn es nur kein Chalet wäre! Chalet sind so
spießig.” Sie unterbrach sich höchstens eine Sekunde. “Mammi
und du, ihr seid überhaupt keine Spießer. Und ich versteh ja,
339 A L F R E D A N D E R SC H
daß man sich in Davos nichts anderes bauen lassen kann. Herr
lich, das flache Land hier! Ich möchte später in einem Land
wohnen, das ganz flach ist.”
“Du mußt einen Holländer heiraten”, sagte Wegner, “oder
einen Russen.”
“Russen kann man nicht heiraten”, stellte Therese fest. “Außer
dem will ich nicht einen Mann heiraten, bloß weil er in einem
flachen Land lebt. Ich will irgendeinen Mann heiraten und zu
ihm sagen: Los, ziehen wir dorthin, wo es flach ist!”
“Und wenn er nicht will?”
“Das hab’ ich doch schon vorher herausgebracht, ob er für
flach oder fürs Gebirge ist.”
Das Wetter wurde immer schöner, je mehr sich der Zug der
Küste näherte. Auf dem Bahnsteig in Calais spürten sie den Wind.
Therese deutete auf das Fährschiff und rief: “Daddy, ist das
unser Schiff?”
“Ja”, sagte Wenger, “aber schrei bitte nicht immer so laut
“Daddy”!
Die Leute, unter denen sie zur Paßkontrolle gingen, schienen
überwiegend Engländer zu sein, und es war Wenger peinlich,
daß Therese ihn so laut, daß sie es hören konnten, mit daddy
anredete. Der Kosenamen war bei den Wengers wegen des
Doktors Anglophilie in Gebrauch genommen worden, aber hier,
in Calais, unter einem Publikum aus reisenden Engländern, störte
cs ihn plötzlich. Sie würden ihn für einen dieser amerikanisierten
Deutschen halten, während er bloß ein anglophiler Schweizer ist.
Aber er konnte schießlich nicht herumlaufen und ihnen den
Unterschied erklären.
Als sie einen Rundgang durch das Schiff machten, stießen
sie auf einen Hippie. Er hatte sich im Rauchsalon niedergelas
sen und war damit beschäftigt, den Inhalt eines großen schmutzi
gen Seesacks um sich auszubreiten. Seine Haare fielen ihm bis
auf die Schultern, er trug glänzende Ohrringe und einen langen
Schaffelmantel mit der Innenseite nach außen.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 340
1 ...würde sie sich in Oxford endlos weit weg von zu Hause Vorkommen - в
Оксфорде ей будет казаться, что она бесконечно далеко от дома.
341 A L F R E D A N D E R SC H
und den Zikaden zuhörten. Anfang Oktober war Frau Dr. med.
Wenger unabkömmlich.
“Sie hat es schon gesehen”, sagte Wenger. “Ich habe ja deine
Mutter in England kennengelemt.”
Sie hatten beide den röntgenologischen Kurs von Professor
Matthew besucht, 1947, als sie eigentlich schon fertige Ärzte
waren; Wenger war dann an der Röntgenologie hängengeblie
ben, seine Frau an der Kinderheilkunde. Sie heirateten 1948.
1949 kam ein Sohn zur Welt, der auf den Namen Ulrich getauft
wurde, er machte gerade die Matura;1 zwei Jahre später Therese,
bei der Madeleine darauf bestand, daß sie diesen französisch
akzentierten Vornamen erhielt, nach ihrer Großmutter, die eine
Persönlichkeit gewesen sein mußte. Therese wurde es nie müde,
Geschichten von Therese Badiou aus Nyon zu hören; ihre Mut
ter konnte Geschichten erzählen, besonders wenn sie sich dabei
der französischen Sprache bediente.
Der Himmel war so blau, weil ein scharfer Ostwind wehte,
und Therese wurde seekrank, nicht so stark, daß sie sich übergeben
mußte, aber doch so, daß sie nach unten verschwand. Als Wenger
einmal nach ihr sah, fand er sie im Rauchsalon; sie lag mit ge
schlossenen Augen auf einem Sofa, unweit von ihr saß der Hip
pie und klimperte auf seiner Gitarre. Sie war noch blasser als
sonst; bleich ruhte ihr Gesicht in dem dunklen Nest ihrer Haare.
...Sie stellten ihre Uhren um eine Stunde zurück. “Maximal”,
sagte Therese, “jetzt haben wir eine Stunde gewonnen.”
Als sie in dem Zug nach London saßen, hielt sie nach dem
Hippie Ausschau,2 der aber nirgends zu erblicken war. Erst kurz
vor der Abfahrt kam er den Bahnsteig entlang, in Begleitung
eines Polizisten. Er stieg nicht in den Zug ein, sondern wurde in
irgendein Büro geführt.
“Daddy!” rief Therese. “Hast du das gesehen?”
Wenger nickte.
1 die Matura (aecmp.) = das Matur (нем.) - экзамен на аттестат зрелости.
2 ...hielt sie nach dem Hippie Ausschau - она озиралась в поисках хиппи.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 342
Therese geriet außer sich über die Kürze der Miniröcke der
Mädchen in Piccadilly. Wenger gab sich überlegen, aber er ge
stand sich ein, daß diese Mode auch ihn verwirrte. Therese wurde
immer unglücklicher.
“Ich kann meine ganze Garderobe wegwerfen”, sagte sie.
“Bist du verrückt?” Wenger war jetzt wirklich empört. “Du
bist besser angezogen als alle diese Mädchen hier.”
Therese blieb stehen. Sie weinte fast. “Spießig bin ich ange
zogen!” - sagte sie. “Spießig, spießig, spießig!”
Zum erstenmal bedauerte Wenger es, daß er nicht seine Frau
überredet hatte, Therese nach England zu bringen. Madeleine
würde sich jetzt in ihrer freundlichen Art mit dem Mädchen unter
halten, auf Einzelheiten ihrer Garderobe eingehen,1 Änderun
gen an dem einen oder anderen Kleid erwägen, das Kind beruh
igen. Er, als Vater und Mann, hatte einfach keine Lust, mit seiner
Tochter ein Gespräch über Modefragen zu führen...
St. Sidwells Hall erwies sich2 als ein Komplex aus zwei et
was größeren Backsteinvillen in neugotischem Stil. Im Ein
gangsraum herrschte ein Durcheinander aus Koffern und Mäd
chen. Die Sekretärin im Anmeldebüro war freundlich, aber trok-
ken. Sie sagte, Wenger und seine Tochter sollten sich zu Miss
Maverdine ins Nebenhaus begeben. Miss Maverdine war je
doch nicht aufzutreiben.3 Im Nebenhaus befanden sich die
Schlafräume, und die Mädchen gingen darin umher und suchten
sich ihre Betten selber aus. Einige von ihnen waren von ihren
Müttern begleitet, die meisten waren jedoch allein. Wenger fand
sich hier endgültig fehl am Platze;4 zweifellos wäre es richtiger
gewesen, dachte er, wenn seine Frau Therese nach Oxford ge
Dieter NOLL
(1927)
gangen, nur ein dumpfer Druck wollte nicht von der Stirn wei
chen. Auch machte das Schlingen Beschwerden, und der Mund
war trocken.
Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule,
zweimal Consilium, das drittemal nur durch Intervention seines
Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. - Und ich Idiot komm
neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine Freund
schaft zu suchen! Das war ein Freund, Gilbert Wolzow, ein
Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!
Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche,
dann lief er die Treppe hinab.
„Sehen Sie zu, daß Sie fortkommen“, sagte nun auch Eulalia,
„es ist gleich sieben...“ Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn
Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muß ich etwas so
Verrücktes anstellen, daß mein Ansehen wiederhergestellt wird.
Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt,
Zickel, meck-meck, Schöner, Gruber, alle... Mag Zemtzki sti
cheln: Bei Maaß traust du dich nicht... Bei Maaß traut sich keiner,
nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch Maaß,
und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich werde
bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich bestrafen
will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, daß ich seit
gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das Attest? Oder
ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr schließen
und bloß noch lallen können, Maulsperre, Kieferklemme, da wird
die Klasse toben vor Freude, und wenn Maaß vor Wut einem
Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die vereinbarte Ohrfeige,
und dann ist alles wieder in Ordnung; da soll er mir erst mal was
beweisen! Das ist eine gute Idee! Oder... ob man ihn mit seinen
wahnsinnigen Schachtelsätzen reinlegen kann?
Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte
ein Segelboot haben! Man könnte... Sein Blick fiel durch das
Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die Greisin
tappte durch die Beete und riß die jungen Kohlrabipflanzen aus
dem Boden, eine nach der anderen... „Fast jeden Tag kommen
Sie zu spät zur Schule“, schimpfte Veronika Dengelmann, „gestern
traf ich Herrn Benedict...“ Benedict? Das war der Turnlehrer,
und er war harmlos... Und jetzt reißt die Alte tatsächlich auch
noch die Salatpflanzen aus! „Passen Sie auf Ihren Grünkram
auf1, sagte Holt, „die Alte ist im Garten!“ - „Ogottogott!“ Türen
schlugen. Im Garten erhob sich Gezeter.
Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise
entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum Unter
richt, und Ausreden gab es genug. Meistens mußten die ge
schlossenen Bahnschranken herhalten.
353 D IE T E R N O LL
1 2 . Читаем по-немецки
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 354
und auch die Schulaufgaben. Aber als Holt in der Pause mit
einem Radiergummi auts Katheder stieg, rief Wolzow mit ra
uher, wüster Stimme: „Na, da hast du Schiß, daß der Maaß was
erfährt!“
Holt klappte das Klassenbuch zu. Mochte die Eintragung steh-
cnbleiben! Ich und Schiß?“ sagte er. „Vor Maaß haben andere
Leute Schiß, auch wenn sie sonst mit der Schnauze vornan sind!“
„Meinst du mich?“ fragte Wolzow drohend und legte den Kopf
auf die Seite... Aber da schrillte schon, vom Korridor her, der
Warnungspfiff, und Knack marschierte ins Zimmer, dreißigjäh
rig, wegen eines Herzfehlers wehrdienstuntauglich, Studien
assessor Knack. „Heil Hitler, Kameraden!“
Die Klasse antwortete: „Heil Hitler!“ - „...Kamerad Knack“,
rief Holt hinterher, denn er wollte es Wolzow zeigen. In der
Klasse gab es unterdrücktes, beifälliges Gelächter. Wolzow biß
sich auf die Lippe. Zum zweiten Male an diesem Morgen wurde
Holt ins Klassenbuch eingetragen, getadelt wegen „unarischer
Frechheit“, wie Knack mit seiner schnarrenden Kommandostimme
bekanntgab. Dann begann der Geschichtsunterricht. Dies ist
Wolzows Stunde, dachte Holt.
Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre
alt. Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als Regimentskom
mandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows Erzählungen
glauben durfte, so waren die Wolzows ein preußisches Offi
ziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren ausnahmslos Offi
ziere hervorgebracht hatte; der Bruder des Obersten Wolzow
war Generalmajor. Auch Gilbert wollte Offizier werden, und er
bereitete sich von Kind an darauf vor.
Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der
die Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und
niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch
geduldet hatte. Er war zugleich der „frechste und faulste Schüler
der Anstalt“, wie Maaß, der Klassenlehrer, des öfteren sagte,
denn er stand in den meisten Fächern so jammervoll schlecht,
(2*
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 356
„Herr Lehrer!“ rief der kleine Zemtzki. „Ich bin es nicht gewe
sen, aber ich bin es nicht allein nicht gewesen, die anderen sind
es auch alle nicht gewesen!“
„Wolzow! Haben Sie... die Fische...?“
„Lassen Sie mich doch mit Ihren kindischen Verdächtigun
gen in Ruhe“, knurrte Wozow, ohne aufzustehen... Lind nun log
die Klasse mit einer Ausdauer, an der Zickels Wut verpuffte.
Verzweifelt begann er die Untersuchung, aber da seinem Zorn
jede physische Grundlage fehlte, die langwierige und ermüdende
Befragung der Schüler zu überdauern, log man immer dreister
und verhöhnte ihn, und Zickel ermattete, dem Weinen nahe.
Die Untersuchung verlief ergebnislos. Studienrat Maaß set
zte sie fort. Holt nahm nicht teil an dem Durcheinander, das in
der Pause herrschte. Er saß zusammengesunken auf seinem
Platz im Klassenzimmer, der Schweiß brach auf seiner Stirn
hervor, und der Kopf schmerzte... „Du hast ein ganz rotes Ge
sicht“, sagte Gomulka teilnahmsvoll, „wie gesprenkelt, bist du
krank?“ Holt schüttelte den Kopf.
Die Katze brachte alles ans Licht; sie hatte in der Wohnung
des Hausmeisters die unverdauten Fische wieder ausgebrochen.
Ein Lehrer hatte den Ruf gehört: „Du sollst dem Wolzow die
Katze bringen...“ Wolzow war überführt. Er stand neben seiner
Bank und log beharrlich, er wisse von nichts, man möge ihn in
Ruhe lassen, er sei es nicht gewesen.
Maaß hockte dick und massig hinter dem Karheder. Das
Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, spiegelte sich auf seiner
Glatze, die von schlohweißem Haar umrahmt war. Das runde
und feiste Gesicht grinste triumphierend, die Augen hinter der
hellen Hornbrille waren kalt und mitleidlos auf Wolzow gerich
tet. „Sie sind erledigt, Wolzow“, sagte er, mit einem begeisterten
Zittern in der Stimme, „auch ohne Geständnis erledigt.“ Er schielte
über die Ränder der Hornbrille hinweg auf sein Opfer. Es war
sein Steckenpferd, verworrene Schachtelsätze zu konstruieren,
die er mit strenger Logik zu Ende sprach; er hielt die Massen
361 D IE T E R N O L L
14. Womit endet die Episode mit der Untersuchung, die der
Studienrat Maaß unternahm?
15. Charakterisieren Sie andere Schulkameraden von Wer
ner Holt.
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 364
Johannes Mario Simmel war seit 1945 als Journalist und Zei
tungsredakteur tätig und widmete sich seit 1963 ganz seiner
schriftstellerischen Arbeit. Romane „Mich wundert, daß ich so
fröhlich bin“ (1949), „Das geheime Brot“ (1951), „Gott schützt
die Liebenden“ (1957), „Es muß nicht immer Kaviar sein“ (1960),
.Liebe ist nur ein Wort“ (1963), „Alle Menschen werden Brüder“
(1967), „Und Jimmy ging zum Regenbogen“ (1970), „Der Stoff,
aus dem die Träume sind“ (1971), „Die Antwort kennt nur der
Wind“ (1973), „Hurra-wir leben noch!“ (1978),,.Zweiundzwan
zig Zentimeter Zärtlichkeit“, (1980), „Die Erde bleibt noch lange
jung“, „Bitte, laßt die Blumen leben“ (1983) u.a. Mit seinen bril
lant erzählten zeit- und gesellschaftskritisch engagierten Romanen
und Erzählungen hat sich Simmel international einen Namen
gemacht.
*
* *
„Ausgezeichnet, die Suppe“, sagte Direktor Schallenberg. Er
lehnte sich zurück und betupfte mit der Damastserviette seine
schmalen Lippen.
,JLady Curzon“, sagte Thomas und klingelte einmal, indem er
auf eine Taste unter der Tischplatte drückte.
„Lady was?“
„Curzon - so heißt die Suppe. Schildkröte mit Sherry und
Sahne.“
„Ach, so, natürlich!“
Die Flammen der Kerzen, die auf dem Tisch standen, flak-
kerten plötzlich. Geräuschlos war Bastian eingetreten und servier
te das Paprika-Huhn.
Die Flammen beruhigten sich. Ihr warmes, gelbes Licht fiel
auf den dunkelblauen Teppich, den breiten altflämischen Tisch,
die bequemen Holzstühle mit den Bastlehnen, die große altflä
mische Anrichte.
Das Hühnchen entzückte Direktor Schallenberg aufs neue.
„Delikat, einfach delikat. Wirklich charmant von Ihnen, mich
einzuladen, Herr Lieven! Wo sie mich doch eigentlich nur ge
schäftlich sprechen wollen...“
„Alles bespricht sich besser bei einem guten Essen, Herr
Direktor. Nehmen Sie noch Reis, er steht vor Ihnen.“
„Danke. Nun sagen Sie schon, Herr Lieven, um was für ein
Geschäft handelt es sich?“
„Noch etwas Salat?“
„Nein, danke. Schießen Sie doch endlich los!“
„Na schön“, sagte Thomas. „Herr Direktor, Sie haben eine
große Papierfabrik.“
„So ist es, ja. Zweihundert Angestellte. Alles aus den Trüm
mern wieder aufgebaut.“
„Eine stolze Leistung. Zum Wohlsein...“ Thomas Lieven hob
sein Glas.
371 J O H A N N E S M A R IO S IM M E L
„Komme nach.“
„Herr Direktor, wie ich weiß, stellen Sie besonders hoch
wertiges Wasserzeichen-Papier her.“
„Jawohl.“
„Unter anderem liefern Sie das Wasserzeichen-Papier für
die neuen Aktien, welche die .Deutsche Stahlunion-Werke1gerade
auf den Markt bringen.“
„Richtig. Aktien der DESU. Kann Ihnen sagen, diese Sche
rereien, diese dauernden Kontrollen! Damit meine Leute ja nicht
auf die Idee kommen, ein paar Aktien selber zu drucken, haha-
ha!“
„Hahaha. Herr Direktor, ich möchte bei Ihnen fünfzig Großbo
gen dieses Wasserzeichen-Papiers bestellen.“
„Sie wollen... was?“
„Fünfzig Großbogen bestellen. Als Firmen-Chef dürfte es
Ihnen kaum Schwierigkeiten bereiten, die Kontrollen zu umge
hen.“
„Aber um Himmels willen, was wollen Sie denn mit den Bo
gen?“
„Aktien der DESU-Werke drucken natürlich. Was haben Sie
gedacht?“
Direktor Schallenberg legte seine Serviette zusammen, blickte
nicht ohne Bedauern auf seinen noch halb vollen Teller und
äußerte:
„Ich fürchte, ich muß jetzt gehen.“
„Aber keineswegs. Es gibt noch Äpfel in Weinschaumsauce
und Toast mit Käse”.
Der Direktor stand auf. „Mein Herr, ich werde vergessen,
daß ich jemals hier gewesen bin.“
„Ich bezweifle, daß Sie das jemals vergessen werden“, sagte
Thomas und häufte etwas Reis auf seinen Teller. „Warum steh
en Sie eigentlich, Herr Wehrwirtschaftsführer? Setzen Sie sich
doch.“
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 372
läßt, dann wird der Herr in ein paar Jahren wieder oben schwim
men. Die Sorte geht nicht unter, die schwimmt immer wieder
oben...“
„Unverschämtheit!“ krächzte es aus dem Bastsessel.
„... und dann kann er dir viel nützlicher sein. Sagte ich mir
damals, handelte danach, und siehe, es war wohlgetan.“
Mühsam rappelte sich Schallenberg hoch. „Ich gehe jetzt direkt
zur Polizei und erstatte Anzeige.“
„Nebenan steht ein Telefon.“ Unter dem Tisch drückte Tho
mas zweimal auf die Klingeltaste.
Wieder flackerten die Kerzenflammen, als der Diener Bas
tian geräuschlos eintrat. Er trug ein Silbertablett, darauf lagen
mehrere Fotokopien. ■
„Ich bitte, sich zu bedienen“, sagte Thomas. „Die Kopien
zeigen unter anderem Herrn Direktor in Uniform, verschiedene
Erlasse des Herrn Direktors aus den Jahren 1941 bis 1944 und
eine Empfangsbestätigung des sogenannten NS-Reichs-
schatzmeisters über den Erhalt von Reichsmark einhunderttausend
als Spende für SA und SS.“
Direktor Schallenberg setzte sich wieder.
„Sie können abservieren, Bastian. Der Herr Direktor ist fer
tig“
„Sehr wohl, gnädiger Herr.“
Nachdem Bastian verschwunden war, sagte Thomas: „Im
übrigen sind Sie mit fünfzigtausend bei der Sache dabei. Genügt
Ihnen das?“
„Ich lasse mich doch nicht erpressen!“
„Haben Sie sich nicht auch am letzten Wahlkampf mit hohen
Spenden beteiligt, Herr Direktor? Wie heißt doch gleich das
deutsche Nachrichtenmagazin, das sich für derlei interessiert?“
„Sie sind komplett wahnsinnig! Sie wollen falsche Aktionen
drucken? Ins Zuchthaus werden Sie kommen! Und ich mit! Ich
bin erledigt, wenn ich Ihnen das Papier gebe!“
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 374
„Ich komme nicht ins Zuchthaus. Und Sie sind nur erledigt,
wenn Sie mir das Papier nicht geben, Herr Direktor.“ Thomas
drückte einmal auf den Klingelknopf. „Passen Sie auf, wie gut
Ihnen die gespickten Äpfel schmecken werden.“
„Ich esse doch keinen Bissen mehr bei Ihnen, Sie Erpresser!“
„Wann kann ich also mit dem Papier rechnen, Herr Direktor?“
„Niemals!“ schrie Schallenberg in maßlosem Zorn. „Niemals
bekommen Sie von mir auch nur einen einzigen Bogen!“
*
* *
Es war beinahe Mitternacht. Mit seinem Diener Bastian saß
Thomas Lieven vor einem flackernden Kaminfeuer in der großen
Bibliothek. Rot und golden, blau, weiß, gelb und grün leuchteten
Hunderte von Bücherrücken aus dem Halbdunkel. Ein Platten
spieler lief. Leise erklang das Klavierkonzert Nummer zwei von
Rachmaninoff.
Thomas Lieven trug immer noch den makellosen Smoking.
Bastian hatte den Hemdkragen geöffnet und seine Beine auf
einen Stuhl gelegt, allerdings nicht ohne vorher, mit einem Seiten
blick auf seinen Herrn, eine Zeitung untergeschoben zu haben.
„Direktor Schallenberg liefert das Papier in einer Woche“,
sagte Thomas Lieven. „Wie lange brauchen deine Freunde zum
Drucken?“
,Etwa zehn Tage“, antwortete Bastian. Er hob ein bauchiges
Schwenkglas mit Kognak zum Mund.
„Dann werde ich am ersten Mai - schönes Datum, Tag der
Arbeit - nach Zürich fahren“, sagte Thomas. Er überreichte
Bastian eine Aktie und eine Liste. „Hier ist eine Vorlage für den
Druck, und auf der Liste stehen die laufenden Nummern, die
ich auf den Aktien sehen möchte.“
„Wenn ich bloß wüßte, was du vorhast“, brummte der
Igelkopf bewundernd.
375 J O H A N N E S M A R IO S IM M E L
Nur wenn Bastian sich absolut allein mit seinem Herrn wußte,
benutzte er das vertrauliche „Du“, denn er kannte Thomas seit
siebzehn Jahren, und er war früher einmal alles andere als ein
Diener gewesen.
Bastian hing an Thomas seit jener Zeit, da er mit ihm im
Quartier einer Marseiller Gangster-Chefin bekannt geworden
war. Außerdem hatte er einige gefährliche Abenteuer mit Tho
mas bestanden. So etwas bindet.
„Thommy, wirst du mir nicht sagen, was du planst?“
„Es handelt sich, lieber Bastian, im Grunde um etwas sehr
Legales und Schönes: um die Erwerbung von Vertrauten. Mein
Aktienschwindel wird ein eleganter Aktienschwindel sein. Es
wird - Holz anfassen - überhaupt niemand merken, daß es ein
Schwindel gewesen ist. Alle werden verdienen. Alle werden
zufrieden sein.“
Thomas Lieven lächelte verträumt und holte eine goldene
Repetieruhr hervor. Sie stammte von seinem Vater. Durch alle
Fährnisse des Lebens hatte Thomas diese flache Uhr mit dem
Sprungdeckel begleitet, auf tollkühnen Fluchten und Jagden war
sie dabei gewesen. Immer wieder war es Thomas Lieven ge
lungen, sie zu verstecken, zu beschützen oder wiederzuerobem.
Er ließ den Deckel aufspringen. Silberhell kündigte ein einge
bautes Schlagwerk die Zeit.
Traurig sagte Bastian: „Ich kriege es nicht in meinen Schädel.
Eine Aktie ist ein Anteilschein an einem großen Unternehmen.
Auffällige Aktien-Coupons erhält man in bestimmten Abständen
eine bestimmte Dividende ausbezahlt, einen entsprechenden Teil
des Gewinnes, den das Unternehmen erzielt hat.“
„Ja und, mein Kleiner?“
„Himmel noch mal, aber die Coupons deiner gefälschten
Aktien kannst du doch bei keiner Bank der Welt vorlegen! Die
Nummern, die darauf stehen, stehen doch auch auf den echten
Aktien, die irgendjemand besitzt. Der Schwindel muß doch so
fort auffliegen.“
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 376
7. Wer war Bastian und wie lange war er mit Thomas Lieven
bekannt?
8. Wen erwartete Thomas an jenem Tag?
9. Was wurde dem Gast serviert?
10. Was sollte Bastian nach den Klingelzeichen unterneh
men?
11. Was wurde in Schallenbergs Fabrik hergestellt?
12. Was wollte Lieven von ihm bekommen?
13. Was war Direktor Schallenberg während des Krieges
und wie hieß er damals?
14. Wie reagierte er auf Lievens Vorschlag?
15. Worin bestand Lievens Plan?
16. Wollte er seine Affäre unter seinem eigenen Namen un
ternehmen?
СОДЕРЖАНИЕ
Friedrich Schiller................................................................ 27
Der Verbrecher aus verlonerer Ehre (Auszüge)................27
An einen Weltverbesserer (1795)...................................... 40
Hoffnung (1798)................................................................41
An ***(1802)...................................................................41
Heinrich H eine....................................................................60
Die Harzreise (Auszüge)...................................................60
Ideen. Das Buch Le Grand (Auszüge)..............................67
Sie haben mich gequälet.....................................................68
Es stehen unbeweglich.......................................................68
Ein Jüngling liebt ein Mädchen...........................................69
Gottfried K eller...................................................................83
Romeo und Julia auf dem Dorfe (Auszüge)....................... 83
Heinrich M an n ....................................................................95
Der Untertan (Auszüge)................................................... 95
Thomas M ann....................................................................107
Buddenbrooks (Auszüge)............................................... 107
Robert M u sil.....................................................................134
Ein Mensch ohne Charakter............................................. 134
Stefan Zweig.......................................................................143
Marie Antoinette (Auszüge)............................................. 143
Ч И Т А Е М П О -Н Е М Е Ц К И 380
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Lion Feuchtwanger........................................................... 156
Die Füchse im Weinberg (Auszug)................................. 156
Hermann H esse................................................................165
Der Waldmensch............................................................ 165
H ansFallada......................................................................210
Jeder stirbt für sich allein (Auszüge)............................... 210
Willi Bredel........................................................................219
Die Väter (Auszug).........................................................219
Die Väter (Auszug).........................................................222
ЧИТАЕМ П О -Н ЕМ ЕЦ КИ
Издательство «Феникс»
344007, г. Ростов-на-Дону, пер. Соборный, 17.