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Аверина, О.А. Кострова
ГРАММАТИКА НЕМЕЦКОГО
ЯЗЫКА
GRAMMATIK DER DEUTSCHEN
SPRACHE
2
УДК
ББК
Рецензенты:
Аверина А.В., Кострова О.А.
Inhaltsverzeichnis
DAS KONZEPT DES STUDIENBUCHES.......................................................................................10
TEIL I EINFÜHRUNG: GEGENSTAND DER GRAMMATIK UND IHRE STELLUNG IN DER
SPRACHWISSENSCHAFT..............................................................................................................14
Theoretische Grammatik als Fach.................................................................................................14
Allgemeines..............................................................................................................................14
Zusammenhang der Grammatik mit anderen sprachwissenschaftlichen Disziplinen...............17
Synchrone und diachrone Grammatik.......................................................................................19
Hauptteile der Grammatik: Morphologie und Syntax. Hypersyntax........................................20
Grammatische Kategorie als Einheit grammatischer Form und grammatischer Bedeutung.........21
Aufgaben...................................................................................................................................25
Synthetische und analytische grammatische Mittel......................................................................26
Aufgaben...................................................................................................................................27
Anordnung der grammatischen Einheiten im Sprachsystem und in der Rede. Paradigma und
Syntagma.......................................................................................................................................28
Aufgaben...................................................................................................................................30
Lexikalisch-grammatisches und funktional-semantisches Feld....................................................31
Polysemie und Synonymie.............................................................................................................33
Aufgaben...................................................................................................................................33
Der Begriff „Grammatikalisierung“..............................................................................................34
Interkultureller Vergleich...............................................................................................................35
Terminologie und Begriffe........................................................................................................35
Struktur und Gestaltung der Grammatikbücher........................................................................39
TEIL II MORPHOLOGIE..................................................................................................................42
Einführung.....................................................................................................................................42
Der morphologische Bestand des deutschen Wortes.....................................................................42
Begriff des Morphems...............................................................................................................42
Arten der Morpheme im Deutschen..........................................................................................44
Aufgaben...................................................................................................................................46
Wortarten........................................................................................................................................47
Aus der Geschichte der Forschung...........................................................................................47
Kriterien der Ausgliederung......................................................................................................48
Wortarten als typologisches Merkmal des deutschen Sprachbaus............................................50
Wortartwechsel..........................................................................................................................52
Diskussionsfragen in der Einteilung der Wortarten..................................................................53
Aufgaben..................................................................................................................................56
Interkultureller Vergleich...............................................................................................................58
DAS VERB I: ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK, WORTBILDUNG UND
KLASSIFIKATIONEN......................................................................................................................59
GRUNDLAGEN............................................................................................................................59
Allgemeine Charakteristik des Verbs. Paradigmatik des Verbs................................................59
Wortbildung der Verben............................................................................................................60
Die Einteilung der deutschen Verben........................................................................................61
Die morphologische Klassifikation......................................................................................61
Die strukturell-semantische Klassifikation..........................................................................67
Die syntaktische Klassifikation der Verben..........................................................................70
Die valenzmäßige Klassifikation der Verben.......................................................................71
Die aktionsartmäßige Einteilung der Verben........................................................................75
Funktionsverben...................................................................................................................78
4
Aufgaben...................................................................................................................................79
VERTIEFUNG...............................................................................................................................81
Aspektuaität, Aspekt und Aktionsarten. Sprecherperspektiven................................................81
Die aktionsartmäßige Einteilung der deutschen Verben aus der Sicht von
Sprecherperspektiven nach E. Leiss (1992).........................................................................81
Weitere Einteilungen der kursiven / additiven und terminativen / nonadditiven Verben.....83
Die aktionsartmäßige Einteilung der Verben nach M. Steinbach (2007).............................84
Kodierung der Kategorie des Aspekts im Deutschen: Aspekt als Kodierungsmittel der
übereinzelsprachlichen Kategorie der Determiniertheit / Indeterminiertheit.......................86
Aufgaben...................................................................................................................................88
DAS VERB II: KATEGORIEN DES VERBS...................................................................................90
GRUNDLAGEN............................................................................................................................90
Organisation grammatischer Kategorien...................................................................................90
Ontologische Unterschiede zwischen Lexemen und grammatischen Konstruktionen........90
Prinzipien der hierarchischen Organisation grammatischer Kategorien nach N. Fries (1997)
..............................................................................................................................................92
Die Kategorie der Person und des Numerus.............................................................................93
Die Kategorie der Genera verbi...............................................................................................95
Vorgangspassiv.....................................................................................................................97
Das Genusfeld....................................................................................................................103
Aufgaben.................................................................................................................................105
Die Modi und die Tempusformen...........................................................................................107
Der Imperativ..........................................................................................................................108
Der Indikativ und seine Tempusformen..................................................................................110
Die Tempora des Deutschen...............................................................................................113
Präsens...........................................................................................................................115
Präteritum.......................................................................................................................118
Perfekt............................................................................................................................121
Plusquamperfekt............................................................................................................122
Die Tempusformen der Zukunft....................................................................................124
Aufgaben................................................................................................................................125
Der Konjunktiv und seine Tempusformen..............................................................................127
Allgemeines........................................................................................................................127
Die zeitliche Bedeutung der Konjunktivformen................................................................129
Die erste Sphäre des Konjunktivgebrauchs. Die einfachen Tempusformen des
Konjunktivs zum Ausdruck des realen Wunsches, des Befehls, der Einräumung und des
Zwecks...........................................................................................................................130
Der zweite Funktionsbereich des Konjunktivs. Der irreale und potentiale Konjunktiv132
Der dritte Funktionsbereich des Konjunktivs. Der irreale Konjunktiv in irrealen
Vergleichsätzen..............................................................................................................135
Der Konjunktiv in der indirekten Rede.........................................................................136
Gebrauch der Tempusformen des Konjunktivs in der indirekten Rede.........................137
Die Kategorie der Modalität. Das Feld der Modalität.............................................................141
Aufgaben.................................................................................................................................146
VERTIEFUNG.............................................................................................................................149
Polemik in der Interpretation der Tempusformen...................................................................149
Perfekt................................................................................................................................149
Futur I.................................................................................................................................152
Futur II................................................................................................................................154
Zwischen Aspekt, Tempus und Modus...................................................................................155
5
Allgemeines.................................................................................................................................239
Wortbildung der Adjektive...........................................................................................................241
Strukturell-semantische Klassen..................................................................................................242
Semantische Klassifikation der Adjektive..............................................................................242
Die drei Formen des Adjektivs und ihre syntaktischen Funktionen.......................................244
Valenz der Adjektive...............................................................................................................245
Grammatische Kategorien der Adjektive.....................................................................................247
Deklination der Adjektive und ihre Wahl nach dem Prinzip der Monoflexion...........................247
Komparation der Adjektive..........................................................................................................253
Bildung der Komparationsstufen............................................................................................255
Bedeutung der Komparationsstufen und ihr Gebrauch...........................................................256
Der Komparativ..................................................................................................................256
Der Superlativ.....................................................................................................................257
Feldstruktur der Wortklasse Adjektiv..........................................................................................257
DAS ADVERB.................................................................................................................................258
DAS PRONOMEN...........................................................................................................................262
GRUNDLAGEN..........................................................................................................................262
Pronomen als Wortart. Funktionen der Pronomen. Subklassen der Pronomen. Referenzieller
und deiktischer Bezug der Pronomina....................................................................................262
VERTIEFUNG.............................................................................................................................268
Das Pronomen es.....................................................................................................................268
Unterschiedliche Funktionen des Pronomens es................................................................268
Der besondere Status des Personalpronomens es...............................................................269
Personalpronomen aus der Sicht von Sprecherperspektiven..................................................270
Aufgaben.................................................................................................................................273
DAS NUMERALE...........................................................................................................................274
DAS MODALWORT.......................................................................................................................276
DIE PARTIKEL................................................................................................................................279
GRUNDLAGEN..........................................................................................................................279
Allgemeine Charakteristik und Eigenschaften der Partikeln im Deutschen...........................279
VERTIEFUNG.............................................................................................................................282
Die Modalpartikel...................................................................................................................282
Die Fokuspartikel....................................................................................................................283
Die Diskurspartikel.................................................................................................................284
Der Begriff Verumfokus. Kodierung des Verumfokus durch das Finitum, Subjunktor und
Diskurspartikel. Betonte Partikeln als eine besondere Gruppe der Diskurspartikeln.............286
VERKNÜPGUNGSWÖRTER.........................................................................................................290
Präpositionen...............................................................................................................................290
Konjunktionen............................................................................................................................292
Allgemeines............................................................................................................................292
Semantik der koordinierenden Konjunktionen.......................................................................294
Semantik der subordinierenden Konjunktionen......................................................................296
Aufgaben......................................................................................................................................296
DIE INTERJEKTION......................................................................................................................298
Interkultureller Vergleich..................................................................................................................299
TEIL III SYNTAX............................................................................................................................302
EINFÜHRUNG................................................................................................................................302
Zur Motivierung: Syntax transdisziplinär....................................................................................302
Modularität der Syntax................................................................................................................304
Der traditionelle Ansatz: Oberflächensyntax..........................................................................304
7
BIBLIOGRAPHIE...........................................................................................................................569
BELEGQUELLENVERZEICHNIS.................................................................................................598
10
Die Grundlagen enthalten solche allgemeine Fragen wie Satzarten, Satzformen sowie
unterschiedliche Klassifizierungsvorschläge für Nebensätze. Im Teil Vertiefung
werden Satzmodellierung, kognitiv-pragmatische Ansätze zur Erklärung der
syntaktischen Phänomene sowie Satz und Äußerung betrachtet. Darüber hinaus
werden die aktuellen Themenbereiche wie Textsorten und Informationsstruktur
behandelt.
Eine weitere Besonderheit dieses Studienbuches besteht darin, dass hier die neuen
Konzeptionen behandelt werden, die heutzutage aktuell sind. Das ist in erster Linie
die Konzeption von E. Leiss, die die Tempusformen des deutschen Verbs, die Genera
verbi sowie die Kategorie der Bestimmtheit / Unbestimmtheit beim deutschen
Substantiv unter einem neuen Blickwinkel betrachtet. Die Leistung von E. Leiss
besteht darin, dass sie gezeigt hat, dass alle grammatischen Kategorien nur Phasen
eines einzigen kategorialen Entfaltungsprozesses sind. Grammatische Kategorien
werden von ihr nicht getrennt, allein stehend, sondern in einem Zusammenhang
beschrieben. So ist z.B. die Kategorie der Modalität mit der Kategorie des Aspekts
und des Tempus eng verbunden, worauf nicht nur E. Leiss, sondern auch andere
Forscher, z.B. W. G. Admoni, M. Kotin, W. Abraham, N. Fries hingewiesen haben.
Beim Studium der Grammatik ist es wichtig zu verstehen, dass grammatische
Kategorien voneinander nicht isoliert sind und dass die Wortarten ihr Potential nur
auf der syntaktischen Ebene realisieren können. In der Darstellung der Wortarten und
ihrer grammatischen Kategorien stützen wir uns auf die Definition von Elisabeth
Leiss: „Die einfacheren Kategorien stellen die elementaren Bausteine der
komplexeren Kategorien dar und bilden so das Fundament für die kategoriale
Architektur einer Sprache“ (Leiss 1992: 1-2). Nur durch solch eine systematische
Analyse kann die Sprache wie ein komplexes System verstanden und beschrieben
werden.
Im Studienbuch werden viele Themen behandelt, die in der letzten Zeit in der
Grammatikforschung favorisiert werden: Fokussierung (einschließlich des
Verumfokus), Diskuspartikeln, die Quaestio-Theorie, Informationsstruktur, das
12
Autorinnen
14
Allgemeines
Die Sprache ist ein universales Mittel, das in den meisten Bereichen des
menschlichen Lebens benutzt wird: Im Alltag, in der Wissenschaft, in der Literatur
und Kunst, in der Technik, in der Werbung, in der virtuellen Kommunikation durch
Internet und in der sakralen Kommunikation mit Gott. Es ist schwer, eine Sphäre zu
finden, wo wir ganz ohne Sprache auskommen können. Wie ist das möglich? Wie ist
die Sprache gebaut, dass sie all diese Funktionen erfüllen kann? Diese und ähnliche
Fragen bilden den Gegenstand der Sprachwissenschaft, deren Teil auch die
Grammatiktheorie ist.
Das Wort Grammatik hat zwei Bedeutungen. Zum einen bezeichnet es den
grammatischen Bau der Sprache, den wir als Muttersprachler intuitiv beherrschen
und als Fremdsprachler lernen müssen, um diese Fremdsprache zu verstehen und mit
ihrer Hilfe kommunizieren zu können. Wir lernen, wie die Wörter dieser Sprache
verändert und mit einander kombiniert werden, nach welchen Regeln Sätze gebaut
sind und wie sie funktionieren, das heißt, wir machen uns mit dem grammatischen
Bau dieser Sprache bekannt. Dass diese Bekanntschaft aber möglich ist, verdanken
wir der Grammatik als Lehre über den grammatischen Bau der Sprache. Das ist die
zweite Bedeutung des Wortes Grammatik. Grammatische Lehre systematisiert die
Regeln über der Sprachbau und erklärt, wie diese Regeln gebraucht werden.
Grammatik als Lehre hat einige Zweige, die sich dadurch unterscheiden, für wen sie
bestimmt sind und wie sie gebraucht werden können. Im Schulunterricht braucht man
eine praktische Grammatik, die wesentliche Gebrauchsregeln als Normen
formuliert. Wenn man diese Regeln beherrscht, kann man schon die Sprache
verstehen und kommunizieren. Für die Fachkommunikation, beispielsweise im
15
Bereich der Technik, braucht man eine erweiterte praktische Grammatik, in der
spezifische Konstruktionen der schriftlichen technischen Sprache berücksichtigt
werden, solche wie erweiterte Partizipialattribute oder konjunktionslose
Bedingungssätze. Die praktische Grammatik schreibt also Normen vor; sie variiert im
Umfang je nachdem, für wen sie bestimmt ist. Sie lässt aber Erklärungen außer Acht.
Zum Beispiel: In der praktischen Grammatik werden Deklinationsmuster der
Substantive oder Konjugationsmuster der schwachen und starken Verben im Präsens
und Präteritum in Tabellen gegeben. Es wird aber nicht erklärt, warum deutsche
Substantive so wenige Endungen haben oder warum starke Verben bei der
Konjugation Vokalwechsel im Stamm haben. Das ist die Aufgabe der theoretischen
Grammatik.
Die theoretische Grammatik ist Gegenstand der Wissenschaftler und der Lehrer, die
diese Wissenschaft in vereinfachter Form in die Schule oder andere Bildungsanstalten
bringen. Die Fremdsprachenlehrer müssen den grammatischen Bau einer
Fremdsprache so erklären können, dass die Schüler diesen Bau verstehen. Um das
erfolgreich zu tun, müssen die Lehrer selbst verstehen, wie die Sprache funktioniert,
wie sie sich entwickelt, warum es Ausnahmen aus den Regeln gibt, warum und in
welchen Aspekten sich die Fremdsprache von der Muttersprache unterscheidet und
welche spezifischen Erscheinungen einer Fremdsprache man besonders beachten
muss. Ein guter Fremdsprachenlehrer muss imstande sein, das Interesse seiner
Schüler nicht nur für die praktische Sprachverwendung, sondern auch für eine
angemessene Interpretation sprachlicher Phänomene zu wecken. All diese Kenntnisse
schöpft der Lehrer im Fach Theoretische Grammatik.
Hier ein Beispiel dafür, wie dies praktisch umgesetzt werden könnte. Bekanntlich
haben die Verben stehen und gehen so genannte starke Grundformen haben: Stehen –
stand – gestanden, gehen – ging – gegangen. Warum aber haben sie bei ihrer
Konjugation im Präsens keinen Vokalwechsel in der 2. und 3. Person Singular: Du
stehst, du gehst, er steht, er geht? Man kann sagen, dass es eine Ausnahme ist. Man
kann aber erklären, dass diese Verben früher zwei Formen im Infinitiv hatten: Eine
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volle stantan, giongan und eine gekürzte stên, gên. Im Laufe der Sprachgeschichte
haben sich diese Formen vermischt, so dass die heutigen Formen des Präteritums und
Partizips II von den früheren vollen Formen gebildet sind, und die Präsensformen auf
die früheren gekürzten Formen zurückgehen.
Hier sei zu erwähnen, dass Morphologie einerseits die älteste und andererseits die
jüngste Teildisziplin der Grammatik ist, worauf u.a. M. Haspelmath (2002: 1-2)
hinweist. Die älteste Disziplin ist sie, weil Grammatikforscher Morphologie
beschrieben haben. Die ältesten grammatischen Texte waren Listen morphologischer
Formen sumerischer Wörter. Die sumerische Sprache war die Sprache von
Mesopotamien, die mit der Zeit zu einer toten Sprache wurde, deshalb musste sie in
grammatischen Texten fixiert werden. Morphologie war von großer Bedeutung in den
Schriften von Grammatikforschern in der Antike, in der Grammatik des Sanskrits von
Panini sowie in der griechischen und romanischen grammatischen Tradition. Bis
zum19. Jahrhundert dachten westliche Sprachforscher, dass die Grammatik aus der
Beschreibung der Wortstruktur besteht. Der Grund dafür war, dass Latein und
Griechisch über eine reiche morphologische Struktur verfügen. So wurde in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff Morphologie vorgeschlagen. Früher
gab es keinen speziellen Terminus, weil Grammatik allein die Morphologie
erforschte. Die Termini Phonologie (Lautstruktur des Wortes) und Syntax
(Satzstruktur) hatten Jahrhunderte existiert, bevor der Terminus Morphologie
eingeführt wurde. In diesem Sinne ist die Morphologie eine junge Disziplin (ebenda).
Ältere Grammatikbücher des Althochdeutschen und des Mittelhochdeutschen
enthalten neben der Beschreibung der Wortform auch die Lautlehre (W. Braune, H.
Paul). Dieser Tradition folgt die Duden-Grammatik (2008), in der es außer der Teile
„das Wort“, „der Satz“ und „der Text“ solche Teile wie „Phonem und Graphem“
sowie „Intonation“ gibt. Das entspricht mehr einer umfassenden Beschreibung der
deutschen Sprache. Wir halten es für sinnvoller, der traditionellen Beschreibung der
Grammatik zu folgen und die Abschnitte Morphologie und Syntax zu beschreiben.
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Der Garten – die Gärten, die Bank – die Bänke, das Haus – die Häuser;
Die Verbindung mit der Sprachgeschichte haben wir am Beispiel der Konjugation der
Verben stehen und gehen gesehen. Die Konjugation des Verbs sein ist auch nur mit
Hilfe der Sprachgeschichte zu erklären.
Die Geschichte dieses Verbs geht in die indogermanische Zeit zurück, und zwar auf
die indogermanischen Stämme *es-,*bheu-, *ues- (Paul 1960). Den Stamm *es-
finden wir in abgeschwächter Form in sein, ist, sind und in dem russischen Verb
есть; der Stamm *bheu- kommt in den Formen bin, bist und in der russischen
Präteritumform был vor, und der Stamm *ues- in den Formen war, gewesen. So zeigt
uns die Sprachgeschichte die Verwandtschaft der deutschen und der russischen
Sprache.
Die Sprachgeschichte erklärt uns auch solche phonetischen Erscheinungen wie den
Ablaut, den Umlaut und die Brechung, die verschiedene Formen des Vokalwechsels
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darstellen. Der Ablaut ist ein spontaner Vokalwechsel, der auch in anderen
indoeuropäischen Sprachen zu finden ist (so im Russischen лежать – ложа, гореть
– гарь) und im heutigen Deutsch darüber hinaus (sprechen – Spruch, gehen – Gang)
die Grundformen der starken Verben bildet. Warum aber diese Grundformen so
verschieden sind (vgl. trinken – trank – getrunken, helfen – half – geholfen, bitten –
bat – gebeten, laufen – lief – gelaufen, rufen – rief – gerufen, schreiben – schrieb –
geschrieben), kann uns nur die Sprachgeschichte erklären. Der Umlaut und die
Brechung sind dem Ursprung nach phonetische Assimilationen. Diese Vokalwechsel
entstanden in bestimmten Positionen. Die Vokale -a-, -o-, -u- wurden durch den
nachfolgenden -i beeinflusst und haben sich an diesen angepasst, vgl. die
althochdeutschen Formen gast – gesti, hoch – hoehir, hulfum – huelfi. Zuerst hatte
man kein besonderes Zeichen für den Umlaut; heute schreibt man diese Formen
Gäste, höher, hülfe.
Zunächst wurde nur der kurze betonte Vokal -a- durch Teilanpassung an das -i oder -j der Folgesilbe
im Althochdeutschen zum kurzen -e- (Primärumlaut). Vgl. ahd. Singular gast : Plural gesti, außer
vor -ht, -hs und -rw (ahd. Sg. naht: Pl. nahti etc.). Im Mittelhochdeutschen wurden dann im Zuge
des sogenannten Sekundärumlauts kurze und lange Vokale a, o und u umlautiert.
Bei der Konjugation der starken Verben in der 2. Und 3. Person Präsens Singular
wurde der Vokal -e zu -i erhöht, diese Tonerhöhung nennt man Brechung oder auch
Hebung. Das geschah auch unter dem Einfluss von nachfolgendem -i. Vgl. ahd: du
sprihist oder spri(h)hist, er sprih(h)it und heutzutage du sprichst, er spricht.
Ursprünglich wurde das Wurzel-e auch vor -u der Folgesilbe in der 1. Person Singular erhoben
(ahd. ih spri(h)hu), aber diese Hebung wurde dann zurückgenommen (nhd. ich spreche).
grammatischen Suffixe infolge der Reduktion der unbetonten Vokale. Die Verlinkung
der Grammatik mit der Phonetik sehen wir darüber hinaus am Beispiel der Intonation
– einer phonetischen Erscheinung, die kommunikative Satztypen bzw. die Satzmodi
unterscheidet: Den Aussage-, Frage- oder Aufforderungssatz.
Die Verbindung der Grammatik mit der Lexikologie kommt darin zum Ausdruck,
dass beide Fächer die Wörter zum Gegenstand haben. In der Lexikologie untersucht
man die Bedeutung der Wörter und die Wortbildung; die Grammatik befasst sich
dagegen mit formaler Seite. Die Wörter werden in Wortarten klassifiziert; die
Grammatik beschreibt dann, wie sich die Wortarten in der Rede verändern. So
entstehen Deklinations- und Konjugationsmuster etc.
Eine besonders enge Verbindung der Grammatik mit der Lexikologie sehen wir unter
anderem an Modalverben. Das sind Wörter, in denen die lexikalischen und
grammatischen Bedeutungen nicht zu trennen sind. Sie bezeichnen lexikalisch
verschiedene Arten der grammatischen Bedeutung der Modalität: Können und dürfen
die Möglichkeit, müssen und sollen die Notwendigkeit, wollen und mögen den
Wunsch.
Grammatische Kategorie ist die minimale Einheit der grammatischen Analyse, die
uns ermöglicht, sprachliche Einheiten grammatisch zu beschreiben. Grammatische
Beschreibung setzt voraus, dass wir die grammatische Form der sprachlichen Einheit
bestimmen und ihre grammatische Bedeutung definieren.
Grammatische Formen sind Formen der Wörter, Wortgruppen und Sätze, die wir im
Text ausgliedern können. Auf den ersten Blick scheint die Prozedur der
Ausgliederung einfach zu sein, es ist aber nicht immer so. Es ist einfach, die
Wortformen im Satz Er spricht laut zu bestimmen, wo jedes Wort eine Wortform
darstellt, die eine bestimmte grammatische Bedeutung hat. Solche Wortformen
heißen synthetisch.
Das Pronomen er ist formal die 3. Person Singular; das Verb spricht beschreiben wir
von Seiten der Form aus ebenfalls als die 3. Person Singular, aber darüber hinaus als
Präsens Indikativ Aktiv; das Adverb laut ist der Form nach positive
Komparationsstufe und charakterisiert die Handlung, die vom Verb bezeichnet ist.
Grammatische Bedeutungen dieser Formen können wir wie folgt beschreiben. Das
Personalpronomen vertritt im Satz ein Substantiv, hat also eine Ersatzfunktion. Das
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Verb bezeichnet seiner Form nach die Zeitstufe Gegenwart (Präsens), die reale oder
objektive Modalität (Indikativ) und eine aktive Handlung (Aktiv).
Wenn aber beispielsweise das deutsche Verb ein trennbares Präfix hat, das im Text
getrennt steht, wie müssen wir in diesem Fall die Wortform bestimmen? Oder
nehmen wir den Satz Der Film ist schon im Fernsehen gezeigt worden, wo das
Prädikat im Perfekt Passiv steht und dreiteilig ist. Sollen wir die Form dieses
Prädikats auch als eine Wortform beurteilen? Die Grammatik antwortet in beiden
Fällen mit ja und nennt solche Wortformen analytisch, weil die grammatische
Bedeutung der analytischen Formen nur bestimmt werden kann, wenn man alle Teile
dieser Formen als eine grammatische Einheit betrachtet. Die Form ist gezeigt worden
bezeichnet eine reale Vergangenheit als Resultat einer aktiven Handlung.
Wir beschreiben grammatische Formen und ihre Bedeutungen mit Hilfe von
Begriffen, die diese beiden Aspekte (Form und Bedeutung) integrieren. Diese
Begriffe heißen grammatische Kategorien. Grammatische Kategorien sind im oben
angeführten Sinne als metasprachliche Begriffe zu verstehen, das heißt als Begriffe,
die als Beschreibungsmittel verwendet werden. In metasprachlicher Bedeutung sind
sie universal, weil sie für viele, wenn nicht für alle Sprachen gelten. Es sind
beispielsweise solche Kategorien wie die grammatische Zahl und der Kasus der
Substantive, die Kategorien des Tempus und des Modus bei dem Verb. Doch haben
grammatische Kategorien zugleich noch einen innersprachlichen Sinn, denn sie
stellen Existenzformen von sprachlichen Einheiten einer bestimmten Sprache dar.
In den sprachlichen Einheiten, ob es Wörter oder Sätze sind, sind bei ihrem realen
Funktionieren die grammatischen Formen von ihren grammatischen Bedeutungen
nicht zu trennen und ergeben zusammen grammatische Kategorien (Admoni 1986:
11; Эйхбаум 1996: 26).
Eine grammatische Form ist konkret: Sie hat eine materielle akustische oder optische
Gestalt, so dass wir sie im Text sehen und lesen und beim Sprechen hören können.
Die grammatische Bedeutung ist dagegen abstrakt: Sie lässt sich in der Regel nur
feststellen, wenn wir uns das Sprachsystem im Ganzen oder in einzelnen Teilen
23
Nehmen wir als Metabegriff die Kategorie der grammatischen Zahl der Substantive.
In dieser Kategorie stehen die Singularformen den Pluralformen gegenüber: Baum –
Bäume, Haus – Häuser, Blume – Blumen. Diese Formen bilden eine binäre
(zweigliedrige) Opposition. Es gibt auch mehrgliedrige Oppositionen, so ist die
Opposition in der Kategorie Kasus im Deutschen vierteilig: Jeder Kasus steht dem
anderen gegenüber. Die Kasus unterscheiden sich der Form und der Bedeutung nach.
Der Nominativ ist in der Regel der Kasus des Subjekts: Der Garten ist herrlich. Der
Genitiv ist gewöhnlich der Kasus des Attributs: Die Schönheit des Gartens. Der Dativ
erscheint im Satz größtenteils als indirektes Objekt: Wir nähern uns dem Garten zu.
Der Akkusativ hat die Bedeutung des direkten Objekts: Wir bewundern den schönen
Garten.
Bei dem deutschen Verb unterscheidet man die Kategorien der Person und Zahl, des
Tempus, des Modus und des Genus. Die Oppositionen innerhalb dieser Kategorien
sind mehrteilig. So stehen in der Kategorie Tempus sechs Tempora einander
gegenüber, von denen jedes eine besondere Bedeutung und einen besonderen
Gebrauch hat. Das Präsens bezeichnet die Gegenwart des Sprechenden, das
Präteritum seine Vergangenheit. Das Perfekt wird gewöhnlich im Dialog oder zur
Bezeichnung des Resultats gebraucht. Das Plusquamperfekt dient zur Bezeichnung
der Vorzeitigkeit, das Futurum I zur Bezeichnung einer zukünftigen Handlung und
das Futurum II bedeutet eine in der Zukunft vollendete Handlung. Vgl. entsprechend:
Ich fahre auf die Krim. – Im Sommer fuhr ich auf die Krim. – Voriges Jahr bin
ich auf die Krim gefahren. – Die Nachricht kam, nachdem ich auf die Krim
gefahren war. – In den Ferien werde ich auf die Krim fahren. – Ich werde alle
Prüfungen bis Montag bestanden haben; erst dann kann ich auf die Krim fahren.
Die Oppositionen können neutralisiert oder aufgehoben werden, das heißt, eine
grammatische Form wird mit der Bedeutung der anderen gebraucht. Das beweist,
dass die oppositiven Formen eine gemeinsame Bedeutungsgrundlage haben und
deshalb einander ersetzen können. Wenn zum Beispiel das Substantiv im Singular im
25
Aufgaben
Aufgabe 1
Nennen Sie grammatische Bedeutungen folgender grammatischer Formen:
Hat gesungen; wurde wiederholt; wird gekommen sein; ist gesehen worden; hatte
geemailt; speichern Sie!
Aufgabe 2
Nennen Sie die Grundfunktion eines jeden Kasus und zeigen Sie an Beispielen das
vierteilige oppositive Verhältnis im deutschen Kasussystem.
Aufgabe 3
Zeigen sie an Beispielen, wie eine und dieselbe grammatische Bedeutung
ausgedrückt werden kann.
Aufgabe 4
26
Der Umlaut war geschichtlich eine phonetische Assimilation unter dem Einfluss des
nachfolgenden [i]. Dieser Laut rief die Anpassung der vorhergehenden Vokale [a],
[o], [u], welche entsprechend zu [ᴂ], [ᴔ] und dem Diphthong [ᵫ] wurden. Später
wurde für diese Veränderung ein spezielles Zeichen verwendet: Zwei Punkte über
dem Vokal. So entstanden die Pluralformen vieler Substantive, Komparationsformen
der Adjektive und Konjugationsformen der Verben, vgl.:
Die Brechung ist eine Tonerhöhung als Resultat der phonetischen Assimilation. Sie
hat sich nur bei der Konjugation der starken Verben im Präsens erhalten: Ich spreche
– du sprichst, ich sehe – du siehst.
Die meisten synthetischen Mittel sind in der Gegenwartssprache vieldeutig, vgl.:
Das grammatische Formans -er kann den Lexemen folgende Bedeutungen verleihen:
bei der Deklination des Adjektivs bedeutet es den Nominativ Singular des
männlichen Geschlechts (ein interessanter Roman); bei der Bildung der
Steigerungsstufen des Adjektivs bezeichnet es den Komparativ (die Wolga ist breiter
als der Rhein). Es ist auch ein Pluralindikator bei Substantiven: Kind – Kinder bzw.
ein maskulines Ableitungssuffix: Fahren – Fahrer. Das Formans -e ist noch
vieldeutiger. Es bezeichnet bei der Konjugation der Verben die 1. Person Singular
(ich laufe); Es ist auch das Suffix des Konjunktivs (ich liefe) und die Endung des
Adjektivs (eine gute Note). Ebenso ist es ein Wortbildungssuffix: Jung – Junge,
scharf – Schärfe sowie ein Pluralsuffix: Tisch – Tische.
Eindeutig sind das Suffix -te, das das Präteritum der schwachen Verben bildet, und
das Präfix ge-, das zusammen mit dem Suffix -(e)n bei starken und -(e)t bei
schwachen Verben zur Bildung des Partizips II dient.
Analytische grammatische Mittel stehen getrennt von den Lexemen, deren
Bedeutung sie charakterisieren. Im Deutschen sind es in der Morphologie Artikel und
Hilfsverben, in der Syntax sind es Konjunktionen und Präpositionen.
Aufgaben
Aufgabe 1
Erklären Sie, welche Bedeutungen die Formantia -s und -(e)n verschiedenen
Sprachelementen verleihen können.
Aufgabe 2
Welches Verb ist im Deutschen kein Hilfsverb? Welche Wortformen werden mit
28
Hilfsverben gebildet?
sein, haben, müssen, werden
Aufgabe 3
Erklären Sie den Unterschied zwischen Konjunktionen und Präpositionen. Führen Sie
Beispiele an, wie die Konjunktionen und Präpositionen gebraucht werden.
Aufgabe 4
Bestimmen Sie die grammatische Form und die grammatische Bedeutung folgender
Verben:
Gäbe, führest, rät, würde, sollten, müsste, hättet, fandst, bäckt, riefe, kämen.
Aufgaben
Aufgabe 1
Stellen Sie das Deklinationsparadigma der starken und schwachen Substantive
zusammen. Wie viele Wortformen haben die Substantive der Vater und der Student?
Wie viele homonyme Wortformen haben sie?
Aufgabe 2
Zählen Sie alle Tempus- und Modusformen im System des deutschen Verbs auf. Wie
viele Bestandteile haben diese Paradigmen im Deutschen? Warum nennen wir diese
Paradigmen metasprachlich?
Aufgabe 3
Nennen Sie das Paradigma der starken Konjugation im Präsens Indikativ und
Konjunktiv Aktiv. Konjugieren Sie dabei die Verben geben und laufen. Wodurch
unterscheidet sich ihre Konjugation im Indikativ? Wie ist der Unterschied zwischen
Indikativ und Konjunktiv?
Aufgabe 4
31
Welche Struktur passt nicht in das Paradigma? Ersetzen Sie diese durch eine
passende:
Wird gebaut, wurde gebaut, ist gebaut worden, war gebaut geworden.
für diese Wortart typischen Kategorien vertreten. Diese Elemente sind für eine
bestimmte Wortart am typischsten. Elemente mit lückenhaften Paradigmen bilden die
Peripherie des Feldes; sie stellen Übergangsfälle zu anderen Wortarten dar. So sind
die Substantive das Gute, das Böse, das Grün, das Blau ein Übergangsfall zur
Wortart Adjektiv und das Substantiv der Hass ein Übergangsfall zur Wortart Verb.
Wir definieren dieses Feld als lexikalisch-grammatisch, denn dabei kommen
lexikalisch-grammatische Klassen einer Wortart zum Vorschein; bei den Substantiven
sind es Konkreta und Abstrakta, bei den Verben – transitive und intransitive
Subklassen, bei den Adjektiven – qualitative und relative Subklassen.
Es gibt auch noch eine andere Art Felder, die das Funktionieren der Elemente
widerspiegeln. So sprechen z.B. E.W. Gulyga und E.I. Schendels von lexikalisch-
grammatischen Feldern. Darunter werden lexikalische sowie grammatische Mittel
verstanden, die eine semantische Bedeutung ausdrücken können. Man kann z.B. vom
Feld der Modalität, der Temporalität, der Kausalität usw. sprechen. Das lexikalisch-
grammatische Feld besteht aus Mikrofeldern, so stellen z.B. E.W. Gulyga und E.I.
Schendels das Feld der Temporalität als die Gesamtheit von Mikrofeldern der
Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (Гулыга, Шендельс 1969).
A.W. Bondarko hat die Theorie des funktional-semantischen Feldes ausgearbeitet
(ТФГ 1990; ТФГ 1991). Im Zentrum eines funktional-semantischen Feldes befindet
sich gewöhnlich eine grammatische Kategorie und die Peripherie wird von
sprachlichen Elementen mit ähnlicher Semantik gebildet. So kann die Semantik der
Zeit durch die grammatische Kategorie Tempus wiedergegeben werden. Diese
Kategorie steht im Zentrum des funktional-semantischen Feldes der Temporalität. Die
Semantik der Zeit kann aber auch durch Adverbien, Wortgruppen oder Nebensätze
mit temporaler Bedeutung ausgedrückt werden, solche wie gestern, vor zwei Stunden,
als der Winter begann. Solche Elemente bilden die Peripherie des funktional-
semantischen Feldes.
Fazit
Eine allgemeine Definition des Feldes lautet: Das lexikalisch-grammatische oder
33
Aufgaben
Aufgabe 1
Erklären Sie, welche Funktionen erfüllen schön und kurz in folgenden Beispielsätzen:
34
Aufgabe 2
Erklären Sie in folgenden Sätzen die Polysemie von während: Während meiner Reise
habe ich viele Bekanntschaften gemacht. Während ich reise, kannst du viel erledigen.
Aufgabe 3
Finden Sie synonymische Formen zu folgenden Strukturen: An deiner Stelle; wenn du
nicht wärest; er sagte, er komme bald.
Aufgabe 4
Finden Sie das Formativ, das nicht in die Reihe passt. Bestimmen Sie, wozu die
angeführten Formative dienen und ob die Reihen synonymisch sind: -te, -st, ge-, -en,
-t; -(e)s, -(e)n, -er, -em.
Interkultureller Vergleich
Wortart, Zahl, Kasus, Geschlecht, Tempus, Modus, Genus. In der Syntax sind es Satz,
Äußerung, Satzglied, Subjekt, Prädikat, Wortstellung. Doch wird hier die Grundlage
der Einteilung nicht erwähnt, die in russischen Quellen vorrangig ist. So könnte man
eine integrierte Definition vorschlagen: Grammatische Kategorie ist Klasse oder
Gruppe von sprachlichen Elementen, die eine Einheit der grammatischen Form und
der grammatischen Bedeutung aufweisen. Als Klasse oder Gruppe ist dieser Begriff
metasprachlich gemeint, das heißt, dass er zur Beschreibung der grammatischen
Elemente verwendet werden kann. Zugleich aber wird grammatische Kategorie in
konkreten grammatischen Formen realisiert, man kann sie also als Existenzform der
sprachlichen Elemente bezeichnen.
Aus der russischen Tradition kann man unserer Meinung nach die Einteilung der
grammatischen Kategorien in logisch-grammatische und kommunikativ-
grammatische übernehmen, die auf A.M. Peškovskij (Пешковский 1956: 89)
zurückgeht und von W.G. Admoni auf die deutsche Sprache angewandt wird
(Admoni 1986: 11). Logisch-grammatische Kategorien hängen von der Perspektive
des Sprechenden nicht ab, das sind zum Beispiel die Kategorien der Zahl oder des
Kasus. Kommunikativ-grammatische Kategorien sind mit dem Prozess der
Sprechtätigkeit verbunden, das sind verbale Kategorien der Person, der Zeit, des
Modus und syntaktische Kategorien der Äußerung, der Wortstellung u.a. W.G.
Admoni unterscheidet zudem noch strukturell-grammatische Kategorien, die
formale Organisierung der Redeeinheiten gestalten. Dazu gehört beispielsweise „die
Rahmenkonstruktion als ein Mittel zur Zusammenschweißung des Satzes“ (Admoni
1986: 13). Diese Begriffe können aus unserer Sicht bei der grammatischen
Interpretation produktiv gebraucht werden.
Ein anderer schwer fassbarer Begriff, der in den deutschen Grammatiken auch
vermieden wird, ist der der grammatischen Bedeutung. Es wird eher über
Funktionen von sprachlichen Einheiten gesprochen. So werden in der GDS (1997:
7) die kommunikative Funktion und der sprachliche Formaufbau als komplementäre
Alternativen betrachtet. Demzufolge geht es beispielsweise nicht um die
38
zu erklären, dass in der russischen Sprache die Grundtendenz in der Wortbildung die
Derivation ist, die mit der Grammatik nur mittelbar verbunden ist. In der deutschen
Tradition wird die Wortbildung auch in der Lexikologie behandelt, zugleich aber ist
dieses Thema ein wichtiger Bestandteil der Morphologie. Dabei steht die
Komposition im Mittelpunkt (vgl. Elsen 2011), die viel Gemeinsames mit der Syntax
hat. Um diesen Unterschied auszugleichen, haben wir die Wortbildung in unser
Grammatikbuch aufgenommen.
Ein anderer Unterschied findet sich darin, dass sich der Bestand der behandelten
Begriffe und Theorien nicht deckt. Das betrifft insbesondere allgemeine Begriffe,
solche wie grammatische Kategorie und grammatische Bedeutung, aber auch
lexikalisch-grammatisches Feld. Diese Begriffe erscheinen in der russischen
Tradition unentbehrlich, weil sie die Basis der grammatischen Kenntnisse bilden. In
der deutschen Tradition werden theoretische Fragen im Rahmen von verschiedenen
Ansätzen behandelt wie beispielsweise Generative Grammatik oder Funktionale
Grammatik. Da diese Theorien ursprünglich anhand der englischen Sprache
aufgearbeitet wurden, werden sie in Russland in der Anglistik, nicht aber oder sehr
beschränkt in der Germanistik betrachtet.
Ein weiterer Unterschied lässt sich darin beobachten, dass der Umfang von
Morphologie und Syntax nicht zusammenfällt. In Russland wird die Morphologie
weiter verstanden; in den Beschreibungen nimmt sie mehr Platz ein als die Syntax.
Dabei werden nicht nur die Paradigmen der Wortarten behandelt, sondern auch ihr
Funktionieren. So wird beim Thema Substantiv nicht nur seine Deklination
betrachtet, sondern auch Funktionen der Kasus. In der deutschen Germanistik ist die
Syntax der wichtigste Teil. Da werden beispielsweise auch die Wortarten in der
Syntax behandelt, weil sie für die Satzanalyse wichtig sind (vgl. Dürscheid 2012).
Eine Ausnahme bildet wohl das Buch von J. Erben (1966), in welchem der
morphologische Teil überwiegt sowie die Grammatik von P. Eisenberg (2013a;
2013b), wo beide Teilgebiete der Grammatik ungefähr gleich stark vertreten sind.
Es gibt natürlich auch andere inhaltliche Unterschiede konkreteren Charakters, sie
41
werden hier nicht erwähnt. Was noch beim Vergleich der Grammatikbücher auffällt,
ist ihre typographische Gestaltung. Um kurz zu sein: Die deutschen Bücher sind viel
leserfreundlicher als die russischen.
42
TEIL II MORPHOLOGIE
Einführung
Morphologie heißt deutsch Formenlehre. Der Terminus kommt aus
Naturwissenschaften. J.W. Goethe, der sich nicht nur mit Dichtung, sondern auch mit
vielen Naturwissenschaften befasste, hat den Terminus Morphologie zur Bezeichnung
der Lehre von verschiedenen Gattungen und Arten lebender Organismen gebraucht
(Linke et al. 1996: 56). A. Schleicher bezog den Terminus auf den Bau der Wörter
und I. Baudouin de Courtenay verwendete zum ersten Mal den Terminus Morphem
als Oberbegriff für Endung und Stamm (Elke 2011: 1).
Die Morphologie im weiten Sinne des Wortes umfasst zwei Hauptbereiche: Die
Wortbildung und die Flexionslehre (Clément 1996: 128; Elke 2011: 1). In der
Wortbildung wird die innere Struktur der Wörter untersucht, Gegenstand der
Flexionslehre sind Regeln der grammatischen Veränderung der Wörter. Die
Morphologie studiert nicht die Formen im Einzelnen, sondern die grammatischen
Formen in ihren Beziehungen zu einander, das heißt im Sprachsystem. Der
grammatische Aspekt der Wortbildung besteht darin, dass sie im Zusammenhang mit
Wortarten studiert wird.
Grundbegriffe der Morphologie sind das Morph, das Morphem, das Paradigma, die
Wortform und die Wortart.
Wir beginnen mit der kleinsten bedeutungstragenden Konstituente des Wortes – dem
Morph. Als Morph bezeichnet man die Endkonstituente des Wortes. Das ist eine
Konstituente, die nicht weiter geteilt werden kann, ohne die Bedeutung zu verlieren.
Die Morphe werden ausgeschieden, wenn man eine Reihe von Wortformen oder eine
43
Arbeit-en
arbeit-est
die Arbeit
die Arbeit-en
Aus dem Vergleich der angeführten Wortformen und Wortgruppen kann man folgende
Morphe ausgliedern: arbeit/Arbeit als Wurzel; -en als Infinitivsuffix und als
Pluralsuffix des Substantivs; -est als Personalendung des Verbs; -end als Suffix des I.
Partizips; -e als Endung des Nominativs Singular; ab- als Wortbildungspräfix, das der
Partizip eine abgeschlossene Bedeutung verleiht; ge- als grammatisches Präfix, das
zur Bildung der Partizipien II dient; -et als Suffix der Partizipien II von schwachen
Verben.
Aus dem Beispiel folgt, dass es verschiedene Arten von Morphen gibt.
Wurzelmorphe oder einfach Wurzeln sind Träger der lexikalischen Bedeutung des
Wortes. Träger der grammatischen oder kategorialen Bedeutungen sind grammatische
Affixe. Man unterscheidet sie je nach der Position, die sie in Bezug auf die Wurzel
einnehmen. Affixe, die vor der Wurzel stehen, heißen Präfixe und Affixe, die nach
der Wurzel stehen, heißen Suffixe oder Endungen. Die letzten zwei Arten
unterscheiden sich dadurch, ob sie verändert werden oder unverändert bleiben. Im
ersten Fall sind es Endungen oder Flexionen, im zweiten sind es Suffixe. Wenn das
Wort aus zwei oder mehreren Wurzeln besteht, können die Wurzeln durch Interfixe
verbunden werden, wie in Vorlesungsverzeichnis.
Es gibt auch sogenannte Nullmorphe. Das Nullmorph drückt die Bedeutung durch
sein Fehlen aus. Das kommt bei dem Vergleich mit anderen Wortformen zum
Ausdruck. So bekommen die starken Maskulina oder Neutra im Genitiv Singular die
44
Endung –s, die Feminina aber bleiben endungslos, sie werden also durch ein
Nullmorph charakterisiert: Gen. Sg. Vater-s, Fenster-s, aber: Mutter-.
Die phonetische Gestaltung des Morphs kann variieren. So können sich die Vokale
der Wurzelmorphe je nach Ablaut, Umlaut oder Brechung verändern. Phonetische
Varianten der Morphe, die mit Veränderung der grammatischen Bedeutung verbunden
sind, heißen Allomorphe. Im Deutschen kann auch der Konsonantenwechsel zur
Entstehung der Allomorphe beitragen, vgl.:
Man unterscheidet im Deutschen einige Arten der Morpheme. Die wichtigsten davon
sind: Freie und gebundene Morpheme; lexikalische und grammatische Morpheme;
Affixe und Stamm; suppletive Morpheme und Morphemalternanten.
Freie Morpheme können als eigenständige Wörter auftreten; das sind in der Regel
Wurzelmorpheme wie Tisch, Wand, Frau, heil, kurz. Gebundene Morpheme treten
nie als selbständige Wortformen auf; sie bilden eine Wortform immer zusammen mit
anderen Morphen. Es können sowohl Wurzeln als auch Affixe sein, z. B. find-en,
sammel-n, Tafel-n, Nächt-e.
Lexikalische Morpheme haben eine lexikalische Bedeutung, sie heißen auch
Wurzelmorpheme. Sie werden in der Grammatik betrachtet, weil sie auch
45
sein – war – bin – ist (Verflechtung von drei Stämmen: s-, w-, b-);
Aufgaben
Aufgabe 1
Machen Sie eine morphologische Analyse folgender Wörter. Bestimmen Sie freie und
gebundene Morphemtypen:
Stehen – stand – gestanden, Bank – Bänke, fahren – führest, zumachen – machst zu,
Ganzheit, Feldblume, Vergissmeinnicht.
Aufgabe 2
Finden Sie Morphemalternanten, die in folgenden Wortformen vorkommen: Briefe,
Zeichen, Artikel, Omas, Jungen, Schiffe, Bretter; gerannt, gegessen, getrunken, abgewischt.
Aufgabe 3
Welches Morph passt nicht in die Reihe und warum?
Büch-, nimm-, Nächt-, Städt-, -(e)st; b) stöß-, komm-, schlaf-, send-; c) zum, zur, am,
ab.
Aufgabe 4
Machen Sie eine morphologische Analyse folgender Werbesprüche:
Größer, besser, lecker (MacDonald’s).
Eine Kuh macht Muh,
Viele Kühe machen Mühe.
47
Wortarten
Die Kategorie der Wortarten bildet die Grundlage für die gesamte Grammatik der
indoeuropäischen Sprachen. Das ist eine klassifizierende Kategorie, die alle Wörter
der Sprache in Klassen ordnet und somit die Beschreibung ihres Funktionierens
ermöglicht (vgl. Moskalskaja 1983: 41).
Nicht umsonst hat die Wortartforschung eine lange Geschichte hinter sich. Bereits im
Altertum versuchten die Gelehrten das Wortgut der Sprache in Klassen zu vereinigen.
Zum ersten Mal hat Aristoteles im IV. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung drei
Wortarten ausgegliedert. Aristoteles hat das Funktionieren der Wörter in der Rede als
Grundlage für seine Einteilung genommen. Auf dieser Grundlage konnte er das
Nomen, das Verb und die Konjunktion unterscheiden. Das Nomen diente zur
Bezeichnung der Gegenstände, das Verb zur Bezeichnung der Handlungen und die
Konjunktion benutzte man, um verschiedene Bezeichnungen mit einander zu
verbinden. Somit wurden zwei wichtigste Funktionen der Wortarten bestimmt: Die
bezeichnende und die verbindende. Dieser Unterschied liegt der Differenzierung der
Begriffswörter und Hilfswörter zu Grunde, die auch heute gemacht wird.
Ein Jahrhundert später hat man in der Alexandrinischen Schule die Einteilung
vervollkommnet, indem man acht Wortarten ausgegliedert hat. Die Kategorie des
Nomens wurde weiter geteilt: Man hat aus dieser Kategorie die Wörter ausgegliedert,
die Eigenschaften bezeichnen, das waren Adjektive; als besondere Wortarten wurden
nun Artikel und Pronomina angesehen. Das Verb blieb weiter als selbständige
Wortart. Man hat eine Klasse der unveränderlichen Wörter mit selbständiger
lexikalischer Bedeutung ausgegliedert, das waren Adverbien. Die Kategorie der
48
Das Mädchen ist schön. (Wie ist das Mädchen? – ein Adjektiv).
Das Mädchen singt schön. (Wie singt das Mädchen? – ein Adverb).
Pluralbildung und Deklination der Substantive der Fall, denn die Substantive
bekommen bei der Bildung dieser Formen bestimmte Suffixe oder Endungen. Die
Steigerungsstufen der Adjektive werden auch mit Hilfe von Suffixen gebildet: Schön
– schöner – der schönste.
Doch weisen sowohl Verben als auch Substantive analytische Züge auf. Bei den
Verben werden sie im Gebrauch der Hilfsverben realisiert. Die Hilfsverben dienen
zur Bildung von vielen verbalen Formen, von den Tempusformen werden mit ihrer
Hilfe Perfekt, Plusquamperfekt und die beiden Futuri des Indikativs und des
Konjunktivs gebildet. So lautet die 2. Person Singular im Indikativ hast, hattest
gelesen; wirst lesen und im Konjunktiv habest, hättest gelesen, werdest lesen. Der
Konjunktiv hat zudem noch zwei umschriebene Formen Konditionalis I und II:
Würdest lesen, würdest gelesen haben. Das Passiv ist im Deutschen auch analytisch,
wobei viele passive Formen mehrteilig sind: Du wirst gerufen, du bist gerufen
worden. Bei dem Substantiv ist der Artikel ein analytischer Formant. Aber die
analytischen Formantia werden im Deutschen flektiert: Hilfsverben werden, wie die
Beispiele zeigen, konjugiert und Artikel werden dekliniert. Das beweist, dass Deutsch
seinem Sprachbau nach eine synthetische Sprache bleibt, wenn auch analytische Züge
zunehmen.
Die Zunahme der analytischen Züge kann man an einigen Tendenzen und bereits
vollzogenen Tatsachen sehen. Eine Tendenz, die sich im Laufe der Sprachgeschichte
verfolgen lässt, besteht in der Reduktion der Kasuszahl und der Kasusendungen. So
gab es im Althochdeutschen außer der heutigen vier Kasus teilweise noch einen
Kasus – den Instrumentalis. Das war ein synthetischer Fall und heute wird an seiner
Stelle eine analytische Konstruktion mit + Dativ gebraucht: Suertu > mit dem
Schwert (Moskalskaja 1969: 77).
Die Reduktion der Vokale in den Kasusendungen führte zur Homonymie der Formen,
die ein typisches Merkmal des analytischen Sprachbaus ist. Die homonymischen
Formen kann man nur mit Hilfe des Artikels unterscheiden. So lauteten im
Althochdeutschen die ersten zwei Fälle vom Wort Tag im Plural verschieden: N. taga,
52
G. tago. Jetzt sind diese Formen gleich: N. die Tage, G. der Tage.
Ein ähnlicher Reduktionsprozess führte dazu, dass die Kurzform der Adjektive mit
gleichnamigen Adverbien zusammenfiel. Kurz heißt heute nicht nur короткий,
sondern auch кратко: Seine Haare sind kurz und Er spricht kurz.
Wortartwechsel
einer teilweisen Anpassung an die neue Kategorie. Ein anderes Beispiel betrifft den
Artikelgebrauch. Viele abstrakte Substantive, die aus Verben oder Adjektiven gebildet
sind, werden ohne Artikel gebraucht, wobei die Kategorie der
Bestimmtheit/Unbestimmtheit nicht ausgedrückt bleibt. Vgl.: Schönheit vergeht,
Tugend besteht.
Im Deutschen kann jede Wortart substantiviert werden. Typisch ist die
Substantivierung der Verben und Adjektive, die wir an Beispielen bereits verfolgt
haben. Jetzt zeigen wir, dass auch andere Wortarten diesem Prozess unterliegen. Viele
Substantivierungen sind dabei lexikalisiert, andere bleiben Einmalbildungen. Vgl.:
Das Adverb: Das Heute ist nicht immer besser als das Gestern.
Das Zahlwort: Die Eins ist in Deutschland die beste Note.
Das Pronomen: Jedem das Seine.
Das Partizip: das Gelesene, der Begleitende.
Die Interjektion und die Konjunktion: Deine ewigen Achs und Abers!
Die Eigenschaft der deutschen Wörter, von einer Wortart in eine andere zu übertreten,
ist einer der Gründe, warum es Diskussionen über die Wortarten gibt. Der andere
Grund solcher Diskussionen ist, dass einige Wortarten gemeinsame Eigenschaften
aufweisen können. In der deutschen Grammatik gibt es keine Streitigkeiten in Bezug
auf das Substantiv und das Verb. Alle anderen Wortarten werden von
Grammatikforschern unterschiedlich interpretiert.
So werden z.B. Adjektive und Adverbien von den russischen Germanisten als
unterschiedliche Wortarten definiert (O.I. Moskalskaja, W.G. Admoni, E.I.
Schendels). Dieselbe Meinung vertreten deutsche Germanisten W. Jung, E. Hentschel
und H. Weydt. In den Grammatiken von H. Glinz, J. Erben und H. Brinkmann
werden Adjektive und Adverbien im Rahmen der Wortklasse Adjektiv betrachtet. Wir
sind der Ansicht, dass Adjektive und Adverbien unterschiedliche Wortarten sind, weil
sie eine verbale Handlung charakterisieren und somit zum Funktionsbereich der
54
Verben gehören.
Auch Numeralien werden nicht einheitlich behandelt. In den russischen
Grammatiken von W.G. Admoni, O.I. Moskalskaja, E.I. Schendels sowie E.W.
Gulyga werden sie als eine besondere Wortklasse charakterisiert. W. Jung ist der
Ansicht, dass Numeralien keine selbständige Wortart bilden können. Diese Meinung
ist auch in der Duden-Grammatik vertreten. Wir betrachten Numeralien als eine
selbständige Wortart, deren Eigenschaft darin besteht, in der Funktion von
Substantiven, Adjektiven, Adverbien und Pronomen aufzutreten (z.B. das Tausend,
der erste Oktober usw.).
Es gibt unterschiedliche Interpretationen von Pronomina. Russische Germanisten
betrachten Pronomina als eine selbständige Wortklasse (W.G. Admoni, O.I.
Moskalskaja, E.I. Schendels, E.W. Gulyga). Als eine besondere Wortart werden
Pronomen von E. Hentschel und H. Weydt (1994) betrachtet. W. Jung charakterisiert
Pronomina als eine Wortart, „die sich bald wie ein Substantiv, bald wie ein Adjektiv
der Rede einordnet“ (Jung 1996: 331). G. Helbig und J. Buscha behandeln Pronomen
in der Klasse der Substantiv- und Artikelwörter (z.B. die Million gehört zu
Substantivwörtern, mein und dieses – zu den Artikelwörtern) (Helbig & Buscha 2005:
207, 322). Wir betrachten Pronomina als eine besondere Wortart, die die
Eigenschaften anderer Wortarten aufweisen kann.
Unterschiedlich wird auch der Artikel interpretiert. O.I. Moskalskaja und
E.I. Schendels betrachten den Artikel als eine besondere Wortklasse. W. Jung ist der
Ansicht, dass der Artikel keine selbständige Wortart ist. G. Helbig und J. Buscha
(2005) verwenden den Terminus Artikelwörter. Zu dieser Wortklasse zählen sie auch
Demonstrativ-, Possesiv-, Interrogativ- und Indefinitipronomina. Die Duden-
Grammatik unterscheidet zwischen einem Artikel im engeren Sinne und einem
Artikel im weiteren Sinne. Artikel im engeren Sinne sind der bestimmte Artikel der,
die, das und der unbestimmte Artikel ein, eine, ein. Zu den Artikeln im weiteren
Sinne werden gezählt: Demonstrativpronomen, Possessivpronomen,
Interrogativpronomen und Indefinitpronomen (Duden 1998: 326). P. Eisenberg grenzt
55
Artikel von den Pronomina ab. So können wir z.B. sagen Diesen Kuchen mag ich und
Diesen mag ich, deswegen ist dieser kein Artikel (Eisenberg 1986: 152). Wir sind der
Ansicht, dass der Artikel zu Funktionswörtern gezählt werden kann. Die
Hauptfunktion des Artikels besteht darin, die Definitheit/ Indefinitheit auszudrücken.
Die Negation wird als eine selbständige Wortart von W.G. Admoni charakterisiert.
Negationswörter weisen verschiedene morphologische Bildungen und syntaktische
Fügungspotenzen auf. Niemand gleicht morphologisch dem Indefinitpronomen
jemand und wird wie jemand an der Stelle des Substantivs verwendet. Kein gleicht
im Deklinationssystem dem unbestimmten Artikel ein. Dass die Negation trotzdem
eine besondere Wortklasse bildet, begründet W.G. Admoni damit, dass sie zwei
wichtige modale Typen von Sätzen voneinander abgrenzt: Die affirmativen und die
negativen. Im Gegensatz zur russischen Sprache schließt der Gebrauch einer
Negation im Satz den Gebrauch anderer Negationen aus. Die Negation zählt
W.G. Admoni zur modalen Kategorie (Admoni 1986: 158). Wir sind der Ansicht,
dass es ziemlich viele Affinitäten zwischen der Negation und der Modalität gibt
(ausführlicher darüber s. § Der Begriff Verumfokus).
Ziemlich viele Unterschiede gibt es in Bezug auf die Interpretation der Mödalwörter
und Partikeln. In der russischen Germanistik werden Modalwörter und Partikeln als
gesonderte Wortklassen charakterisiert (O.I. Moskalskaja, E.I. Schendels,
E.W. Gulyga). Manche deutsche Sprachforscher betrachten Partikeln und
Modalwörter als eine Wortklasse, da sie unflektiert sind (U. Engel). Ähnlich werden
diese Wortarten von E. Hentschel und H. Weydt behandelt: Sie sprechen von
„Partikeln im weiteren Sinne“, zu denen sie Präpositionen, Konjunktionen,
Konjunktionaladverbien, Modalwörter, Interjektionen, Abtönungspartikeln sowie die
Negationspartikel nicht zählen. G. Helbig und J. Buscha sind der Ansicht, dass
Modalwörter und Partikeln zu unterschiedlichen Wortarten gehören. Über
wesentliche Unterschiede zwischen Modalwörtern und Modalpartikeln schreiben W.
Abraham (2011) und E. Leiss (2011). Wir sind auch der Ansicht, dass Partikeln und
Modalwörter viele Unterschiede aufweisen (vgl. § Das Modalwort sowie § Die
56
Partikel).
Interjektionen werden auch uneinheitlich behandelt. Von russischen Forschern
werden sie als eine gesonderte Wortklasse interpretiert (O.I. Moskalskaja,
E.I. Schendels, E.W. Gulyga). In deutschen Grammatiken werden sie häufig als
„Partikeln im weiteren Sinne“ aufgefasst, da sie unflektiert sind (Hentschel & Weydt).
Wir sind der Ansicht, dass Interjektionen eine besondere Wortart bilden, da sie über
besondere Eigenschaften verfügen (§ Interjektionen).
Fazit
Deutsch ist eine synthetische Sprache mit zunehmenden analytischen Zügen.
Übergänge im System der Wortarten sind möglich. Es gibt einige Kriterien,
nach denen Wörter in Wortklassen eingeteilt werden: 1) Verallgemeinerte
grammatische Bedeutung, 2) grammatische Kategorien oder morphologische
Prägung und 3) syntaktische Funktion oder Satzgliedwert. In Bezug auf die
Zahl der Wortarten bestehen in deutschen und russischen Grammatiken
Meinungsverschiedenheiten.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Bestimmen Sie, welche Wörter Begriffswörter und welche Hilfswörter sind und zu
welcher Wortart sie gehören. Erklären Sie Ihre Entscheidung.
Gasthaus, widersprechen, zweitens, weder…noch, das Ja, landen, und, morgen,
haben, zu, bekommen, sein, sich, entweder…oder, manchmal, von, nie.
Aufgabe 2.
Bilden Sie von den folgenden Verben alle möglichen Substantive. Erklären Sie ihre
Wortbildungsart. Zeigen Sie, wie sie in Sätzen gebraucht werden können.
57
Aufgabe 3.
Bilden Sie von den folgenden Wörtern alle möglichen Adjektive. Erklären Sie ihre
Wortbildungsart. Zeigen Sie, wie sie in Sätzen gebraucht werden können.
Machen, dienen, Schule, lehren, verstehen, Gold, München, vierzig, krank, Staub,
finden, dort, gestern, regnen, Winter, Zeit, sparen, Geduld.
Aufgabe 4.
Erklären Sie, wie folgende Wörter durch Wortbildung ihre Wortart wechseln können.
Klar, Glas, fein, blass, nein, Freund, frisch, Arbeit, Absicht, beobachten,
zurückkehren.
Aufgabe 5.
Bestimmen Sie die Wortarten und ihre Formen im folgenden Gedicht von Theodor
Storm.
Und sind die Blumen abgeblüht,
So brecht der Äpfel goldne Bälle;
Hin ist die Zeit der Schwärmerei,
So schätzt nun endlich das Reelle!
Aufgabe 6.
Schreiben Sie einen Text zu einem beliebigen Thema; gebrauchen Sie dabei alle
Wortarten. Kommentieren Sie das Geschriebene.
58
Interkultureller Vergleich
Bei der Behandlung der Wortarten gibt es bestimmte Besonderheiten in der Russistik
und der russischen und ausländischen Germanistik.
Die Theorie der Wortarten in der russischen Germanistik hat sich unter dem Einfluss
der Russistik herausgebildet. Diesen Einfluss kann man in Folgendem sehen.
Da im Russischen Adjektive und Adverbien ganz sicher verschiedene Wortarten sind,
werden sie auch im Deutschen auseinander gehalten. W.G. Admoni sieht diesen
Unterschied in verschiedenen semantischen Projektionen der Adjektive und
Adverbien, wenn sie situationsfern und kontextfrei gebraucht werden. Solche Wörter
wie groß, hoch, alt sind auf Dinge oder Personen bezogen; im Gegenteil orientieren
sich solche Wörter wie schnell, langsam, laut auf einen Prozess oder eine Handlung.
Syntaktisch bedeutet das, dass die ersten Substantive näher bestimmen, also
Adjektive sind, die zweiten aber werden als nähere Bestimmungen der Verben
gebraucht, sind demzufolge Adverbien (Admoni 1986: 148-149).
Im Russischen gibt es keinen Artikel, der im Deutschen das Zentrum der Kategorie
der Determination bildet und somit auch solche Wortarten wie Pronomina und
Numeralien zu dieser Kategorie heranzieht. Im Russischen gibt es keinen Anlass
dazu; so bleibt in der russischen Germanistik der Wortartwert von Pronomina und
Numeralien unangetastet. Sie werden – trotz ihrer Mannigfaltigkeit – als selbständige
Wortarten behandelt, vor allem auf Grund ihrer verallgemeinerten Bedeutung. Was
sie zusammenhält, ist ihr gemeinsamer Bedeutungsgehalt: Bei den Numeralien ist es
abstrahierte Quantität und bei den Pronomina – die Semantik der Bezogenheit, des
Hinweises (Admoni 1986: 151-153).
Nach der Analogie mit dem Russischen werden auch im Deutschen die Modalwörter
als selbständige Wortart ausgegliedert, obwohl sie mit gleichnamigen Adjektiven und
Adverbien zusammenfallen können (Moskalskaja 1983: 45). Vgl.: Ich bin sicher,
dass du damit fertig sein wirst (Adjektiv) – Das stimmt sicher nicht (Modalwort). Er
59
GRUNDLAGEN
Das Verb bezeichnet als Wortart einen Prozess, eine Handlung oder einen Zustand,
die während eines Zeitpunkts verlaufen, das heißt eine Beziehung zu einem Zeitpunkt
haben:
Er schläft (Gegenwart),
Er schlief (Vergangenheit),
Er wird schlafen (Zukunft)
Das Verb heißt auch deswegen das Zeitwort.
Nach dem Substantiv ist das Verb die zweitgrößte Wortart (Абрамов 2001: 43). Nach
den Beobachtungen von O.I. Moskalskaja hat das Verb die Vorrangstellung unter den
anderen Wortarten (Moskalskaja 2004: 48). Sie weist auf folgende bedeutende
Eigenschaften des Verbs hin:
(1) Das Verb spielt die zentrale Rolle im Satz;
(2) das Verb besitzt ein reich ausgebautes System von grammatischen Kategorien und
(3) das Verb hat ein entwickeltes System von Wortformen, was sein Paradigma unter
allen anderen Wortarten auszeichnet (ebenda, S. 48-49). Unter dem verbalen
Paradigma versteht man die Gesamtheit der Wortformen des Verbs.
60
Das Paradigma des deutschen Verbs verfügt über einen großen Formenreichtum. Im
verbalen Paradigma stehen zwei Gruppen von Wortformen einander gegenüber und
bilden somit Oppositionen:
• Die konjugierbaren Formen (verbum finitum, die finiten Formen des Verbs);
• die nicht konjugierbaren Formen (verbum infinitum, oder die Nominalformen
des Verbs).
Zu den konjugierbaren Formen gehören:
• Drei Personalformen im Singular und im Plural;
• sechs Tempusformen: Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I,
Futur II;
• drei Genera: Aktiv, Passiv, Stativ;
• drei Modi: Indikativ, Konjunktiv, Imperativ.
Zu den infiniten Formen des Verbs gehören:
• Partizipien: das Partizip I und das Partizip II;
• Infinitive: der Infinitiv I und der Infinitiv II.
Das deutsche Verb besitzt drei Grundformen, die allen anderen verbalen Formen
zugrunde liegen. Das sind Infinitiv, Präteritum und Partizip II. Je nach der Bildung
der Grundformen werden in traditionellen Grammatikbüchern zwei Hauptgruppen
und drei Nebengruppen der Verben unterscheiden. Zu den Hauptgruppen gehören die
schwachen und die starken Verben. Die Bezeichnungen „schwach“ und „stark“
stammen von Jacob Grimm. Er meinte, dass die schwachen Verben deshalb
„schwach“ sind, weil sie nur mit Hilfe eines Suffixes ihre Formen bilden können. Die
starken Verben dagegen sind imstande auch ohne Suffix das Präteritum zu bilden, nur
durch Vokalwechsel (Elsen 2011: 179). Zu den Nebengruppen gehören die
schwachen Verben mit Präsensumlaut, die Präteritopräsentia und die eigentlichen
62
Diesen Weg haben auch solche Verben hinter sich wie schmerzen, hinken, bellen,
schalten, spannen. In dem Verb salzen ist das Präteritum schwach geworden, das
Partizip aber kann schwach oder stark sein, vgl.:
Salzen – salzte – gesalzt (gesalzen).
Andere Verben haben parallele Formen:
Backen – buk – gebacken; er backt und er bäckt
backte – gebackt
Einige Verben haben parallele Formen mit Unterscheidung der Bedeutung:
Schaffen – schaffte – geschafft (сделать ч.-л., справиться с ч.-л.), aber: Schaffen –
schuf – geschaffen (создать ч.-л.).
Trotzdem kommen die starken Verben im Gebrauch sehr oft vor, weil sie wichtige
Begriffe bezeichnen und sehr viele Ableitungen und zahlreiche Wortverbindungen
mit Substantiven bilden, vgl.: Kommen, bekommen, auskommen, verkommen,
vorkommen; zum Ausdruck kommen, zum Vorschein kommen u.a.m.
Klassifikation der starken Verben
Früher war die Einteilung der starken Verben der Gegenwartssprache nach sieben
63
Ablautreihen des Althochdeutschen verbreitet. Heute hat sich der Ablaut nur in
einigen Verben in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben, und zwar bei den
Verben der 3. Ablautreihe. Es ist der Wechsel i – a – u: Trinken – trank – getrunken,
singen – sang – gesungen, finden – fand – gefunden. Im Laufe der Sprachgeschichte
unterlagen die Grundformen vielen phonetischen Veränderungen, die manchmal das
Verb unerkennbar machten. Aus diesem Grunde ist die historische Klassifikation nach
den Ablautreihen nicht mehr aktuell. Doch gibt es bis heute keine bessere
Klassifikation, da die sprachlichen Veränderungen noch nicht so weit gegangen sind,
um eine neue logische Einteilung zu ermöglichen. In einigen deutschen
Grammatikbüchern (W. Jung, W. Schmidt, P. Grebe) wird eine formale Einteilung
vorgeschlagen, wobei alle starken Verben in 3 Gruppen eingeteilt werden, je
nachdem, ob alle Formen verschieden sind oder ob sich der Wurzelvokal in einer
Form unterscheidet und in 2 Formen gleich ist. Diese Einteilung zeigt, wie die
Bandbreite der Vokalveränderungen in der modernen Sprache ist, erklärt aber diese
Veränderungen nicht. Vgl.:
Die 1. Gruppe: Dem Stammvokal des Infinitivs /Präsens entsprechen im Präteritum
und Partizip II gleiche, aber andere Vokale. Dabei sind folgende Wechsel möglich: ei
– ie – ie; e – o – o; au – o – o; ie (i) – o – o; ö – o – o. Beispiele: Schreiben – schrieb
– geschrieben, fliegen – flog – geflogen, reiten – ritt – geritten; bewegen – bewog –
bewogen, heben – hob – gehoben; saugen – sog – gesogen; biegen – bog – gebogen,
genießen – genoss – genossen, verlieren – verlor – verloren; schwören – schwor –
geschworen.
Die 2. Gruppe: Der Stammvokal ist im Infinitiv und Partizip II gleich, im Präteritum
aber anders. Mögliche Vokalwechsel sind: a – ie (i) – a; a – u – a; e – a – e; au – ie –
au; u – ie – u; o – a – o. Beispiele: Raten – riet – geraten, fangen – fing – gefangen,
schlafen – schlief – geschlafen; fahren – fuhr – gefahren, tragen – trug – getragen,
schlagen – schlug – geschlagen; essen – aß – gegessen, geben – gab – gegeben, lesen
– las – gelesen; laufen – lief – gelaufen; rufen – rief – gerufen; kommen – kam –
gekommen.
64
Früher war diese Gruppe viel größer gewesen, aber die meisten Verben dieser Gruppe
haben später den Umlaut in allen Formen bekommen und sind schwach geworden,
z.B. hören – hörte – gehört, küssen – küsste – geküsst, zählen – zählte - gezählt. Die
Verben senden und wenden haben auch regelmäßige schwache Formen: Wendete –
gewendet, sendete – gesendet.
Die Präteritopräsentia (dürfen, können, sollen, müssen, wollen, mögen und das Verb
wissen). Diese Verben heißen Präteritopräsentia, weil ihre jetzigen Präsensformen die
starken Präteritumformen sind. Sie haben im Präsens Singular einen Ablautvokal (ich
kann, ich darf) wie starke Verben im Präteritum (ich half, ich nahm) (Jung 1997:
188). Sie haben folgende Besonderheiten: 1) Sie verändern ihren Stammvokal, 2) sie
haben keine Personalendung in der 1. und 3. Person Singular, 3) ihre Singular- und
Pluralformen im Präsens haben verschiedene Stammvokale (außer sollen), was früher
allen starken Verben eigen war. Der Plural des Präsens entspricht dem Infinitivstamm.
Das Paradigma der Modalverben ist nicht vollständig: Sie bilden kein Passiv und
keinen Imperativ (Elsen 2011: 181). Die Präteritopräsentia haben im
Neuhochdeutschen eine Besonderheit, die sie früher nicht besaßen, nämlich zwei
Formen des Partizips II, eine schwache Form (gekonnt, gemusst, gesollt) und eine
starke Form, die mit dem Infinitiv zusammenfällt (wollen, können, müssen). Nur das
Verb wissen hat eine Form gewusst. Die beiden Formen des Partizips II werden in
zwei verschiedenen Fällen gebraucht. Das schwache Partizip II kommt dann vor,
wenn das Modalverb im Perfekt oder Plusquamperfekt ohne Infinitiv gebraucht ist:
Die zweite Form des Partizips, die auch als „Ersatzinfinitiv“ bezeichnet wird, wird
dann gebraucht, wenn sich das Modalverb mit einem Infinitiv verbindet (vgl. Jung
1997: 190):
Die eigentlichen unregelmäßigen Verben. Das sind die Verben haben, sein, werden,
gehen, stehen, tun, bringen. Sie bilden ihre Grundformen unregelmäßig. Das Verb
haben war früher ein schwaches Verb mit regelmäßigen Formen. Im
Mittelhochdeutschen wurde es im Infinitiv und Präsens oft zusammengezogen:
Haben → hân. Später vermischten sich die vollen und die zusammengezogenen
Formen dieses Verbs: Ich habe – du hast – er hat. Das Präteritum hatte auch den
Konsonanten -b- verloren: hatte, außerdem hat dieses Verb im Präteritum Konjunktiv
den Umlaut erhalten: hätte, während die schwachen Verben keine innere Flexion im
Konjunktiv haben.
Das Verb sein bleibt das unregelmäßigste aller Verben. Es bildet seine Grundformen
von verschiedenen Stämmen, ist also suppletiv: Sein — war — gewesen. Im Präsens
erscheint die dritte Wurzel: Ich bin, du bist. Das ist das einzige mi-Verb der
Gegenwartssprache: Ich bin ← ich bim.
Das Verb werden war früher ein regelmäßiges starkes Verb der dritten Ablautreihe mit
den Grundformen werden – ward – wurdum — giwordan. In der Gegenwartssprache
gebraucht man im Präteritum die Form wurde. Darin besteht seine Unregelmäßigkeit,
denn bei anderen Verben dieser Reihe hat sich die Singularform des Präteritums
durchgesetzt: Ich half, ich trank u.a.m. Das Verb werden steht vereinzelt da.
Außerdem hat es noch den Vokal -e im Auslaut: wurde.
Bei den Verben gehen und stehen sind die zusammengezogenen Formen gȇn, stȇn
fest geworden, und zwar in der ersten Grundform und im Präsens. Das Präteritum und
das Partizip II haben die vollen Formen behalten: Gehen – ging – gegangen, stehen –
stand – gestanden.
Das Verb tun ist reduplizierend, im Präteritum wird der Konsonant -t wiederholt: Tun
– tat – getan.
Das Verb bringen ist ein gemischtes Verb, weil es früher stark gewesen ist und später
67
das schwache Suffix erhalten hatte. Das ist das einzige gemischte Verb der
Gegenwartssprache mit den Grundformen bringen — brachte — gebracht.
Nach ihrer Leistung im Satz, die eng mit der Semantik zusammenhängt, werden die
Verben verschiedenartig klassifiziert. Die meisten Grammatiker unterscheiden
folgende Gruppen: Vollverben, Hilfs- oder Auxiliarverben, persönliche vs.
unpersönliche Verben, Kopulaverben, Modalverben, Modalitätsverben,
Funktionsverben.
Nach ihrer Rolle im Bestand des Prädikats teilt man die Verben in folgende
Gruppen ein:
1. Vollverben behalten ihre lexikalische Bedeutung; das sind die meisten Verben der
Sprache. Sie heißen „Vollverben“, weil sie die Funktionen eines Verbs „voll und
ganz“ erfüllen können, und zwar sie bilden selbständig das Prädikat eines Satzes. Die
anderen Gruppen, z.B. Modalverben, können gewöhnlich nur Teile des Prädikats sein
(Hentschel /Weydt 1994: 64).
2. Hilfsverben. Sie bilden als finite Formen kombiniert mit infiniten Vollverbformen
(Infinitiv, Partizip II) Tempus- und Passivformen des jeweiligen Vollverbs, der
Kopula- und Modalverben. Im Bestand der analytischen Tempus- und Passivformen
verlieren sie ihre Grundbedeutung und funktionieren als Dienstwörter. Es gibt drei
solche Verben: Sein, haben, werden. Mit Hilfe von haben oder sein werden das
Perfekt, das Plusquamperfekt und das Futurum II des Aktivs gebildet:
Das Verb sein wird auch zur Bildung des Zustandspassivs gebraucht: Das Brot ist
gebacken, war gebacken, ist gebacken gewesen.
Mit Hilfe von werden bildet man die beiden Futuri und das ganze Passiv: Ich werde
ausruhen /ausgeruht haben; er wird /wurde gelobt, er ist /war gelobt worden, er wird
gelobt worden sein. (Vgl. Jung 1997: 189).
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3. Kopulaverben. Das sind die Verben sein, werden, bleiben, heißen, scheinen, die
mit einem unflektierten Adjektiv, einem Adverb oder einem Substantiv kombiniert
werden und das nominale Prädikat bilden. In dieser Funktion verlieren sie ihre
Bedeutung als Vollverben und dienen nur zur Verbindung des Subjekts mit dem
Prädikativ. In manchen Fällen können sie als Vollverben gebraucht werden, vor allem
das Verb sein in Verbindung mit Adverbialien des Ortes: Er ist zu Hause (Er blieb zu
Hause).
4. Modalverben. Zu dieser Gruppe gehören sechs Präteritopräsentia (dürfen, können,
mögen, müssen, sollen, wollen) und lassen. Die Modalverben bezeichnen keine
Prozesse oder Zustände, die durch Vollverben bezeichnet werden. Die Modalverben
zeigen nur die Möglichkeit, Notwendigkeit oder Erwünschtheit eines Prozesses oder
eines Zustandes. Zusammen mit dem Infinitiv des Vollverbs bilden Modalverben
zusammengesetzte verbale Prädikate. Formales Merkmal solch eines Prädikats ist,
dass der Infinitiv ohne Partikel zu steht.
5. Modifizierende Verben. Eine Reihe von Verben, die morphologisch keine
Präteritopräsentia sind, haben doch verschiedene modale Bedeutungen. Sie
modifizieren die Bedeutungen der Vollverben, mit denen sie zusammengesetzte
Prädikate bilden. Formal unterscheiden sie sich von Modalverben dadurch, dass der
Infinitiv mit zu gebraucht wird. Zu dieser Gruppe gehören die Verben:
Das Gedicht ist leicht zu lernen (Man kann das Gedicht leicht lernen).
Aber:
Das ist möglichst schnell zu machen (Das muss möglichst schnell gemacht
werden).
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Er hat immer etwas zu erzählen (Er hat immer etwas, was er erzählen kann).
b) Die Verben scheinen, drohen, versprechen und werden verleihen der Äußerung
modale Bedeutung der Evidentialität (Diewald, Smirnova 2010: 127), wobei eine
eigene oder fremde Vermutung ausgedrückt wird:
„Unser Grabhügel“, sagte ich, „scheint doch ein berühmter Grabhügel zu sein“
(M. Frisch. Homo faber).
Maria verspricht sich zu melden, sobald sie Neuigkeiten hat und verschwindet im
Fahrstuhl (DECOW 16A).
(2) Nach dem Vorhandensein eines Objekts teilt man die Verben in objektive und
subjektive, sie heißen anders absolute und relative Verben. Verben, die zusammen
mit dem Subjekt „einen vollständigen Satz bilden können, ohne dazu noch weitere
Satzteile zu benötigen, werden oft als absolute Verben bezeichnet“ (Hentschel &
Weydt 1994: 60), vgl.: Die Sterne funkeln; Werner kichert. Relative Verben brauchen
andere Ergänzungen, um einen Satz zu bilden, vgl.: *Er lehnte, aber Er lehnte an der
Mauer. Wenn diese Ergänzungen Objekte sind, werden sie durch Substantive in
einem beliebigen Kasus obliqui oder einem präpositionalen Kasus ausgedrückt.
Demzufolge sind folgende Verben objektiv: Danken + D., gratulieren j-m zu etw.,
schreiben, hören, singen + A., warten auf + A., sich freuen über + A. u.a.m.
(3) Nach dem Vorhandensein eines Objekts teilt man die Verben zugleich noch anders
in transitive und intransitive ein. Diese beiden Einteilungen fallen nicht zusammen.
Zu den transitiven Verben gehören nur solche objektiven Verben, die ein
Akkusativobjekt verlangen, z.B. lesen, schreiben, besuchen. Zu den intransitiven
Verben gehören die Verben, die ein anderes Objekt verlangen, die subjektiven Verben,
z. B. leben und Verben mit sich.
(4) Bei reflexiven Verben ist das Objekt der Handlung mit dem Subjekt identisch,
z.B.: Ich schäme mich; Du erinnerst dich.
(5) Bei reziproken Verben besteht eine Wechselbeziehung zwischen mindestens zwei
Personen, z.B.: Sie begegnen sich. Reziproke Verben können nur im Plural auftreten
(Hentschel & Weydt 1994: 62).
Der Begriff „Valenz“ wurde aus der Chemie in die Sprachwissenschaft von dem
französischen Sprachwissenschaftler L. Tesnière eingeführt. In seiner Arbeit
vergleicht er das Verb mit einem Atom, vgl.:
Man kann so das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häckchen
angebracht sind, so dass es je nach der Anzahl der Häckchen eine wechselnde
Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann. Die Anzahl
72
der Häckchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Zahl der
Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt
(Tesnière 1980: 161).
M.D. Stepanowa und G. Helbig sprechen von der logischen, semantischen und
syntaktischen Valenz. Unter der logischen Valenz versteht man ein außersprachliches
Verhältnis zwischen Begriffen; die semantische Valenz beinhaltet die Kompatibilität
und Kombinierbarkeit von semantischen Komponenten; die syntaktische Valenz setzt
die obligatorische oder fakultative Besetzung von Leerstellen voraus (Степанова,
Хельбиг 1978: 157).
Die Valenz des Verbs kann obligatorischen oder fakultativen Charakter haben.
Obligatorisch sind Ergänzungen, die nicht weglassbar sind, ohne dass der Satz
ungrammatisch wird. Fakultativ sind Ergänzungen, die unter bestimmten
pragmatischen Bedingungen weglassbar sind (Welke 2011: 135), vgl.:
Sie besucht ihren Freund (*Sie besucht) aber: Sie trinkt jetzt (Kaffee).
Das Vorhandensein oder das Fehlen eines Objekts hängt von dem Sinn der Aussage
ab.
L. Tesnière unterscheidet zwischen Ergänzungen und Angaben. Ergänzungen sind
valenzgebunden und in ihrer Zahl festgelegt, vgl.:
Die Angaben dagegen sind „Umstände […], unter denen sich das Geschehen
vollzieht“ (Tesnière 1980: 93). Sie sind fakultativ, vgl.:
73
Wie L. Tesnière merkt, bezeichnen die Angaben Umstände der Zeit, des Ortes, der
Art und Weise usw., unter denen sich das Geschehen vollzieht. So enthält z.B. der
Satz Alfred steckt seine Nase immer überall hinein eine Temporalangabe (immer) und
eine Lokalangabe (hinein) (Tesnière 1980: 93).
Nach den Beobachtungen von K. Welke (Welke 2011: 137) hängt die Weglassbarkeit
von Ergänzungen von der Konkretheit der Verbbedeutung ab. Je konkreter, d.h.
vorstellbarer eine Verbbedeutung ist, um so eher ist Weglassung, also Fakultativität
von Ergänzungen möglich, vgl.:
a. Er isst/schreibt/liest/telefoniert/sitzt/liegt/steht.
b. * Er befindet sich/versorgt/bringt/schlägt/gibt/schenkt.
die Süße der Kirschen (substantivische Valenz); Emil ist ein froher Mensch
(adjektivische Valenz); der Baum steht links der Straße (Valenz der Präposition).
Die Verben der deutschen Sprache kann man ihrer Bedeutung nach in zwei Gruppen
einteilen, je nachdem, welche Perspektive berücksichtigt wird. Bei einigen Verben
kann man sich beispielsweise gewisse Resultate der von ihnen bezeichneten
Handlungen vorstellen, in diesen Fällen spricht man von der Außenperspektive. So
76
stellen wir uns bei dem Verb austrinken das leere Glas vor und bei dem Verb
entdecken das Resultat der Entdeckung. Bei den Verben, die dauernde Handlungen
bezeichnen, sprechen wir von der Binnenperspektive, die nicht „nach außen“, nicht
zum Resultat der bezeichneten Handlung führt. Z.B. das Verb suchen bezeichnet den
Prozess, ohne das Resultat anzudeuten. „Diese Unterscheidung im
VERBALCHARAKTER wird nicht mit grammatischen Mitteln gemacht, sie ist Teil
der Verbsemantik“ (Zifonun et al. 1997: 1861). In der russischen Germanistik werden
diese zwei Gruppen terminative und kursive Verben (предельные и непредельные)
genannt (Moskalskaja 1983: 60).
Man darf diese Einteilung nicht mit der Kategorie des Aspekts verwechseln. Die
slawischen Verben unterscheiden zwei Aspekte: Das Perfektiv und das Imperfektiv:
прийти – приходить, брать – взять. Die Verben treten in Paaren auf, und der
Unterschied im Aspekt hat einen grammatischen Ausdruck. Man kann also ohne
Kontext den grammatischen Aspekt bestimmen. Im Deutschen existieren solche
Paare nicht. Zwei russischen Verben entspricht im Deutschen in der Regel nur ein
Verb: найти – находить – finden. Aber jedes deutsche Verb hat in seiner Bedeutung
die Kategorie der Terminativität oder Kursivität. In der Bedeutung der terminativen
Verben ist ein Streben nach einem gewissen Termin, nach einem gewissen Ziel, nach
einer gewissen Grenze vorhanden, unabhängig davon, ob dieses Ziel oder diese
Grenze erreicht wird, z.B.: Kommen, erreichen, aufblühen, sterben, aufstehen,
gelangen usw.
Die kursiven Verben dagegen drücken einen Prozess oder einen Zustand in seinem
Verlauf aus. In ihrer Bedeutung ist das Ziel oder die Grenze des Prozesses nicht
angegeben, vgl.: Gehen, stehen, laufen, liegen, ruhen, schlafen, leben u.a.m. (vgl.
Moskalskaja 1983: 60).
In dieser Einteilung gibt es bis jetzt Meinungsverschiedenheiten, weil es keine festen
Kriterien der Einteilung gibt. Die Verben, die an und für sich kursiv erscheinen,
können im Satz terminativ werden und umgekehrt, vgl.:
Der Kontext kann also die Bedeutung des Verbs verändern. E. Leiss entwickelt diese
Idee und meint, dass die grammatische Charakteristik des Verbs nur in seiner
Wechselwirkung mit anderen Wortarten aus dem Gesamtkontext erschlossen werden
kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Artikelgebrauch zu. E. Leiss
verbindet den Artikelgebrauch mit der Kategorie des verbalen Aspekts. Dieser
Zusammenhang wird weiter im Teil „Vertiefung“ behandelt, wo auch andere
Einteilungen der Verben betrachtet werden.
Doch die Einteilung in perfektive und kursive Verben bleibt aktuell, weil sie den
Gebrauch der Partizipien II von diesen Verben erklärt. Beim attributiven Gebrauch
der Partizipien II kann man die Bedeutungen der Perfektivität und Nicht-Perfektivität
klar unterscheiden. Wenn das Partizip II von einem terminativen Verb gebildet ist, so
ist seine Bedeutung perfektiv, vgl.: Das gebackene Brot, der gekommene Gast, die
gefundene Lösung. Wenn das Partizip aber von einem kursiven Verb gebildet ist, so
ist seine Bedeutung in einer attributiven Wortgruppe imperfektiv, vgl.: Das geliebte
Kind, das von Säulen getragene Dach, die gesuchte Lösung, der viel bewunderte
Künstler, der ständig gelobte Schüler. Diese Partizipien sind nur bei transitiven
Verben gebräuchlich. Die intransitiven kursiven Verben haben solche Partizipien, die
als Attribute überhaupt nicht gebraucht werden können, z.B. von schlafen - *der
geschlafene Junge. Es ist auch ein Merkmal der Kursivität (vgl. Zifonun et al., 1997:
1864).
Aber auch bei diesen grammatischen Merkmalen entstehen Schwierigkeiten, weil in
der lebendigen Rede solche lexikalischen Merkmale erscheinen können, die ein
kursives Verb terminativ machen und umgekehrt:
Der Junge läuft nach Hause – der nach Hause gelaufene Junge.
L.R. Sinder und T.W. Strojewa nehmen noch ein zweites grammatisches Kriterium,
um die kursiven Verben von terminativen zu unterscheiden. Das ist der Gebrauch der
Hilfsverben haben und sein bei der Bildung der Tempusformen der Vergangenheit.
78
Das Hilfsverb haben deutet auf die Kursivität und das Hilfsverb sein auf die
Terminativität der intransitiven Verben. Vgl.:
Hat geschlafen kursiv, aber ist eingeschlafen terminativ; hat gelebt kursiv, aber
ist gestorben terminativ; hat gewacht kursiv, aber ist erwacht terminativ.
Besonders interessant sind hier die Verben der Bewegung von Ort zu Ort. Hier
können feine Unterschiede gemacht werden, die damit verbunden sind, dass einige
Bewegungsverben das Perfekt sowohl mit sein als auch mit haben bilden können,
z.B.:
Das Kind hat eine Stunde lang gesprungen. Aber: Es ist über den Graben
gesprungen.
Die Verben gehen und reisen bilden die Perfektformen ausschließlich mit sein. Es
gibt auch regionale Unterschiede in Bezug auf die Verben der Bewegung: Während
man im Norden Ich habe gelegen/ gestanden/ gesessen sagt, heißt es in
Süddeutschland, Österreich und der Schweiz Ich bin gelegen/ gestanden/ gesessen.
Terminative und kursive Verben können in weitere Gruppen eingeteilt werden. Das
wird im Teil „Vertiefung“ behandelt.
Funktionsverben
Fazit:
Es gibt mehrere Klassifikationen der deutschen Verben: Eine morphologische,
eine strukturell-semantische, eine aktionsartmäßige sowie eine valenzmäßige
Klassifikation.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Stellen Sie eine Liste der Verben mit Doppelformen zusammen. Benutzen Sie
verschiedene Quellen: O.I. Moskalskaja, W. Jung, Duden. Muster:
Wiegen – wog – gewogen (взвешивать, весить)
Wiegen – wiegte – gewiegt (качать)
Aufgabe 2.
Charakterisieren Sie die folgenden Verben aus der syntaktischen Sicht nach oben
besprochenen Kriterien:
Laufen, nehmen, danken, regnen, werden, sich erinnern, geschehen.
Aufgabe 3.
Charakterisieren Sie die Verben im folgenden Textauszug nach ihrer Leistung im Satz
und nach ihrer Rolle im Bestand des Prädikats:
Der Mann wusste nicht, was ihm bevorstand. Lenz war der beste
Handgranatenwerfer der Kompanie gewesen, und im Winter, wenn wenig zu tun war,
hatten wir monatelang geübt, unsere Hüte auf alle möglichen Haken zu werfen.
Dagegen waren die Ringe hier ein Kinderspiel. Gottfried holte sich mühelos als
nächstes eine kristallene Blumenvase. Ich hatte ein halbes Dutzend
80
Aufgabe 4.
Bestimmen Sie die Valenz folgender Verben:
bringen, stehen, aussehen, seufzen, erzählen, geben, schenken, verteidigen, regnen,
kaufen.
Aufgabe 5.
Nennen Sie alle möglichen Formen der Verben und erklären Sie, warum manche
Verben ein lückenhaftes Paradigma haben können:
fressen, atmen, laichen, donnern, erzählen, bauen, lesen.
Aufgabe 6.
Finden Sie Ergänzungen (Argumente) und Angaben (Adjunkte) in den Sätzen:
1. Die Geschichte dieses Hauses verfolgte mich (H. Böll. Über die Brücke). 2. Er
legte das Messer vorsichtig auf den Tisch, den Holzklotz daneben und rieb sich die
Hände (H. Böll. Der Mann mit den Messern). 3. Später mietete ich ein Boot (M.
Frisch. Homo faber). 4. [...] ich zeichne eine Frau in den heißen Sand [...] (M.
Frisch. Homo faber). 5. Ich sitze nochmals auf den Uferblöcken und rauche nochmals
eine Zigarre [...] (M. Frisch. Homo faber). 6. Potter baute einen Kranz von
Biergläsern um sich auf, dazwischen wie Diamanten kleine Gläser mit Steinhäger
(E.M. Remarque. Drei Kameraden).
81
VERTIEFUNG
Die aktionsartmäßige Einteilung der deutschen Verben aus der Sicht von
Sprecherperspektiven nach E. Leiss (1992)
Aspektualität ist eine Kategorie, die die Verlaufsphase eines Geschehens beinhaltet
(Бондарко 1967: 50). Zum Ausdruck der Aspektualität dienen morphologische,
wortbildende, lexikalische sowie einige syntaktische Mittel. In den Aspektsprachen
(z.B. im Russischen) wird die Kategorie des Aspekts durch dir Morphologie des
Verbs kodiert. In den Artikelsprachen wird die Aspektualität in der Semantik der
Aktionsarten und des Artikels kodiert (z.B. im Deutschen). Wie die Aktionsarten und
der Artikel die Semantik des Aspekts ausdrücken können, hat E. Leiss in ihrer
Monographie „Artikel und Aspekt. Die grammatischen Muster der Definitheit“
(2000) aufgedeckt. Ihre Leistung besteht auch darin, dass sie die aktionsartmäßige
Einteilung der deutschen Verben aus der Sicht der Sprecherperspektiven unternimmt.
Sie teilt die deutschen Verben in zwei Klassen ein. Das sind:
Verben, die mit sich selbst identisch bleiben. Zerteilt man die vom Verb
realisierte Verbalsituation in beliebig viele Phasen, so bleibt das Resultat
immer gleich: Die jeweiligen Phasen können mit dem gleichen Verb benannt
werden. Man nehme als Beispiel das Verb lieben: Die geliebten Kinder sind
Kinder, die jetzt und jetzt und jetzt etc. geliebt werden.
Verben, die nicht mit sich selbst identisch bleiben. Die Verbalsituation lässt
sich nicht in miteinander identische Phasen aufteilen. Verben wie finden,
erobern, abbrechen und erblicken geben ganzheitliche Verbalsituationen
wieder, die nicht weiter unterteilt werden können. So wird beispielsweise ein
Schlüssel nicht jetzt und jetzt und jetzt gefunden.
I. Teilbare Verbalsituation
82
______I______I_______I____ suchen
z.B. der Unterschied zwischen additiven und nonadditiven Verben mit Hilfe von
Temporaladverbien getestet werden. Z.B. Zeitadverbiale wie zwei Stunden lang
können nur additive Verben wie schlafen modifizieren, z.B. zwei Stunden lang
schlafen, aber nicht *zwei Stunden lang einschlafen.
In allen ide. Sprachen entstand das verbale Tempus weder parallel zum Aspekt noch
unabhängig davon, sondern unmittelbar aus der Aspektkategorie und ist somit mit
derselben genetisch eng verbunden. Die morphologischen Tempusmarker in der
Germania, zu denen ursprünglich vor allem sog. Primär- resp. Sekundärendungen in
der äußeren Verbalflexion sowie der im Germanischen systematisierte Ablaut gehörte,
stammen unmittelbar aus den entsprechenden ide. Aspektmarkern des Präsens und
des Perfekts (Kotin 2007b: 71).
Sowohl additive als auch nonadditive Verben lassen sich in weitere Klassen
unterteilen. Wir betrachten die weitere Einteilung von Verben nach W. Jung (1994),
G. Helbig und J. Buscha (2005) und M. Steinbach (2007).
(2) Als ich diesen Brief geschrieben hatte (grenzbezogen), packte ich schnell alle
Sachen und ging zum Auto.
Mutative Verben: Reifen, rosten (der Übergang von einem Zustand zu einem
anderen)
Additive Verben lassen sich in zwei weitere Klassen unterteilen. Verben wie schlafen
und lachen werden Activities genannt, Verben wie heißen und wissen werden States
genannt. Activity-Verben beschreiben Handlungen, State-Verben beschreiben
Eigenschaften von Entitäten. Zwischen diesen Verben gibt es auch einige
grammatische Unterschiede. So ist z.B. bei States kein Imperativ möglich, z.B.:
Auch die rheinische Verlaufsform kann bei States nicht verwendet werden, weil diese
keine zeitlich begrenzten Situationen beschreiben, vgl.:
Der dritte Unterschied liegt nach M. Steinbach darin, dass Sätze mit Activity-Verben
mehrdeutig sind. Dabei werden folgende Belege angeführt:
a. Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse kluge Bücher lesen. (Activity)
b. Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse Helmut heißen. (States)
86
Im Fall (a) hat das Prädikat im Nebensatz zwei Lesarten: Alle Kinder lesen kluge
Bücher (1) im Unterricht und (2) außerhalb des Unterrichts. Der Satz (b) hat nur eine
Lesart: Alle Kinder in der Klasse heißen Helmut auch außerhalb des Unterrichts.
Die Einteilung der additiven und nonadditiven Verben kann schematisch wie folgt
dargestellt werden:
Aktionsarten
additiv nonadditiv
State Activity Achievement Accomplishment
Tab. 3. Die Einteilung der additiven und nonadditiven Verben nach M. Steinbach (2007:
196-197)
Aspekt ist eine Kategorie, mit der der Sprecher die Vollendung oder Nichtvollendung
eines Geschehens aus seiner Sicht ausdrückt. Nach der Definition von A.W.
Bondarko bezeichnet der perfektive (der vollendete) Aspekt eine Handlung als etwas
Ganzes, was nicht geteilt werden kann, während der imperfektive Aspekt eine
Handlung als etwas Ganzes nicht bezeichnen kann (Бондарко & Буланин 1967).
In der Regel unterscheidet man perfektiven und imperfektiven Aspekt. Russische
Sprachforscher unterscheiden mehrere Bedeutungen des perfektiven und
imperfektiven Aspekts, vgl. (Бондарко 1971), (Зализняк & Шмелев 2000),
(Гловинская 2001) und weisen darauf hin, dass der imperfektive und der perfektive
Aspekt eine Opposition bilden, die nicht eindeutig interpretiert werden kann. Der
perfektive Aspekt kodiert die Einheitlichkeit, die Totalität der Verbalhandlung, der
imperfektive Aspekt lässt die genannten Merkmale unausgedrückt (Бондарко,
Буланин 1967: 31). Die Autoren sprechen von mehreren Aspektbedeutungen
(Зализняк & Шмелев 2000: 18), so sind z.B. die Bedeutungen des perfektiven
Aspekts wie folgt:
konkret-faktische Bedeutung (конкретно-фактическое значение): Иван уехал
87
Aspekt, Modus und Tempus beziehen sich nicht, wie die traditionelle Grammatik
lehrt, auf Phänomene unterschiedlicher Natur, sondern auf interne Phasen eines
einzigen Phänomens: Der Chronogenese; kurz, Aspekt, Modus und Tempus
repräsentieren eine und dieselbe Sache als unterschiedliche Momente ihrer
selbst betrachtet (nach Leiss 1992: 3).
Nach E. Leiss (1992), (2000) liegt der Kategorie des Aspekts im Russischen und des
Artikels im Deutschen die Kategorie der Determiniertheit / Indeterminiertheit
zugrunde. Wie sie im Deutschen realisiert wird, betrachten wir ausführlicher in den
Abschnitten über die Kategorien des Verbs und des Substantivs.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Bestimmen Sie die Aktionsart folgender Verben. Führen Sie Beispiele an. Bestimmen
Sie, ob sich die Aktionsart in diesen Beispielen verändern lässt:
ziehen, sich weigern, werfen, verlangen, ausplündern, vorbeigehen, zurückbringen,
essen, wegschicken, erscheinen, erklären, schütteln, ablehnen, kleben, verschwinden,
holen, erledigen, bringen, einsteigen, malen, singen.
Aufgabe 2.
Welche Aktionsart kodieren die Verben in den angeführten Sätzen? Transformieren
Sie die Sätze, um die Aktionsart zu verändern, wenn es möglich ist:
1. Gemütlich gingen wir auf die Knie, dann auf die Arme und so fort (E.M.
Remarque). 2. Er trug in der Schule meistens einen braunen Anzug mit Gürtel, der an
den Ärmeln blankgewetzt war (E.M. Remarque). 3. Ich zeichnete auf das Marmor-
Tischlein, nichts weiter, eine Spirale (M. Frisch). 4. Wunsch, auf der Erde zu gehen -
dort unter den letzten Föhren, die in der Sonne stehen, ihr Harz riechen und das
Wasser hören, vermutlich ein Tosen, Wasser trinken (M. Frisch). 5. Kurz vor der
Schranke bin ich einfach stehen geblieben (sagt Hanna) und habe gewartet, bis Hanna
auf mich zuging. 6. [...] ich würde mit roter Kreide das schwarze Schnier deutlich
unterstreichen, vielleicht ein H. davor malen (H. Böll).
89
Aufgabe 3.
E. Leiss beleuchtet zwei unterschiedliche Einstellungen in Bezug auf die Kategorie
des Aspekts im Deutschen (Leiss 1992: 23-24), indem sie schreibt:
Diskutieren Sie miteinander darüber. Finden Sie Beweise für beide Positionen und
nehmen Sie Ihre eigene Stellung zu einer dieser Positionen.
90
GRUNDLAGEN
Auf die Tatsache, dass sich die grammatischen Bedeutungen von den lexikalischen
unterscheiden, wurde von vielen Grammatikforschern hingewiesen. So formuliert
z.B. G. Diewald (Diewald 2008: 6) das Credo der Organisation grammatischer
Kategorien folgenderweise:
Grammatische Bedeutung ist in geschlossenen Paradigmen organisiert, die
obligatorisch zu realisieren sind.
Diese These basiert auf den Arbeiten von O.I. Moskalskaja (1983), J. Bybee (1985),
I. Meltschuk (1998), Chr. Lehmann (2005) u.a.
Grammatische Kategorien haben strukturierende Funktionen und dienen dazu,
Beziehungen zwischen den Sprachzeichen oder zwischen Sprachzeichen und
Sprechsituation zum Ausdruck zu bringen (Diewald 2008: 9).
Die Kategorie ist das zentrale Phänomen einer jeden Sprachstruktur (Kotin 2007a:
74). Nach M. L. Kotin besteht der ontologische Unterschied zwischen dem Lexem als
Nominationseinheit und der grammatischen Form bzw. Konstruktion als Einheit des
kategorialen Gerüstes der Sprache in dem denotativen Bezug (Kotin 2007b). Das
veranschaulicht er am folgenden Beispiel: In dem Satz die Lehrerin lobt den fleißigen
Schüler hat jedes einzelne Wort einen außersprachlichen (denotativen) Bezug auf
Objekte (die Lehrerin, der Schüler), Eigenschaften (fleißig) oder Handlungen (loben)
der Außenwelt, und als Glieder einer konkreten Aussage haben diese Wörter eine
konkrete referenzielle Bedeutung. Wenn man aber den angeführten Satz mit dem Satz
der fleißige Schüler wird von der Lehrerin gelobt vergleicht, kann zwischen beiden
Sätzen kein direkter denotativer Bezug festgestellt werden. Grammatische Formen
weisen interpretative Relationen auf (Kotin 2007b: 11-12). Beim Aktiv und Passiv
91
Nach der Definition von N. Fries sind grammatische Kategorien „Resultate der
Klassifikation sprachlicher Phänomene“ (Fries 1997: 28). Er hat eine Reihe von
hierarchischen Organisationsformen grammatischer Kategorien vorgeschlagen, einige
davon sind:
Prinzip der Binarität. Jede Hierarchie grammatischer Subkategorien ist
aufgrund binärer Oppositionen organisiert. Das Prinzip der Binarität schließt
Ein-Kategorien-Systeme aus. Deswegen darf eine Sprache nicht über nur einen
Kasus oder nur einen Numerus verfügen.
Prinzip der Hierarchiebildung. Hierarchie grammatischer Subkategorien heißt
grammatische Hierarchie. So ist die Kategorie der Transitivität hierarchisch
höher als die Kategorie des Genus, denn die Opposition Aktiv – Passiv entsteht
nur bei transitiven Verben. Das Geschlecht der Substantive dominiert die
Kategorien der Deklination und des Plurals (Fries 1997: 64).
Prinzip der Konnexe. Der Konnex zwischen Kategorien kann zwischen einer
Teilmenge von Subkategorien und einer anderen Kategorie bestehen. So sind
z.B. im verbalen Bereich die Kategorien der Person und des Numerus, des
Tempus und des Modus miteinander verbunden.
Prinzip der Klassenbildung. Dieses Prinzip schließt aus, dass Subkategorien
Klassen bilden können. So bilden z.B. Maskulinum und Neutrum eine Klasse
bei den w-Pronomen wer (=Maskulinum) und was (=Neutrum), die nicht
feminin gekennzeichnet sind. Maskulinum und Femininum bilden eine Klasse,
die in Opposition zum Neutrum steht, z.B. bei Derivationen vom Typ der
Lehrer – die Lehrerin usw.
Die genannten Prinzipien betrachten wir bei der Behandlung der Kategorien des
Verbs, des Substantivs und des Adjektivs.
93
Diese Kategorien sind den Personalformen des Verbs eigen. Die Formen des Verbs,
die diese Kategorien ausdrücken, heißen Personalformen oder finite Formen. Die
Nominalformen des Verbs sind Infinitive und Partizipien, sie unterscheiden Person
und Zahl nicht.
Die Abwandlung der Verben nach der Person zeigt, auf wen der Sprecher die
Äußerung bezieht: Auf sich selbst (1. Person), auf seinen Gesprächspartner (2.
Person) oder auf eine Person, die am Gespräch keinen Anteil nimmt, bzw. auf einen
Gegenstand (3. Person). Die Kategorie der Person beruht auf der Opposition:
Sprechend/angesprochen/besprochen, die das Kommunikationsmodell widerspiegelt
(Moskalskaja 2004: 78).
Die Kategorie der Person und Zahl hat einen doppelten Ausdruck: Einen
synthetischen durch Personalendungen und einen analytischen durch
Personalpronomen. In einigen Fällen tritt noch die innere Flexion hinzu, und zwar im
Präsens starker Verben:
A.W. Bondarko spricht von der Kategorie der Personalität, die dem funktional-
semantischen Feld der Personalität zugrunde liegt. Das funktional-semantische Feld
ist eine inhaltlich-formale Einheit, die mit grammatischen (morphologischen und
syntaktischen) Mitteln einer Sprache mit zusammenwirkenden lexikalischen,
lexikalisch-grammatischen und wortbildenden Elementen geformt wird, die zu einem
semantischen Bereich gehören (Бондарко 2001: 40). Das funktional-semantische
Feld hat einen Inhaltsplan und einen Ausdrucksplan. Es besitzt auch einen Kern
(sprachliche Einheiten, die häufig verwendet werden) und eine Peripherie (Formen,
die seltener auftreten).
Autoren der funktionalen Grammatik weisen darauf hin, dass Personalpronomen den
Kern des funktional-semantischen Feldes der Personalität ausmachen. Die erste und
die zweite Person sind im Inneren des Kerns, die dritte Person ist in der Peripherie
des Feldes der Personalität (ТФГ 1991: 7). Die Peripherie des Feldes bilden andere
Pronomina, die ihre Zugehörigkeit zu der Kategorie der Person implizieren,
beispielsweise Possessivpronomina und das Pronomen man. Durch das Pronomen
man wird unbestimmt-persönliche und verallgemeinert-persönliche Bedeutung
ausgedrückt, vgl.:
Man kann viel von einem Flusse lernen (H. Hesse. Siddhartha) (verallgemeinert-
persönliche Bedeutung);
Einfach ist das Leben, das man hier führt (H. Hesse. Siddhartha) (unbestimmt-
persönliche Bedeutung).
Mit der Kategorie der Person ist die Kategorie des Numerus sehr eng verbunden. Jede
Person kann entweder im Singular oder im Plural gedacht werden. Die Funktion der
Kategorie der Zahl besteht darin, die Anzahl der Personen/ Gegenstände anzugeben.
Die Singularform bezeichnet die Singularität der Person. Die Pluralform weist auf
mehrere Vertreter der Gattung hin. Der Singular und der Plural können auch
generalisierende Semantik haben, vgl.:
95
Zur Zeit des Amerikanischen Löwen lebten viele Tierarten, die heute
ausgestorben sind (Wikipedia).
Die Genera verbi (Singular: Genus verbi) Aktiv und Passiv (Tatform und Leideform)
sind zwei Verbalsysteme, mit denen das Verhältnis des Subjekts zum Geschehen
ausgedrückt wird (Jung 1996: 233). Diese Kategorie ist nicht allen Verben eigen,
sondern nur den meisten transitiven Verben. Diese Verben haben zwei Genera: Das
Aktiv und das Passiv. Es handelt sich um verschiedene Blickrichtungen – eine
Handlung kann je nach der Form der zum grammatischen Subjekt und zum
grammatischen Objekt führenden Perspektive kodiert werden. Das Genus, bei dem
die Handlung vom Subjekt ausgeht und auf das Objekt gerichtet ist, heißt das Aktiv.
Das Subjekt der Handlung fällt mit dem grammatischen Subjekt zusammen, die
Handlung geht auf das Objekt über und das grammatische Objekt ist zugleich das
Objekt der Handlung. Z.B. Mein Vater baute ein Haus (Aktiv, Tätigkeitsform).
Dieselben Beziehungen zwischen dem Verb und Subjekt sind auch bei intransitiven
Verben zu beobachten, aber sie haben kein direktes Objekt und können deswegen
keine Genera unterscheiden.
Die meisten transitiven Verben können in einer Form stehen, wo die Beziehungen
zwischen Subjekt und Objekt anders ausgedrückt werden. Das Subjekt des Satzes
kann passiv sein und ist dann das logische Objekt der Handlung, z.B.: Das Buch wird
gelesen. Dieses Genus heißt das Passiv, z.B. Das Haus wurde gebaut (Passiv,
Leideform). In den passiven Sätzen wird oft das eigentliche Subjekt der Handlung gar
nicht genannt. Die moderne Grammatik nennt solche passiven Konstruktionen das
zweigliedrige Passiv.
Das logische Subjekt der Handlung kann auch angegeben werden. Es steht dann als
96
präpositionales Objekt mit den Präpositionen von oder durch. Die Präposition von
wird mit Personen gebraucht (a) und durch hat eine instrumentale Bedeutung (b).
Diese passive Konstruktion heißt das dreigliedrige Passiv. Vgl.:
(a) Der Schüler wird von dem Lehrer gefragt. Die Zeitung wird von dem Vater
gelesen.
(b) Die Formel wird durch Worte interpretiert. Die Reaktion wird durch Erhitzen
hervorgerufen.
Es gibt noch ein unpersönliches Passiv, das auch von intransitiven Verben gebildet
werden kann:
Das unpersönliche Passiv hebt die Handlung besonders hervor, weil das Subjekt der
Handlung hier ganz ausgeschlossen ist. Das Pronomen es ist ein rein formales
Subjekt, das bei der Inversion fehlt, vgl. (b), (c). B.A. Abramow meint, dass die
Bezeichnung „Passiv“ in Bezug auf solche Sätze kaum zutreffend ist, weil ihre
semantisch-strukturelle Basis nicht durch ein transitives, sondern durch ein
intransitives Verb bedingt ist (Абрамов 2001: 70-71). Doch in den meisten
Grammatiken werden sie als eingliedriges Passiv betrachtet.
Nicht alle transitiven Verben können das Passiv bilden. Es gibt eine Reihe von
Verben, die im Passiv nicht gebraucht werden. Das sind die Verben des Besitzes und
des Betrages, die keine Handlungen bezeichnen: Haben, besitzen, kosten, wiegen,
gelten. Die Verben bekommen, erhalten, kriegen sind selbst passiver Natur, deshalb
bilden sie kein Passiv. Sehr viele Verben unterscheiden im Passiv nur die 3. Person,
obwohl sie im Aktiv in allen 3 Personen gebraucht werden, z.B. kaufen, lesen,
schreiben.
Mit dem Passiv berührt sich die Zustandsform. Sie wird durch die Verbindung sein +
97
Vorgangspassiv
„Nein“, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tür zu. Lenz
leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür ab. Es war der Maurerpolier Gerhard
Peschke, der hier erwartet wurde (E.M. Remarque. Drei Kameraden).
Im angeführten Beleg tritt das Nomen die Frau, das im Vorkontext gebraucht wird,
als Agens auf.
98
b) Das Agens ist nicht bekannt oder ist in allgemeinen Zügen bekannt, aber nicht
konkret angebbar, vgl.:
Zum erstenmal in meinem Leben brachte sie mir persönlich die Post, eine
Drucksache, in der ich dringend zum Rohkostessen aufgefordert wurde (E.M.
Remarque. Drei Kameraden).
Aus den Schornsteinen der Häuser stieg wirbelnd der Rauch. Die ersten
Zeitungen wurden ausgerufen (E.M. Remarque. Drei Kameraden).
c) Im Mittelpunkt der Darstellung steht der Vorgang selbst, während das Agens für
die Erzählung unwesentlich ist, vgl.:
Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte
den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße gesprengt
wurde, ich hörte die Vögel singen in den hohen Friedhofsbäumen […] (E.M.
Remarque. Drei Kameraden).
Und immer war unter der Schar der Mönche und Schüler, der frommen und der
lauen, der fastenden und der feisten, immer war zwischen den vielen, welche da
kamen, lebten und starben, dieser und jener Einzelne und Besondere gewesen,
einer, den alle liebten oder alle fürchteten, einer, der auserwählt schien, einer,
von dem noch lange gesprochen wurde, wenn seine Zeitgenossen vergessen
waren (H. Hesse. Narziss und Goldmund).
Die Aussparung des Agens erfolgt auch aus stilistischen Gründen: Die Aufzählung
von Handlungen ohne Agens betont die Dynamik der geschilderten Ereignisse, stellt
sie als einen Prozess dar (Moskalskaja 2004: 129), vgl.:
In den Zellen und Sälen des Klosters, zwischen den runden schweren
Fensterbogen und den strammen Doppelsäulen aus rotem Stein wurde gelebt,
gelehrt, studiert, verwaltet, regiert; vielerlei Kunst und Wissenschaft wurde hier
getrieben und von einer Generation der andern vererbt, fromme und weltliche,
helle und dunkle, Bücher wurden geschrieben und kommentiert, Systeme
99
Die gesamte Mannschaft wurde von der Trommel an Deck gerufen (S. Nadolny.
Die Entdeckung der Langsamkeit).
Nach O.I. Moskalskaja sind subjektlose Sätze mit intransitiven Verben oft
zweigliedrig oder dreigliedrig. Das erklärt sie dadurch, dass auch wenn das Objekt
und das Agens erwähnt werden sollen, bleibt für diese Verben die subjektlose
passivische Satzstruktur die einzige Möglichkeit des Passivgebrauchs, vgl.: Um die
Kuh dagegen wurde regelrecht gekämpft, Lars Peter wollte auch sie mitnehmen
(Nexö) (Moskalskaja 2004: 133), wo die Funktion des Agens dem Namen Lars
Peters zugeschrieben werden kann.
In den neueren deutschen Grammatiken werden in das Paradigma des Passivs die
100
Verben bekommen und gehören aufgenommen (Engel 1996: 457-458), die als
Hilfsverben aufgefasst werden, welche besondere Schattierungen den passiven
Konstruktionen verleihen. Das Verb bekommen betont, dass die passive Handlung zu
Gunsten des Subjekts geschieht (a), und das Verb gehören wird gebraucht, um die
Normgerechtigkeit der passiven Handlung zu unterstreichen (b):
Ich lese ein Buch. – Das Buch wird von mir gelesen.
Heutzutage wird diese Theorie geleugnet. Diese Position ist durch die
kommunikative Theorie gerechtfertigt. Wenn wir zwei Sätze vergleichen, die einen
und denselben Sachverhalt wiedergeben, sehen wir, dass im passiven Satz das Agens
im kommunikativen Fokus steht, während im aktiven Satz das logische Objekt betont
wird. Vgl.:
Die Schneiderin näht ein Kleid. – Das Kleid wird von einer Schneiderin genäht.
P. Eisenberg schreibt, diesen Gedanken bestätigend: „In Wahrheit kommt das Agens
im Passiv stärker zur Geltung als im Aktiv“ (Eisenberg 1986: 143).
H.-W. Eroms (Eroms 1986: 75), führt statistische Daten zur Gebrauchsfrequenz der
passiven Konstruktionen an, laut der 91,7% von Passivsätzen über keine
Agensangabe verfügen. Er merkt in diesem Zusammenhang, dass Agensreduktion
nicht die Hauptfunktion des Passivs ist, „sondern vielmehr eine Begleiterscheinung,
die aufgehoben werden kann, ohne dass die eigentliche Funktion des Passivs davon
tangiert wird“. Die Statistik zeigt u.E., dass am häufigsten zweigliedrige passive
Konstruktionen gebraucht werden. Wir können daraus schlussfolgern, dass dabei der
101
Prozess selbst für den Sprecher am wichtigsten ist. Anders formuliert, lautet dieser
Gedanke so: Das Hauptverwendungsmotiv des Passivs besteht in der Möglichkeit,
das Agens nicht ausdrücken zu müssen (Pappe-Müller 1980: 234-235, nach Leiss
1992).
Genus als Sonderfall der Diathese
Die russischen Sprachforscher halten das Passiv für einen Sonderfall der Kategorie
Diathese.
Unter der Diathese wird eine syntaktische Kategorie des Verbs verstanden, die die
Korrelation zwischen den Teilnehmern der Situation (semantischen Aktanten) und
den Satzgliedern (syntaktischen Aktanten) widerspiegelt. In synthetischen Sprachen
wird diese Korrelation durch die Kasusformen ausgedrückt, während sie in
analytischen Sprachen durch Hilfswörter, Intonation und Wortfolge kodiert wird.
In der aktiven Diathese fällt das grammatische Subjekt mit dem Agens zusammen
und das grammatische Objekt ist zugleich das Objekt der Handlung. In der passiven
Diathese wird diese Korrelation gestört: Das grammatische Subjekt wird semantisch
zum Patiens und das grammatische Objekt tritt als Agens auf. Somit ist die passive
Diathese die Umkehrung der aktiven Diathese:
„das Übergreifen des Vorgangs hat man sich in umgekehrter Richtung
vorzustellen, weil der erste Aktant, von dem der Vorgang im Aktiv ausgeht, im
Passiv den Endpunkt des Geschehens darstellt“ (Tesnière 1980: 167).
Im Bereich der Diathese unterscheidet man noch zwei Fälle: Das Reflexiv und die
reziproke Diathese.
Das Reflexiv wurde in den älteren Grammatiken als ein drittes Genus der transitiven
Verben genannt. Diese Ansicht war dadurch begründet, dass einige transitive Verben
parallele intransitive Formen mit dem Reflexivpronomen sich haben, vgl.: j-n
kämmen – sich kämmen; j-n anziehen – sich anziehen. In diesem Fall wird die
Korrelation zwischen dem aktiven Subjekt und dem Objekt der Handlung auf eine
besondere Weise gestaltet. Bei transitiven Verben geht die Handlung auf das äußere
Objekt über, bei intransitiven reflexiven Verben ist sie auf das Subjekt selbst
102
gerichtet. Aber die Zahl solcher Verben ist sehr gering, außerdem gibt es in der
Sprache viele Verben mit dem Pronomen sich, die keine reflexive Bedeutung haben,
z.B.: sich freuen, sich befinden u.a.m. Deshalb hat die moderne Grammatik diese
Ansicht aufgegeben. Doch im Rahmen der Diathese bleibt das Reflexiv bestehen.
Bei der reziproken Diathese fällt das Subjekt der Handlung mit dem Objekt
semantisch zusammen, syntaktisch aber werden sie getrennt kodiert, wobei sowohl
das Subjekt als auch das Objekt durch Pluralformen ausgedrückt werden. Es geht um
eine wechselseitige Handlung, vgl.:
Das Genusfeld
Das Genusfeld schließt solche Subfelder wie Aktiv/Passiv, Reflexiv, Reziprok und
Transitivität/ Intransitivität ein (ТФГ 1991). Es entsteht die Frage, wie das Genusfeld
strukturiert ist. Nach M.L. Kotin (Kotin 1998: 24-25) werden als Kern des
Genusfeldes betrachtet:
die morphologische Aktivform (Er fragt. Man tanzt) und
die morphologische Passivform (Er wird gefragt. Hier wird getanzt).
Zur Peripherie des Aktivfeldes gehören:
• syntaktische Konstruktion haben...zu + Inf. (Ich habe die Aufgabe zu lösen);
• erweiterte Attribute mit Partizip I: Der den Studenten prüfende Professor;
• die Fügung glauben + zu + Infinitiv (Er glaubt ihn zu kennen).
Die Peripherie des Passivfeldes wird durch folgende Strukturen gebildet:
1) Zustandspassiv: Fügung sein + P II mit inaktiver Bedeutung, (Das Tor ist
geöffnet);
2) passivische syntaktische Konstruktion sein… zu + Inf. (Die Aufgabe ist zu lösen);
3) passivische erweiterte Attribute mit Partizip II (Der vom Professor geprüfte
Student);
4) Fügung sich lassen + Infinitiv mit inaktiver Bedeutung (Diese Aufgabe lässt sich
leicht lösen);
5) Fügungen scheinen + zu + Infinitiv (Er scheint alles vergessen zu haben);
6) Sonstige syntaktische Fügungen mit inaktiver Semantik: bleiben + Partizip II (Das
Geschäft bleibt heute geschlossen), gehören + Partizip II (Dieser Agitator gehört
eingesperrt); bekommen + Partizip II (Ich habe es geschenkt bekommen) (Guchmann
1968, Ozerov 1971: 4; Schubik 1989; Eroms 1990: 92, nach Kotin 1998: 25), vgl.
auch (Moskalskaja 2004: 136-138).
104
Aufgaben
Aufgabe 1.
Klassifizieren Sie folgende Sätze mit Passiv nach der Zahl der Glieder:
1. Ich wurde dazu verurteilt, unter Herberts Aufsicht im Garten einen Panzergraben
auszuwerfen (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 2. Es wird alles missverstanden
(H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 3. [...] das dauernde Tuten machte mich
nervös, ich stellte mir vor, dass Frau Fredebeul schlief, von dem Tuten geweckt
wurde, wieder einschlief, wieder geweckt wurde, und ich durchlitt alle Qualen ihrer
von diesem Anruf betroffenen Ohren (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Aufgabe 2.
Finden Sie Sätze mit dem Zustandspassiv, mit dem Vorgangspassiv, mit dem
adjektivischen Prädikativ und mit dem sein-Perfekt. Begründen Sie Ihre Meinung:
1.Es ist mir aus den Händen geglitten - aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? 2. Es
ist dann fast so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören
auf die Haut verlagert 3. Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. 4. Ich
weiß nicht, ob sie wieder verheiratet ist . 5. Er ist mir geschenkt worden, sagte ich. 6.
Sie wissen, wie alles sich vergrößert, fast ins Unwirkliche, wenn man gefangen ist
und nichts hat als ein paar Briefe (Quelle: E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon).
106
Aufgabe 3.
Bestimmen Sie, ob es möglich ist, das Zustandspassiv von folgenden Verben zu
bilden: Singen, öffnen, schließen, aufmachen, sprengen, rennen, verändern, bestätigen.
Aufgabe 4.
Verwenden Sie, wenn es möglich ist, andere synonymische Formen aus dem
Passivfeld, um die Semantik des Passivs auszudrücken:
1. In den Baracken wird viel Unsinn geredet (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon). 2. Sie wird morgen abgeholt für eine pathologische Klinik (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Aufgabe 5.
Finden Sie im folgenden Text Konstruktionen aus dem Passivfeld, bestimmen Sie
ihre Form und erklären Sie ihren Gebrauch.
Die Digitalisierung schreitet unaufhörlich voran und beeinflusst die Art wie wir leben
und arbeiten. Ein entscheidender Teil dieses Wandels erfolgte zuletzt mit dem Einsatz
von Robotern. Sie sind aus der Produktion bereits nicht mehr wegzudenken. Und der
nächste Schritt ist schon in Sicht: Die rasend schnelle Entwicklung im Bereich der
künstlichen Intelligenz (KI) sorgt dafür, dass künftig noch mehr Aufgaben durch
smarte Maschinen übernommen werden.
Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sollen
bis 2025 rund 1,5 Millionen Jobs wegfallen. Allerdings sollen in diesem Zeitraum
auch genauso viele neue entstehen. Denn dem IAB zufolge werden in Zukunft vor
allem Naturwissenschaftler und neue IT-Experten benötigt.
Auf der einen Seite werden zusätzliche Ingenieure, Techniker und
Softwareentwickler gebraucht:. Auf der anderen Seite werden durch die Übernahme
linearer Arbeitsabläufe durch Roboter Synergien freigesetzt, wodurch Menschen sich
vermehrt kreativen oder sozialen Tätigkeiten widmen können. Neue Arbeitsplätze
107
Die Kategorien des Modus und des Tempus sind sehr eng miteinander verbunden,
denn die beiden Hauptmodi (der Indikativ und der Konjunktiv) haben dieselben 6
Tempusformen innerhalb des Modus, aber diese Tempusformen haben verschiedene
Bedeutungen im Indikativ und im Konjunktiv. Die Tempusformen dienen zum
Ausdruck der Kategorie der Zeit und können nur in Verbindung mit der Kategorie
Modus besprochen werden. Im Ganzen gibt es in der Gegenwartssprache 3 Modi:
Den Indikativ, den Konjunktiv und den Imperativ. Einige Grammatiker meinen, dass
diese Modi eine dreigliedrige Opposition bilden und sich nach modalen Merkmalen
gegenüberstehen: Real – gefordert – irreal. Doch in der letzten Zeit setzt sich die
Meinung durch, dass Aufforderung auch eine Handlung ausdrückt, die nur erwünscht
ist und somit als nicht real betrachtet werden kann. So weist O.I. Moskalskaja darauf
hin, dass der Imperativ trotz der traditionellen Ansicht kein drittes Gegenglied dieser
Opposition ist und einer anderen Opposition zugrunde liegt, und zwar Nichtimperativ
(Moskalskaja 2004: 103). Sie betrachtet folgende Untergliederung der finiten
Verbalformen; dabei sind die Oppositionsglieder, die durch das Zeichen
'-'‚ charakterisiert sind, unmarkiert; das '+' Zeichen vermerkt die Markierung. Die
markierten Oppositionsglieder werden von unmarkierten gebildet und brauchen
zusätzliche Mittel für ihren Ausdruck:
108
Finite Verbalformen
a) Imperativ (+)
Nichtimperativ (-)
Der Imperativ
Der Imperativ ist ein Modus des Verbs und bezeichnet einen Befehl, eine Bitte oder
eine Aufforderung. Der Imperativ unterscheidet keine Tempusformen. Befehle,
Bitten, Aufforderungen beziehen sich auf die Gegenwart oder Zukunft, meistens auf
sehr nahe Zukunft. Die Zukunft wird von der Gegenwart durch entsprechende
Adverbialien unterschieden:
Befehle, Bitten und Aufforderungen sind Schattierungen des Imperativs. Es gibt auch
andere Schattierungen, z.B. in der Schriftsprache kann der Imperativ in Gesuchen
gebraucht werden, in der religiösen Sprache in Gebeten. Die semantischen
Unterschiede können durch verschiedene Ausdrücke oder die Intonation bezeichnet
werden.
Befehle und Bitten werden an die 2. Person erteilt, die im Singular (a) oder im Plural
(b) auftritt, seltener ist es die 1. Person des Plurals (c). Im letzten Fall gilt die
Aufforderung auch dem Sprechenden. Es ist eigentlich eine präsentische Form, aber
109
die Stellung des Personalpronomens zeigt, dass es der Imperativ ist. Der Stammvokal
-e- der starken Verben wird in der 2. Person Singular gebrochen, die umlautfähigen
Vokale bekommen aber keinen Umlaut. Vgl.:
(a) Komm! Steh auf! Nimm das Buch mit! Lies den Satz noch einmal! Fahr
schneller!
(b) Kommt! Steht auf! Nehmt die Bücher mit! Lest den Satz noch einmal für sich!
(c) Gehen wir jetzt! Nehmen wir die Bücher mit! Lesen wir den Satz noch einmal
im Chor!
Ursprünglich gab es nur eine Form des Imperativs, es war die 2. Person Singular.
Später wurde der Imperativ auch im Plural gebraucht. Aber dieser Plural war nichts
anderes, als die entsprechende Präsensform ohne Personalpronomen. Später gesellte
sich auch die Höflichkeitsform dazu. Diese Form hat einen ganz anderen Ursprung.
Eigentlich ist es die Präsensform des Konjunktivs in der 3. Person des Plurals. Es ist
der sogenannte imperative Konjunktiv, der einen Befehl an eine 3. Person ausdrückt:
Kommen Sie! Lesen Sie! Stehen Sie auf!
Der Imperativ ist ein Modus, der in erster Linie in der unmittelbaren Kommunikation
realisiert wird. Sein System hat sich aus dem Indikativ und dem Konjunktiv
zusammengesetzt. Jedenfalls sind die Pluralformen des Imperativs mit denen des
Indikativs homonym (Зиндер, Строева 1968: 117). Aber bis jetzt ist das Paradigma
des Imperativs lückenhaft, denn es fehlt die 1. Person Singular und es gibt keine
Tempusformen, vgl. folgende Tabelle:
Personen Singular Plural
1. Gehen wir!
2. Nimm das Buch! Nehmt die Bücher!
3. Kommen Sie! Kommen Sie!
Tab. 6. Paradigmatik des Imperativs
110
Die Modi drücken das Verhältnis des Sprechenden zur Realität der Aussage aus. Der
Indikativ ist der Modus der Realität oder der Wirklichkeit; der Sprecher gibt die
Aussage als real. Dabei braucht die Aussage nicht immer mit der Realität
zusammenzufallen, aber der Sprechende will sie für wirklich erklären, z.B. im
Märchen oder im Genre Fantasie.
Ein paar Worte zur Terminologie. Es gibt Unterschiede in der Semantik der Begriffe
„Zeit“ und „Tempus“. Unter „Zeit“ „wird ein sprachunabhängiger Ablauf verstanden,
der mit Sprache ausgedrückt wird“ (Hentschel & Weydt 1994: 86). Für die
Bezeichnung der Zeit verwendet man solche Begriffe wie Gegenwart, Zukunft und
Vergangenheit. Unter Tempus wird die grammatische Kategorie des Verbs verstanden,
die den Zeitbezug innerhalb einer Sprache ausdrückt. Für die Tempora werden
Bezeichnungen lateinischen Ursprungs gewählt (ebenda).
In der russischen Sprachwissenschaft verwendet man die Termini absolute und
relative Zeit (O.I. Moskalskaja), (A.W. Bondarko). Absolute Zeit hat den
Redemoment als Angelpunkt. Im Falle der relativen Zeit wird von einem anderen
Moment ausgegangen.
Alle Tempusformen sind imstande, sowohl absolute als auch relative Bedeutung zu
vermitteln. Jede Form ist mehrdeutig. Sie besitzt außer der rein zeitlichen Bedeutung
zusätzliche Bedeutungen. Welche zusätzliche Bedeutung eine konkrete Tempusform
hat, wird erst aus dem Kontext ersichtlich.
Das absolute Präsens bezeichnet beispielsweise die Gegenwart des Sprechenden. Der
relative Gebrauch wird nicht unmittelbar vom Standpunkt des Sprechenden bestimmt,
sondern von einer anderen absolut bezeichneten Handlung. Dabei können 3
Zeitverhältnisse entstehen: Die Gleichzeitigkeit beider Handlungen, die Vorzeitigkeit
der relativ gebrauchten Handlung und die Nachzeitigkeit der relativen Handlung.
Dabei entstehen diese Zeitverhältnisse für jeden der 3 Zeitpunkte: Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft.
Vom logischen Standpunkt aus können wir alle diese Zeitverhältnisse in jeder
111
(b) Ich glaube, der brave, alte Citroen zittert schon in allen Knochen vor ihm
(E.M. Remarque. Drei Kameraden)
– zwischen den Teilsätzen besteht das Verhältnis der relativen Zeit, nämlich
Gleichzeitigkeit.
Im Rahmen der Taxis dienen einige temporale Konjunktionen zum Ausdruck der
Gleichzeitigkeit, z.B. während, solange, andere drücken die Vorzeitigkeit aus:
nachdem. Die Taxis kann auch in einfachen Sätzen vorkommen. Wenn eine
Erzählung oder ein Roman im Präteritum geschrieben ist, ist das die absolute
112
Dr. Orme! John war dankbar und wusste, er würde es immer sein. Der hatte
nicht behauptet, für ihn da zu sein, er hatte nicht von Liebe geredet und nicht von
Erziehung, sondern sich für John’s besonderen Fall interessiert (S. Nadolny. Die
Entdeckung der Langsamkeit).
Das angeführte Zitat von H. Vater verdeutlicht den deiktischen Charakter der
Tempuskategorie. Der Begriff Deixis ist für das Verständnis der Tempusformen sehr
wichtig. Dieser Begriff ist in die Sprachwissenschaft von K. Bühler eingeführt
(Bühler 1978). Deixis bezeichnet die Bezugnahme auf Personen, Orte und Zeiten in
einem bestimmten Kontext. Deiktika sind Wörter, die sich auf eine
Äußerungssituation beziehen. Sie werden geordnet mit Hilfe des
Koordinatenausgangspunktes, oder der Origo. Die Origo ist der Ausgangspunkt, an
dem sich das Koordinatensystem orientiert. Dieses System integriert drei Entitäten:
Die Person, den Ort und den Zeitpunkt. Dieses Koordinatensystem wird durch
Zeigewörter hier (lokal), jetzt (temporal) und ich (personal) repräsentiert (Bühler
114
1978: 102). Im Falle mit Pronomina wird von der Personaldeixis gesprochen, der
hier-Bezug ist die Raumdeixis (oder Lokaldeixis), temporale Zeigewörter kodieren
die Temporaldeixis. Die Zeitdeixis ist „insbesondere realisiert im System der
temporalen Präpositionen, Adverbien und Konjunktionen sowie im Tempussystem
[…]. Ihre Grundlage ist die Orientierung von Zeitpunkten, Zeitintervallen und
gerichteten Zeitverläufen am Sprecherzeitpunkt“ (Eisenberg 1986: 179).
In der traditionellen Grammatik des Deutschen wird von 6 Tempusformen
gesprochen: Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II. In neueren
Grammatiken wird dieses System modifiziert. Beispielsweise wird das Perfekt in der
„Grammatik der deutschen Sprache“ (1997) auf alle drei Zeitstufen bezogen, je
nachdem, welches Hilfsverb gebraucht wird. In dieser Interpretation integriert das
Perfekt das Plusquamperfekt und Futurum II. Es entsteht folgendes System:
1. Das Präsens. Bei dieser Tempusform fallen die Sprechzeit und Betrachtzeit
zusammen: Das Präsens bezeichnet den Zeitpunkt des Sprechers, der zugleich
Betrachter ist.
2. Das Präteritum. Die Betrachtzeit liegt vor der Sprechzeit. Das Präteritum drückt
Vergangenheit relativ zur Sprechzeit aus.
3. Das Futur. Das Futur ist nicht rein temporal zu interpretieren. Es drückt
gegenwärtige oder künftige Wahrscheinlichkeit aus.
4. Das Perfekt:
a) Das Präsensperfekt. Es drückt Vergangenheit relativ zur präsentischen Betrachtzeit
aus, z.B.:
Wir betrachten die Bedeutung und Gebrauch von 6 Tempusformen, die in der
traditionellen Grammatik als Zeitformen akzeptiert werden: Präsens, Präteritum,
Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II. Wir finden auch, dass die Unterscheidung
von absoluter und relativer Zeit sinnvoll ist und der Reichenbacher Theorie nicht
widerspricht. Wenn der Sprecher die Tempusformen nur mit Bezug auf seinen
Redemoment gebraucht, nennen wir solchen Gebrauch absolut. Im Deutschen werden
so Präsens, Präteritum, Futur I und zum Teil Perfekt gebraucht.
Die Tempusformen, deren Zeitbestimmung nur mitelbar und zwar in Bezug auf
absolute Tempusformen erfolgt, nennen wir relative Tempusformen. Dazu gehören
Plusquamperfekt, Futur II und zum Teil Perfekt. Dazu sei noch bemerkt, dass alle
Tempusformen imstande sind, sowohl absolute als auch relative Bedeutung zu
vermitteln. Jede Form ist mehrdeutig. Sie besitzt außer der rein zeitlichen Bedeutung
zusätzliche Bedeutungen. Welche zusätzliche Bedeutung eine konkrete Tempusform
hat, wird erst aus dem Kontext ersichtlich.
Präsens
Das Präsens thematisiert bei einem Ereignis, dass es noch nicht vergangen ist (Vater
116
1994: 62). Die Hauptbedeutung des Präsens ist die Bezeichnung der Gegenwart:
Sz= Ez , vgl.:
Das Präsens bezeichnet auch „Vorgänge von Dauer, die in die Gegenwart
hineinreichen oder hinein versetzt werden“ (Jung 1996: 225), : Ez ≠ ≥ Sz, vgl.:
Ich selbst bin nicht religiös, nicht einmal kirchlich, und bediene mich der
liturgischen Texte und Melodien aus therapeutischen Gründen: sie helfen mir am
besten über die beiden Leiden hinweg, mit denen ich von Natur belastet bin:
Melancholie und Kopfschmerz (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Das Präsens kann auch in Aussagen verwendet werden, die allgemeingültig sind
(Jung 1996: 225). Dieses Präsens bezeichnet solche Vorgänge, die für alle Zeiten
richtig sind. Hierher gehören alle Naturgesetze, auch Sprichwörter, die im Präsens
stehen: Ez ∑ Sz, vgl.:
a. Die Erde dreht sich um ihre Achse; Silber ist ein Edelmetall; Europa liegt
nördlich des Äquators.
c. Morgenstunde hat Gold im Munde; Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Das Präsens bezeichnet nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Ereignisse
und heißt dann das futurische Präsens. Dabei werden häufig solche
Temporaladverbialien wie bald, morgen, in drei Tagen, in einem Monat usw.
verwendet: Sz > Ez, z.B.:
Es ist jetzt bald vorbei damit. Ich werden nächstens anfangen zu arbeiten (E.M.
Remarque. Drei Kameraden). Also dann komme ich morgen wegen der hundert
Mark mal 'rüber (E.M. Remarque. Drei Kameraden).
Ich streute Sand auf ihren Nacken, aber sie schlief. Schließlich ging ich
schwimmen - im Augenblick, als Sabeth schreit, bin ich mindestens fünfzig Meter
draußen.
Ob sie mich gehört hat, weiß ich nicht. Dann mein Versuch, im Wasser zu rennen!
Ich rufe, sie soll stehen bleiben, meinerseits wie gelähmt, als ich endlich aus dem
Wasser komme; ich stapfe ihr nach, bis sie stehen bleibt (M. Frisch. Homo faber).
Das historische Präsens ist in der modernen Literatur sehr verbreitet, ganze Romane
sind konsequent im historischen Präsens geschrieben. Dieses Präsens wird auch beim
Wiedergeben des Inhalts von Dramen gebraucht. In der Literaturgeschichte werden
auch Biographien der Dichter, Charakteristiken der handelnden Personen im
historischen Präsens dargestellt. Dabei überlappen sich die Ereignis- oder Aktzeit und
Betrachtzeit (Leiss 1992: 248): Ez < Bz = Sz.
Dem Präsens historicum verwandt ist das „Präsens tabulare“. Es wird in Tabellen
und in der Aufzählung historischer Ereignisse verwendet, vgl.:
Einmarsch der deutschen Truppen in Prag. Die Bevölkerung empfängt sie mit
drohend erhobenen Fäusten (Beispiel: Vater 1994: 65-66).
E. Leiss operiert bei der Beschreibung des historischen Präsens mit den Termini
Aktzeit, Betrachtzeit und Sprechzeit. Beim historischen Präsens überlappen sich
118
Du hast deinen Lohn dahin, du bist jung! Du bleibst bei mir! (Arthur Schnitzler,
nach Moskalskaja 2004: 84).
Da das Präsens sowohl Gegenwart als auch Zukunft und Vergangenheit ausdrücken
kann, meinen einige Sprachforscher, dass es atemporal ist, vgl. (Grundzüge einer
deutschen Grammatik 1981; Zeller 1994). Doch die primäre zeitliche Bedeutung des
Präsens, die es kontextfrei ausdrückt, ist die Bezeichnung der Gegenwart. Sekundäre
Bedeutungen dieser Tempusform entstehen erst im Kontext und hängen in einigen
Fällen von der Aktionsart der Verben ab, worauf wir in nächsten Abschnitten
ausführlicher eingehen.
Der Gebrauch der Tempusformen hängt damit zusammen, in welchem Rederegister
oder in welchem Genre sie vorkommen. Diesen Unterschied hat H. Weinrich
beschrieben. Er hat die Tempusformen in ‚erzählende‘ und ‚besprechende‘ gruppiert.
Zu den besprechenden Tempusformen zählt er Präsens, Perfekt, Futur I und Futur II,
zu den erzählenden – Präteritum, Plusquamperfekt, Konditional I und Konditional II
(Weinrich 1971). H. Weinrich meint mit Recht, dass „in den meisten mündlichen und
schriftlichen Texten […] eindeutig jeweils eine Tempusgruppe“ überwiegt:
„Es bestätigt sich die ziemlich eindeutige Dominanz entweder der Tempus-
Gruppe I oder der Tempus-Gruppe II. Es dominieren die besprechenden Tempora
in der Lyrik, im Drama, im Dialog allgemein, im literarkritischen Essay, in der
wissenschaftlichen und philosophischen Prosa. Die erzählende Tempusgruppe
dominiert in der Novelle, im Roman und in jeder Art von Erzählung,
ausgenommen in den eingeblendeten Dialog-Partien“ (Weinrich 2001: 57).
Dieselbe Differenzierung liegt bei E. Hentschel und H. Weydt vor (Hentschel &
Weydt 1994).
Präteritum
Das Präteritum bezeichnet Handlungen in der Vergangenheit. J. Darski nennt das
119
Präteritum die „Vergangenheitsform des Erzählens“ (Darski 2010: 359). Nach der
Definition von H. Vater ordnet das Präteritum ein Ereignis einem Referenzzeitpunkt
zu, der vor dem Sprechereignis liegt (Vater 1994: 66).
Seine wichtigste Gebrauchssphäre ist monologische Rede, die als Erzählung oder
Bericht vorkommt. Demnächst ist ein Beispiel seines Gebrauchs in einem Bericht.
Der Betrachter (in diesem Fall der Autor) kann dem Sprecher identisch sein. Für den
Leser steht der Betrachterzeitpunkt zwischen der Ereigniszeit und der Zeit der
Rezeption: E z < B z << S z. Vgl.:
Das Präteritum tritt häufig in Berichten auf, vgl.:
In solchen Fällen wird seine epische Funktion realisiert. Das epische Präteritum tritt
häufig in Märchen, Fabeln und Romanen auf. Diesen Gebrauch betrachten wir als
absolut, weil der Zeitpunkt des Betrachters / des Autors vor dem Zeitpunkt des
Sprechers /Lesers liegt, vgl.:
Das Präteritum wird auch in der relativen zeitlichen Bedeutung verwendet, wenn die
Gleichzeitigkeit des Geschehens gezeigt werden soll. Dabei entsteht die
Taxisrelation: E z < E z < S z, vgl.:
Für einen Moment wichen sie zurück aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber
im selben Moment spürten sie schon, dass das Zurückweichen mehr wie ein
120
wo das Verb weichen die Handlung bezeichnet, die sich gleichzeitig mit der
Handlung im nachfolgenden Satz vollzieht. Die Taxisrelation wird auch bei der
Vorzeitigkeit realisiert, dabei tritt das Plusquamperfekt als relative Tempusform auf,
vgl.:
Ich merkte die Ironie erst, nachdem ich es gesagt hatte (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
Das Präteritum wird häufig mit den Verben haben, sein und den Modalverben auch
im Gespräch bevorzugt, worauf O. I. Moskalskaja hingewiesen hat (Moskalskaja
2004: 94), vgl.:
„Es war Unsinn, was ich gesagt habe“, erklärte ich müde (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
„Sie wollte nicht mitkommen. Deshalb hat sie es getan!“ (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
Auch die Verben des Sagens und des Gefühls (verba dicendi und sentiendi) sowie
solche Verben wie brauchen, meinen, wünschen, glauben, leben, scheinen
121
bevorzugen im dialogischen Text das Präteritum (Moskalskaja 2004: 94). Das kann
man an den Belegen aus dem Korpus für die gesprochene Sprache beobachten:
S 1: Kurz vorher hatte er hier eine kleine amerikanerin eh mit der war er
ausgegangen von den eltern war er zum abendbrot eingeladen die.
S 2: Hm.
S 1: Hat er|dann sogar zum flugplatz gebracht […] na ja also lang und kurz (-)
jetzt kam er mit diesem mädchen und da sagte ich du hast mir erst vor (-) acht
oder zehn tagen gesagt es gäbe eine die sei in paris ich ich glaubte das sei eine
französin (Datenbank für gesprochenes Deutsch).
S 3: Die ganze untersuchung des schien uns n bisschen für unsern aschpekt also
(-) bringts nicht äh ich mein (-) die (-).(Datenbank für gesprochenes Deutsch).
Das Präteritum kann nicht nur die Semantik der Vergangenheit, sondern auch der
Gegenwart und der Zukunft wiedergeben – das ist in der erlebten Rede möglich,
vgl.:
Es war sieben Uhr. Die rosa Ampel brannte. Maria blickte umher, prüfend, ob
alles in Ordnung sei. Vielleicht bekam sie Besuch (L. Frank) (пример В.А.
Жеребкова (Жеребков 1970: 169)).
Ich sah auf die Uhr. In einer halben Stunde war Frida in der Küche, dann
konnten wir nicht mehr ungesehen hinaus (E.M. Remarque) (ebenda).
Perfekt
Das Perfekt bezeichnet im Deutschen Vergangenheit. Es wird in dialogischen
Situationen bevorzugt. J. Darski (2010: 361) bestimmt seine Hauptfunktion als
„Feststellung meist abgeschlossener Tatsachen“. Beim absoluten Gebrauch liegt der
Ereigniszeitpunkt vor der Sprecherzeit, vgl.:
122
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wer regiert denn seit 1982? Sie haben damit
die Chance verspielt, den Investoren in Deutschland ein Signal zu geben, und Sie
haben die Chance verspielt, dass mehr Menschen in Arbeit und Brot kommen
(Parlamentsreden).
Das Perfekt wird zum Ausdruck der Vorzeitigkeit verwendet, was man besonders
deutlich am Beispiel der Temporalsätze beobachten kann:
Ich würde nicht mehr wie eine Stumme herumgeistern, nachdem ich einmal
wieder die süße Luft der Freiheit geatmet habe und euch entronnen bin, euren
Kasernen und Brutanstalten und eurer trostlosen Schreierei! (E.M. Remarque.
Die Nacht von Lissabon).
In Kombination mit solchen lexikalischen Einheiten wie bald, in Kürze kann das
Präteritum die Semantik der Zukunft wiedergeben, S z > E z, vgl.:
Na, Sie haben es ja auch bald geschafft! (J. Petersen) (Жеребков 1970: 128).
Das Perfekt kann auch in Sprichwörtern verwendet werden, wobei die Satzsemantik
atemporal ist, vgl.
Plusquamperfekt
Das Plusquamperfekt wird zur Bezeichnung der Vorvergangenheit verwendet, es ist
ein relativ gebrauchtes Tempus. Es wird in der Regel mit der Form des Präteritums
verwendet: E1z < E2z < Sz.. Vgl.:
Ich ging die Treppe hinunter. Man roch das Mittagessen; es gab Fisch. Auf dem
Treppenabsatz stand eine italienische Truhe. Ich war oft daran vorbeigegangen,
123
aber ich hatte sie nie bemerkt. Jetzt sah ich die Schnitzerei so genau, als wollte
ich sie kaufen. Ich ging wie ein Nachtwandler weiter (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon).
H.-W. Eroms (1983: 68) stellt fest, dass auch ganze Ereignisfolgen im
Plusquamperfekt erzählt werden können, vgl.:
Ein wenig später kam die Frau. Sie war sehr blass und sprach kein Wort. Man
hatte die beiden und ihr Kind vor etwa zehn Tagen aufgegriffen. Sie waren
getrennt in verschiedenen Lagern gewesen und dann geflohen, und der Mann
hatte die Frau durch ein Wunder wiedergefunden. Sie hatten überall auf den
Straßensteinen und an den Häuserecken ihre Namen hinterlassen (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Das Plusquamperfekt kann auch in den Bereich der Zukunft rücken, wobei die
Abgeschlossenheit einer Handlung betont wird, vgl.:
Bald hatte er zwölf Thrakier gemordet; der kluge Odysseus aber zog jeden
Getöteten, am Fuß ihn ergreifend, zurück, um den Rossen eine Bahn zu machen
(Gustav Schwab. Sagen des klassischen Altertums).
124
Beide Tempusformen der Zukunft haben noch einen anderen Gebrauch: Sie
bezeichnen eine Vermutung. Das ist der sogenennte modale Gebrauch. Das Futurum I
bezeichnet dabei eine Vermutung in der Gegenwart. In den meisten Fällen verbindet
es sich dann mit dem Modalwort wohl:
Ich habe deine Freundin nicht gesehen. Wie alt ist sie jetzt? – Sie wird wohl 20
Jahre alt sein.
Er wird wohl verreist sein. Er wird wohl eingeschlafen sein →‚Wahrscheinlich ist
er verreist‘. ‚Wahrscheinlich ist er eingeschlafen‘.
Das Futurum II ist in dieser modalen Bedeutung häufiger gebraucht, als in seiner
Bedeutung der Vorzeitigkeit in der Zukunft. In beiden Fällen seines Gebrauchs ist das
Synonym des Futurums II das Perfekt, z.B.:
werde (durchgearbeitet habe), werde ich mich an das Niederschreiben des Textes
machen.
Fazit:
Die Tempuskategorie ist eine deiktische Kategorie. Die Tempusformen des
Indikativs sind vieldeutig. Sie können sowohl absolut als auch relativ gebraucht
werden. Von den einfachen Tempusformen wird das Präsens meistens im Dialog
gebraucht, das Präteritum dagegen meistens im Monolog. Diese Tempusformen
können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrücken. Die
Mehrdeutigkeit der Tempusformen des Indikativs ist sehr eng mit der
aktionsartmäßigen Klassifikation der Verben verbunden. Das grundlegende
Prinzip ist dabei die Einteilung der Verben in grenzbezogene und
nichtgrenzbezogene. Davon hängt in vielen Fällen die Semantik der
analytischen Tempusformen ab.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Bestimmen Sie die Semantik des Präsens und modellieren Sie die Zeitverhältnisse in
folgenden Textauszügen. Der Ausgangspunkt ist die Sprechzeit des Autors:
1. Danke schön. Morgen bringe ich alles zurück (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 2. Wenn ich
betrunken bin, führe ich bei meinen Auftritten Bewegungen, die nur durch Genauigkeit
gerechtfertigt sind, ungenau aus und verfalle in den peinlichsten Fehler, der einem Clown
unterlaufen kann: Ich lache über meine eigenen Einfälle (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 3.
Die Träger kamen. Der Sarg wurde geschlossen. Schwarz wankte. „Ich fahre mit Ihnen“, sagte ich
(E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon). 4. „Wissen Sie jemand, der die Pässe korrigieren
kann?“ fragte ich. „Gregorius. Er ist seit einer Woche hier“ (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon). 5. Das Wahrscheinliche […] und das Unwahrscheinliche [...] unterscheiden sich nicht
dem Wesen nach, sondern nur der Häufigkeit nach, wobei das Häufigere von vornherein als
glaubwürdiger erscheint. Es ist aber, wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nichts Höheres
dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte (M. Frisch. Homo
faber).
126
Aufgabe 2.
Bestimmen Sie die Funktionen des Präteritums und modellieren Sie zeitliche
Relationen in folgenden Sätzen:
1. Er schob den Briefumschlag unter die Tür, ich stand auf, hob ihn auf und öffnete ihn: Es war eine
Fahrkarte zweiter Klasse von Bochum nach Bonn drin und das Taxigeld war genau abgezählt:
Sechs Mark und fünfzig Pfennig (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 2. Wir fuhren zunächst zur
Bank und gaben den Scheck ab. Lenz ruhte nicht, bis er wusste, dass er in Ordnung war (E.M.
Remarque. Drei Kameraden). 3. Aber es ging auch so, und bald kannte ich meine alte Bude nicht
wieder in ihrem neuen Glanz (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 4. Ich stellte die Rosen neben sie
und legte auch die Karte Kösters hinzu, damit sie gleich etwas hatte, um daran zu denken, wenn sie
aufwachte (E.M. Remarque. Drei Kameraden).
Aufgabe 3.
Erklären Sie den Gebrauch der Tempusformen in folgenden Textauszügen:
(1) Wir fliegen nach Harstad, einer Hafenstadt auf Hinnøy, der größten Insel Norwegens, 300
Kilometer nördlich des Polarkreises, denn jetzt gilt es das zu tun, was sich meine Eltern schon
vor vielen Jahren gegenseitig versprochen hatten: Dass ihre Grabstätte einmal dort sein wird,
wo sich das norwegische Mädchen und der deutsche Soldat kennengelernt und ineinander
verliebt hatten (R. Crott. Erzähl es niemandem).
(2) Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn überhaupt
bewusst, vollkommen gleichgültig. An das Bild des Mädchens aus der Rue des Marais, an ihr
Gesicht, an ihren Körper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von
ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: Das Prinzip ihres Dufts (P. Süskind. Das Parfum).
(3) Wir gingen die Straße entlang. Der Abend war klargeworden, und die Sterne standen
zwischen den Dächern (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Aufgabe 4.
Bestimmen Sie die Semantik der Konstruktion werden + Infinitiv I in folgenden
Sätzen aus dem Roman von P. Süskind „Das Parfum“. Entscheiden Sie, ob es sich um
temporale oder modale Bedeutung handelt:
1. „Nein“, sagte Baldini, „ich werde mich für einige Stunden in mein Arbeitszimmer zurückziehen
127
und wünsche, absolut nicht gestört zu werden“ 2. Wahrscheinlich riecht ein Säugling nicht, dachte
er, so wird das sein. 3. Böse wird es enden. Der große Komet von 1681, über den sie sich lustig
gemacht haben, den sie als nichts als einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben
doch ein warnendes Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja - ein
Jahrhundert der Auflösung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und politischen und religiösen
Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem
nur noch schillernde und stinkende Sumpfblüten gediehen wie dieser Pelissier! 4. So wie ein
scharfes Beil den Holzklotz in die kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede
Einzelheit zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf sehr
normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. 5. Es wird unter unsern Händen neu entstehen, so
perfekt kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen unterscheiden kann.
Aufgabe 5.
Charakterisieren Sie die Semantik der Tempusformen und Partizipien in folgenden
Sätzen:
1. Hier hast du deine Hundemarke wieder. Hab' sie ganz vergessen gehabt (E.M. Remarque. Drei
Kameraden). 2. Er bekam jeden Morgen zwei frische Taschentücher herausgelegt und warf sie
abends ein bisschen verknautscht, aber nicht merklich angeschmutzt in den Wäschepuff in seinem
Badezimmer (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 3. Sie stand eine Weile neben dem Tisch, das
Gesicht gesenkt und die Hände aufgestützt (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 4. „Wir haben es
geschenkt bekommen, weil in uns etwas von Gott ist“, sagte er plötzlich pathetisch (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Allgemeines
Durch den Modus wird das Geschehen hinsichtlich der Realität / Irrealität
charakterisiert. Der Indikativ drückt die Realität aus, der Konjunktiv ist in erster
Linie der Modus der Nichtwirklichkeit (der Irrealität), vgl.:
Indikativ: (a) Finster hörte sie ihn an, sprang auf und lief davon (H. Hesse.
Narziss und Goldmund).
Konjunktiv: (b) Gern wäre er davongelaufen (H. Hesse. Narziss und Goldmund).
128
Aber außer Irrealität drückt der Konjunktiv eine ganze Reihe modaler Bedeutungen
und Schattierungen aus. So z.B. drückt der Konjunktiv den Zweifel, die Möglichkeit,
die Notwendigkeit, die Einräumung, den Zweck und andere modale Bedeutungen
aus. In der neuhochdeutschen Periode ist noch eine modale Bedeutung von großer
Wichtigkeit geworden. Es ist die Modalität der fremden Aussage, die oft die
Modalität der indirekten Rede genannt wird.
Der Konjunktiv hatte ursprünglich, ebenso wie der Indikativ, nur zwei
Tempusformen: Das Präsens und das Präteritum. Das Präsens diente zum Ausdruck
der optativischen und imperativischen Modalität, andere modale Bedeutungen
wurden sowohl durch das Präsens als auch durch das Präteritum ausgedrückt
(Moskalskaja 1969: 196). Im Laufe der Sprachgeschichte entwickelten sich auch
dieselben analytischen Tempusformen wie im Indikativ, außerdem noch zwei
besondere analytische Konstruktionen, die traditionell als Konditionalis I und
Konditionalis II bezeichnet werden. Diese Bezeichnung kann aber irreführend sein,
denn Kondition bedeutet ‚Bedingung‘ und man könnte denken, dass es der
Bedingungsmodus ist. Aber einen solchen Modus gibt es im Deutschen nicht, deshalb
gebraucht man für den Konditionalis gern die Benennung ‚Umschreibung mit würde‘.
Die Entwicklung der analytischen Tempusformen des Konjunktivs führte zur
Differenzierung seiner Gebrauchsnormen. Das Plusquamperfekt wurde zur
Bezeichnung der Nichtwirklichkeit in der Vergangenheit bezogen und das Präteritum
verwendete man zur Bezeichnung der Nichtwirklichkeit in der Gegenwart und
Zukunft (Moskalskaja 1969: 197).
Bildung der Konjunktivformen
Die beiden synthetischen Formen Präsens und Präteritum werden jetzt mit dem Suffix
-e gebildet, das Präsens vom Infinitivstamm und das Präteritum vom
Präteritumstamm des Indikativs. Dabei werden in beiden Tempusformen die
präteritalen Endungen des Indikativs verwendet.
Das Präteritum Konjunktiv der starken, der unregelmäßigen Verben und der
schwachen Verben mit Präsensumlaut hat auf den umlautfähigen Vokalen den
129
Mhd.: Band – bunden, warf – wurfen; Nhd.: Band – banden, warf – warfen.
Bei den Verben dieser Reihe gibt es bis jetzt Schwankungen im Präteritum
Konjunktiv, vgl.:
Die alten Formen werden immer seltener gebraucht und verschwinden allmählich aus
der Sprache.
Die zeitliche Bedeutung der Tempusformen des Konjunktivs unterscheidet sich von
der des Indikativs. Der Hauptunterschied besteht darin, dass das Präteritum
Konjunktiv nicht die Vergangenheit ausdrückt, sondern nur die Gegenwart oder
Zukunft. Das bezieht sich auf den absoluten Gebrauch des Konjunktivs. Bei dem
relativen Gebrauch bedeuten beide einfachen Tempusformen die Gleichzeitigkeit mit
130
Die erste Sphäre des Konjunktivgebrauchs. Die einfachen Tempusformen des Konjunktivs
zum Ausdruck des realen Wunsches, des Befehls, der Einräumung und des Zwecks
gebraucht werden. Die Bedeutung dieses Konjunktivs wird durch das Sem ‚gefordert‘
charakterisiert. Der imperative Konjunktiv wird in der Gegenwartssprache selten
gebraucht, und zwar meist nur unbestimmt-persönlich mit dem Pronomen man als
Subjekt. Dieser Gebrauch bezieht sich nur auf die Schriftsprache, auf die Sprache der
Wissenschaft und Technik. Vgl.: Man bilde Sätze. Man löse das Pulver in heißem
Wasser. In der klassischen Literatur des 18. Und 19. Jahrhunderts findet man diesen
Konjunktiv auch bestimmt-persönlich, mit bestimmten Subjekten, vgl.:
Und der Mensch versuche die Götter nicht (F. Schiller. Der Taucher).
Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet (F.
Schiller. Das Lied von der Glocke).
2) Der optative oder der wünschende Konjunktiv wird durch das Sem ‚erwünscht‘
charakterisiert. Dieser Konjunktiv drückt solche Wünsche aus, die im Allgemeinen
erfüllbar sind und mit emotional gefärbtem Nachdruck und Leidenschaft
ausgesprochen werden. Aber in modaler Beziehung unterscheiden sich diese
Wünsche von irrealen und nähern sich dem Indikativ. Der optative Konjunktiv fällt
formal mit dem imperativen zusammen und kann nur dem Sinne nach unterschieden
werden. Beispiele des optativen Konjunktivs finden sich in der klassischen Literatur,
vgl.:
Die Zahl der Tropfen, die er (der Krug) hegt, sei euren Tagen zugelegt (J.W.
Goethe. Faust).
In der Gegenwartssprache wird in solchen Fällen oft das Verb mögen im Präsens
Konjunktiv gebraucht, vgl.:
verbreitet. Heutzutage wird er immer mehr durch den Indikativ verdrängt. Das Sem,
das diesen Konjunktiv charakterisiert: ‚eine Tatsache, die einer anderen Tatsache
gegenüber gestellt wird‘. Klassische Beispiele:
Die Kunst sei noch so groß, doch bleibt sie lächerlich, wenn sie der Welt nicht
dient (J.W. Goethe. Faust).
Wie stark der Wind auch wehe, er gefährdet das Haus nicht (H. Heine.
Harzreise).
Hierher gehören auch formelhafte Wendungen Wie dem auch sei, was auch immer
(как бы там ни было, что бы ни случилось). In der Gegenwartssprache kann hier
statt des Konjunktivs auch der Indikativ gebraucht werden, vgl.:
4) Der finale Konjunktiv oder der Konjunktiv des Zweckes mit dem Sem ‚das
Vorhaben, mit welchem das Ziel erreicht werden kann‘. Dieser Konjunktiv kann nur
in Nebensätzen vorkommen, und zwar mit der Konjunktion damit, seltener dass,
veraltet auf dass. Dieser Konjunktiv ist auch veraltet, kommt selten vor und wird
durch den Indikativ verdrängt. Er findet sich meistens in der klassischen Literatur,
z.B. in den Balladen von F. Schiller. Vgl.:
Eilt heim mit sorgender Seele, damit er die Frist nicht verfehle (F. Schiller. Die
Bürgschaft).
Von den Füßen zieht er die Schuhe geschwind, damit er das Bächlein
durchschritte (ebenda).
Der zweite Funktionsbereich des Konjunktivs. Der irreale und potentiale Konjunktiv
…und wüssten die Blümlein, die kleinen, wie tief verwunden mein Herz, sie
würden mit mir weinen (H. Heine. Lyrisches Intermezzo).
Der potentiale Konjunktiv bezieht sich auf die Zukunft, er bezeichnet eine an und für
sich mögliche Handlung, die aber als kaum möglich gedacht wird:
Dass er das tun würde, war nicht sehr wahrscheinlich (S. Nadolny. Die
Entdeckung der Langsamkeit).
Der irreale und potentiale Konjunktiv werden durch den präteritalen Konjunktiv
ausgedrückt. Das Präteritum konjunktivi bezeichnet dabei die Gegenwart oder
Zukunft und sein Synonym ist der Konditionalis I. Der Konditionalis I tritt häufiger
in Hauptsätzen auf, doch in der Gegenwartssprache findet er sich immer öfter auch in
Nebensätzen:
Die Party fände im Garten statt, wenn es nicht regnen würde (Canoonet).
Der Konditionalis I wird bevorzugt, wenn die Konjunktivform nicht deutlich ist. Das
gilt sowohl für den Haupt- als auch für den Nebensatz. Undeutlich sind alle
schwachen Verben (a) und starke Verben ohne Umlaut in der 1. und 3. Personen des
134
Plurals (b):
(a) Wenn wir etwas länger arbeiteten (arbeiten würden), würden wir es schaffen.
(b) Wenn wir in den Wald gingen (gehen würden), wäre das schön.
Allerdings ist die Umschreibung „würde + Infinitiv“ bei weitem nicht immer mit dem
Konjunktiv Präteritum äquivalent. Sie kann in der sogenannten erlebten Rede oder
auch in einigen anderen Fällen die einfache relative Tempusfunktion eines „Futurs in
der Vergangenheit übernehmen, vgl.: „Schon 1807 wusste Napoleon, dass er 1812
Russland überfallen würde (*überfiele)“.
Die Vergangenheit hat beim irrealen Konjunktiv immer einen anderen Ausdruck. Hier
treten das Plusquamperfekt konjunktivi oder der Konditionalis II auf. Beide
Tempusformen sind synonym, aber der Konditionalis II wird selten gebraucht, weil
einerseits diese Form sehr schwerfällig ist und andererseits das Plusquamperfekt
konjunktivi mit den Hilfsverben hätte und wäre immer deutliche Formen hat:
Der irreale Konjunktiv kann auch in Sätzen vorkommen, wo die Bedingung nicht
deutlich ausgedrückt ist, aber sie kann immer aus dem Kontext ergänzt werden:
Er war nicht tüchtig genug. Sonst hätte er die Prüfung längst abgelegt.→Wenn er
tüchtig genug gewesen wäre, hätte er die Prüfung längst abgelegt.
Ein anderer Lehrer hätte das nicht bewilligt → Wenn ein anderer Lehrer da
gewesen wäre, hätte er das nicht bewilligt.
Der potentiale Konjunktiv hat noch einen anderen Gebrauch: Er dient zum Ausdruck
einer bescheidenen Behauptung und wird diplomatischer Konjunktiv genannt, vgl.:
Es wäre alles.
Fast hätte ich mich verspätet. → Wenn ich diese Elektrische verpasst hätte, hätte
ich mich verspätet.
Ich wäre beinahe gefallen. →Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich sicher
gefallen.
Es handelt sich um Nebensätze mit den Konjunktionen als ob, als wenn oder als mit
einer besonderen Wortfolge, die einen irrealen Vergleich ausdrücken. In diesen
Nebensätzen werden die Tempusformen des Konjunktivs anders gebraucht als in
Bedingungssätzen. Der Konjunktiv wird in diesen Nebensätzen relativ gebraucht, hat
einen anderen Zeitgebrauch und andere Synonyme. Das Präteritum konjunktivi
drückt hier die Gleichzeitigkeit zur Handlung des Hauptsatzes aus und sein Synonym
ist das Präsens konjunktivi. Vgl.:
Es war mir, als ob ich vor einem großen Hindernis stände. Es war mir, als stände
ich vor einem großen Hindernis.
Es war John zumute, als werde er gleich „Halt!“ rufen müssen (S. Nadolny. Die
Entdeckung der Langsamkeit).
(gesprochen habe).
Als hätte (habe) sie seine Worte nicht verstanden, sagte sie leise: „Gut“.
In der indirekten oder abhängigen Rede drückt der Konjunktiv die Modalität der
fremden Aussage aus oder die Indirektheit der fremden Aussage.
Die Grenzen des Begriffs indirekte Rede sind sehr weit, denn grammatisch versteht
man unter diesem Begriff nicht nur die laut gesprochene Rede, sondern auch
Gedanken, Gefühle, Vorstellungen. Es gibt eine sehr große Reihe von Verben, die die
indirekte Rede einleiten. Die Sätze, die von diesen Verben abhängen, sind
Objektsätze. In erster Linie sind es die Verben des Sprechens, die oft lateinisch verba
dicendi genannt werden. Das sind die Verben sagen, fragen, antworten, erklären,
behaupten usw.
Sehr groß ist auch die Gruppe der Verben des Denkens (a) und des Gefühls (b). Die
Verben des Gefühls nennt man lateinisch verba sentienti. Vgl.:
Außerdem kann die indirekte Rede von den Substantiven abhängen, die von
denselben Verben gebildet sind. Dann sind es Attributsätze, aber der Modus ist auch
der Konjunktiv. Solche Substantive sind: Die Frage, der Gedanke, der Glaube, die
Idee, das Gefühl, das Gerücht u.a.m. Daraus ist ersichtlich, dass die indirekte Rede
sehr gebräuchlich ist. Besonders oft kommt sie in der Schriftsprache vor, in der
Publizistik, in der Mediensprache, in der Sprache der Wissenschaft und der Technik.
137
Der Konjunktiv ist in der Gegenwartssprache nicht das einzige Mittel, das die
Indirektheit der Aussage betont. Dieselbe Funktion erfüllen auch die einleitenden
Verben oder Substantive, die Konjunktionen dass und ob, die Interrogativpronomina
der w-Reihe (wer, was u.a.m.), die logische Veränderung der Personen. In der
Schriftsprache und besonders in der Sprache der Wissenschaft und Publizistik ist der
Konjunktiv stilistisch von großer Bedeutung. In diesen Arten der Verfassung kann der
Autor die fremden Meinungen, die er anführt, durch den Konjunktiv von seinen
eigenen unterscheiden. Es ist in solchen Fällen wichtig, wenn die Erklärung einen
großen Raum einnimmt. Dann werden die einleitenden Verben nicht wiederholt. Die
Sätze haben die Gestalt von einfachen Sätzen, sie sind konjunktionslos und der
Konjunktiv bleibt das einzige Mittel der Indirektheit.
Es entsteht die Frage, warum der Konjunktiv überhaupt in die indirekte Rede
eingedrungen ist. Ursprünglich hatte der Konjunktiv eine dubitative Bedeutung (die
Bedeutung des Zweifels). Aber im Laufe der Zeit verschwand diese dubitative
Bedeutung oder sie wurde stark abgeschwächt. In den meisten Fällen bedeutet der
Konjunktiv nur die Indirektheit ohne jeglichen Zweifel.
Ursprünglich gebraucht man in der indirekten Rede sowohl den präsentischen als
auch den präteritalen Konjunktiv. Aber damals wurde der Gebrauch der beiden Arten
streng unterschieden. Es gab eine sehr feste Folge der Tempusformen, sie hieß
lateinisch consecutio temporum. Diese Folge bestand zwischen dem einleitenden
Hauptsatz und dem Objektsatz der indirekten Rede. Wenn das einleitende Verb im
Präteritum stand, so stand im Nebensatz das Präteritum konjunktivi (a). Wenn aber
das einleitende Verb im Präsens stand, so musste das Verb im Nebensatz im Präsens
konjunktivi stehen (b). Vgl.:
Mit der Entwicklung der analytischen Tempusformen verbreitete sich dieses Gesetz
138
auch auf diese. Das Perfekt und Futurum I wurden als präsentischer Konjunktiv
behandelt, weil sie mit dem Präsens der Hilfsverben gebildet werden. Das
Plusquamperfekt und die Konditionalis dagegen galten als präteritaler Konjunktiv,
weil sie mit dem Präteritum der Hilfsverben gebildet werden. Diese Normen findet
man in 14.-15. Jahrhunderten.
Vom 15. Jahrhundert an beginnt sich eine neue Norm des Gebrauchs des Konjunktivs
in der indirekten Rede zu entwickeln. In diese Redeart dringt immer mehr der
präsentische Konjunktiv ein. Die alte Folge wird nicht mehr beobachtet und es
entwickeln sich ganz neue Regeln. Das Präsens konjunktivi beginnt, die
Gleichzeitigkeit mit dem einleitenden Verb auszudrücken (a). Das Perfekt dagegen
drückt die Vorzeitigkeit zum einleitenden Verb aus (b). Die Nachzeitigkeit zum
einleitenden Verb wird durch das Futurum des Konjunktivs ausgedrückt (c). Vgl.:
Aber die präsentischen Formen des Konjunktivs (Präsens, Perfekt, Futurum I) sind in
vielen Fällen undeutlich. Es hängt von der Person des Verbs ab: Die 1. Person
Singular, die 1. und die 3. Personen des Plurals fallen mit dem Indikativ immer
zusammen. Deshalb beginnen die sprechenden Menschen die zusammenfallenden
Formen des präsentischen Konjunktivs durch entsprechende Formen des präteritalen
Konjunktivs zu ersetzen. So entwickelte sich allmählich der klassische Gebrauch der
indirekten Rede bei guten Stilisten, zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit werden die
einfachen Tempusformen gebraucht: das Präsens und das Präteritum, wobei das
Präteritum zum Ersatz der mit dem Indikativ zusammenfallenden Formen des Präsens
konjunktivi (a). Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit dient das Perfekt konjunktivi. Bei
zusammenfallenden Formen ersetzt man das Perfekt durch das Plusquamperfekt
konjunktivi (b). Zum Ausdruck der Nachzeitigkeit gebraucht man in der indirekten
Rede das Futurum konjunktivi. Bei zusammenfallenden Formen wird der
139
(a) Der Hirt sagte mir, der große Berg, an dessen Fuße ich stände, sei der
weltberühmte Brocken (H. Heine. Die Harzreise).
(b) Er meinte, die Kameraden hätten ihm einen Streich gespielt. Er fragte, ob
sich Don Alfonso selber an den Spielen beteiligen werde (L. Feuchtwanger.
Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau).
(c) Er setzte den Mädchen auseinander, sie würden sich noch an ganz andere
Dinge gewöhnen müssen (H. Mann. Die Jugend des Königs Henri Quatre).
Die Praxis der Sprache zeigt aber, dass es viele Abweichungen von genannten Regeln
gibt. Sie bestehen darin, dass der Ersatz durch die präteritalen Formen manchmal
dann geschieht, wenn er eigentlich nicht nötig ist, z.B. in der 3. Person des Singulars,
wo der präsentische Konjunktiv immer typisch ist:
Das kann zweierlei Gründe haben: 1) Das Fortleben der alten Norm des Gebrauchs
des Konjunktivs neben der neuen Norm. 2) Es kann auch eine Vermischung der
beiden Reihen des Konjunktivs stattfinden: der präteritalen und der präsentischen. In
der grammatischen Literatur werden solche Ausnahmen auf zweierlei Weise
aufgefasst. Es gibt eine Meinung, dass der unnötige Ersatz der präsentischen
Tempusformen des Konjunktivs durch die präteritalen eine modale Bedeutung hat.
Diese Meinung findet man oft in den ausländischen Grammatiken. Man meint, dass
die präteritalen Konjunktivformen die Bedeutung des Zweifels an der Richtigkeit der
fremden Aussage unterstreichen (a), während der präsentische Konjunktiv die fremde
Aussage objektiv bezeichnet (b), vgl.:
(a) Er durfte gar nicht sagen, wie fremd er diesen Klaus Buch fand (M. Walser.
Ein fliehendes Pferd).
(b) Gehört das Tier euch, fragte er. Aber der hat doch noch nie jemanden
gebissen, sagte Sabine. Hel sagte: Bei seinem Ekel vor Hunden genügt die
geringste Berührung… (ebenda).
In der letzten Zeit sind viele Arbeiten erschienen, in denen die Modalität der
indirekten Rede untersucht wird. Es wird darauf hingewiesen, dass in der indirekten
Rede die evidentielle Modalität ausgedrückt wird, das heißt man beruft sich dabei auf
Meinungen oder Gedanken anderer Personen (Kostrova 2014). Der Indikativ betont,
dass sich der Sprecher mit der fremden Meinung mehr identifiziert als bei dem
konjunktivischen Ausdruck. Vgl.:
Sie fürchteten, dass mir etwas zustößt in der Fremde (H. Müller. Atemschaukel).
Burnaby hingegen hatte gefolgert, dass John schwer bestraft werden müsse (S.
Nadolny. Die Entdeckung der Langsamkeit).
141
Doch bis jetzt gibt es keine speziellen Arbeiten über den Gebrauch des Indikativs in
der indirekten Rede.
Der «Modus» ist eines der Mittel zur Realisierung der semantischen Kategorie der
«Modalität». So schreibt z.B. P. Eisenberg, „Indikativ und Konjunktiv sind
syntaktische Einheitenkategorien, die der Signalisierung von Modalität dienen“
(Eisenberg 1986: 121). Modalität ist der Oberbegriff für den Modus.
In der russischen Germanistik spricht man traditionell von der objektiven und der
subjektiven Modalität (nach V.W. Winogradow). Unter der objektiven Modalität
versteht man das Verhältnis der Aussage zur Wirklichkeit (Realität – Irrealität). Das
ist auch einer der Gründe, warum der Imperativ gesondert betrachtet werden sollte:
Er ist am System der Oppositionen nicht beteiligt.
Die objektive Modalität ist eine der Kategorien, die Prädikativität ausmachen.
Prädikativität unterscheidet einen Satz von einer Wortgruppe (Bezug auf Kategorien
des Modus, des Tempus und der Personalität). Die objektive Modalität ist mit der
Tempuskategorie eng verbunden und ist für eine Aussage oblique.
Die subjektive Modalität ist im Unterschied von der objektiven Modalität ein
fakultatives Kennzeichen der Aussage. Unter der subjektiven Modalität versteht man
die Einstellung des Sprechers zum Inhalt der Aussage (z.B. Ich zweifle daran, dass er
seine Arbeit gut macht).
Die Modi beteiligen sich an dem Ausdruck sowohl der objektiven als auch und der
subjektiven Modalität. Als Marker der objektiven Modalität kennzeichnen sie
Realität/ Irrealität der Aussage. Als Marker der subjektiven Modalität können sie
Sicherheit oder einen gewissen Zweifel ausdrücken. Wenn z.B. der Sprecher den
Inhalt der Aussage für ein wahres Ereignis hält, wird der Indikativ verwendet, vgl.:
Meine Damen und Herren, dann kam Herr Spöri. Er hat sich natürlich eben in
einer schwierigen Situation befunden (Parlamentsreden).
142
Wenn sich aber der Sprecher von dem Inhalt der Aussage distanzieren möchte, wählt
er den Konjunktiv I, vgl.:
Er sagte, er habe noch im letzten Jahr ein kleines Café aufgemacht, aber nun sei
alles kaputt, die Backstube und der Laden seien völlig zerstört (Parlamentsreden).
Der Modus ist demzufolge die morphologische Kategorie des Verbs, die dem Bereich
der Modalität gehört. Die Kategorie der Modalität ist eine semantische Kategorie, sie
spiegelt „ein Stück Wirklichkeit im Bewusstsein des Sprechers“ wider (Гак 1986:
113), oder, nach H. Vater, „Modalität ist nicht Bestandteil des in einem Satz
beschriebenen Sachverhalts, sondern etwas, was zusätzlich zu diesem Sachverhalt
ausgedrückt wird.“ (Vater 1975: 104).
Wir unterscheiden zwischen der inneren Modalität, wenn der Protagonist (die Person,
von der die Rede ist) seine Einstellung zu einem Sachverhalt äußert, und der äußeren
Modalität, die die Proposition mit dem Sprecher verbindet und die Einstellung des
Sprechers widerspiegelt (Аверина 2010). Das können wir an folgenden Belegen
veranschaulichen:
Er meinte, hier gäbe es keine Korkenzieher (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon) – die äußere Modalität;
„Ich glaube nicht, dass ich es könnte“ (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon) – die innere Modalität.
Die Korrelation des Modus und der Modalität können wir an der folgenden Tabelle
veranschaulichen:
Modalität
Inhaltsebene Subjektive Modalität Objektive Modalität
Ausdrucksebene Modalverben, Modaladverbien, Modi
Modalpartikeln, Verben des Meinens (Indikativ, Konjunktiv)
(Glaubens), Modi, Entscheidungsfragen
mit der Verneinung
Tabelle 7. Modus im Rahmen der Kategorie „Modalität“
143
das Subfeld der Epistemizität (die Einschätzung der Richtigkeit der Aussage
von dem Sprecher: Vielleicht kommt er);
das Subfeld der Evidentialität (die Wiedergabe einer fremden Meinung: Z.B.:
Er will krank gewesen sein).
Ich glaube, sie heißt Helen (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
„Du lieber Himmel, es wird Äther sein“, sagte Ravic [...] (E.M. Remarque. Arc
de Triomphe),
wo die Struktur werden + Infinitiv I die Vermutung in Bezug auf die Gegenwart
kodiert. Die Vermutung in Bezug auf Handlungen in der Vergangenheit wird mittels
der Struktur werden + Infinitiv II wiedergegeben, vgl.:
„Haben Sie gesehen, was aus dem Mädchen geworden ist, mit dem ich zusammen
war?“, fragte Kern.
144
„Das Mädchen?“ Der Blonde dachte nach. „Es wird ihr nichts passiert sein.
Was soll ihr schon geschehen? Mädchen lässt man doch in Ruhe bei einer
Prügelei.“ (E.M. Remarque. Liebe Deinen Nächsten).
Die Verben können und müssen kodieren in Verbindung mit Infinitiv I (II) die
Semantik der Vermutung mit einem hohen Sicherheitsgrad, während die Verbindung
des Infinitivs I (II) mit den Modalverben dürfen und mögen eine Vermutung mit
einem niedrigeren Sicherheitsgrad kodiert, vgl.:
Es konnte kein Radio sein; das spielte keine Musik bei Fliegeralarm. Es musste
ein Grammophon sein, das vergessen wurde, abzustellen, oder aber es war
jemand, der bei offenem Fenster Klavier spielte (E.M. Remarque. Der Funke
Leben).
Es kann sein, dass er sich noch auf der Straße herum treibt (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
Die Besonderheit der Semantik der Vermutung, die mittels des Modalverbs müssen
kodiert wird, besteht darin, dass die Vermutung auf der Schlussfolgerung des
Sprechers basiert. Die Vermutung, die mittels dürfen und mögen wiedergegeben wird,
wird häufiger in dem Falle kodiert, wenn als Infinitive nichtgrenzbezogene (additive)
Verben auftreten, vgl.:
Das dürfte einstweilen wohl nur Ihre Vermutung sein, Herr Kroll, und weiter
nichts (E.M. Remarque. Arc de Triomphe).
Ein anderes Mittel zum Ausdruck der Semantik der Epistemizität sind Modalwörter
vielleicht, hoffentlich, wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, möglich, bestimmt,
allerdings, natürlich, selbstverständlich usw. sowie Modalpartikeln ja, doch, wohl
usw. wiedergegeben, vgl.:
145
Aber vielleicht hätte er mich auch gerade deswegen gehasst, weil es dann für ihn
so gewesen wäre, als hätte ich ihm seine Frau genommen [...] (E.M. Remarque.
Die Nacht von Lissabon).
Sie konnte auch wohl nichts bemerkt haben; es war zu dunkel (E.M. Remarque.
Liebe Deinen Nächsten).
Die Semantik der Evidentialität wird auch mit Hilfe unterschiedlicher Mittel
wiedergegeben. Das sind in erster Linie Konjunktiv I, Modalwörter scheinbar,
angeblich, Modalverben sollen und wollen in sekundärer Bedeutung, die Verben
behaupten, sagen, erzählen, berichten usw., vgl.:
Der Attentäter, der in Minnesota neun Menschen angegriffen hat, soll ein
Anhänger der Terrormiliz "Islamischer Staat" gewesen sein. Das teilten IS-nahe
Medien mit (Zeit Online. 18. 09. 2016).
Zum ersten Mal seit einer Woche habe es wieder Luftangriffe auf den von
Rebellen kontrollierten Ostteil der nordsyrischen Stadt Aleppo gegeben,
berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Zeit Online. 19.
09. 2016).
Auch das Zitieren wird häufig verwendet, wenn man auf eine bestimmte Quelle
hinweisen will, vgl.:
„Ich kann sie nicht kaufen“, sagte ich schließlich auf deutsch. „Sie sind ein
Vermögen wert“ (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon) – deontische
146
Modalität.
Es kann sein, dass er sich noch auf der Straße herumtreibt (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon) – epistemische Modalität.
Fazit
Der Konjunktiv wird in drei modalen Sphären gebraucht und drückt dabei 3
modale Schattierungen aus: 1) Die präsentischen Formen drücken die
Modalität aus, die der Realität nahe kommt; 2) die präteritalen Tempusformen
drücken die potential-irreale Modalität aus; 3) in der indirekten Rede wird die
Modalität der fremden Aussage ausgedrückt.
Die Tempusformen des Konjunktivs haben eine andere zeitliche Bedeutung, als
die Tempusformen des Indikativs.
Der Modus ist die morphologische Kategorie des Verbs, die dem Bereich der
Modalität gehört. Die Kategorie der Modalität ist eine semantische Kategorie.
Man kann zwischen der inneren Modalität und der äußeren Modalität
unterscheiden. Im ersten Fall äußert der Protagonist (die Person, von der die
Rede ist) seine Einstellung zu einem Sachverhalt. Im zweiten Fall wird die
Einstellung des Sprechers kodiert.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Charakterisieren Sie folgende Sätze aus der Perspektive der subjektiven Modalität:
1. Ich war, kaum erwacht, sofort im Bild: Unter uns das offene Meer (M. Frisch.
Homo faber). 2. Wenn er gesagt hätte, etwas Geld, so hätte ich gewusst, dass es zwei
bis drei Mark wären (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 3. „Schmeckt's?“ fragte
er. „Prachtvoll!“ Sie hob ihr Glas. „Auf Ihr Wohl, Alfons“ (E.M. Remarque. Drei
Kameraden).
Aufgabe 2.
Bestimmen Sie die Art der subjektiven Modalität in folgenden Sätzen:
1. Es muss schwer sein, das alles zu glauben (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
147
2. Monika kann ungeheuer gefühlvoll sein, bis zur Sentimentalität (H. Böll. Die
Ansichten eines Clowns). 3. Der Krieg musste kommen. Die Bündnisse Frankreichs
und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon). 4. In einem UN-Bericht wird das durchschnittliche Jahreseinkommen der
am Programm teilnehmenden Familien auf etwas mehr als 5.000 Dollar taxiert, in
einzelnen Genossenschaften liege es über 10.000 oder sogar 25.000 Dollar (Zeit
Online. 22.09.2016). 5. Nun hätten Chan und Zuckerberg ihre Milliarden aber auch
einfach behalten können. Stattdessen wollen sie das Geld in Bildung und Gesundheit
investieren (Zeit Online. 25.09.2016).
Aufgabe 3.
In folgenden Sätzen wird die Kategorie der Epistemizität kodiert. Formulieren Sie
diese Sätze anders, indem Sie andere Mittel des funktional-semantischen Feldes der
epistemischen Modalität verwenden:
1. Ich glaube, dass mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick
zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon). 2. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon). 3. Vielleicht werde ich das auch einem Rechtsanwalt übergeben
(H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Aufgabe 4.
Erklären Sie den Gebrauch der Konjunktivformen im folgenden Text. Ordnen Sie
diese den Funktionsbereichen zu.
Wenn die Haifische Menschen wären (Bertolt Brecht)
„Wenn die Haifische Menschen wären“, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner
Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?“ „Sicher“, sagte er. „Wenn die
Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige
Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug.
148
Sie würden dafür sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie
würden überhaupt allerhand sanitärische Maßnahmen treffen, wenn z.B. ein Fischlein
sich die Flosse verletzten würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht,
damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht
trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein
schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen
Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der
Haifische schwimmt. Sie würden z.B. Geographie brauchen, damit sie die großen
Haifische, die faul irgendwo rumliegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre
natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden,
dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freiwillig aufopfert, und
sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für
eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft
nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen,
egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten, und es
sofort melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete.
Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander
Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege
würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein
lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger
Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sich bekanntlich stumm,
aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und könnten einander daher
unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein,
feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein, tötete, würde sie Orden aus
Seetang anheften und den Titel Held verleihen.
Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es
gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre
Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt
wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein
149
begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die
Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in der
allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine
Religion gäbe es ja, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die
Fischlein erst im Bauche der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es
auch aufhören, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen
würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig
größeren dürften sogar die kleineren fressen. Dies wäre für die Haifische nur
angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die
größeren, Posten innehabenden Fischlein würden für die Ordnung unter denn
Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere Ingenieure im Kastenbau werden.
Kurz, es gäbe erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären.
VERTIEFUNG
Perfekt
In der deutschen Grammatik wurde mehrmals die Frage bezüglich der aspektuellen
Eigenschaften des Perfekts erhoben. Man kann mehrere Positionen nennen, die das
Perfekt aus der aspektuellen Perspektive charakterisieren.
Den ersten Standpunkt vertritt H. Glinz. Er behauptet, dass das Perfekt neben der
temporalen Semantik auch die Kategorie des Aspekts kodiert. So weist H. Glinz
darauf hin, dass man das Perfekt
„keineswegs einfach als eine Vergangenheit sehen darf, … das Wesentliche ist
das Moment, durchgeführt, vollzogen, abgeschlossen“ (Glinz 1970: 149, zitiert
nach Vater 1994: 67).
„Doch wäre es durchaus verfehlt, jede Perfektform auf besondere Aktualität des
Ausgesagten für die Gegenwart oder gar auf die Resultativität hin zu
untersuchen“ (Moskalskaja 2004: 98).
Den dritten Standpunkt vertreten Sprachforscher, die meinen, dass das Perfekt
sowohl temporale als auch aspektuelle Semantik hat (Wunderlich 1970).
Den vierten Standpunkt vertreten H. Vater und V. Ehrich. Sie entwickelten die
„Komplexitätshypothese“, nach der das Perfekt gleichzeitig temporale und
aspektuelle Eigenschaften hat, wobei das Verhältnis zwischen Tempus und
Aktionsarten eine Rolle spielt (Ehrich & Vater 1989: 106, zitiert nach Vater (1994:
68)). Sie sind der Auffassung,
„dass dem Perfekt im Rahmen der Komplexitätshypothese eine einheitliche
grammatische Bedeutung als Grundbedeutung zugewiesen werden kann. Obwohl
die Grundbedeutung des Perfekts stets dieselbe ist, wird man das Perfekt von
Verben unterschiedlicher Aktionsart unterschiedlich deuten: Bei resultativen
Verben … als Präsensperfekt, bei durativ-nicht-resultativen Verben als
unbestimmte Vergangenheit und bei nichtdurativ-nichtresultativen Verben … als
Perfekt der unmittelbaren Vergangenheit“ (Ehrich &Vater 1989: 109).
So kann z.B. das Perfekt nicht nur die Semantik der Vergangenheit, sondern auch die
des Resultats wiedergeben, vgl.:
wo das Perfekt durch das Präteritum nicht ersetzt werden kann. Wird das
Temporaladverbial angegeben, kann das Perfekt durch das Präteritum ersetzt werden,
vgl.:
Auch W.G. Admoni weist darauf hin, dass „das Perfekt sich ursprünglich als eine
resultativ-perfektive Form entwickelt hat und dass in manchen Fällen Spuren dieser
alten Bedeutung auch in der modernen Sprache bemerkbar sind“ (Admoni 1986:
195). Dieser Unterschied kann am folgenden Textauszug, den W.G. Admoni anführt,
beobachtet werden, vgl.:
Sie wusste viele alte Volkslieder und hat vielleicht bei mir den Sinn für diese
151
Gattung geweckt, wie sie gewiss den größten Einfluss auf den jungen Poeten
ausübte (H. Heine) (Nach Admoni 1986: 195).
Sie liebte zu essen. Wie sie dabei schlank blieb, ist mir immer unerklärlich
geblieben (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Nach B. Comrie (1976) kann die Verwendung des Perfekts in dem angeführten
Beispiel durch „Gegenwartsrelevanz“ erklärt werden.
Die aspektuelle Semantik des Perfekts ist deutlicher ausgeprägt, wenn es eine
Zukunftsperspektive kodiert, vgl.:
Die Küste hinter uns lassend, führt uns unser Weg durch das Landesinnere
entlang von Gebirgsmassiven und klaren Seen – durch eine Inselwelt voller
Wunder und Schönheiten. Bald hat dichter Nebel die Berge verschluckt und sich
bis zum Tal herabgesenkt und verzweifelt müht sich die Sonne dennoch bis zum
Boden vorzudringen und taucht dabei alles in zarte Pastellfarben
(http://traveldiary.de/?p=527&page=3)
Einen besonderen Standpunkt vertritt E. Leiss. Sie ist der Ansicht, dass die Form des
Perfekts, die mit dem Hilfsverb sein gebildet wird, nicht die Kategorie des Tempus
repräsentiert, sondern die Kategorie des Resultativums (Leiss 1992). Den Unterschied
zwischen sein + Partizip II und haben + Partizip II macht sie bei folgender
Gegenüberstellung deutlich:
Der Satz (a) weist vergangenen Zeitbezug auf, die aspektuelle Bedeutung des
nonadditiven Verbs stattfinden ist der temporalen Bedeutung untergeordnet. Es liegt
ein resultatives Perfekt vor. Im nächsten Satz (b) liegt ebenfalls vergangener
152
Zeitbezug vor. Das an der Konstruktion beteiligte Verb (langweilen) ist additiv,
deswegen fehlt die resultative Bedeutung. Im Satz (c) liegt ein Resultativum vor
(Leiss 1992: 274).
Futur I
Bezüglich des Status des Futurs I gibt es unterschiedliche Meinungen, weil Sätze mit
dem Futur I sowohl die Semantik der Zukunft (a) als auch die der Vermutung (b)
wiedergeben können, vgl.:
(a) In Münster und Osnabrück, 1648. Nach dreißig Jahren Krieg. Wer weiß, wie
lange dieser dauern wird! (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
(b) „Lass uns still sein und warten“, sagte Helen. „Es wird irgendein Bekannter
sein“ (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
„Modalisten“ nennt man Sprachforscher, die meinen, dass werden die Semantik der
Vermutung (der epistemischen Modalität) wiedergibt. „Futuristen“ sind
Sprachforscher, die dem Futur die Semantik der Zukunft zuschreiben. Den Streit
zwischen Modalisten und Futuristen iniziierte L. Saltveit (1960: 64), als er auf den
Zusammenhang zwischen der Semantik von Sätzen mit werden und der Aktionsart
des Verbs hingewiesen hat, vgl.:
Weder in den Mundarten noch in der Hochsprache ist die Fügung ein
eindeutiges Futur; ihre Fähigkeit, die Zukunft auszudrücken, ist von der
Aktionsart des Verbums und z.T. von der Person abhängig.
Die Position der „Modalisten“ entwickelte H. Vater. Er ist der Meinung, dass sich
werden primär wie ein Modalverb benimmt und seine temporale Bedeutung sekundär
ist (Vater 1994: 73). Das Argument gegen die Auffassung der werden-Konstruktion
als futurisch beruht auf der Beobachtung, dass ein modalitätsfreies Futur nur durch
das reine Präsens ausgedrückt werden kann, vgl.:
In (2b) kann werden nur eine modale Bedeutung haben, und zwar die der Vermutung.
Die Position der „Futuristen“ vertreten K. Matzel und B. Ulvestad (1982). Sie sind
der Meinung, dass das Futur I primär die Semantik der Zukunft wiedergibt.
Die Semantik des Futurs ist von der Aktionsart des Verbs abhängig, das haben schon
viele Sprachforscher bemerkt. So schreiben z.B. E. Hentschel und H. Weydt, „die
meisten perfektiven Verben stellen regelmäßig einen Zukunftsbezug her“ (Hentschel
& Weydt 1994: 97). Nach unseren Beobachtungen wird die Kombination der Verben
sein und haben mit dem Hilfsverb werden häufig modal verwendet, vgl.:
Wahrscheinlich riecht ein Säugling nicht, dachte er, so wird das sein (P. Süskind.
Das Parfum).
„Versuchen Sie es“, sagte er nach einem Augenblick ruhiger. „Der hier wird
schon gewusst haben, weshalb er nicht mehr wollte.“ (E.M. Remarque. Liebe
Deinen Nächsten) (nach Аверина 2010: 90).
E. Leiss zeigt auch die Abhängigkeit der Futurbedeutung von der Aktionsart des
Verbs. Sie meint, Futur I und futurisches Präsens sind bei durativen und aspektuell
neutralen Verben synonym. Bei terminativen Verben stellt nur das futurische Präsens
nichtmodalisierten zukünftigen Zeitbezug her (Leiss 1992). Das kann an folgenden
Belegen beobachtet werden, vgl.:
In (a) weist das Temporaladverb heute zukünftigen Zeitbezug auf, das Verb ist
nonadditiv. In (b) ändert nicht das Temporaladverb heute die zeitreferentielle
Bedeutung, das Verb ist additiv (Leiss 1992: 214). Deswegen ist es notwendig, bei
der Angabe der Zukunft in Sätzen mit additiven Verben das Futur I zu verwenden,
während mit nonadditiven Verben das Verb werden weggelassen werden kann, vgl.:
Futur II
Das Futur II kann ebenso wie das Futur I sowohl Vermutung (Epistemizität) als auch
Zukunft kodieren. Wird ein Vorgang in der Zukunft bezeichnet, wird auf die
Abgeschlossenheit hingewiesen, vgl.:
Wir werden ein Stück mehr Standortqualität gefunden haben, und dieses Land
155
wird auch in seiner täglichen öffentlichen Darstellung ein Stück anders geworden
sein (Parlamentsreden).
Nach H. Gelhaus wird das modale Futur II viel häufiger verwendet als das temporale
Futur II: Das temporale Futur ist durch 6 Belege vertreten, das modale dagegen durch
37 (Gelhaus 1975: 150, zitiert nach Admoni 1986: 200).
Die durch das modale Futur II kodierte Vermutung bezieht sich auf die
Vergangenheit, vgl.:
Wer das Treiben in der neuen Hauptbücherei gesehen hat, wird bemerkt haben,
dass sie selbstverständlich ein Ort der Integration ist
(http://minderheiten.at/stat/stimme/stimme50c.htm)
Herr Kollege Hacker, wenn Sie mir zugehört haben, dann werden Sie doch
verstanden haben (Parlamentsreden).
Das Futur II wird in temporaler Lesart zum Ausdruck der Vorzeitigkeit verwendet,
vgl.:
Wir wollen abwarten, bis die Kisjona freundliche Gesellschaft das Morgenmahl
wird beendet haben (J. Lorber. Das große Evangelium Johannes).
Auf die Tatsache, dass sich die Kategorien Aspekt, Tempus und Modus
überschneiden, weisen viele deutsche Sprachforscher hin, vgl. (Krifka 1989), (Leiss
1992), (Fries 1997), (Heinold 2015) u.a.m. In der Monographie von E. Leiss (1992)
heißt eines der Unterkapitel so: „Tempus: zwischen Aspekt und Modus“. In diesem
Teil weist E. Leiss auf die Semantik der Struktur werden + Infinitiv I (II) hin:
Grenzbezogene, nonadditive Verben erhalten in Kombination mit dem Verb werden
keine temporale, sondern eine modale Semantik, während in der Kombination von
nichtgrenzbezogenen, additiven Verben mit dem Verb werden die temporale Semantik
überwiegt. Diese Gesetzmäßigkeit kann auch im Russischen beobachtet werden: Die
perfektiven Verben können kein analytisches Futur bilden. Die Konstruktion budu +
156
(1) Sie ist dumm und gleichgültig. Ich kann sie wegschicken, sie wird sich freuen
und nicht nachdenken (E.M. Remaque. Die Nacht von Lissabon) – zukünftiger
Zeitbezug.
(2) Der Budenbesitzer übergab uns beides und machte viel Hallo davon, um
weitere Kunden anzulocken. „Dir wird das Hallo schon vergehen“, schmunzelte
Gottfried und eroberte eine Bratpfanne (E.M. Remarque. Drei Kameraden) –
modaler Bezug.
stehen. Die Lesart des Satzes (b) ist dagegen eindeutig (Irrealis), da die
Vergangenheit als Zeitstufe keine optativischen Interpretationen zulässt. Was dem
Konjunktiv als Modus bleibt, ist die Kodierung der oben schon erwähnten
erwünschten Option. Ob nun diese „real“ oder „irreal“ ist, entscheidet die jeweilige
Tempusstufe – und somit auch die jeweilige Tempusform. Diese Letztere ist im
Deutschen dem Indikativ asymmetrisch, da im Konjunktivsystem nicht das Präsens,
sondern das Präteritum zukünftige Optionalität ausdrückt. Der gesamte Bereich der
Vergangenheit bleibt für das Plusquamperfekt des Konjunktivs reserviert (vgl. Kotin
2007b: 74).
Die Autoren meinen, ein Zustandspassiv kann nur von solchen Verben gebildet
werden, die a) auch ein Vorgangspassiv bilden und b) zugleich transformative bzw.
resultative Bedeutung haben, d.h. von solchen Verben, die einen Übergang zu einem
neuen Zustand bezeichnen, bei denen das Objekt so stark durch die Handlung
beeinflusst wird, dass ein neuer Zustand überhaupt entstehen kann:
Anderer Einstellung ist W.G. Admoni: Nach seinen Vorstellungen ist das
158
Sowohl in der russischen als auch in der deutschen Germanistik gibt es Arbeiten, in
denen aspektuale Besonderheiten des Zustandspassivs betrachtet werden. Nach M.
L. Kotin besitzt das Zustandspassiv in der Regel die aspektuale Bedeutung der
Abgeschlossenheit (Merkmal „resultativ“) (Kotin 1998: 39). Über die resultative
Semantik des Zustandspassivs schreibt auch E. Leiss. Sie zeigt, dass sein + Partizip
II im Neuhochdeutschen weder ein Perfekt noch ein Zustandspassiv ist. Es ist
Resultativum:
„Kennzeichen dieses Resultativums ist es, dass es entweder aktivische oder
passivische Bedeutung hat. Ein aktivisches Resultativum liegt immer dann vor,
wenn das Partizip II eines intransitiven Verbs vorliegt (P.P.A.). Ein passivisches
Resultativum liegt dann vor, wenn das Partizip II von einem transitiven Verb
gebildet wird (P.P.P.)“ (Leiss 1992: 164).
159
Er ist eingeschlafen.
E. Leiss meint, es ist nicht möglich, das Partizip II eines intransitiven Verbs, oder
aktives Resultativum, und das Partizip II eines transitiven Verbs, oder passives
Resultativum einer der beiden Kategorien (Perfekt oder Passiv) zuzuordnen. Es
handelt sich um eine Kategorie, die der Tempuskategorie und dem Passiv vorgeordnet
ist und der Aspektkategorie nachgeordnet (Leiss 1992: 164). In den sein + Partizip
II-Formen haben wir resultative Konstruktionen vor uns, die intransitiv sind und
deren Subjekt immer dann ein Patienssubjekt ist, wenn das Partizip II von einem
transitiven Verb gebildet ist (Leiss 1992: 167). Im Deutschen kann es nicht zwei
Perfektformen und zwei Passivformen geben. E. Leiss hält folgende Klassifikation
ungültig:
160
Zustandspassiv solche Strukturen wie Karl hat dort ein Schild angebracht; Er hat
sich daran gewöhnt; Ich hatte gestern seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Wir
halten es für sinnvoller, den Satz (a) doppelt zu interpretieren: Als Form des Perfekts
und als die des Resultativs.
Fazit
Die Genera verbi kodieren einen und denselben Sachverhalt aus verschiedenen
Perspektiven. Traditionell spricht man von Aktiv und Vorgangspassiv, manche
Grammatikforscher zählen auch Zustandspassiv dazu.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Klassifizieren Sie folgende Sätze mit Passiv nach der Zahl der Glieder:
1. Ich wurde dazu verurteilt, unter Herberts Aufsicht im Garten einen Panzergraben
auszuwerfen (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 2. Es wird alles missverstanden
(H. Böll. Die Ansichten eines Clowns). 3. [...] das dauernde Tuten machte mich
nervös, ich stellte mir vor, dass Frau Fredebeul schlief, von dem Tuten geweckt
wurde, wieder einschlief, wieder geweckt wurde, und ich durchlitt alle Qualen ihrer
von diesem Anruf betroffenen Ohren (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Aufgabe 2.
Finden Sie Sätze mit dem Zustandspassiv, mit dem Vorgangspassiv, mit dem
adjektivischen Prädikativ und mit dem sein-Perfekt. Begründen Sie Ihre Meinung:
1. Es ist mir aus den Händen geglitten - aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? 2. Es ist dann fast
so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören auf die Haut verlagert 3.
Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. 4. Ich weiß nicht, ob sie wieder verheiratet ist .
5. Er ist mir geschenkt worden, sagte ich. 6. Sie wissen, wie alles sich vergrößert, fast ins
Unwirkliche, wenn man gefangen ist und nichts hat als ein paar Briefe (Quelle: E.M. Remarque.
Die Nacht von Lissabon).
Aufgabe 3.
162
Aufgabe 4.
Verwenden Sie, wenn es möglich ist, andere synonymische Formen aus dem
Passivfeld, um die Semantik des Passivs auszudrücken:
1. In den Baracken wird viel Unsinn geredet (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon). 2. Sie wird morgen abgeholt für eine pathologische Klinik (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Das Partizip
Zulesende. Es ist vom Präsensstamm gebildet und verbindet sich immer mit der
Partikel zu.
Die Partizipien sind verbale Adjektive, die aber noch keine echten Adjektive
geworden sind. Sie gehören zum System des Verbs, das Partizip II dient zur Bildung
einer Reihe von analytischen Tempusformen. Alle Partizipien haben eine Reihe
verbaler Merkmale. Es sind die Kategorien des Aspekts, die bei finiten Verben fehlen,
und die Kategorie des Zeitverhältnisses. Alle Partizipien drücken entweder die
Gleichzeitigkeit, oder die Vorzeitigkeit, oder die Nachzeitigkeit zum Prädikat des
Satzes aus. Die Zeitstufe können sie dagegen nicht angeben. Die Partizipien der
transitiven Verben haben noch ein drittes Merkmal: Sie drücken das Genus aus.
Manchmal kann man die Termini treffen ‚das Partizip des Präsens‘ statt des Partizips
I, ‚das Partizip des Perfekts‘ statt des Partizips II und ‚das Partizip des Futurs‘ statt
des Partizips III. Diese Termini sind irreführend und deswegen nicht zu empfehlen.
Alle Partizipien haben auch adjektivische Eigenschaften. Sie werden als Adjektive
dekliniert und haben im Satz dieselben syntaktischen Funktionen wie gewöhnliche
Adjektive. Die Partizipien I und II gehen sehr leicht in Adjektive über und bilden
leicht zusammengesetzte Adjektive. Z.B.: Erzogen – wohlerzogen. Alle Partizipien
lassen sich substantivieren.
Das Partizip I
Das Partizip I hat stets eine aktive Bedeutung und drückt immer die Gleichzeitigkeit
zum Prädikat des Satzes aus. Charakteristisch ist für dieses Partizip der imperfektive
Aspekt, weil es unvollendete Handlungen bezeichnet. Vgl.:
(a) Die rauschenden Tannen umgaben mich (H. Heine. Die Harzreise).
2. Es tritt als Prädikatsattribut auf, das heißt, es bezieht sich zugleich auf das Prädikat
und Subjekt (b) oder Objekt (c) des Satzes, vgl.:
3. Selten kann das Partizip I in der Funktion des Prädikativs auftreten. Meistens sind
diese Partizipien schon adjektiviert:
4. Das Partizip I kann auch adverbiale Funktionen übernehmen, in der Regel treten
solche Partizipien als Adverbialien der Art und Weise auf, vgl.:
Das Partizip I lässt sich substantivieren: Der Wartende, der Störende, der Sitzende
u.a.m.
M.D. Stepanowa und G. Helbig sprechen von Valenzeigenschaften des Partizips I.
Das kann an folgenden Belegen beobachtet werden: Der im Hochhaus wohnende
Aktivist, wo das Wort Hochhaus als obligatorischer Aktant auftritt (Степанова,
Хельбиг 1978: 196).
Das Partizip II
Die Eigenschaften des Partizips II und sein Gebrauch hängen damit zusammen, ob
diese Partizipien von transitiven oder von intransitiven Verben gebildet sind. Dieser
Unterschied ist sehr alten Ursprungs, er geht auf das Urgermanische zurück. Seitdem
gilt es, dass Partizipien II von transitiven Verben passiv und von intransitiven Verben
aktiv sind (Paul 1957: 77). Im Großen und Ganzen stimmt das, deshalb betrachten
wir diese Partizipien getrennt.
Das Partizip II von transitiven Verben
Dieses Partizip hat folgende grammatische Bedeutungen.
1. Es hat stets eine passive Bedeutung, das ist sein wichtigstes Merkmal, z.B.: Das
gebackene Brot, die geschriebene E-Mail, der verehrte Gelehrte.
165
(c) Die halb ausgetrunkene Tasse Kaffee stand noch auf dem Tisch.
H. Paul bemerkt aber mit Recht, dass viele von diesen Partizipien etwas bezeichnen,
was „in einen Zustand gebracht ist, der noch fortdauert“. Sein Beispiel:
„Eine geladene Flinte“ ist „nicht eine Flinte, die irgend einmal geladen ist,
sondern eine solche, in der sich noch die Ladung befindet“ (Paul 1957: 80).
Andere Beispiele dieser Art sind: Zerrissene Hose, ein begossener Pudel, ein
geheftetes Buch, eine gestrickte Jacke, ein gefülltes Fass (ebenda).
Die Partizipien II von transitiven kursiven Verben bezeichnen dagegen die
Gleichzeitigkeit. Vgl.:
(d) Die Mutter hielt das geliebte Kind auf dem Schoss.
(a) Die hergestellte Ware, die verkauften Bücher, der geflochtene Zopf.
(b) Die Arbeit ist vollendet. Die Porzellanteller schienen aus Papier gemacht.
Diese Partizipien gehen leicht in Adjektive über. H. Paul schreibt, dass die Grenze
zwischen ihnen und Adjektiven fließend ist (1957: 84). Der Übergang in die
166
Kategorie Adjektiv ist bei der Präfigierung mit un- (a) und bei der Komparation (b)
deutlich, vgl.:
(b) Sie ist noch verrückter geworden. Er ist geschickter als du.
Der adverbiale Gebrauch ist für die Partizipien II von transitiven Verben nicht
typisch. Beim näheren Betrachten erweisen sich die scheinbaren Adverbialien als
echte Adverbien oder prädikattive Attribute: Er sprach aufgeregt.
Substantivierungen dieser Partizipien können auch auftreten: Das Geschriebene, das
Gelesene, das Gesagte, das Durchgenommene.
Einige Partizipien sind grammatikalisiert, sie sind zu Präpositionen geworden, die
den Genitiv oder den Akkusativ regieren, vgl.: Ungeachtet dessen; etwas
ausgenommen, etwas einbezogen, etwas mitgerechnet. Der Genitiv kann durch den
Dativ mit von ersetzt werden: Abgesehen davon. Manche Partizipien werden als
Konjunktionen gebraucht: Gesetzt den Fall, angenommen, dass…
Das Partizip II von intransitiven Verben
Das Partizip II dieser Verben hat eine aktive Bedeutung. Vom Partizip I unterscheidet
es sich durch seine anderen grammatischen Bedeutungen, und zwar durch die
Vorzeitigkeit zum Prädikat des Satzes und durch den perfektiven Aspekt. Man muss
auch beachten, dass nur die Partizipien II von terminativen intransitiven Verben als
Nominalformen im Satz gebraucht werden (a). Die Partizipien II von kursiven
intransitiven Verben können als Nominalformen nur dann gebraucht werden, wenn
irgendwelche andere Wörter sie bestimmen und dadurch terminativ machen (b). Vgl.:
Meist treten diese Partizipien in denselben syntaktischen Funktionen auf wie die
anderen Partizipien. Besonders häufig erscheinen sie als Attribute: Der
zurückgekehrte Freund, das verschwundene Buch, das eingeschlafene Kind. Als
167
Dieses Partizip lässt sich nur von transitiven Verben bilden, denn es hat stets eine
passive Bedeutung. Außerdem hat es noch eine modale Bedeutung und bezeichnet die
Notwendigkeit oder die Möglichkeit. Diese beiden modalen Bedeutungen lassen sich
nur im Kontext unterscheiden. Z.B.:
Diese leicht zu lernenden Verse kannte der Schüler doch nicht (Möglichkeit).
Die Passivität und die modale Bedeutung sind die typischen Merkmale dieses
Partizips. Es wird nur in der vollen Form gebraucht und hat keine Kurzform. Es kann
nur als Attribut oder Substantivierung auftreten, vgl.:
Das Herzustellende
Das Zuschreibende
Das Partizip III, auch Gerundivum genannt, kommt in der Umgangssprache selten
vor. Man findet es öfter in der wissenschaftlichen, besonders in der technischen
Literatur. Mit der Verbreitung dieser Literatur im 20. und 21. Jahrhundert wird auch
dieses Partizip öfter gebraucht.
Das Partizip III entwickelte sich im Neuhochdeutschen. Es kommt seit dem 16.
168
Jahrhundert vor. Es entwickelte sich als eine attributive Form zum sogenannten
Gerundium. Das Gerundium ist ein altes verbales Substantiv, das dem Infinitiv sehr
nahe steht und später mit dem Infinitiv zusammenfällt. Das Gerundium unterschied
sich früher von dem Infinitiv durch das Suffix: Der Infinitiv hatte das Suffix –an/-en,
das Gerundium –anne/-enne. Das Gerundium wurde meist mit der Präposition –zi/-ze
im Dativ gebraucht: zi nemanne. Diese Form verband sich oft mit dem Verb wesan
und hatte eine modale Bedeutung der Notwendigkeit oder Möglichkeit:
Im Laufe der Zeit fiel das Gerundium mit dem Infinitiv zusammen. Aus dem
Gerundium mit der Präposition zi hat sich der Infinitiv mit zu gebildet. Das Partizip
III oder Gerundiv ist als attributive Form zum Gerundium entstanden.
Der Infinitiv
Der Infinitiv ist eine Form des Verbs, die sowohl substantivische als auch verbale
Eigenschaften hat. Der Infinitiv I ist dem Ursprung nach eine Art verbales Substantiv.
Es lässt sich auch immer substantivieren, ist dann ein Neutrum und bezeichnet einen
Prozess oder Zustand. Der Infinitiv I ist eine ältere Form als der Infinitiv II. Er fällt
mit dem Präsensstamm zusammen.
Der Infinitiv II ist eine analytische Form, in der das Hilfsverb im Infinitiv steht und
das Grundverb im Partizip II: Gelesen haben, gekommen sein.
Der Infinitiv II entwickelt sich im Neuhochdeutschen. Beide Infinitive nehmen an der
Bildung der analytischen Tempusformen teil. Im Neuhochdeutschen bekommen
transitive Verben einen Infinitiv des Passivs I und II: Gelesen werden, gelesen
worden sein. Vgl.:
Er musste auch diejenigen Fragen sofort erkennen können, die ihm, John
169
Die Infinitive unterscheiden keine Personen, sie haben nur eine gewisse Beziehung
zu den Personen, vgl.:
Die Infinitive drücken die Zeitpunkte der Handlung nicht aus, sie bezeichnen nur das
relative Zeitverhältnis zum Prädikat des Satzes: Der Infinitiv I drückt die
Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit aus und der Infinitiv II – die Vorzeitigkeit. Vgl.:
(e) Der Student behauptet, die Kontrollarbeit ohne Fehler geschrieben zu haben.
Im Satz kommen beide Infinitive in zwei verschiedenen Formen vor: Als reine oder
präpositionale Infinitive. Der reine Infinitiv ist der Infinitiv ohne die Partikel zu, wie
beispielsweise nach Modalverben (a, c, d). Der präpositionale Infinitiv hat die
Partikel zu bei sich (b, e).
Der reine Infinitiv ist älter, der präpositionale Infinitiv entwickelt sich im
Frühneuhochdeutschen aus dem Gerundium mit der Präposition zi. Später wurde
diese Präposition zu Partikel. Ursprünglich hatte die Präposition zi die Bedeutung des
Zwecks, z.B.: zi lesanne. Das Gerundium trat auch oft als Adverbiale des Zwecks auf:
Ich nehme das Buch zum Lesen. Im Laufe der Zeit verschmolz das Gerundium wegen
der Reduktion des Suffixes mit dem Infinitiv I:
lesan
lesen
lesanne
Abb. 3. Die Verschmelzung des Gerundivums
170
Nachdem das Gerundium mit dem Infinitiv I verschmolzen war, begann sich der
Gebrauch zu vermischen. Die Präposition zi wurde zu Partikel und trat auch dort auf,
wo sie früher unmöglich war, z.B. bei Objekt, Attribut u.s.w. Sie verlor die
Bedeutung des Zwecks und wurde zum bloßen Merkmal des Infinitivs. Im Laufe der
Zeit wurde der präpositionale Infinitiv immer häufiger und dieser Prozess dauert
weiter fort.
Im Satz kann der Infinitiv erweitert und unerweitert auftreten. Der präpositionale
Infinitiv bildet bei seiner Erweiterung Infinitivgruppen;
Beide Arten des Infinitivs, der reine und der präpositionale, haben mannigfaltige
syntaktische Funktionen. Ursprünglich wurde der Infinitiv nach den Verben der
Bewegung zum Ausdruck des Ziels gebraucht. Die Reste dieses Gebrauchs sehen wir
jetzt in spazieren gehen, schlagen gehen, baden gehen, obwohl wir jetzt nicht an das
Ziel des Gehens denken (Paul 1957: 95). Jedoch die Funktion der
Adverbialbestimmung des Ziels hat sich bei dem Infinitiv erhalten. In dieser Funktion
tritt sowohl der reine Infinitiv auf als auch der Infinitiv im Bestand der Wortgruppe
mit der Konjunktion um, vgl.:
Auf Wunsch kann dies gegen Entgelt auch vom Hotel übernommen werden
(DECOW 16A).
171
2. Die nominalen Eigenschaften des Infinitivs kommen zur Geltung, wenn er die
Funktionen erfüllt, die für Substantive charakteristisch sind. Das sind die Funktionen
des Prädikativs und des Subjekts. Als Prädikativ im nominalen Prädikat tritt der reine
Infinitiv mit verschiedenen Kopulaverben auf:
3. Als Subjekt wird bei direkter Wortfolge der reine Infinitiv und bei der Inversion der
Präpositionale Infinitiv gebraucht:
John hatte das Gefühl, mithalten zu können (S. Nadolny. Die Entdeckung der
Langsamkeit).
5. Als Objekt steht der Infinitiv nach objektiven Verben und nach qualitativen
Adjektiven:
Oft tritt der Infinitiv in dieser Funktion nach den Phasisverben beginnen, pflegen und
den Verben mit modaler Bedeutung wie verstehen. Vgl.:
6. Als Adverbiale der Folge; hier sind die Negation und das Adverbiale des Grades
172
charakteristisch:
7. Als Adverbiale der Art und Weise. Hier tritt die Konjunktion ohne vor der
Infinitivgruppe auf. Einige Grammatiken nennen hier auch die Konjunktion statt:
8. Der reine Infinitiv tritt als prädikatives Attribut auf in der Konstruktion, die
accusativus cum infinitivo heißt. Diese Auffassung wurde von E.I. Schendels in die
Grammatik eingeführt, wird aber nicht von allen anerkannt. Die Konstruktion
accusativus cum infinitivo kommt nach den Verben sehen, hören, fühlen vor:
9. Als einfaches verbales Prädikat kann der Infinitiv in kurzen Befehlen den
Imperativ vertreten:
In all diesen mannigfaltigen Funktionen kommt in der Regel der Infinitiv I vor. Der
Infinitiv II kann auch in manchen von diesen Fällen auftreten, aber sein Gebrauch ist
durch seine grammatischen Bedeutungen beschränkt, vor allem durch die
Vorzeitigkeit. Er erscheint als Objekt nach den Prädikatsverben behaupten, meinen,
glauben, als Attribut nach den Substantiven Behauptung, Meinung, Hoffnung und als
Teil des zusammengesetzten verbalen Prädikats nach Modalverben, vgl.:
Fazit
Die Nominalformen des Verbs stellen ein Verbindungsglied zwischen dem
System des Verbs und dem System der nominalen Wortarten. Sie sind eine Art
173
gemeinsames Segment zwischen dem Feld des Verbs und dem des Nomens. Die
verbalen Eigenschaften sind bei den Nominalformen abgeschwächt. So sind die
Partizipien und Infinitive nicht imstande, absolute Zeit auszudrücken. Die
nominalen Eigenschaften haben sich auch nicht voll entwickelt, z.B. viele
substantivierte Infinitive und Partizipien haben keine Pluralformen: das Lesen,
das Gelesene, das Zulesende.
Aufgaben
Aufgabe 1
Geben Sie grammatische Charakteristik der Partizipien in attributiver Funktion an.
Bestimmen Sie, ob sie von transitiven oder intransitiven Verben gebildet sind.
Beachten Sie die Kriterien: Aktiv / passiv, abgeschlossen/dauernd,
Gleichzeitigkeit/Vorzeitigkeit:
Der gebackene Kuchen, die gemachte Aufgabe, der gestikulierende Redner, der
festgelegte Termin, die spielenden Kinder, der angekommene Zug, der bellende Hund,
das zu schreibende Resümee, die heruntergeladenen Dokumente, die gelandete
Maschine, das geliebte Kind, die vergehenden Jahre.
Aufgabe 2
Schreiben Sie aus dem folgenden Text sämtliche vom Verb ‚verfolgen‘ abgeleiteten
Partizipien und Infinitive heraus und bestimmen Sie ihre verbalen und nominalen
Eigenschaften.
Helmut Heißenbüttel. Politische Grammatik
Verfolger verfolgen die Verfolgten. Aus Verfolgten werden Verfolger. Weil Verfolger
Verfolgte verfolgen, machten Verfolger Verfolgte zu Verfolgten. Weil Verfolgte zu
Verfolgern werden (weil Verfolger mit Verfolgen angefangen haben), werden aus
Verfolgten verfolgende Verfolgte und aus Verfolgern verfolgte Verfolger. Aber weil
verfolgende Verfolgte verfolgte Verfolger verfolgen: werden schließlich die
verfolgten Verfolger wiederum zu Verfolgern.
174
Aufgabe 3
Stellen Sie eine Liste von Sprichwörtern zusammen, die verschiedene Partizipien
oder Infinitive enthalten.
Aufgabe 4
Zeigen Sie an eigenen Beispielen 5 verschiedene Funktionen der Infinitivgruppen.
Interkultureller Vergleich
Bei der Behandlung des Verbs gibt es bestimmte Besonderheiten in der Russistik und
in der russischen und ausländischen Germanistik. Diese Unterschiede und
Besonderheiten sind wie folgt:
(1) In der Bezeichnung der Aktionsarten werden in der russischen Germanistik die
Termini kursiv oder imperfektiv, nichtgrenzbezogen (Verben ohne ein
voraussichtliches Endziel) und terminativ oder perfektiv, grenzbezogen (Verben mit
einem Endziel) (Moskalskaja 2004: 59), (Admoni 1986: 175) verwendet. In der
deutschen Germanistik wird von durativen, atelischen oder imperfektiven und von
perfektiven bzw. telischen Verben gesprochen (Jung 1996: 253), (Helbig/ Buscha
2005: 62), (Steinbach 2007: 196). E. Leiss verwendet solche Termini wie additiv
(imperfektiv) und nonadditiv (perfektiv) in Bezug auf die Aktionsarten (Leiss 1992).
(2) In der Frage, ob das Deutsche einen Aspekt hat, gibt es auch keine Einheit. In der
Russistik dominiert die Meinung, dass die Kategorie des Aspekts eine
einzelsprachliche Kategorie ist, die für slawische Verben charakteristisch ist. Der
perfektive und der imperfektive Aspekt bilden eine Opposition und fungieren im
Rahmen einer lexikalisch-semantischen Invariante (Tichonow 1997: 180). Russische
Sprachforscher, die sich mit der Analyse mehrerer Sprachen befassen, sprechen von
der Kategorie des Aspekts wie von einer universellen Kategorie. So schreibt z.B.
W.G. Gak, dass der Aspekt in jeder Sprache mit Hilfe von unterschiedlichen
sprachlichen Mitteln kodiert werden kann. In diesem Fall hat diese Kategorie den
175
Status keiner grammatischen Kategorie (Гак 1997: 152), sondern einer semantischen,
da sie auf unterschiedlichen Ebenen der Sprache kodiert wird.
In der russischen Germanistik ist die Meinung vertreten, dass die Kategorie des
Aspekts im Deutschen nicht existiert. So schreibt O.I. Moskalskaja in Bezug auf
aspektuelle Differenzierung der Tempusformen im Deutschen: „Doch wäre es
überhaupt verfehlt, jede Perfektform auf besondere Aktualität des Ausgesagten für
die Gegenwart oder gar auf die Resultativität hin zu untersuchen“ (Moskalskaja
2004: 98). Sie kritisiert die Meinung von L. Sütterlin, laut der das Perfekt und das
Plusquamperfekt als „die Zeitformen der Vollendung“ betrachtet werden können
(Sütterlin 1923: 228, zitiert nach: Москальская 1958: 268). Auch in der deutschen
Germanistik dominiert die Ansicht, dass es im Deutschen keine Kategorie des
Aspekts vorhanden ist. So schreibt W. Jung:
„Man darf diesen Begriff, wenn er sich auf die deutsche Sprache bezieht, nicht
mit dem Aspekt der slawischen Sprachen verwechseln […]. Aspekt ist für unsere
Sprache kein Fachwort der Syntax, sondern der Stilkunde. Unter Aspekt möchten
wir eine Stilform verstehen, die in der Regel mit den Mitteln der Wortwahl oder
der Fügung die Haltung des Subjekts (inneres Beteiligtsein oder inneres
Unbeteiligtsein des Subjekts) ausdrückt“ (Jung 1996: 256).
Etwas anders sieht dieses Problem E. Leiss (1992): Sie geht davon aus, dass die
Kategorie des Aspekts eine übereinzelsprachliche Kategorie ist. Bei der Behandlung
der Aktionsarten operiert sie mit den Termini Innenperspektive und Außenperspektive
und betrachtet das temporale System des Deutschen wie ein duales System: Es gibt
das Tempussystem der additiven und der nonadditiven Verben. Die Distribution der
Verben auf die beiden Systeme wird von den Merkmalen der Additivität und
Nonadditivität gesteuert. Die aspektuell labilen Verben wechseln von einem System
zum anderen (Leiss 1992: 226). Das sind solche Verben wie z.B. schreiben, fahren
usw.
(3) Keine Einheitlichkeit besteht in der Zahl der Tempusformen im Deutschen. In
der russischen Grammatikschreibung herrscht eine einheitliche Meinung bezüglich
der Anzahl der Tempusformen. Es werden gemeinhin sechs Tempora angesetzt: Das
Präsens, das Futur I, das Futur II, das Plusquamperfekt, das Perfekt und das
176
DAS SUBSTANTIV
GRUNDLAGEN
Die Bedeutung des Substantivs ist die Bedeutung eines Dinges (Admoni 1986: 92),
(Jung 1996: 256). Man bezeichnet das Substantiv als „Dingwort“ und als
„Nennwort“, da die Substantive den Namen für alles Wesentliche in der konkreten
Welt und in der Welt des Geistes nennen (Jung 1996: 257).
Diese Bedeutung wird nicht nur in den Bezeichnungen von konkreten Dingen
realisiert, sondern sie ist auch in den Bezeichnungen von abstrakten Begriffen
vorhanden. Im letzten Fall wird sie zum Gegenstand des Gedankens.
Morphologisch sind deutsche Substantive ganz besonders geprägt: Sie werden groß
geschrieben. Doch über die Anzahl der grammatischen Kategorien des Substantivs
178
gibt es in Bezug auf das Deutsche keine Meinungseinhelligkeit. Traditionell wird von
der Kategorie des Numerus und des Kasus gesprochen. In Bezug auf die Kategorien
der Bestimmtheit/ Unbestimmtheit und des Genus gibt es keine einheitliche
Meinung. So spricht z.B. O.I. Moskalskaja, dass das Substantiv über die Kategorie
der Bestimmtheit / Unbestimmtheit verfügt, während die Kategorie des
grammatischen Geschlechts von allen anderen gesondert betrachtet werden soll, da
sie keine formenveränderliche, sondern eine klassifizierende Kategorie ist:
„Entgegen der traditionellen Ansicht, dass das Genus neben Kasus und
Numerus zu den grammatischen Kategorien des Substantivs gehört, setzt sich in
der letzten Zeit die Überzeugung durch, dass das Genus vielmehr eine
lexikalisch-grammatische klassifizierende Kategorie ist“ (Moskalskaja 2004:
146).
Deswegen ist nach O.I. Moskalskaja das Genus ein klassifizierendes Merkmal der
Substantive. Aber gerade deswegen strukturiert das Genus die Gesamtklasse der
Substantive, was eine wichtige Funktion von grammatischen Kategorien ist (Diewald
2008: 9). Wenn wir auch die oben besprochenen Prinzipien der hierarchischen
Organisation der grammatischen Kategorien von N. Fries berücksichtigen, so müssen
wir zugeben, dass das substantivische Genus diesen Prinzipien entspricht. Am
deutlichsten kommen in dieser Kategorie die Prinzipien der Hierarchiebildung und
der Konnexe zum Ausdruck, da das Genus als Grundlage für die Deklinationstypen
und die Typen der Pluralbildung dient. Teilweise werden sogar die Prinzipien der
Binarität und der Klassenbildung ausgedrückt. Fries illustriert es an folgendem
Beispiel (1997: 28): Maskulinum und Neutrum bilden eine Klasse bei den w-
Pronomen wer (= Maskulinum) und was (= Neutrum), die den Feminina binär
gegenüber steht. Andererseits bilden Maskulina und Feminina eine Klasse in
Opposition zu Neutra, z.B. bei der Wortbildung vom Typus der Lehrer – die
Lehrerin. Die angeführten Argumente überzeugen uns, dass das Genus eine der
Kategorien des Substantivs ist, die sich von anderen Kategorien dadurch
unterscheidet, dass sie klassifizierend ist.
Die Kategorie der Bestimmtheit/Unbestimmtheit findet im Deutschen in dem
179
Artikel ihren Ausdruck. Doch nicht alle Sprachforscher halten diese Kategorie für
unumstritten. Diese Kategorie wird beispielsweise von H. Elsen (2011) nicht
erwähnt. Auch W.G. Admoni meint, dass sie nur einige Züge der grammatischen
Kategorie aufweist (Admoni 1986: 93). I.I. Revsin im Gegenteil zweifelt nicht daran,
dass die Bestimmtheit und Unbestimmtheit einen kategorialen Status im Bereich der
Substantive haben. Er geht dabei von dem oppositiven Charakter dieser Kategorie
aus. Die Bestimmtheit versteht er als Entwicklung der pronominalen Eigenschaften,
die für den Kommunikationsprozess wichtig sind, und zwar für die Identifizierung
von etwas, was durch ein Personalpronomen leicht ersetzbar ist (Ревзин 2009: 114-
115). Die Unbestimmtheit dagegen bedeutet vor allem, dass etwas existiert und aus
der Menge der existierenden Gegenstände ausgegliedert werden kann (ebenda, S.
120). Hier kommt also das Prinzip der Binarität zum Ausdruck. Auch andere
Prinzipien, die der Organisation der grammatischen Kategorien zugrunde liegen,
werden realisiert. So kommt das Prinzip des Konnexes in der Wechselwirkung dieser
Kategorie mit syntaktischen Funktionen der Substantive: Die Substantive mit
bestimmtem Artikel werden in der Funktion des Subjekts bevorzugt und mit dem
unbestimmten Artikel in der Funktion des Prädikativs. Diese Kategorie differenziert
auch die Klassenbildung: So können semantische Klassen der Abstrakta, der Eigen-
oder Stoffnamen kaum unbestimmt sein; dagegen können konkrete Gattungsnamen
sowohl bestimmt als auch unbestimmt sein. Die angeführten Gründe finden wir
überzeugend und sprechen im Weiteren von vier Kategorien des Substantivs: Von der
Kategorie des Genus, des Kasus, des Numerus und der Bestimmtheit/
Unbestimmtheit.
Im Satz treten Substantive als Subjekte, Objekte, Attribute, als Teil der
Adverbialbestimmung sowie in der Funktion des Prädikativs auf, vgl.:
Diese Stadt ist sehr schön (Das Substantiv in der Funktion des Subjekts).
Ich habe eine schöne Stadt besucht (Das Substantiv in der Funktion des Objekts).
Der Vortrag des Doktoranden war hervorragend (Das Substantiv in der Funktion
180
des Attributs).
Moskau ist die Hauptstadt Russlands (Das Substantiv in der Funktion des
Prädikativs).
Der Spatz saß auf dem Dach (Das Substantiv in der Funktion der
Adverbialbestimmung).
Diese Wortart macht etwa 50-60% des gesamten Wortschatzes aus (Moskalskaja
2004: 139). B.A. Abramow ist der Ansicht, dass Substantive 90% des
Gesamtwortschatzes übersteigen, so z.B. kennt die Chemie allein über 2 Millionen
Bezeichnungen für verschiedenartige Verbindungen (Абрамов 2001: 80). In der
gesprochenen Sprache ist die Situation natürlich anders. Es gibt ein besonderes
Häufigkeitswörterbuch der gesprochenen Sprache, wo Substantive nur 10, 81 % von
dem gesamten Wortbestand ausmachen, aber häufig gebraucht werden. Als
Wortformen kommen sie in etwa 60 % der Fälle vor (Ruoff 1981).
Jede beliebige Wortart kann substantiviert werden, z.B.:
(1) Eine Bastion des Ichs, wenn es draußen zu laut und zu kompliziert wird (Zeit
Online. 21.10.2016) – Substantivierung des Pronomens ich.
(2) Sie äußert ein paar Wehs und Achs, wie sie vom Erblasser des
justizgewidmeten Klagegesangs, Gerhard Mauz, auf sie und uns gekommen sind
(Zeit Online. 16.08.2016) - Substantivierung der Interjektionen.
(3) Marie hatte mich einmal in ein Bischofsamt geschleppt, und das ganze Hin
und Her (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns) – Substantivierung der
Adverbien.
Bei der Wortbildung der Substantive ist die Komposition der produktivste Weg.
Zusammengesetzte Substantive bestehen aus mindestens zwei Teilen. Dabei können
beide Teile Substantive sein oder eines der Teile einer anderen Wortart gehören. Die
181
Teile werden mit oder ohne Bindeelement verbunden. Als Bindeelemente dienen –
(e)s oder –(e)n, vgl.:
Es gibt auch Substantive, bei denen weder das erste, noch das zweite Element ein
Substantiv ist, vgl.: der Taugenichts, das Vergissmeinnicht.
Substantivische Komposita werden in Determinativkomposita und in
Kopulativkomposita eingeteilt (Paul 1957: 7-8), (Lüdeling 2012: 86-89).
Determinativkomposition ist die produktivste Wortbildungsart der Substantive im
Deutschen (Elsen 2011: 61). Die Determinativkomposita haben einen Kopf, d.h. ein
Element, das die Eigenschaften des komplexen Wortes bestimmt. Der Nichtkopf
bestimmt die Bedeutung des Kopfes näher, z.B. die Buchmesse ist eine Messe, wo
Bücher verkauft werden. Wenn das Kompositum mehrgliedrig ist, ist es nicht immer
klar, wo die Grenze zwischen dem Kopf und Nichtkopf zu ziehen ist. Z.B. das
Hefegebäckstück kann ein Stück Hefegebäck sein, aber auch ein Gebäckstück aus
Hefe (Elsen 2011: 62).
Die Abarten der Determinativkomposita sind verdeutlichende und
Possessivkomposita (ebenda, S. 63-64). In verdeutlichenden Komposita wird in
beiden Gliedern das Gleiche oder das Ähnliche gemeint, vgl. Berufskollege,
Pulsschlag. Die Possessivkomposita bezeichnen etwas, in dessen Besitz sie gehören.
Z.B. Rotkäppchen benennt das Mädchen, das ein rotes Käppchen besitzt.
Elemente der Kopulativkomposita sind gleichberechtigt, z.B. Ministerpräsident
bedeutet nicht eine Sorte des Präsidenten, sondern einen Regierungschef im
Ministerium eines Bundeslandes oder im Bundesministerium.
Produktiv ist die Ableitung der Substantive. E. Hentschel & H. Weydt (1994)
betrachten im Rahmen dieses Wortbildungstyps, den sie als Entwicklung bezeichnen,
Deverbativa und Deadjektiva. Im Rahmen der Deverbativa unterscheiden sie:
182
Im Zentrum des Feldes des Substantivs sind Substantive mit konkreter Semantik, die
Gegenstände oder Personen und andere Lebewesen bezeichnen, z.B. Haus, Tasche,
Tisch; Mensch, Katze, Bär. Sie können
a) im Singular und im Plural verwendet werden und
b) mit einem bestimmten und mit einem unbestimmten Artikel gebraucht werden.
An der Peripherie des Feldes sind Substantive, die Abstrakta und Stoffbezeichnungen
sind, z.B. die Hoffnung, die Freude, der Inhalt, das Getue; die Milch, der Zucker, das
Brot, die Luft. Die Formen des Plurals sind für diese Substantivgruppen überhaupt
nicht oder nicht immer möglich. Auch Komposita und Ableitungen mit Affixoiden
gehören zur Peripherie, denn viele davon sind Einmalbildungen oder sind
emotionsgeladen.
184
In (a) ist das Substantiv Musik ein Abstraktum, in (b) – ein Konkretum.
Die Konkreta werden ihrerseits auch in weitere Gruppen eingeteilt, vgl.:
Konkreta Abstrakta
Siegfried, Pflanze
Theodor;
Deutschland,
München
Tab. 9. Die Klassifikation der Substantive in der Duden-Grammatik (Duden 1998: 195-197)
Auch die Abstrakta werden weiter geteilt. Man kann dabei solche Gruppen
unterscheiden wie
• Bezeichnungen von Eigenschaften: Die Schönheit, die Kälte, das Grün, die
Qualität
• Bezeichnungen von Handlungen und Prozessen, oft mit dem Suffix –ung: Die
Handlung die Entwicklung, die Untersuchung, die Mobilmachung
• Bezeichnungen von Zuständen: Der Schlaf, die Ruhe
• Bezeichnungen von philosophischen Einheiten: Das Sein, das Bewusstsein, der
Glaube
• Bezeichnungen von Zeiteinheiten: Die Minute, das Viertel, das Jahr etc.
In der Grammatik von G. Zifonun werden drei Unterarten des Substantivs
unterschieden:
(1) Gattungsnamen bezeichnen eine Gruppe gleichartiger Gegenstände, Personen,
Tiere, Sachen (z.B. der Mensch, der Löwe, das Haus, die Blume usw.).
(2) Stoffnamen, oder Substanzausdrücke bezeichnen eine Substanz oder einen Teil
davon (z.B. Wasser, Blut, Gold).
(3) Eigennamen dienen der konstanten Bezeichnung bestimmter Individuen
(insbesondere von Personen, Orten, Ländern, Regionen, Flüssen, Waren usw.)
(Zifonun et al. 1997: 32).
B. A. Abramow teilt alle Substantive in Anthroponyme und Nichtanthroponyme ein
(Абрамов 2001: 81). Anthroponyme sind Personennamen, Nichtanthroponyme
vereinigen Sachnamen und Tiernamen. In einer anderen Einteilung werden
Bezeichnungen von Lebewesen den Bezeichnungen von unbelebten Gegenständen
gegenübergestellt. Das ist beispielsweise für die Wahl der Prädikatsverben von
186
Bedeutung. So können Verben wie atmen oder schlafen nur mit Bezeichnungen von
Lebewesen gebraucht werden (wir sehen hier vom metaphorischen Gebrauch ab).
O.I. Moskalskaja geht in ihrer Klassifikation davon aus, ob Substantive gleichen
Anteil an den kategorialen Oppositionen nehmen. So ist z.B. die Untergliederung des
Gesamtbestandes der Substantive bei der Darstellung des deutschen Kasussystems
überflüssig, weil die Deklination der Substantive vorrangig von ihrem Geschlecht
abhängt. Für die Kategorie des Numerus ist aber die Semantik wichtig, deshalb
unterscheidet O.I. Moskalskaja bei der Behandlung dieser Kategorie zwei strukturell-
semantische Klassen: 1) Zählbare (numerusfähige) Substantive, die sowohl die
Singular- als auch die Pluralform haben können: Der Mensch – die Menschen, der
Baum – die Bäume; 2) nicht zählbare (numerusunfähige) Substantive, die meistens
nur die Singularform besitzen: Das Obst, der Hagel, das Wasser usw. (Moskalskaja
2004: 148). Aus der Perspektive des Artikelgebrauchs macht sie weitere
Untergliederung der Substantive in folgende Gruppen:
(1) Konkreta und Abstrakta; Konkreta werden weiter in Gattungsnamen, Stoffnamen
und Unika eingeteilt;
(2) Eigennamen werden weiter in Personennamen und geographische Namen
eingeteilt (Moskalskaja 2004: 149).
E.I. Schendels (1988) teilt alle Substantive aus semantischer Sicht in folgende
Gruppen ein:
1) Individualbezeichnungen, d.h. Namen der Einzelgrößen, Individuen (z.B. der
Mensch, der Berg) – Kollektivbezeichnungen oder Sammelnamen (z.B. das
Volk, das Gebirge, das Obst). Wie die Beispiele zeigen, sind die Sammelnamen
oft Neutra, obwohl das nicht immer der Fall ist, vgl.: Die Partei, die
Versammlung.
2) Bezeichnungen für Lebewesen (Menschen und Tiere) – Bezeichnungen für
Nichtlebewesen und Pflanzen.
3) Bezeichnungen für konkrete Begriffe (Konkreta) – Bezeichnungen für
abstrakte Begriffe (Abstrakta).
187
1Das Appellativ – Substantiv, das eine Gattung von Dingen oder Lebewesen und zugleich jedes
einzelne Wesen oder Ding dieser Gattung bezeichnet, z.B. Mensch, Blume, Tisch.
188
Fazit
Das Substantiv ist im Deutschen die zahlenmäßig größte Wortart. Bei der
Einteilung der Substantive werden von den meisten Sprachforschern ihre
kategorialen Oppositionen in den Vordergrund gestellt. Die Klassifikation der
Substantive erfolgt nach den Prinzipien konkret / abstrakt, zählbar /nicht
zählbar, ergänzungsbedürftig / nicht ergänzungsbedürftig. Das Substantiv
verfügt über die Kategorien des Genus, des Numerus, des Kasus und der
Bestimmtheit / Unbestimmtheit.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Nennen Sie den Wortbildungstyp folgender Substantive: Mineralwasser,
Gesichtstraining, Teewagen, Eindringen, Auftritt, Gähnen, Mütterberatung,
Elternabend, Kochkurs.
Aufgabe 2.
189
Teilen Sie folgende Substantive ihrer Semantik nach in Abstrakta und Konkreta ein.
Begründen Sie Ihre Meinung mit Beispielen: Tag, Garderobe, Gekicher, Ärztin, Luft,
Kirche, Menschheit, Volk, Ablehnung, Verlegenheit, Fußballmannschaft, Holz, Butter,
Dutzend, Hundert.
Aufgabe 3.
Bilden Sie Sätze mit folgenden Substantiven und bestimmen Sie, inwieweit dabei
ihre Ergänzungsbedürftigkeit realisiert wird. Vergessen Sie nicht, dass die Adjektive
als Attribute in der Regel fakultativ sind: Geld, Abend, Melancholiker, Bäckerei,
Sonne, Liebe, Angst, Laufen, Bitte, Untersuchung, Schneien, Urteil.
Da steht ein Mädchen, etwa neun oder zehn Jahre alt, halb bekleidet und mit
leerem Blick vor einem Haufen von verbranntem, undefinierbarem Kram. Das
Foto war seinerzeit in allen Zeitungen abgebildet; 40 Jahre ist das nun her. Das
Mädchen ist die kleine Michèle (Zeit Online. 15.02.2017).
Es gibt aber solche Substantive, die einzig in ihrer Art sind und deshalb immer mit
dem bestimmten Artikel gebraucht werden, z.B. die Sonne, der Mond, der Himmel
usw. Der bestimmte Artikel steht auch, wenn es aus dem Kontext ersichtlich ist, von
welchen Gegenständen bzw. Personen bzw. Lebewesen die Rede ist, vgl.:
Ein Ort, an dem Pläne geschmiedet werden und Hoffnungen an der Realität
191
scheitern. Ein Ort, an dem man sich verbindet, mit Freunden, Familie, Fremden.
Die Studenten der Bilderredaktionsklasse der Ostkreuzschule für Fotografie
haben die Fotos zu dem Buch New York Edited zum Thema Identität
zusammengefasst (Zeit Online. 14.02.2017).
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hat man auf die individualisierende und
generalisierende Funktion des Artikels geachtet. Der Artikel kann mit dem Substantiv
stehen, dass individualisierend gebraucht wird; dabei wird der Begriff aus der Menge
der gleichen Begriffe herausgegriffen und genannt: Ich sehe dort einen Baum. Wenn
das Substantiv den Begriff in seinem ganzen Umfang nennt, so ist das der
generalisierende Gebrauch, vgl.:
Diese Theorie wurde von O. Behaghel und H. Paul ausgearbeitet. Aber die
Schwierigkeit besteht darin, dass beide Artikel sowohl individualisierend als auch
generalisierend gebraucht werden können. Der unbestimmte Artikel bezeichnet bei
der Generalisierung einen beliebigen Gegenstand der Gattung:
Der bestimmte Artikel ist hier typischer, er bezeichnet die ganze Gattung:
Es gibt noch eine Theorie des Artikels, die seine kommunikative Rolle berücksichtigt.
In der russischen Germanistik wurde diese Theorie von O.I. Moskalskaja
ausgearbeitet (Moskalskaja 1983: 178-183). Laut dieser Theorie kennzeichnet der
bestimmte Artikel den Begriff, der den Ausgangspunkt der Rede bildet, der
unbestimmte Artikel steht dagegen bei dem Begriff, der das Neue in unserer
Mitteilung bezeichnet:
Aber in vielen Fällen kann diese Theorie den Artikelgebrauch nicht erklären. Wenn
beispielsweise das Substantiv einen Begriff bezeichnet, der einzig in seiner Art ist, so
192
wird es mit dem bestimmten Artikel gebraucht, wenn der Begriff auch als neu
erscheint. Vgl.:
Der Nullartikel steht meistens bei Substantiven, die Abstrakta oder Stoffnamen
bezeichnen, z.B.: Liebe, Freundschaft, Sand usw.
Anders erklärt die Semantik des Artikels I.I. Revsin. Er meint, dass die Bestimmtheit
pronominale Eigenschaften entwickelt, die mit Kommunikation und Lokalisierung
der bezeichneten Objekte verbunden sind. Deshalb ist die erste Nennung nicht immer
nötig, vgl.: Er sah den Sohn des Königs Georg. Gemeint ist, dass der König nur einen
Sohn hat, was in der kommunikativen Situation klar ist (Ревзин 2009: 115). Die
Grundbedeutung der Unbestimmtheit bestimmt I.I. Revsin als Existenzialität. Der
unbestimmte Artikel weist auf die Existenz eines Objekts hin und kann aus der
Gesamtheit der gleichen Objekte hervorgehoben werden. Wenn diese Objekte
unzählbar sind, stehen ihre Bezeichnungen ohne Artikel, vgl.: Ich habe Geld; Es gibt
heute Milch und Butter zum Frühstück (Ревзин 2009: 120).
Revsins Konzeption hilft einige Komplikationen und Widersprüche erklären, auf
die russische Sprachforscher hinweisen (W.G. Admoni, O.I. Moskalskaja), z.B. der
unbestimmte Artikel in der Konstruktion Ich habe einen Vater als Antwort auf die
Frage Hast du Verwandte? (Admoni 1986: 136). W. G. Admoni meint, dass es schwer
ist, in dieser Konstruktion den Artikelgebrauch zu erklären. Hier kann die Anpassung
an den Hörer vorliegen, für den der Vater des Sprechenden unbestimmt ist;
I.I. Revsin erklärt diesen Fall als Bezeichnung der Existenz eines
Eigentums, das vom Subjekt nicht zu trennen ist. Der unbestimmte Artikel
ist hier die einzige Möglichkeit (Ревзин 2009: 122).
Funktionen des Artikels
Der Artikel hat im Deutschen mannigfaltige Funktionen. Die wichtigsten davon sind
semantisch-grammatisch und strukturell-grammatisch.
1. Die semantisch-grammatische Funktion äußert sich darin, dass der Artikel die
193
(c) Das Kind singt wie eine Lerche (wie eine der Lerchen).
Das Konzert, das gestern zu Ehren unserer Gäste gegeben war, verlief sehr gut.
Entscheidend ist hier aber nicht der Attributsatz, sondern der ganze Kontext. Ein
Attributnebensatz bestimmt nicht immer eindeutig das Substantiv, vgl.:
Im Park erblickte er auf der Bank ein Mädchen, das träumerische Augen hatte.
Der kleinste Schüler der Klasse hob die Hand. Das zweite Haus rechts ist
dreistöckig.
3. Ein Begriff kann dadurch bestimmt sein, dass er in gewissen Grenzen, in einer
bestimmten Situation einzig in seiner Art ist. Die Sonne ist einzig in ihrer Art, wenn
wir unser Sonnensystem nehmen, z.B.: Die Sonne ging auf und es wurde warm.
Der Kontext kann auch enger sein: Der Lehrer trat in die Klasse und die Stunde
begann.
Das Fehlen des Artikels
Es gibt viele verschiedene Fälle, in denen der Artikel fehlen kann. Jedes Mal gibt es
dazu verschiedene Gründe, die grammatischer Natur sein können oder mit der
Semantik der Substantive zusammenhängen. Es können auch historische oder
stilistische Gründe das Fehlen des Artikels erklären.
Der Artikel fehlt aus strukturellen Gründen in folgenden Fällen:
1. Der unbestimmte Artikel fehlt im Plural, wenn er im Singular stehen müsste. Das
Fehlen des Artikels hat hier dieselbe Bedeutung wie der Gebrauch des unbestimmten
Artikels im Singular. Diesen Fall bezeichnet man meist als Nullartikel, aber praktisch
fehlt hier der Artikel:
Am Horizont erhoben sich Berge. Das sind Bilder. Die Rose und die Tulpe sind
Blumen.
196
2. Der Artikel fehlt, wenn vor dem Substantiv ein Pronomen oder ein Grundzahlwort
steht, vgl.:
Aber wenn man von zwei, drei oder mehr bestimmten Gegenständen spricht, muss
der bestimmte Artikel auftreten, z.B.: Die drei Bären.
Unbestimmte Zahlwörter und unbestimmte Pronomen machen den Artikel
überflüssig, z.B.: Viele Schüler, alle Bücher.
Einige Pronomen verbinden sich in der Kurzform mit dem unbestimmten Artikel,
z.B.: Welch ein schönes Bild! Solch ein Mädchen.
Der Artikel fehlt aus semantischen Gründen in folgenden Fällen:
1.Bei Eigennamen. Die Eigennamen sind dazu da, um eine Person oder einen
Gegenstand individualisierend zu bestimmen. Dasselbe gilt auch für geographische
Namen und zwar für die Neutra. Die meisten geographischen Eigennamen sind die
Neutra. Die Maskulina und die Feminina bilden hier Ausnahmen, sie werden mit
dem bestimmten Artikel gebraucht: Die Niederlande, der Irak.
2. Der Artikel fehlt bei Stoffnamen. Die Stoffnamen bezeichnen keine
Einzelgegenstände, sondern einen Stoff als solchen: Er trank gern Milch.
Aber hier gibt es viele Ausnahmen. Im prädikativen Gebrauch steht auch vor
Stoffnamen der unbestimmte Artikel, vgl. (a). Die Stoffnamen stehen auch häufig
mit dem bestimmten Artikel, wenn sie eine bestimmte Menge des Stoffes
bezeichnen, vgl. (b). Die Gesamtheit des Stoffes kann sowohl ohne Artikel als auch
mit dem bestimmten Artikel bezeichnet werden, vgl. (c):
Bei den Titeln ist es nicht immer der Fall. Der bekannte Roman von Th. Mann heißt
„Buddenbrooks“ und eine Erzählung von M. Walser trägt den Titel „Ein fliehendes
Pferd“.
4. Der Artikel fehlt in den Zwillingsformeln, was auch historische Gründe hat. Viele
davon sind zu der Zeit entstanden, wo der Artikel noch nicht obligatorisch war.
Dasselbe gilt für die Sprichwörter:
Hals über Kopf; zu Hause, zu Bett, nach Hause, an Ort und Stelle, an Bord u.a.
Licht machen, Beifall klatschen, Klavier spielen u.a.
6. Der Artikel fehlt vor dem Prädikativ, das Parteiangehörigkeit, Nationalität oder
Beruf bezeichnet, vgl. (a). Wenn aber vor der Berufsbezeichnung ein Attribut steht, so
wird der unbestimmte Artikel gebraucht, vgl. (b). In (a) wird der Beruf als solcher
gemeint, in (b) wird dagegen die Eigenschaft des Subjekts gemeint, vgl.:
7. Der Artikel fehlt, wenn die Substantive als Anrede oder als Ruf gebraucht werden:
Es gibt ein natürliches (Sexus) und ein grammatisches Geschlecht (Genus). Das
natürliche Geschlecht kann nur männlich oder weiblich sein. Das grammatische
Geschlecht schließt im Deutschen Maskulina, Feminina und Neutra ein. Das
Maskulinum und das Femininum korrelieren mit natürlichem Geschlecht, was für das
Neutrum nicht der Fall ist.
Die Kategorie des Genus ist sehr alten Ursprungs, sie ist in der Zeit des vorlogischen
Denkens entstanden. Deshalb können wir nicht erklären, warum die Bezeichnungen
von einem und demselben Gegenstand in verschiedenen Sprachen unterschiedliches
Genus haben, z.B. der Brief – письмо, das Bett – кровать, die Butter – масло. Bis
jetzt gibt es nur noch Hypothesen, wie man das Genus bei Bezeichnungen der
unbelebten Gegenstände erklären kann. Eine davon stammt von dem französischen
Sprachwissenschaftler A. Meillet.
Laut seinen Beobachtungen weisen Maskulina und Neutra mehr Affinitäten auf und
können Feminina gegenübergestellt werden. A. Meillet beweist das vor dem
indoeuropäischen Hintergrund. Die indoeuropäischen Substantive männlichen und
sächlichen Geschlechts unterschieden sich nur in drei Kasus – im Nominativ, im
Akkusativ und im Vokativ, alle anderen Kasusformen stimmten überein. Adjektive,
die mit Feminina kongruierten, erhielten einen besonderen Stamm (Мейе 2003: 117).
Diese Idee finden wir bei N. Fries: Neutrum und Maskulinum bilden in
verschiedenen Regeln eine nicht-feminine Klasse, die in Opposition zu jener Klasse
steht, welche nur durch das Femininum gebildet ist (Fries 2000: 48). Er schließt aber
eine andere Opposition nicht aus: Das Neutrum bildet eine Klasse, die in Opposition
zu einer durch das Maskulinum und Femininum gebildeten Klasse steht (ebenda).
Oppositionen im Rahmen der Kategorie Genus, die von N. Fries vorgeschlagen sind,
können wie folgt dargestellt werden:
199
Der Mensch, der Adler, die Person, die Katze, die Maus, das Pferd
(4) Manchmal erklärt sich das Geschlecht aus dem ursprünglich dazugehörigen,
später weggelassenen Substantiv:
(5) Die Bezeichnung „sächliches“ Geschlecht ist irreführend. Es ist ein „neutrales“
Geschlecht. Das Neutrum steht bei Lebewesen, wenn man das natürliche Geschlecht
nicht bezeichnen will oder kann: Das Kind (Junge oder Mädchen), das Junge
(männliches oder weibliches Tier), das Rind (Bulle oder Kuh) (Jung 1996: 264-265).
N. Fries (2000) beschreibt folgende Merkmale des Genus, nach welchen das
Geschlecht formal bestimmt werden kann:
(1) Morphologische Formanten:
Suffixe -arium, -(ale-)-ment, -chen, -in (betontes -in), -ing, -lein, -tel, -tum,
-um kennzeichnen Neutra
Ableitungen mit -ant, -asmus, -a/i-t-or, -ent, -er, -erich, -eur, -ismus, -ist sind
maskulin
Ableitungen mit -ade, -age, -aille, -aise, -ance, -äne, -anz, -äse, -(at-)ion, -ei,
-elle, -enz, -(er)ie, -ette, -euse, -heit, -ice, -ie, -ik, -ille, -in, -keit, -ose, -schaft,
-tät, -ung, -ur sind feminin.
(2) Null-Ableitungen
substantivierte Pronomen, Partikeln (im weiteren Sinne – A.A.) (Präpositionen,
Konjunktionen) und Verben sind neutral (Ich, Es, Nu, Hin und Her, Aus, Wenn
und Aber, Treffen, Essen)
substantivierte Verbstämme sind maskulin (Beleg, Besuch, Dreh, (Ver)Lauf,
Respekt, Vertrag)
substantivierte Grundzahlwörter sind feminin (Fünf, Sieben, Tausend, Million)
(Fries 2000: 45-46).
(3) Lexikalisch-semantische Gruppen der Genera im Deutschen
Neutral sind Substantive, die auf theoretische Einheiten, auf Entitäten mit
symbolischen Funktionen, auf Sprachen, auf Hotels, Cafés und Kinos, auf
Biere, auf Metalle, auf Farben oder auf Bruchzahlen, auf lange Zeitabschnitte
(ab einem Jahr) referieren (das Gen, Ohm, Bar, Zeichen, Siegel, Signet, Bild,
Wort, Deutsch, Adlon, Hilton, Einstein, Kapitol, Helle, Dunkle, Ale, Bock,
Dortmunder, Pilsner, Platin, Quecksilber, Rot, Achtel, Jahr, Kambium,
201
Jahrzehnt).
Maskulin sind Substantive, die auf längere Zeitabschnitte (über eine Stunde,
unter einem Jahr), Himmelsrichtungen, Wettererscheinungen, Mineralien,
Spirituosen (außer Biere), Landfahrzeuge, auf nicht mit Wind angetriebene
Wasserfahrzeuge, auf Menschen ohne Bezugnahme auf das natürliche
Geschlecht oder auf Primaten referieren (der Tag, Morgen, Februar, Herbst,
Westen, Föhn, Sturm, Schnee, Kalk, Ton, Sekt, Wodka, Drink, Zug, ICE,
Mercedes, Kajak, Kahn, Pott, Arzt, Schmied, Chef, Knecht, Schimpanse,
Gorilla, Orang-Utan, Makak).
Feminin sind Substantive, die auf Kardinalzahlen, auf
Temperaturerscheinungen, auf mit Wind angetriebene, Wasserfahrzeuge, auf
Flugzeuge, auf eine Kraft, auf kurze Zeitabschnitte referieren (die Vier, Gut,
Frische, Hitze, Schwüle, Brig, Jacht, Boing, Macht, Potenz, Entelechie,
Sekunde, Minute, Stunde).
(4) Phonologisch bzw. phonotaktisch begründete Genus-Klassen
einsilbige Nomen, deren Stamm durch einen Diphthong gebildet wird, sind
nicht feminin (der Traum, das Bein);
einsilbige Nomen, die mit einer Konsonantenverbindung beginnen und enden,
sind maskulin (der Trumpf, der Flirt);
Substantive auf -ich und -ig sind maskulin (der Rettich, der Essig).
Manche Suffixe deuten auf das Genus nur in Verbindung mit ihrer Bedeutung, und
zwar:
(a) Die Substantive auf -er sind Maskulina, wenn sie eine männliche Person
bezeichnen und Ableitungen sind: Die Schule – der Schüler; lehren – der Lehrer.
Aber: die Mutter, die Tochter, das Zimmer.
(b) Das Suffix -at weist auf das Maskulinum nur bei den Personenbezeichnungen hin:
der Aristokrat. Bei Sachnamen sind es dagegen Neutra: Das Rektorat, das Dekanat,
das Mandat.
(c) Das Suffix -in kennzeichnet bei Sachnamen das Neutrum, ist halblang und betont:
202
Das Benzin.
An diesen Beispielen sehen wir, dass die Form mit der Bedeutung verbunden ist.
Schwankungen im Genus
Im Deutschen gibt es mehr Schwankungen im Genus, als in manchen anderen
Sprachen. Man kann diese Schwankungen auf folgende Weise gruppieren:
1) Dialektale Schwankungen. Sie haben keinen Unterschied in der Form und
Bedeutung: Der/das Bereich, der/das Abteil, der/die Hirse, die/der Butter u.a.
2) Schwankungen, die mit der Form zusammenhängen, wobei die Bedeutung
dieselbe ist: Der Spalt – die Spalte; der Ritz – die Ritze.
3) Homonyme des Genus, in welchen das Genus die Bedeutung unterscheidet:
Der Band - том, das Band - лента; der Bauer - крестьянин, das Bauer -
клетка; der Tor - глупец, das Tor - ворота, der Verdienst - заработок, das
Verdienst - заслуга u.a.
Genus der Zusammensetzungen
Bei zusammengesetzten Substantiven richtet sich das Genus nach dem Grundwort,
das gewöhnlich die letzte Komponente der Komposita ist, vgl. die Gästezahl, das
Goethe-Institut. Aus diesem Grunde gibt es viele Ausnahmen in semantischen
Gruppen, die für dieses oder jenes Geschlecht typisch sind, z.B. der Tannenbaum,
das Frauenzimmer, der Löwenzahn.
Genus der Kurzwörter
Kurz- und Initialwörter haben das Genus der Vollwörter bzw. das Genus des
Bezugswortes in der Nominalgruppe: Die Lok (die Lokomotive), die Mathe (die
Mathematik), die Limo (die Limonade), die Schupo (die Schutzpolizei), die Gestapo
(die geheime Staatspolizei), der PKW (der Personenkraftwagen), das EKG (das
Elektrokardiogramm), die EDV (die elektronische Datenverarbeitung).
Die Kategorie des Numerus basiert auf der Gegenüberstellung von Singular und
Plural. Von dem Singular wird der Plural abgeleitet. Nach O. I. Moskalskaja ist die
203
Kategorie des Numerus mit den Begriffen der Gattung und der Zählbarkeit der
Gegenstände innerhalb der Gattung verbunden (Moskalskaja 2004: 152). Diese
Opposition kennzeichnet vor allem Namen konkreter Gegenstände (der Mensch – die
Menschen, das Haus – die Häuser) und viele Abstrakta (die Idee – die Ideen, die
Bestrebung – die Bestrebungen usw.).
Der Singular dient zur Bezeichnung eines einzelnen Vertreters einer Gattung oder der
Gattung als solcher (Der Löwe ist ein Raubtier) (vgl. Абрамов 2001: 83). Bei der
Bedeutung der Pluralform handelt es sich nicht um die Vielheit durchweg, sondern
um eine gegliederte Vielheit, worauf O.I. Moskalskaja hinweist (Moskalskaja 2004:
152). Das äußert sich darin, dass z.B. die Bezeichnungen der Stoffnamen die
Pluralformen haben können, wenn es sich um unterschiedliche Stoffarten handelt,
z.B. die Öle (=Ölsorten), die Weine (=Weinsorten).
Es gibt auch viele Substantive, die nur im Singular stehen können
(Singulariatantum) (vgl. der Unterricht). Zu dieser Gruppe gehören Unika, z.B.:
Die Erde, der Mond; Stoffnamen, z.B. das Wasser; unzählbare Abstrakta: Das
Bewusstsein, die Entschlossenheit; Kollektiva: Das Proletariat, der Adel, die
Studentenschaft usw.
Viele Substantive können auch nur im Plural verwendet werden und haben keine
Singularform (Pluraliatantum), vgl.: Die Geschwister, die Leute, die Pocken.
Die Substantive haben im Plural ein besonderes Merkmal – das Pluralsuffix. Es ist im
Unterschied zum Russischen keine Endung, denn es bezeichnet keinen Kasus,
sondern nur die Zahl. Außer der Pluralsuffixe bezeichnet auch der Umlaut den Plural.
Im Deutschen bildeten die Substantive den Plural nicht immer auf diese Art. Im
Althochdeutschen hatten die Substantive zur Bezeichnung des Plurals auch besondere
Kasusendungen, wie es in allen indoeuropäischen Sprachen früher war. Vgl.:
Nominativ taga gesti
Genitiv tago gesteo
204
In der traditionellen Grammatik wird von vier produktiven Typen der Pluralbildung
gesprochen. In diesen Typen gibt es zwei Arten der Flexionen, die miteinander
verbunden sind oder einzeln gebraucht werden können. Es sind die Pluralsuffixe als
äußere Flexion und der Umlaut des Wurzelvokals als innere Flexion.
• Der erste Typ: Das Suffix -e im Plural (mit und ohne Umlaut).
• Der zweite Typ: Das Suffix -(e)n im Plural, stets ohne Umlaut.
• Der dritte Typ: Das Suffix -er im Plural stets mit dem Umlaut des
Wurzelvokals.
• Der vierte Typ: Kein Pluralsuffix (mit oder ohne Umlaut).
Es gibt auch besondere Pluralformen, die für Fremdwörter und internationale
Bezeichnungen charakteristisch sind.
Der erste Typ
205
Dieser Typ ist, wie gesagt, für Maskulina charakteristisch, die meisten starken
Maskulina, auch die starken Fremdwörter, gehören dazu: Der Major – die Majore,
der Pionier – die Pioniere.
Der Umlaut drang in den Plural der starken Maskulina aus der i-Deklination ein, z.B.
der Gast – die Gäste (gesti). Aber allmählich wurde er zur inneren Flexion und
verbreitete sich auch nach dem Gesetz der Analogie auf solche Maskulina, die zur a-
Deklination gehörten, z.B.: Schatz – Schätze (scaƷa). Aber viele alte a-Stämme
bleiben doch im Plural ohne Umlaut. Die wichtigsten davon sind:
Die Aale, Abende, Arme, Dolche,Dome, Forste, Funde, Gaue, Grade, Gurte, Halme,
Hufe, Hunde, Laute, Morde, Oheime, Pfade, Rufe, Schlote, Schuhe, Tage, Takte.
Außer den Maskulina gibt es eine ziemlich große Anzahl von Neutra, die auch zu
diesem Typ gehören. Die Neutra mit dem Suffix -e haben keinen Umlaut, z.B.: das
Paar – die Paare. Als Ausnahme tritt das Wort das Floss – die Flösse auf. Das hat
historische Gründe. Die meisten Neutra gehörten früher zur a-Deklination und hatten
im Nominativ und Akkusativ des Plurals keine Endung, vgl.:
Singular wort Plural wort
Althochdeutsch kint Althochdeutsch kint
Tab. 12. Neutra im Singular und im Plural im Ahd.
Später bekamen die meisten Neutra das Suffix -er, aber eine große Anzahl gesellte
sich zu der Pluralbildung der Maskulina und bekam das Suffix -e. Z.B.:
Beete, Beine, Boote, Brote, Erze, Feste, Haare, Heere, Hefte, Heime, Jahre,
Kamele, Klaviere, Kreuze, Maße, Moose, Netze, Papiere, Pferde, Pfunde, Pulte,
Rechte, Rehe, Reiche, Rohre, Roße, Salze, Schafe, Schiffe, Schweine, Seile, Siebe,
Spiele, Stücke, Tiere, Tore, Werke, Zelte, Zeuge, Ziele, Schicksale.
zum 2. Typ gehören, z. B.: das Porträt – die Porträte, das Plakat – die Plakate, das
Dokument – die Dokumente.
Einige einsilbige Feminina (ungefähr 30) erhalten auch das Suffix -e im Plural. Die
umlautfähigen Vokale bekommen dabei stets den Umlaut, z.B.:
Die Faust - die Fäuste, die Hand - die Hände, die Nacht - die Nächte, die Maus -
die Mäuse, die Kuh – die Kühe, die Axt - die Äxte, die Bank - die Bänke, die
Braut - die Bräute, die Brust - die Brüste, die Frucht - die Früchte, die Gans - die
Gänse, die Gruft - die Grüfte, die Haut - die Häute, die Kluft - die Klüfte, die
Kraft - die Kräfte, die Kunst - die Künste, die Laus - die Läuse, die Luft - die
Lüfte, die Not -die Nöte, die Sau - die Säue, die Schnur - die Schnüre, die Stadt -
die Städte, die Wand - die Wände, die Wurst - die Würste, die Zunft - die Zünfte.
Zu diesem Typ gehören auch die Feminina auf -nis: die Kenntnis – die Kenntnisse.
Der zweite Typ
Der 2. Typ mit dem Suffix -(e)n ohne Umlaut ist für die Feminina charakteristisch.
Nach diesem Typus bildet den Plural die überwiegende Mehrzahl der Feminina.
Eigentlich sind es alle Feminina außer der Gruppe mit dem Suffix -e und noch 2
Ausnahmen: Die Mutter – die Mütter, die Tochter – die Töchter. Z.B.:
Die Straße – die Straßen, die Fahne – die Fahnen, die Frau – die Frauen, die
Feder – die Federn, die Schachtel – die Schachteln.
Außer den Feminina gehört zu diesem Typ eine bedeutende Anzahl von Maskulina.
Hierher gehören folgende Gruppen der Maskulina:
a) Alle schwachen Maskulina, z.B. : Helden, Knaben, Löwen, Studenten.
b) Die folgenden starken Maskulina:
Der Mast – die Masten, der Schmerz – die Schmerzen, der See – die Seen, der
Strahl – die Strahlen, der Staat – die Staaten, der Vetter – die Vettern, der Nerv –
die Nerven, der Untertan – die Untertanen, der Nachbar – die Nachbarn, der
Bauer – die Bauern, der Muskel – die Muskeln, der Stachel – die Stacheln, der
Dorn – die Dornen, der Pantoffel – die Pantoffeln.
207
c) Die Maskulina auf -or mit wechselnder Betonung. Im Singular ist das Suffix
unbetont, im Plural bekommt es die Betonung: Der Rektor – die Rektoren, der
Professor – die Professoren, der Motor – die Motoren.
d) Einzelne Fremdwörter: Der Akt – die Akten (Papiere), der Typus – die Typen.
e) Die Fremdwörter auf -ismus: Der Russizismus – die Russizismen, der Jargonismus
– die Jargonismen.
Weniger typisch ist diese Art der Pluralbildung für die Neutra. Es lassen sich einige
Typen der Neutra unterscheiden:
1) Eine Reihe von Neutra ohne besonderes Merkmal: Die Augen, die Ohren, die
Betten, die Enden, die Leiden, die Hemden, die Insekten, die Statuten, die
Interessen, die Juwelen, die Verben, die Herzen.
2) Die Neutra auf -um: Das Museum – die Museen, das Datum – die Daten, das
Technikum – die Techniken usw.
3) Hier gibt es einige Wörter auf -a: Das Drama – die Dramen, das Thema – die
Themen, das Schema – die Schemen.
4) Eine Reihe von Neutra haben im Plural das Suffix -en mit einem -i- davor: Das
Kapital – die Kapitalien, das Mineral – die Mineralien, das Material – die
Materialien, das Adverb – die Adverbien, das Adverbiale – die Adverbialien, das
Numerale – die Numeralien, das Prinzip – die Prinzipien, das Partizip – die
Partizipien.
Der dritte Typ
Das Modell mit dem Pluralsuffix -er mit dem Umlaut ist für die Neutra typisch.
Dieses Suffix geht auf das Suffix -ir der ehemaligen indoeuropäischen neutralen s-Stämme zurück,
bei denen -s nach Verners Gesetz zu -z wurde und danach wegen westgermanisch-skandinavischem
Rothazismus zu -r. Die s-stämmigen Substantive sind später in die a-Stämme der Neutra
übergegangen, aber statt Nullsuffix haben sie ihr altes Suffix im Plural sozusagen „mitgenommen“,
vgl. rus. небо-небеса, althdt. lamb-lembir „Lämmer“. Da dieses Suffix den Plural kennzeichnete
und das „normale“ Suffix im Neutrum Plural des a-Stammes das Nullsuffix war, wurde -ir und nicht
das Nullsuffix (kint-kint) verallgemeinert.
Dieses Suffix ist mit dem Umlaut verbunden. Die meisten Neutra bilden den Plural
208
Der Chef – die Chefs, das Café – die Cafés, das Komitee – die Komitees, der
Waggon – die Waggons, der Klub – die Klubs.
Besonders typisch ist dieses Suffix für Fremdwörter, die einen Vokal im Auslaut
haben:
Das Auto – die Autos, das Foto – die Fotos, das Kino – die Kinos, der Kuli – die
Kulis.
Aber in manchen Fällen ist das Suffix –s niederdeutschen Ursprungs. Dieses Suffix
hat sich im niederdeutschen Dialekt bis heute erhalten und bei vielen Wörtern in die
hochdeutsche Sprache übergegangen: Das Dock – die Docks, der Kai – die Kais. In
der Umgangssprache findet man viele solche Formen:
Der Papa – die Papas, die Mama – die Mamas, der Kumpel – die Kumpels, der
Junge – die Jungs (die Jungens).
Dieses Suffix hat noch eine Anwendung: Die sogenannten uneigentlichen Substantive
bekommen -s im Plural: Die Wenns und die Abers.
Dieses Pluralsuffix wird in einem noch ganz besonderen Falle gebraucht, nämlich im
Plural der Familiennamen: Die Buddenbrooks. Dieses -s hat einen anderen Ursprung:
Es ist ein altes Genitiv -s.
Lateinische und griechische Pluralsuffixe (s. Vertiefung).
Der Plural der zusammengesetzten Substantive
210
Bei Zusammensetzungen verändert sich nur das Grundwort, und es richtet sich nach
den allgemeinen Regeln, z.B.: die Hausfrau – die Hausfrauen, der Kaufmann-die
Kaufmänner, die Kauffrau-die Kauffrauen.
Es gibt aber einige besondere Fälle. Bei den Substantiven auf –mann, die einen
männlichen Beruf bezeichnen, ist das Grundwort im Plural –leute: der Seemann – die
Seeleute. Bei dem Wort Ehemann muss man unterscheiden: Ehemänner bedeutet
‚einige Männer‘ und Eheleute bedeutet ‚Mann und Frau‘.
Die Berufsbezeichnungen auf -mann betrachtet man manchmal als Ableitungen mit
Halbsuffix –mann oder -frau.
Der Plural der Kurzwörter (oder Abbreviaturen)
Diese Substantive haben oft das Pluralsuffix –s oder verändern sich gar nicht:
Der PKW – die PKWs, der Zoo –die Zoos, das Mg – die Mgs.
Der Kiefer – die Kiefer (челюсть), die Kiefer – die Kiefern (сосна).
Viele Homonyme haben dasselbe Genus und unterscheiden sich nur in der
Pluralform, z.B.:
Die Bank (zum Sitzen) – die Bänke, die Bank (Kreditanstalt) – die Banken;
Das Tuch (einzelne genähte, gesäumte Gegenstände aus Stoff) – die Tücher, das
Tuch (eine Art Stoff) – die Tuche.
Die Veränderung des Substantivs in Abhängigkeit von der Funktion, die es im Satz
hat, nennt man Deklination. In den früheren deutschen Grammatiken unterschied man
mehrere Deklinationstypen (manchmal zwanzig). So hielt L. Sütterlin folgende
Deklinationstypen auseinander: Elf Typen der starken Deklination, vier Typen der
211
schwachen Deklination und fünf Typen der gemischten Deklination (Sütterlin 1923).
Der Grund, warum er so viele Deklinationstypen differenzierte, liegt darin, dass er
die Deklination mit der Pluralbildung vereinigt hat. Die russischen Germanisten L.R.
Sinder und T.W. Sokolskaja kritisieren dieses Herangehen und schlagen vor, die
Deklination der Substantive im Singular und im Plural auseinanderzuhalten. Ihrer
Konzeption nach ist es logisch, von vier Deklinationstypen im Singular zu sprechen.
Im Plural gibt es nur ein Modell der Formveränderung der Substantive in
unterschiedlichen Kasusformen (Зиндер, Сокольская 1938).
Die Position von L.R. Sinder und T.W. Sokolskaja verankerte sich in der russischen
Grammatik. Laut der traditionellen Interpretation hat das deutsche Substantiv im
Singular drei Typen der Deklination und noch einen Mischtypus, der einige
Substantive männlichen Geschlechts einschließt:
Die weibliche (feminine) Deklination umfasst alle Feminina außer den Eigennamen,
die ohne Artikel gebraucht werden. Sie unterscheidet sich dadurch, dass die Feminina
eine 0-Flexion in allen Kasus haben. Die Kasus lassen sich nach anderen Merkmalen
unterscheiden: Nach den Formen der Artikel, der Pronomina, der Adjektive, z.B.:
Nom. Sg. die Frau, die Tochter
Gen. Sg. der Frau, der Tochter
Dat. Sg. der Frau, der Tochter
Akk. Sg. die Frau, die Tochter
Tab. 13. Die Deklination der Feminina
Die Grundlage der weiblichen Deklination bildete die alte o-Deklination der Feminina. Die meisten
Feminina gingen schon damals nach der o-Deklination. Dank der Reduktion der unbetonten Vokale
hatte die o-Deklination schon im Mhd. die heutige Gestalt angenommen: Alle Kasus fielen
zusammen. Die Feminina der r-Deklination wurden immer auf dieselbe Weise dekliniert, sie
veränderten sich im Singular nicht. Es gab im Mhd. manche Feminina, die nach der n-Deklination
gingen, sie verloren später das -n in den casus obliqui und gesellten sich im Nhd. zur weiblichen
Deklination, z.B. die Zunge. So entstand die heutige weibliche Deklination.
Die starke Deklination der Substantive. Für die starke Deklination ist die Endung -
(e)s im Genitiv charakteristisch. Dazu gehören die meisten Maskulina und alle Neutra
212
(ausgenommen das Herz), z.B. der Tag, der Garten usw. Die einsilbigen Substantive
mit einem Konsonanten im Auslaut haben die Endung -es und die mehrsilbigen
Substantive oder die einsilbigen mit einem Vokal im Auslaut haben die Endung -s:
Der Tag – des Tages, der Wald – des Waldes, der Lehrer – des Lehrers, der Uhu –
die Uhus, das Vieh des Viehs, der See – des Sees.
Die starken Substantive können im Dativ auch ein -e haben, z.B.: dem Kinde, im
Walde. Das betrifft nur die einsilbigen Substantive mit einem Konsonanten im
Auslaut. Dieses -e war früher obligatorisch, im Laufe der Zeit aber wird es immer
mehr reduziert. Sein Gebrauch hängt von dem Rhythmus der Rede ab. Man findet es
heute in stehenden Redewendungen: nach Hause, zu Hause. Dieses -e fehlt in
präpositionalen Gruppen, wenn dasselbe Substantiv wiederholt wird: Von Haus zu
Haus, von Ast zu Ast. Es fehlt auch bei Stoffnamen: Aus purem Gold, aus Stahl.
Die schwache Deklination der Substantive. Für diesen Deklinationstyp ist die Endung
-(e)n für alle Kasus außer dem Nominativ typisch. Die schwachen Substantive mit
einem Konsonanten im Auslaut bekommen die Endung -en, die schwachen
Substantive mit –e im Auslaut bekommen die Endung -n: der Bär – die Bären, der
Junge – die Jungen. Zu diesem Deklinationstyp gehören nur Maskulina: a) Alle
Maskulina auf -e, die Lebewesen bezeichnen, z.B. der Affe, der Bote; b) einsilbige
Maskulina, die früher ein -e im Auslaut hatten und die Lebewesen bezeichnen, z.B.:
Der Bär, der Fürst, der Graf, der Herr, der Held, der Hirt, der Mensch, der Mohr,
der Narr, der Ochs, der Prinz, der Spatz, der Tor, der Zar; c) Fremdwörter, die
Lebewesen bezeichnen, mit Suffixen -ant (der Laborant), -ent (der Student), -at (der
Aristokrat), -et (der Prolet), -ist (der Sozialist), -it (der Bandit), -og(e) (der Geologe,
der Pädagoge), -graph (der Photograph), -soph (der Philosoph), -nom (der
Astronom), -ot (der Pilot), -ar bei Völkernamen (der Bulgar, der Tatar, der Barbar);
d) Fremdwörter, die unbelebte Dinge bezeichnen, z.B. der Brilliant, der Diamant, der
Foliant, der Automat, der Komet, der Konsonant, der Obelisk, der Paragraph, der
Planet, der Telegraph.
213
Die schwache Deklination der deutschen Substantive hat im Laufe der Zeit viele Substantive
verloren. Sie sind zu anderen Typen übergegangen. Früher konnten zu den n-Stämmen, von denen
sich die schwache Deklination entwickelte, viel mehr Substantive gehören: Konkreta und Abstrakta,
Bezeichnungen von Lebewesen und Sachnamen. Es gehörten dazu auch alle 3 Geschlechter. Doch
die größte Gruppe bildeten dabei immer die Bezeichnungen von Personen und Lebewesen.
Allmählich fielen die Feminina und Neutra von der schwachen Deklination ab, wie auch die
Maskulina, die keine Personen oder Lebewesen bezeichneten. Der Umfang der schwachen
Deklination wäre ganz klein geworden, wenn nicht die Fremdwörter dazu gekommen wären. Dank
den Fremdwörtern ist diese Deklination doch zahlreich.
Schwankungen zwischen der starken und schwachen Deklination
Da es in der Geschichte Übergänge zwischen der schwachen und starken
Deklinationen gegeben hat, so gibt es Schwankungen zwischen diesen 2 Typen. Die
wichtigsten schwankenden Substantive sind:
Gedanke – der Gedanken, der Fels – der Felsen. Wenn die Form mit -n die Form auf
-e verdrängt haben wird, werden diese Substantive zur starken Deklination gehören.
Auf diesem Wege sind schon viele alte n-Stämme zur starken Deklination
übergegangen, z.B. der Haufen, der Knochen, der Brunnen, der Ranzen.
Das Substantiv das Herz hat als Neutrum im Akkusativ keine schwache Endung.
Deshalb kann bei diesem Neutrum der Übergang zur starken Deklination nicht auf
diese Weise geschehen, es wird wahrscheinlich noch lange so bleiben. Dieses
Substantiv hat im Dativ die Endung -en, im Genitiv -ens.
Deklination der Substantive im Plural
Man unterscheidet im Plural einen Grundtypus und einen Nebentypus der
Deklination. Die meisten Substantive der deutschen Sprache und auch die
Fremdwörter, die zur deutschen Pluralbildung gehören, erhalten im Dativ die
Endung -(e)n. In den übrigen casus obliqui haben sie keine Endungen. Dort tritt nur
das Pluralsuffix auf. Vgl.:
Nom. Pl. die Tage, Gäste, Kinder,
Gen. Pl. der Tage, Gäste, Kinder
Dat. Pl. den Tagen, Gästen, Kindern
Akk. Pl. die Tage, Gäste, Kinder
Tab. 14. Die Deklination im Plural
Wenn das Suffix nach dem zweiten Typus der Pluralbildung -(e)n enthält, so wird im
Dativ keine neue Endung gesetzt, die Endung verschmilzt mit dem Suffix.
Der Nebentypus der Pluraldeklination besteht darin, dass im Dativ keine Endung
gesetzt wird. Hierher gehören alle Substantive mit fremdartigen Suffixen, z.B.:
Mit den Autos, mit den Muttis, in den Parks, bei den Maskulina, bei den
Abstrakta, mit den Themata.
(3) Singular stark, Plural schwach; (4) Singular schwach/stark, Plural stark (Lang
2017: 70). Auch in der Duden-Grammatik (Duden 1998: 223-224) werden
Singulartypen mit den Pluraltypen vermischt, infolgedessen werden 10
Deklinationstypen auseinandergehalten. Z.B. das Substantiv der Tag gehört zum
Deklinationstyp I und das Substantiv der Wald gehört zum Deklinationstyp IV, weil
diese Wörter unterschiedlich die Pluralformen bilden; aus demselben Grund werden
die Feminina die Kraft, die Mutter, die Frau und die Oma als Beispiele für
Deklinationstypen VII, VIII, IX und X betrachtet. Wir folgen der russischen Tradition
und halten es für sinnvoll, die Deklination der Substantive von der Pluralbildung zu
trennen.
Die Bezeichnungen von geographischen Orten und von Menschen ändern ihre Form
nur im Genitiv, sie bekommen die Flexion -s, z.B. Annas Zimmer, Chinas Waren,
Berlins Festivale usw. Eigennamen männlichen Geschlechts auf -s, -x, -z erhalten
-ens im Genitiv, z.B. Fritzens. Häufig fehlt die Endung in diesen Wörtern – in der
geschrieben Sprache wird die Genitivendung mit dem Apostroph am Ende des Wortes
markiert, z.B. Hans’ Schwester, Fritz’ Wohnung. In der gesprochenen Sprache wird
die Struktur mit von verwendet, z.B. die Wohnung von Fritz, das Haus von Hans.
Auch mit geographischen Namen, die auf -s, -z, -x enden, wird die Präposition von
verwendet, z.B.: Die Museen von Paris, Straßen von Sassnitz usw.
Steht vor Eigennamen der bestimmte Artikel oder ein Beiwort, z.B. ein Adjektiv, das
die Kasusendung markiert, erhalten sie keine Endungen im Genitiv, z.B. Der
Teddybär des kleinen Ivan, die Leistungen der Sportschwimmerin Nastassja.
Gehören einige Namen einer Person, bekommt nur der letzte Name seine Endungen,
z.B.: Erich Kästners Geschichten. Wenn vor dem Familiennamen eine Präposition
steht, dann wird der Familienname gebeugt, z.B. Wolfgang von Goethes Werke. Ist
der Familienname deutlich als Ortsname zu erkennen, dann wird der Vorname
216
gebeugt, z.B. die Lieder Walters von der Vogelweide (vgl. Duden 1998: 246),
(Зиндер, Сокольская 1938: 77-78).
Die Kasuslehre
Das Deutsche verfügt über das Vierkasussystem. Die Funktion der Kasus besteht
darin, syntaktische Beziehungen zwischen den nominalen Satzgliedern und dem
Prädikat des Satzes sowie syntaktische Beziehungen zwischen den Substantiven in
der Wortfügung auszudrücken (vgl. Moskalskaja 2004: 156).
Traditionell unterscheidet man zwischen den reinen Kasus (ohne Präpositionen) und
den präpositionalen Kasus:
(2) Er schreibt an seinen Vater einen Brief (Helbig & Buscha 2005),
(Moskalskaja 2004).
Bei den reinen Kasus (1) besteht ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem in einem
bestimmten Kasus stehenden Substantiv und dem übergeordneten Wort (Verb,
Adjektiv, Substantiv). Bei den präpositionalen Kasus (2) besteht ein durch die
Präposition vermittelter, ein mittelbarer Kontakt zwischen dem in einem bestimmten
Kasus stehenden Substantiv und dem übergeordneten Wort (Verb, Adjektiv,
Substantiv) (Helbig & Buscha 2005: 255). H. Brinkmann weist darauf hin, dass der
Kasus als grammatische Erscheinung nur an der Verwendung der Kasus ohne
Präposition zu studieren ist. Deswegen hält er grammatische und präpositionale Fälle
auseinander (Brinkmann 1971: 61). Diese Einstellung vertreten viele
Grammatikforscher.
Im Weiteren betrachten wir Funktionen des Nominativs, des Genitivs, des Dativs und
des Akkusativs.
217
Der Nominativ
Der Nominativ wird als Kasus des Subjekts und der Anrede betrachtet (W. Admoni,
H. Brinkmann). Es gibt auch einzelne Fälle, wenn der Nominativ nicht als
Satzsubjekt auftritt und trotzdem verwendet wird. Diese Fälle unterscheidet H.
Brinkmann:
(1) Nominativ neben einem Infinitiv, zu dem er als Prädikatsnomen Subjektsbezug
hat, vgl.:
Es war sein ehrlicher Wunsch und sein Wille, ein guter Schüler zu sein (H.
Hesse); der kleine Mann war, die Hände geballt wie ein Boxer, auf mich
eingedrungen (nach Brinkmann 1971: 64).
(2) Das Substantiv wird durch als oder wie eingeführt, vgl.:
(3) Die Bezeichnung einer Rolle, vgl.: der Begriff Mensch; er hat Ingenieur studiert
(ebenda).
Der Nominativ steht flexionsmorphologisch in Opposition zu allen anderen
Subkategorien des Kasus. Der Nominativ ist nach R. Jakobson der „einzig mögliche
Träger der reinen Nennfunktion“, während die anderen Kasusformen keine Namen,
sondern Kasus des Namens sind (Fries 1997: 57-58).
W. G. Admoni unterscheidet folgende Funktionen des Nominativs:
1. Das grammatische Subjekt.
2. Der Benennungsnominativ (in Wörterbüchern, Wortlisten usw.).
3. Der Vorstellungsnominativ.
4. Der vokativische Nominativ (Karl! Karl! Komm!)
5. Der „emotionale“ Nominativ (Donnerwetter! Übungssache! Teufel! usw.).
218
6. Die Bildung der Existenzialsätze: Laue Wärme, kühle, tiefschwarze Nacht und
helles Licht, Stimmen vorbei, Gestalten (Schlaf) (nach Admoni 1986).
7. Die Bildung der Benennungssätze, vgl.: Erster Landgang am Kap Leeuwin. Die
Leutnants blieben an Bord (S. Nadolny. Die Entdeckung der Langsamkeit).
8. Der absolute Nominativ ist ein rhetorisches Stilmittel; ein außerhalb des
Satzverbandes („hängendes“) und im Nominativ stehendes Satzglied (Lexikon.
wissen.de), z. B.:
Dieser Hafen, das war wirklich die Welt! (S. Nadolny. Die Entdeckung der
Langsamkeit).
Die schöne fremde Welt – er musste sie jetzt wirklich sehen (ebenda).
9. Das Prädikativ: Er ist Student. John Franklin […] war ein idealer Hörer (ebenda).
10. Das unselbständige und verselbstständigte Attribut (die Apposition) in dem Falle,
wenn das leitende Wort im Nominativ steht, vgl.:
Die Prinz Waldemar war ein rüstiger, moderner Dampfer von dreitausend
Tonnen (C. Kracht. Imperium).
Der Genitiv
Genitiv wird für bestimmte Beziehungen nicht verwendet. Z.B. man kann sagen ein
Kleid aus Seide, der Genitiv kann dabei nicht verwendet werden. Nur wo genauere
Grenzen gesetzt sind, kann die Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen durch
den Genitiv des Ganzen bezeichnet werden, vgl.: Eine Anzahl neugieriger Zuschauer.
(2) Das Verhältnis zwischen den durch Genitiv zugeordneten Substantiven kann nicht
einfach umgekehrt werden, ohne dass der Sinn der Verbindung verändert wird, vgl.:
Das Haus des Nachbarn – der Nachbar des Hauses, der Vater des Freundes –
der Freund des Vaters (ebenda, S. 71-72).
Nicht jemand, der sich seiner Verantwortung entzieht (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
Bei der Dankesrede für den Schirrmacher-Preis breitete Michel Houellebecq ein
aberwitzig reaktionäres Weltbild aus, das seiner Kunst unwürdig ist (Zeit
Online. 27.09.2016).
Ich bin der Meinung, dieses Substantiv ist männlichen Geschlechts (Admoni
1986: 117-120).
O.I. Moskalskaja (2004) spricht von dem Genitiv des Besitzes oder Zugehörigkeit,
vgl. das Heft des Schülers; Genitiv der Eigenschaft, vgl. das Fest der Feste; Genitiv
der Identität, vgl.: Das Gefühl der Sicherheit; Genitiv des Subjekts, vgl.: Das Hupen
der Autos und Genitiv des Objekts, vgl.: Die Erfindung des Motors (Moskalskaja
2004: 166-168).
In der deutschen Sprachwissenschaft wird die Frage diskutiert, warum der
Objektsgenitiv, d.h. die Strukturen vom Typ Sie gedachten seiner immer seltener
verwendet werden. Eine der Konzeptionen, und zwar die von E. Leiss (1987) erklärt
den Genitivschwund im Deutschen aus diachronischer Sicht durch den Umbau des
grammatischen Systems der deutschen Sprache. Im Mittelhochdeutschen hatte der
Genitiv im Vergleich zum Althochdeutschen seine „Blütezeit“. Das war eine Reaktion
darauf, „dass im Mittelhochdeutschen der bestimmte Artikel bereits etabliert war, ein
aber die Qualität eines unbestimmten Artikels hatte“ (Leiss 1987: 1408). Sobald aber
der unbestimmte Artikel in Opposition zum bestimmten Artikel verwendet wird, ist es
mit der Blütezeit vorbei. Nach E. Leiss liegt in der Genitivverbindung vor allem
Allgemeinheit und Unbestimmtheit vor. Genitivobjekte in Opposition zu
Akkusativobjekten wurden vor allem mit perfektiven Verben gebraucht. Die
imperfektiven Verben lassen sich nicht mit Genitiv konstruieren (Leiss 2000: 16). So
merkt E. Leiss, dass 40 Verben, die heute noch mit Genitiv konstruiert werden,
präfigierte Verben sind. Beim Ersetzen des Genitivs durch einen anderen Kasus fällt
mehrfach das Präfix ge- weg, vgl.: Sie gedachten seiner / Sie dachten an ihn (Leiss
1987: 1408).
Die Besonderheit der Konzeption von E. Leiss besteht darin, dass sie die
grammatischen Kategorien Aspekt und Kasus nicht isoliert voneinander, sondern in
einem System betrachtet: Solche kategorialen Erscheinungsformen wie der Artikel
kann nicht „aus dem Nichts“ auftauchen (Leiss 2000: 17).
221
Der Dativ
Der Dativ gehört zur Gruppe des Verbs (Admoni 1986: 120) und spielt die Rolle
eines indirekten Objekts, auf welches die Handlung orientiert ist. O. I. Moskalskaja
spricht von zwei Typen des Dativobjekts:
(1) Das Dativobjekt tritt zu den Verben des Sich-Zuwendens, Zuneigens, des
Zustrebens, Zusagens, Zukommens, Zuteilwerdens, des Zuteilens, Zufügens,
Mitteilens, Nehmens (Erben, nach Moskalskaja 2004: 164), vgl.:
Ich sagte dem Sekretär nachlässig, dass ich ganz vergessen hätte, dass ich noch
ein Visum brauchte […] (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Das Dativobjekt tritt in Verbindung mit dem nominalen Prädikat auf, nach solchen
Adjektiven wie z.B. behilflich, förderlich, schädlich, dankbar, böse, gewachsen,
gleich, nahe, fern, teuer usw., vgl.:
Dankbar bin ich den Piraten für die Diskussion rund ums Internet (DECOW
16A).
(2) Der freie Dativ. Wie Chr. Dürscheid (2012) merkt, wird der Kasus der freien
Dative nicht vom Verb zugewiesen. Sie unterscheidet folgende Typen des freien
Dativs:
a) Den Dativus Ethicus, der eine gefühlsmäßige Anteilnahme ausdrückt, vgl.: Fall
mir nicht.
b) Den Dativus Commodi bzw. Incommodi, der den Nutznießer oder den
Geschädigten einer Handlung bezeichnet, vgl.:
Die Zeit vergeht mir viel zu schnell (nach Dürscheid 2012: 41).
222
Der Akkusativ
Der Akkusativ spielt die Rolle des direkten Objekts und bezeichnet einen
unmittelbaren Gegenstand der Handlung (Admoni 1986: 120-121). Nach W.G.
Admoni setzt der Akkusativ eine dynamische, aktive Handlung voraus (Admoni
1986: 121).
In traditionellen Grammatikbüchern unterscheidet man folgende Funktionen des
Akkusativs:
1. Die Funktion des direkten Objekts. Man unterscheidet 2 Arten des direkten
Akkusativobjekts:
(a) Das äußere oder affizierte Objekt, d.h. der Gegenstand wird von der Handlung
erfasst, existiert aber unabhängig von dieser Handlung, vgl.: Das Brot schneiden,
einen Brief erhalten usw. (Moskalskaja 2004: 162). W.G. Admoni bezeichnet solche
Akkusativobjekte „den äußeren Akkusativ“ (Admoni 1986: 123);
(b) das innere oder effizierte Objekt, d.h. der Gegenstand ist das Ergebnis der
genannten Handlung, vgl.: Brot backen, einen Brief schreiben usw. (Moskalskaja
2004: 162). W. G. Admoni nennt diesen Typ des Akkusativs „den Akkusativ des
Resultats“ (Admoni 1986: 123).
W.G. Admoni spricht auch von dem „inneren Akkusativ“ (oder Akkusativ des
Inhalts). Er erscheint gewöhnlich bei den intransitiven Verben und bezeichnet in
nominaler Form den Tätigkeitsbegriff, der im betreffenden Verb zum Ausdruck
kommt, vgl.: Er springt einen Sprung; Er geht einen Gang (ebenda).
2. Der absolute Akkusativ. Formell werden solche Konstruktionen von dem Satz
nicht regiert, vgl.:
Etwas später rückten zehn braune Männer an, lange Stäbe in der Hand
(S. Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit).
223
Ein chinesischer Koch eilte aus der Kombüse herbei, den tropfenden Rührbesen
noch in der Hand (C. Kracht. Imperium).
3. Die adverbiale Bestimmung. Vom Verb werden solche Ergänzungen nicht regiert.
O. I. Moskalskaja unterscheidet folgende Typen der Ergänzungen:
(a) Die Adverbialbestimmung der Zeit, vgl.:
Ich möchte diese Nacht nicht allein bleiben (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon).
Ich muss den Weg gehen, den ich gehen muss (H. Böll. Die Ansichten eines
Clowns).
(c) Umstandsergänzungen des Maßes und des Wertes (Maß- und Wertangaben), vgl.:
Sie sind ein Vermögen wert (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
4. Als adverbiale Bestimmung tritt auch der präpositionelle Akkusativ auf, bzw.
Akkusativ mit Präpositionen, vgl.:
Es dauerte auch bei Fredebeul lange, bis jemand an den Apparat kam (H. Böll.
Die Ansichten eines Clowns).
2. Als freie Angabe bei null-, ein-, zwei-, drei- und vierwertigen Verben:
(6) Sein Freund im Nachbarort ist gestorben (nach G. Helbig & J. Buscha 2005:
268).
Fazit
Die Kategorie des Numerus beruht auf der Opposition Einzahl – Mehrzahl. Es
gibt 4 Grundtypen und einen Nebentypus der Pluralbildung mit Hilfe von
Suffixen. Im Plural wird oft auch der Umlaut als innere Flexion gebraucht.
Fremdwörter behalten im Plural oft fremde Suffixe bei.
Die Kategorie des Genus ist beim Substantiv invariant. Man unterscheidet im
Deutschen 3 Genera. Die Genera dienen als Grundlage für die Pluralbildung
und Einteilung der Deklinationstypen.
In der heutigen deutschen Sprache gibt es drei Grundtypen und einen
Übergangstypus der Deklination der Substantive. Im Singular gibt es nur eine
charakteristische Endung – die Endung -(e)s im Genitiv der starken
Deklination, In der schwachen Deklination wird die neutrale Endung -(e)n
gebraucht, die keine casus obliqui unterscheidet. Die Feminina verändern sich
bei der Deklination nicht. Die Deklination im Plural ist unifiziert. Die
Substantive mit deutschen Pluralsuffixen erhalten im Dativ die Endung -(e)n,
die Substantive mit fremdartigen Suffixen bleiben im Dativ unflektiert.
Die Kategorie der Bestimmtheit und Unbestimmtheit wird im Deutschen durch
den Artikel kodiert. Diese Kategorie liegt den Gebrauchsregeln des Artikels
zugrunde.
Aufgaben
Aufgabe 3. Stellen Sie eine Liste der Homonyme des Plurals zusammen. Benutzen
Sie die Grammatik von W. Jung. Bilden Sie 10 Sätze mit verschiedenen Bedeutungen
derselben Wörter.
VERTIEFUNG
Die Kategorie des Numerus: Der Singular als eine generelle Klasse
Die Kategorie des Numerus umfasst nicht nur Substantive, die besondere Typen der
Pluralbildung haben. Sie charakterisiert auch Verben und Pronomina, die im Singular
und im Plural auftreten können. Bei den Substantiven ist der Singular das
unmarkierte Glied der Opposition und der Plural hat immer besondere Merkmale, ist
demzufolge ein markiertes Glied. Bei den Verben sind beide Oppositionsglieder
markiert, und zwar durch Personalendungen und Personalpronomen. Es entsteht die
Frage: Welche Kategorie; der Singular oder der Plural allgemeiner ist? Nach N. Fries
bildet der Singular eine generellere Klasse als der Plural, was sich in verschiedenen
Daten äußert, und zwar:
a) Verschiedene Verben erlauben außer dem Infinitiv ausschließlich eine Singular-
Form, z.B. mir graut, mir schwindelt, es gibt, während es keine Verben gibt, die nur
im Plural auftreten;
b) die Formen der sogenannten Interrogativpronomen wer und was sind
morphologisch nicht nach Numerus differenzierbar, erfordern jedoch Singular, z.B.
Wer / was (alles) kommt / *kommen?
c) der Singular erweist sich in semantisch-konzeptueller Hinsicht als eine generellere
Klasse, da z.B. Pluraliatantum immer Mehrheiten konzeptuell zusammenfasst
(Spesen, Textilien), während Singulariatantum nicht notwendig einzelne Objekte
bezeichnet (Obst, Wild usw.) (Fries 1997: 49-50).
meist wissenschaftliche Termini. Manche Pluralformen dieser Art sind durch einzelne
Beispiele vertreten. So haben einige Fremdwörter Neutra auf -a einen Plural mit dem
Suffix -ta, aber es entwickelten sich parallele Formen mit den Suffixen -en oder -s,
die häufiger vorkommen, vgl.:
Das Thema – die Themata (die Themen), das Komma – die Kommata (die
Kommas), das Schema – die Schemata (die Schemen).
Manche Substantive auf -um, die Neutra sind, erhalten im Plural das Suffix –a mit
Abfall von -um. Das sind grammatische und linguistische Termini, während
Bezeichnungen der gewöhnlichen Begriffe den Plural auf -en bilden. Vgl.:
Das Abstraktum – die Abstrakta, das Maskulinum – die Maskulina, das Neutrum
– die Neutra, das Femininum – die Feminina, das Konkretum – die Konkreta.
Vereinzelte terminologische Substantive haben den Plural auf -ina, -era oder auf -i:
Das Nomen – die Nomina (auch Nomen), das Genus – die Genera, der Modus – die
Modi.
Außer der traditionellen Interpretation der reinen und der präpositionalen Kasus im
Deutschen gibt es noch eine, die auf die Konzeption von Ch. Fillmore zurückgeht.
Ch. Fillmore beschreibt die Semantik der Substantive in verschiedenen Kasus. Es gibt
im Deutschen nur vier morphologische Kasus, die aber viel mehr Bedeutungen
wiedergeben können. Ch. Filmore hat diese Bedeutungen semantische Rollen
genannt. Semantische Rollen haben einen universalen Charakter, man kann sie in
jeder Sprache unterscheiden, unabhängig davon, wie viele Kasus es in der Sprache
gibt. Fillmore unterscheidet folgende semantische Rollen (nach Eroms 1981: 100):
AGENTIVE (A) – bezeichnet den belebten Urheber der durch das Verb
identifizierten Handlung, vgl.: Ich fahre nach Moskau.
INSTRUMENTAL (I) – die unbelebte Kraft / das unbelebte Objekt, das in die
228
ZIEL – Ziel, Endpunkt einer Bewegungshandlung, vgl.: Der Ball rollt ins Tor.
QUELLE – Ausgangspunkt einer Bewegungshandlung, vgl.: Der Wasserhahn tropft.
BENEFAKTIV – zu dessen Nutzen / Schaden etwas geschieht, vgl.: Mein Freund hat
mir eine Uhr geschenkt.
LOKATION – der Ort, an dem ein Sachverhalt gilt, vgl.: Wir studieren in Hamburg.
EXPERIENS – Träger eines mentalen oder emotionalen Prozesses, vgl.: Ich war sehr
erschrocken.
STIMULUS – Auslöser eines solchen Prozesses, vgl.: Der Hund hat mich
erschrocken.
Die Theta-Rollen können den Strukturkasus zugeschrieben werden. Dies wird über
die Gegenüberstellung von s-Kommando und c-Kommando aufgelöst. Man sagt z.B.,
dass das Verb lesen im Aktiv zwei Kasus, den Nominativ und den Akkusativ, c-
kommandiert und im Passiv obligatorisch nur den Nominativ. Dagegen s-
kommandiert lesen die Thetarollen von Agens und Faktiv, und zwar unabhängig von
der Diathese. Und z.B. bei helfen c-kommandiert es neben dem Nominativ den Dativ
und s-kommandiert neben dem Agens den Benefaktiv. Da der Benefaktiv nur immer
im Dativ erscheint und der Faktitiv sowohl im Akkusativ (bei Aktiv) als auch im
Nominativ (bei Passiv) auftreten kann, spricht man davon, dass der Akkusativ (und
der Nominativ) im Deutschen strukturelle Kasus sind, wohingegen der Dativ der
semantische Kasus ist2.
Semantische Rollen bestimmen in erster Linie die Gestalt eines Satzes, weil auf
solche Weise syntaktische Relationen und allgemeine Prinzipien vorgestellt werden,
die die syntaktische Realisierung semantischer Rollen steuern (Primus 2012: 1). Die
semantischen Rollen werden von Valenzträgern bestimmt. Das bedeutet, dass die
Tiefenkasusgrammatik mit der Valenzgrammatik sehr eng verbunden ist.
2 Wir bedanken uns bei dem Professor M. Kotin für die Diskussion über die Tiefenkasus.
230
Die Einteilung der Substantive nach E. Leiss (2000) aus der Sicht von
unterschiedlichen Sprecherperspektiven
E. Leiss geht an die Sprache systematisch heran. Diese Herangehen erlaubt ihr, bei
verschiedenen Wortarten gemeinsame Eigenschaften zu finden. Besonders produktiv
ergibt sich dieses Herangehen beim Vergleich der Substantive und der Verben. E.
Leiss ist der Ansicht, dass Substantive und Verben Lexeme sind, „die mit einer
spezifischen kanonischen Perspektive ausgestattet sind“ (Leiss 2000: 244). Die
Basisdifferenzierung ist daher die zwischen Innen- und Außenperspektive. Solche
Lexeme wie Haus, Baum oder Bleistift charakterisiert sie dadurch, dass sie über das
Merkmal der Ganzheit und somit das der Konturiertheit verfügen. Sie sind
außenperspektivisch, weil sie zählbar sind und die Eigenschaft der Nichtteilbarkeit
und der Nonadditivität haben. Unzählbare Substantive sind additiv und teilbar. Sie
sind innenperspektivisch. Diese Opposition stellt E. Leiss wie folgt dar:
I Zählbares Nomen, z.B. Haus II Massennomen, z.B. Gold
|________________________| |_____|_____|_____|_____|
[-TEILBAR] [+TEILBAR]
[-ADDITIV] [+ADDITIV]
Abb. 4. Die Einteilung der Substantive nach E. Leiss (Leiss 2000: 245)
In Bezug auf die Substantive besagt die Außenperspektive, dass sie nicht teilbar und
somit nicht additiv sind, während die Innenperspektive zeigt, dass sie teilbar und
additiv sind.
Die Einteilung der Substantive aus der Sicht von Sprecherperspektiven ist wichtig,
um die Realisierung der übereinzelsprachlichen Kategorie der Definitheit /
Indefinitheit besser zu verstehen.
Nicht alle Sprachforscher vertreten die Meinung, dass das Substantiv über die
Kategorie der Bestimmtheit/ Unbestimmtheit verfügt. So meint z.B. W.G. Admoni,
dass die Kategorie der Bestimmtheit/ Unbestimmtheit im Deutschen nicht existiert,
231
Kardinalia bezeichnen eine bestimmte Quantität. Es kommt wirklich vor, dass der
unbestimmte Artikel auf eine Quantität hinweist, vgl.:
wo der unbestimmte Artikel ein nicht die Unbestimmtheit, sondern die Menge angibt
(es handelt sich um die Faktoren des Anlaufs, einer der Faktoren ist der
Parteikonsens). Außerdem gibt es Fälle, wenn der unbestimmte Artikel mit dem
bestimmten kombiniert wird, oder, in der Terminologie von H.Vater, handelt es sich
um eine Kombination aus Determinanz und Quantor, vgl.:
das Hintergrundwissen des Gesprächspartners voraus, z.B.: Fritz ist in der Kneipe
(Vater 2010: 249-252).
Einen anderen Standpunkt vertritt O.I. Moskalskaja. Sie ist der Ansicht, dass das
Substantiv im Deutschen die Kategorie der Bestimmtheit / Unbestimmtheit hat und
behandelt sie im Zusammenhang mit der Thema-Rhema-Gliederung (Moskalskaja
2004). Die Kategorie der Bestimmtheit-Unbestimmtheit (nach E. Leiss
Determiniertheit/ Indeterminiertheit) wird von E. Leiss als grundlegende
sprachübergreifende Kategorie betrachtet, die im Deutschen im System des
Substantivs und des Artikels, in den artikellosen Sprachen dagegen im System des
Verbs realisiert wird (Leiss 2000). Wir machen eine kurze Übersicht über die
Konzeption von O.I. Moskalskaja und E. Leiss.
Die erste Position haben Substantive mit dem Themawert, was durch den bestimmten
Artikel signalisiert wird. Am Satzende werden Substantive mit dem unbestimmten
Artikel verwendet. Dadurch wird der Rhemawert der Aussage markiert.
2. Der Artikel signalisiert nur den kommunikativen Wert des Substantivs im Satz; die
lexikalische Bedeutung des Substantivs oder seine Verwendungsweise schließen die
Bedeutungen „bestimmt / unbestimmt“ aus. Das geschieht in drei Fällen:
a) Bei der generalisierenden Verwendung des Substantivs, vgl.:
233
Die Gesellschaft ist tief gespalten – was die Suche nach einem Plan B erschwert
(Zeit Online. 06.09.2016).
Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört – auf
die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück –, auf die
herrliche Dummheit, das verlorene Paradies… (E.M. Remarque. Drei
Kameraden).
3. Der Artikel ist nicht fähig, die Bestimmtheit des Substantivs und seinen
Rhemawert gleichzeitig auszudrücken. Diese Situation wird auf zweifache Weise
gelöst:
(a) Der Artikel signalisiert nur die Bestimmtheit des Substantivs, während der
Rhemawert des Substantivs durch andere Mittel zum Ausdruck gebracht wird, vgl.:
In der Versammlung hat auch der Direktor gesprochen (Beispiel von O.I.
Moskalskaja, Moskalskaja 2004: 180),
wo der bestimmte Artikel nur die Bedeutung der Bestimmtheit kodiert. Der
Rhemawert des Substantivs wird mit der Stimmführung markiert.
(b) Der Artikel signalisiert nur den Rhemawert des Substantivs, ohne der
situationsbedingten Bestimmtheit des Gegenstandes Rechnung zu tragen, vgl.:
wo der unbestimmte Artikel nur den Rhemawert markiert und keine Unbestimmtheit
ausdrückt.
234
E. Leiss hat den Artikel im Deutschen in einem Zusammenhang mit der Kategorie
des Aspekts behandelt. Sie erklärt das Phänomen des Artikels in der deutschen
Sprache dadurch, dass dank dem Artikel Determiniertheit / Indeterminiertheit in der
Aussage kodiert wird. Die Kategorie der Determiniertheit/ Indeterminiertheit wird in
Aspektsprachen (z.B. im Russischen) im Bereich des Verbs kodiert. E. Leiss schlägt
folgende Zuordnungen der Sprachen vor:
1. Sprachen mit Grammatikalisierung nominaler Definitheit:
Artikelsprachen
unsichtbare Kodierung verbalen Aspekts
sog. „feste Wortstellung“
Tendenz zur nominalen Hyperdetermination
Tendenz zur anaphorischen Verwendung des Artikels
2. Sprachen mit Grammatikalisierung verbaler Definitheit:
Aspektsprachen
unsichtbare Kodierung nominaler Definitheitswerte
sog. „freie Wortstellung“
Tendenz zu nominaler Hypodetermination
Tendenz zur anaphorischen Verwendung des Aspekts
(Leiss 2000: 268).
Nach E. Leiss lassen sich Artikel und Aspekt als nominale bzw. verbale Phänotypen
235
der Kodierung von Innen- vs. Außenperspektivierung bezeichnen (Leiss 2000: 250).
Der definite Artikel kodiert die Außenperspektive, der indefinite Artikel kodiert die
Innenperspektive. Da das Russische keine Artikelsprache ist, kodiert der vollendete
Aspekt die Außenperspektive, der unvollendete Aspekt dagegen die
Innenperspektive. Mit anderen Worten, der bestimmte Artikel kann die Funktionen
des vollendeten Aspekts realisieren. Das veranschaulicht E. Leiss an folgenden
Beispielen:
(1) On kolol drova. (imperfektives Verb + Akk.) - 'Er hat Holz gespalten'
(2) On raskolol drova. (perfektives Verb + Akk.) - 'Er hat das Holz gespalten'
Bei Beispiel (2) verstehen wir, dass das Holz in seiner Gesamtheit gespalten ist. Im
Deutschen wird das durch den bestimmten Artikel zum Ausdruck gebracht. In (1)
wird im Gegensatz zu Beispiel (2) keine Aussage über die Menge des gespaltenen
Holzes gemacht.
„Die Handlung stellt sich uns als kontinuierlicher Prozess dar, der zwar vorerst
beendet, aber nicht vollständig zu Ende geführt wurde. Die Handlung lässt sich
als unterbrochen charakterisieren, nicht als abgeschlossen“ (Leiss 2000: 14).
Fazit
Theoretische Verallgemeinerungen ergeben ein tieferes Verständnis der
sprachlichen Phänomene. So wird der Singular als eine generelle Klasse
interpretiert, von der der Plural ableitbar ist. Die Theorie der Tiefenkaus hilft
syntaktische und logisch-semantische Bedeutungen der Substantive
unterscheiden. Die Determiniertheit /Indeterminiertheit charakterisiert,
systematisch gesehen, die Zusammenwirkung der Substantive und der Verben.
Als Sonderfall wird sie im Deutschen als Kategorie der Bestimmtheit-
Unbestimmtheit im System des Artikels realisiert. Dadurch werden die Thema-
und Rhemagliederung sowie Definitheit / Indefinitheit kodiert. Zum Teil
realisiert sich Definitheit / Indefinitheit auch im Kasussystem.
Das Sprachsystem lässt viele Sonderfälle zu. Sie sind oft entweder durch
Wechselwirkung mit anderen Sprachen zu erklären oder durch Absonderung
von bestimmten semantischen Gruppen innerhalb einer Kategorie. Im ersten
Fall sprechen wir beispielsweise von griechischen und lateinischen
Pluralsuffixen; im zweiten Fall geht es um die Deklination der Eigennamen.
236
Aufgaben
Aufgabe 1.
Charakterisieren Sie die Ergänzungen und Angaben des Verbs aus der Perspektive der
Tiefenkasus in den Sätzen:
Solche Geschichten erzählte der alte Baldini und trank Wein dazu und bekam vom
Wein und von der Feuerglut und von der Begeisterung über seine eignen Geschichten
ganz feuerrote Bäckchen. Grenouille aber, der etwas mehr im Schatten saß, hörte gar
nicht zu. Ihn interessierten keine alten Geschichten, ihn interessierte ausschließlich
der neue Vorgang. Er starrte unausgesetzt auf das Röhrchen am Kopf des Alambics,
aus dem in dünnem Strahl das Destillat rann (P. Süskind. Das Parfum).
Aufgabe 2.
Charakterisieren Sie die semantischen Rollen der Ergänzungen in den angeführten
Sätzen:
1. Ich beschloss, eine Pistole abzufeuern (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 2. Die
Frau ist kein Stahlmöbel; sie ist eine Blume – sie verlangt keine Sachlichkeit; sie
verlangt die heitere Schmonzessonne (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 3. Ich
glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt mit den
Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen (Max Frisch. Homo faber). 4. Ich hatte
mich sogar ausnahmsweise vor Maries Spiegel mit ihrem Kamm gekämmt, trug
meine graue, saubere, ganz normale Jacke, und mein Bartwuchs war nie so stark,
dass ein Tag ohne Rasur mich zu einer „unglaublichen“ Erscheinung hätte machen
können (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Aufgabe 3.
Bestimmen Sie, welche Funktionen der bestimmte / unbestimmte Artikel in folgenden
Textabschnitt hat:
Als der Wagen hielt, brummte der Motor noch eine Weile; draußen wurde irgendwo
ein großes Tor aufgerissen. Licht fiel durch das zertrümmerte Fenster in das Innere
237
des Wagens, und ich sah jetzt, dass auch die Glühbirne oben an der Decke zerfetzt
war; nur ihr Gewinde stak noch in der Schrauböffnung, ein paar flimmernde
Drähtchen mit Glasresten. Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen
schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“ – „Verflucht“, rief der
Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“ (H. Böll. Wanderer, kommst du
nah Spa…).
Aufgabe 4.
Charakterisieren Sie Substantive aus unterschiedlichen Sprecherperspektiven im
Rahmen der Konzeption von E. Leiss: Macht, Erfahrung, Hunger, Salz, Butter, Haus,
Wohnung, Tropfen, Vertrauen.
Aufgabe 5.
Erklären Sie die Verwendung des Artikels aus zwei Perspektiven: (a) Thema- und
Rhemagliederung und (b) Definitheit und Indefinitheit:
1. Die Kuchen sahen prächtig aus: Makronen und Buttercreme-Schnitten,
Hefekringel und Nußecken, die von Öl glänzten (H. Böll. Auch Kinder sind
Zivilisten). 2. Es solle unter anderem um die Themenkomplexe Öl, Waffen und
Konzerne wie Google gehen (Zeit Online. 4.10.2016). 3. Der Konzern hält bereits
seit 60 Jahren die Produktionsmenge in der Lagerstätte im niedersächsischen
Emlichheim konstant. Zunächst förderte Wintershall das Öl mit konventioneller
Pumptechnik (Fokus Online. 2016). 4. Vier bis sechs Liter Blut pulsieren durch den
Körper eines erwachsenen Menschen (Planet Wissen). 5. Der ganze Boden unseres
Loches bedeckte sich mit Blut, die lehmige Erde sog schlecht, und das Blut erreichte
den Fleck, wo ich neben der leeren Flasche kniete (H. Böll. Wiedersehen in der
Allee).
238
Interkultureller Vergleich
Bestimmte Differenzen gehen die Kategorien des Substantivs in der deutschen und
russischen Germanistik an. Das betrifft folgende Aspekte:
(1) Die Interpretation der Kategorie der Bestimmtheit / Unbestimmtheit. Nicht alle
Sprachforscher in der deutschen Germanistik teilen die Ansicht, dass der
unbestimmte Artikel überhaupt zu Artikeln gehört, vgl. (H. Vater). In der russischen
Germanistik wird das überhaupt nicht diskutiert – der unbestimmte Artikel ist
eindeutig ein Artikel.
(2) Die Termini Bestimmtheit / Unbestimmtheit werden in der russischen Germanistik
verwendet. Für die deutsche Germanistik ist der Gebrauch der Termini Definitheit /
Indefinitheit und Determiniertheit/ Indeterminiertheit charakteristisch. Die
Determiniertheit / Indeterminiertheit wird als eine übereinzelsprachliche Kategorie
interpretiert, die in Aspektsprachen ihren Ausdruck in der Kategorie des Aspekts
findet, in den Artikelsprachen in der Kategorie des Artikels (E. Leiss).
(3) Die Hauptfunktion des unbestimmten und des bestimmten Artikels wird von
russischen und deutschen Sprachforschern unterschiedlich interpretiert. O.I.
Moskalskaja spricht von drei möglichen Beziehungen zwischen den Bedeutungen
„bestimmt / unbestimmt“ und dem kommunikativen Wert des Substantivs. E. Leiss
behandelt den Artikel im Deutschen in einem Zusammenhang mit der Kategorie des
Aspekts. H. Vater ist der Ansicht, dass der unbestimmte Artikel eine bestimmte
Quantität bezeichnet, während der bestimmte Artikel als Definitheitsmarker auftritt.
(4) Nicht alle Sprachforscher interpretieren gleich die Kategorie des Genus. So ist
O.I. Moskalskaja der Ansicht, dass das Genus ein lexikalisch-grammatisches
Merkmal der Substantive und keine Kategorie ist. B.A. Abramow meint, dass sich
das Neutrum am System der Oppositionen nicht beteiligt. Anders ist die Meinung der
deutschen Germanisten: Das Neutrum beteiligt sich an zwei Oppositionen: Die erste
Opposition basiert auf der Korrelation mit dem natürlichen Geschlecht und die zweite
auf der Kodierung des Femininums.
(5) Wesentliche Unterschiede gibt es in der Auseinanderhaltung der
239
DAS ADJEKTIV
Allgemeines
Adjektive als Wortart haben eine verallgemeinerte Bedeutung der Eigenschaft oder
des Merkmals und heißen auf Deutsch ‘Eigenschaftswörter‘. Nach O.I. Moskalskaja
ist das Adjektiv nach Substantiv und Verb die drittgrößte Wortart (Moskalskaja 2004:
202). Syntaktisch können Adjektive attributiv und prädikativ verwendet werden, z.B.
der große Junge und Der Junge ist groß. In attributiver Verwendung stehen Adjektive
vor dem Substantiv, das sie näher bestimmen, z.B. eine schöne Blume. Die Position
nach dem Bezugsnomen ist auch möglich, z.B. in der Poesie:
240
Ferner schaff’ ich noch Schmuck, den mannigfaltigsten (J.W. Goethe). Ach! die
Gattin ists, die teure (F. Schiller); in Werbungen, Inseraten und Kleinanzeigen,
vgl.: Verkaufe Wohnwagen, groß, sofort einsatzbereit (Werbung, Anzeige,
Inserat); schönes Haus, komplett renoviert (Anzeige); Mehrere Mitarbeiter,
sprachkundig und schreibgewandt, werden gesucht (Anzeige); Clausthaler
alkoholfrei (Biermarke); Forelle blau; Kaffee verkehrt Whysky pur; Pfannkuchen
böhmisch (Gerichte auf Speisekarte); Taxis bald teuerer (Zeitungsüberschrift);
eine Sendung live (Fernsehen); Sport aktuell, Leidenschaft pur etc. (Universität
Zürich: Deutsches Seminar, Prof. Dr. Chr. Dürscheid).
Die Kleine mit den roten Haaren hat es gewonnen (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon).
Adjektive haben zwei bzw. drei morphologische Formen: Zwei volle (eine
pronominale und eine nominale), die dekliniert werden, und eine Kurzform, die
unveränderlich bleibt. Volle Formen sind morphologisch durch Steigerungsstufen,
Geschlecht, Kasus und Zahl geprägt, doch diese Kategorien sind bei ihnen nicht
selbständig, sondern hängen von dem Substantiv ab, das sie näher bestimmen.
Syntaktisch sind sie in der Regel Attribute. Kurzformen treten im Bestand des
nominalen Prädikats als Prädikative auf, z.B.: Das Gebäude ist imposant. Es wird
allmählich dunkel. Früher konnten auch die Kurzformen als Attribute auftreten;
heutzutage finden wir nur selten Reste dieses Gebrauchs. Es sind gewöhnlich
stehende Wendungen: Rot Front; auf gut Glück. Die Kurzformen des Adjektivs
können als nachgestellte abgesonderte Attribute beobachtet werden, z.B.: Ein Junge,
stark und brav = ein starker und braver Junge.
Die Adverbien fallen im heutigen Deutsch mit den Kurzformen der Adjektive
zusammen: Gut bedeutet sowohl хороший als auch хорошо; schnell bedeutet sowohl
быстрый als auch быстро und a.m.
Doch bleiben Adverbien eine selbständige Wortart, denn sie haben eine eigene
241
Strukturell-semantische Klassen
179), (Trost 2006: 12-14) u.a.m. Relative Adjektive sind steigerungsunfähig (z.B.
landwirtschaftlich, menschlich), qualitative Adjektive sind steigerungsfähig (z.B.
groß). Der Terminus „relativ“ verweist also auf die Steigerungsunfähigkeit, der
Terminus „qualitativ“ dagegen auf die Steigerungsfähigkeit. O.I. Moskalskaja
bezeichnet relative Adjektive mit dem Terminus beziehungsverweisende Adjektive
(nach O. Moskalskaja 2004: 204-205).
Auch G. Helbig und J. Buscha teilen alle Adjektive in qualitative und relative
Adjektive ein. Die qualitativen Adjektive drücken die Merkmale (Eigenschaften)
eines Objekts der Realität direkt durch die eigentliche Bedeutung aus. Sehr viele von
ihnen sind Wurzelwörter, z.B. groß, klug, böse, schlecht, fest, gesund, kurz usw. Die
relativen Adjektive drücken das Merkmal eines Objekts der Realität durch dessen
Beziehung auf andere Objekte bzw. Realitätsfaktoren wie Raum, Zeit u.a. aus, z.B.
die väterliche Wohnung (= die Wohnung des Vaters), der bulgarische Wein (= der
Wein aus Bulgarien), der orthographische Fehler (=der Fehler auf dem Gebiet der
Orthographie) (Helbig & Buscha 2005: 281).
O. Behaghel bezeichnet solche Adjektive als relativ, die für sich keinen vollständigen
Sinn ergeben und deshalb syntaktisch weitere Ergänzungen fordern, z.B. gleich, wert
oder ähnlich, vgl.: (1)* Er ist ähnlich und (2) Er ist seinem Vater ähnlich (Behaghel
1923: 144, nach Hentschel & Weydt 1994: 179). W.G. Admoni (Admoni 1986: 145)
nennt sie „syntaktisch-relative Adjektive“, denn sie sind ergänzungsbedürftig.
Ein anderes Merkmal der relativen Adjektive ist, dass sie meistens abgeleitete Wörter
sind, ihre Grundmorpheme sind nicht adjektivisch, sondern anderen Wortarten
entnommen. Das sind „etymologisch-relative Adjektive“ (Admoni 1986: 146), vgl.:
Eine medizinische Anstalt, eine landwirtschaftliche Ausstellung. Eine besondere
Gruppe bilden hier sogenannte Stoffadjektive: Golden, hölzern, eisern; sie
bezeichnen den Stoff, aus welchem etwas gemacht ist: Die goldene Kette, der
hölzerne Tisch, das eiserne Gitter. In diesem Sinne bezeichnen sie unmittelbar die
Eigenschaft des Gegenstandes, den sie näher bestimmen.
Die relativen Adjektive unterscheiden sich von den qualitativen dadurch, dass sie in
244
der Regel keine Steigerungsstufen bilden. Die qualitativen Adjektive lassen sich
komparieren: Lang – länger – am längsten, kurz – kürzer – am kürzesten. Diese
Eigenschaften können in verschiedenem Grade vorhanden sein. Die relativen
Adjektive unterscheiden keine Komparationsstufen: Gegenseitig, heilbar, stimmhaft,
silbern.
Wenn aber ein relatives Adjektiv im übertragenen Sinne gebraucht ist, so kann es
qualitativ werden und manchmal in Komparationsstufen auftreten: Der eisernste
Wille, katholischer als der Papst.
Die drei Formen des Adjektivs sind die Kurzform, die starke oder pronominale Form
und die schwache oder nominale Form. Die syntaktischen Funktionen sind in der
Gegenwartssprache vorwiegend nach diesen Formen differenziert.
Die Kurzform tritt als Prädikativ, oder prädikatives Attribut auf. Prädikativ
verwendete Adjektive bilden zusammen mit einem Kopulaverb das nominale
Prädikat, z.B. Die Rose ist schön. Die Versammlung wurde langweilig. Der Junge
schien lustig. In der Regel werden Adjektive in prädikativer Funktion nicht
dekliniert. Aber in seltenen Fällen können auch die flektierten Formen als Prädikative
auftreten. Meistens sind es Adjektive im Superlativ: Diese Arbeit ist die beste sowie
im Komparativ: Diese Arbeit ist eine bessere.
Die Kurzformen treten in der Gegenwartssprache auch als prädikative Attribute auf.
Dabei charakterisieren sie zugleich sowohl das Prädikat als auch das Subjekt (a) oder
das Objekt (b):
(a) Er kam lustig nach Hause. Mariquita saß still und traurig während dieser
Verhandlungen da (DECOW 14A).
(verselbständigte Attribute nach W.G. Admoni (Admoni 1986: 144) auftreten, wenn
sie nachgestellt sind, z.B.: Dann schießt eine Rauchwolke empor, hoch und steil (Zeit
Online. 27.10. 2016).
Hin und wieder kann die Kurzform als vorgestelltes Attribut erscheinen, manchmal
vor Personennamen: Klein Lieschen, jung Siegfried, klein Roland. Fast in allen diesen
Fällen ist ein alter Gebrauch, wie beispielsweise in Sprichwörtern (a). In der Poesie
können solche Formen als Archaismen absichtlich gebraucht werden (b):
(a) Lieb Kind hat viele Namen. Ein gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Gut
Ding will Weile haben.
Die beiden flektierten Formen, die starke und die schwache, werden in der Regel in
attributiver Funktion verwendet. Die attributive Verwendung der Adjektive kommt
häufig vor – in diesem Fall charakterisieren sie näher die Substantive, von denen sie
abhängig sind. In attributiver Funktion kongruieren Adjektive mit Substantiven in der
Zahl, in dem Geschlecht und in dem Kasus, z.B. das schöne Haus, ein großes Buch
usw., sie treten als unselbständige Attribute auf.
Prädikativ verwendete Adjektive bilden zusammen mit dem Kopulaverb sein das
Prädikat, z.B.: Die Rose ist schön. In der Regel werden Adjektive in prädikativer
Funktion nicht dekliniert, obwohl es nicht ausgeschlossen ist:
Man kann auch von der Valenz der Adjektive sprechen. Der Valenz nach
unterscheidet die Duden-Grammatik folgende Adjektive: (1) Adjektive ohne
Ergänzungen; (2) Adjektive mit einer Ergänzung, z.B. j-m behilflich sein, j-m ähnlich
246
sein und (3) Adjektive mit zwei Ergänzungen, z.B. j-m in etwas überlegen sein, j-m
in etwas gleich sein (Duden 1998: 267).
K. Welke zeigt, dass nicht nur prädikativ verwendete Adjektive über die
Valenzeigenschaften verfügen. Auch Adjektive in attributiver Verwendung haben
Valenz, z.B.:
Der auf seine Leistung stolze Emil / der über den Verlust traurige Emil.
Als Valenzträger treten dabei die Adjektive stolz und traurig auf. Die Leerstellen
werden von Bezugssubstantiven besetzt (Welke 2011: 107).
Als Ergänzungen können Substantive im Genitiv, Dativ und Akkusativ auftreten, vgl.:
ist die viele Arbeit satt (Akkusativ) (Belege von Zifonun in: Zifonun et al. 1997:
48).
M.D. Stepanowa und G. Helbig schlagen folgende Einteilung von Adjektiven der
Valenz nach vor:
1) obligatorisch nullwertige, fakultativ einwertige Adjektive, z.B. kalt, bedeckt,
finster, dunkel usw.;
2) obligatorisch einwertige Adjektive (wißbegierig, charakterfest, schwindlig…);
3) obliatorisch einwertige, fakultativ zweiwertige Adjektive (liebenswürdig,
interessiert, bange…);
4) obligatorisch einwertige, fakultativ dreiwertige Adjektive (dankbar,
einverstanden…);
5) obligatorisch zweiwertige Adjektive (ähnlich, abträglich, vereinbar…);
6) obligatorisch zweiwertige, fakultativ dreiwertige Adjektive (behilflich, wert,
einig…);
7) obligatorisch dreiwertige Adjektive (schuldig…) (Степанова, Хельбиг 1978: 201).
Wird das Adjektiv als Attribut verwendet, tritt das Substantiv als Valenzträger auf,
247
vgl.: die grelle Sonne. Tritt das Adjektiv als Prädikativ auf, tritt es als Valenzträger
auf, z.B. Die Sonne ist grell (Степанова, Хельбиг 1978: 208).
Deklination der Adjektive und ihre Wahl nach dem Prinzip der
Monoflexion
Das deutsche Adjektiv hat keine feste Deklination. Die meisten Adjektive der
Sprache können sowohl in der Kurzform als auch in der pronominalen oder
nominalen Form auftreten. Es gibt nur wenige Ausnahmen, in denen die flektierten
Formen möglich sind, die Kurzformen aber unmöglich (a) und umgekehrt (b):
hatte einen pronominalen Ursprung, wie in manchen anderen Sprachen, z.B. im Russischen. Sie hat
sich durch das Eindringen der Pronominalendungen in die adjektivische Deklination entwickelt.
Das war ein semantischer Unterschied zwischen Klassenzuordnung und Individualisierung.
Schwach wurden Adjektive dekliniert, wenn sie ständige Merkmale des Substantivs ausdrückten,
ahd. guot man oder guoter man (beides stark) bedeutete „irgendein guter Mann“, während „guoto
man“ (schwach) einen von allen „gut“ genannten Mann, der allen bekannt war. Die schwachen
Formen verbanden sich häufig mit dem Demonstrativpronomen der, dem späteren bestimmten
Artikel, vgl.: der guoto man; man der guoto. Aber diese Verbindung war nicht obligatorisch. Die
Komparativ- und Superlativformen wurden immer schwach dekliniert, unabhängig vom Gebrauch
des Artikels.
Die heutigen Regeln der Deklinationswahl sind das Produkt einer langen
Entwicklung. Ihre Anfänge fallen in die mittelhochdeutsche Periode, aber zur vollen
Entwicklung kommen sie erst während der neuhochdeutschen Zeit. Die Entwicklung
nahm also sieben Jahrhunderte in Anspruch.
Am Anfang der nhd. Periode konnten die Adjektive in der flektierten Form zwei
Systeme von Endungen haben: ein pronominales und ein nominales. Die
pronominalen Endungen sind für die meisten Pronomina typisch, insbesondere für die
Demonstrativpronomen, auch für den bestimmten Artikel. Diese Endungen scheidet
man am besten aus, wenn man die Deklination des Pronomens dieser nimmt und die
Wurzel trennt: dies-er. Diese Endungen sind auch die Endungen starker Adjektive am
Anfang der nhd. Periode. Vgl. Sie folgende Tabelle:
Singular Plural
Kasus Maskulinum Neutrum Femininum Alle Geschlechter
Nominativ -er -es -e -e
Genitiv -es -es -er -er
Dativ -em -em -er -en
Akkusativ -en -es -e -e
Tabelle 16. Endungen starker Adjektive am Anfang der nhd. Periode
Die schwache Deklination hatte die Endungen der schwachen Substantive, die im
Mhd. noch in allen drei Geschlechtern vorkamen. Vgl.:
Singular Plural
Kasus Maskulinum Neutrum Femininum Alle Geschlechter
Nominativ -e -e -e -en
Genitiv -en -en -en -en
249
Wenn dagegen vor dem Adjektiv kein Wort mit der typischen Pronominalendung
steht, so muss das Adjektiv diese Pronominalendung bekommen und es wird stark
250
dekliniert. Die starken Endungen erhalten die Adjektive, wenn das regierende
Substantiv ohne Artikel steht (in allen Kasus) oder nach dem unbestimmten Artikel,
nach dem Pronomen kein und dem Possessivpronomen im Nominativ und Akkusativ,
vgl.:
Lieber Vater!
Kaltes Wasser
Roter Wein
der Roman
das neue Buch
die Erzählung
Des kleinen Kindes, aber: mit gutem Willen, mit einem kleinen Kind(e).
Die Tendenz zur Monoflexion wurde im Laufe der Zeit immer stärker. Das
Paradigma der starken Endungen hat sich während der nhd. Periode verändert. Die
starken Endungen sind aus dem Genitiv Singular des Maskulinums und Neutrums
verschwunden. Noch im 18. Jahrhundert sagte man gutes Mutes, schnelles Laufes,
männliches Geschlechts. Am Ende des 18. Jahrhunderts dringt in solche Gruppen die
schwache Endung -en ein. Jetzt ist nur die schwache Endung möglich:
Guten Willens
Männlichen Geschlechts
Fremden Ursprungs.
Die Tendenz zur Monoflexion ist so stark geworden, dass sie auch auf die
Deklination einiger Pronomen zu wirken beginnt. Es geschieht wiederum im Genitiv
des Maskulinums und Neutrums, wo das starke Substantiv schon die Endung -(e)s
hat. Allgemein gebräuchlich sind jetzt solche Wendungen wie
Welchen Geschlechts
Welchen Ursprungs
Solchen Ursprungs
Nach der Ansicht von W.G. Admoni dient die Monoflexion einer straffen
Organisierung der Substantivgruppe. Ein einmaliger grammatischer Ausdruck einer
grammatischen Kategorie ist überhaupt für die deutsche Gegenwartssprache typisch.
N.A. Bulach hat beispielsweise das Prinzip der Mononegation formuliert. In einem
Negativsatz gebraucht man im Deutschen nur eine Negation, die bei einem anderen
Satzglied stehen und das Prädikat negativ machen kann (Булах 1962: 21-86), vgl.:
mehrere Jahrhunderte. Zuerst regelte sich die Wahl der Deklination des Adjektivs im
Singular, wo es heutzutage keine Schwankungen mehr gibt. Anders ist es im Plural,
wo die Schwankungen bis jetzt bestehen. Sie betreffen die Deklination der Adjektive
nach den Pronomen solche, welche, manche und nach unbestimmten Zahlwörtern und
unbestimmten Pronomen wie alle viele, sämtliche, mehrere, beide, andere, etliche,
wenige u.a. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Wörter eine adjektivische Natur
haben und in der Substantivgruppe mit anderen Adjektiven als gleichartige Attribute
betrachtet werden können. Doch haben sich in der Gegenwartssprache mitten in
diesen Schwankungen bestimmte Tendenzen geäußert. Heutzutage ist die Deklination
der Adjektive (und Partizipien) nach dem Pronomen alle ganz fest schwach
geworden:
Nach den Pronomen solche, manche, welche wird in der Regel die schwache
Deklination der Adjektive gebraucht:
Nach den unbestimmten Wörtern viele, wenige, gewisse, mehrere, einige, etliche,
andere tritt jetzt in der Regel die starke Deklination auf, auch im Genitiv, vgl.:
Die Deklination des zweiten Adjektivs kann schwanken, d.h. solche Varianten wie an
schönem langem Wochenende sowie an schönem langen Wochenende sind möglich.
Deklination der substantivierten Adjektive
Die Substantivierung des Adjektivs ist eine verbreitete Erscheinung. Wenn das
substantivierte Adjektiv eine Person bezeichnet, so tritt es als Maskulinum oder
Femininum auf, je nach dem natürlichen Geschlecht, vgl.: der Kranke, die Kranke;
der Alte, die Alte. Wenn das substantivierte Adjektiv ein Abstraktum ist, so ist es ein
Neutrum: Das Gute, das Ganze, das Äußere.
Die substantivierten Adjektive haben dieselben Regeln der Deklination wie
attributive Adjektive, also stark oder schwach. Oft entsteht die Frage, nach welcher
Art das substantivierte Adjektiv dekliniert werden muss, wenn ein attributives
Adjektiv davor steht. In diesem Fall werden beide Adjektive auf die gleiche Weise
dekliniert: mein guter Bekannter, der kranke Alte. Schwankungen gibt es nur beim
Neutrum, und zwar bei der starken Deklination: ein schönes Äußere(s), ein
geschlossenes Ganze(s).
der Positiv (z.B. Moskalskaja 1983). Unter dem Positiv versteht man die gewöhnliche
Form des qualitativen Adjektivs, bei der der Grad der Eigenschaft nicht betont wird.
Also ist der Positiv die Ausgangsform des Adjektivs, aber keine Komparationsstufe.
Die relativen Adjektive haben keine Komparationsstufen. Auch einige qualitative
Adjektive können nicht kompariert werden. Sie drücken meist Zustände aus oder sie
bezeichnen eine absolute Eigenschaft. Keine Komparationsstufen bilden auch
Adjektive, die die Form ausdrücken, und solche Adjektive wie ganz und halb. Vgl.:
Taub, stumm, blind, tot, verheiratet, ledig; viereckig, kugelförmig.
Einige Grammatiker nennen auch die Bezeichnungen der Farben in diesem
Zusammenhang. Aber die Farbe kann mehr oder weniger intensiv sein, z.B.: Weißer
als der Schnee, gelber im Gesicht.
U. Egel (1994) unterscheidet zwischen der relativen und der absoluten
Komparation. Relative Komparation setzt entweder ein Vergleichskonstrukt voraus,
z.B. so schön wie in Bamberg (Positiv), schöner als in Bamberg (Komparativ), das
Schönste hier (Superativ). Absolute Komparation umfasst ebenfalls ein dreigliedriges
Paradigma: Die neue Theorie, zwei ältere Herren, mit besten Empfehlungen. Die
absolute Komparation setzt kein Vergleichskonstrukt voraus – sie bezeichnet eine
Orientierung auf eine Erwartungsrichtung. So nennt z.B. der Komparativ „einen
Punkt oder ein Feld, das entgegen der Erwartungsrichtung vom semantischen
Schwerpunkt abliegt“, z.B. das ältere Haus ist noch nicht so alt wie das alte Haus,
der jüngere Mann ist zwar nicht mehr ganz jung, aber er hat das Schwabenalter nicht
überschritten (Engel 1994: 73). Den Superlativ, der die Eigenschaft mit einer solchen
anderer Objekte nicht vergleicht, nennt man auch Elativ, z.B. mit besten Grüßen,
teuerster Freund. Solche Ausdrücke werden ohne Vergleichskonstrukt verwendet.
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Der Komparativ wird mit Hilfe des Suffixes -er gebildet und der Superlativ mit Hilfe
des Suffixes -(e)st. Dabei erhalten sehr viele umlautfähige Vokale den Umlaut. Ohne
Umlaut bleibt der Diphthong au. Vgl.:
Das Suffix -er behält immer das -e, aber die Adjektive auf -el verlieren in der
Endsilbe das -e:
Im Superlativ haben die Adjektive auf Dentalkonsonanten und Zischlaute das Suffix
-est: Der härteste, der kürzeste, der frischeste.
Die Komparationsstufen treten in Kurformen und in flektierten Formen auf. Die
Kurzform des Komparativs hat nur das Suffix –er und keine Endungen:
Der Superlativ hat die Partikel am, die historisch aus an dem entstanden ist, aber jetzt
nicht mehr ausgeteilt werden kann. Das ist eigentlich eine erstarrte flektierte Form im
Dativ mit einer Präposition. Man kann sagen, dass diese Form des Superlativs auf
eine analytische Weise gebildet ist, wobei das Adjektiv selbst die schwache Endung
-en hat:
Die flektierten Formen können wie im Positiv stark und schwach sein und werden
nach denselben Regeln dekliniert:
Einige Adjektive haben suppletive Formen bei der Komparation und einige andere
Unregelmäßigkeiten. Suppletiv ist eigentlich nur das Adjektiv gut. Gut ist eine sehr
abstrakte Eigenschaft, darum lässt sich der Grad dieser Eigenschaft sehr schwer
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bestimmen. Der höhere Grad dieser Eigenschaft wurde durch ein ganz anderes Wort
bezeichnet. Zuerst hatte dieses Wort gar kein Suffix, erst später fügte man das
Komparativsuffix dazu, vgl.:
baƷ→beƷiro →besser.
Der Komparativ
Wie oben angedeutet, wird der Komparativ in der Regel beim Vergleich der
Eigenschaft zweier Gegenstände gebraucht oder eines Gegenstandes zu
verschiedenen Momenten. Aber außerdem gibt es Fälle, wo der Komparativ ohne
Vergleich gebraucht wird, er tritt dann absolut auf. Dieser Gebrauch nähert sich dem
Elativ, weil der Komparativ dabei nicht steigernde, sondern abschwächende
Bedeutung hat, vgl.:
Ein älterer Mann = ‚ein Mann, der noch nicht alt, aber nicht mehr jung ist‘
Eine größere Stadt = ‚eine ziemlich große Stadt‘ (z.B. Samara ist eine Großstadt,
Novokyuibyschewsk ist eine größere Stadt).
Der Superlativ
Der Superlativ zeigt, dass die Eigenschaft einem Gegenstand im höchsten Maße
eigen ist. Es kann beim Vergleich mehrerer Gegenstände geschehen, es müssen
mindestens 3 Gegenstände verglichen werden. Beim prädikativen Gebrauch kann der
Superlativ mit der Partikel am stehen. Vgl.:
Klaus ist in der Klasse der größte. Klaus ist in der Klasse am größten.
Aber es gibt Fälle, wo der Superlativ einfach einen hohen Grad der Eigenschaft ohne
jeden Vergleich, das heißt absolut, bezeichnet. Solchen Gebrauch nennt man Elativ,
z.B.:
Fazit
Adjektive drücken Eigenschaften aus. Sie treten in drei Formen auf: Einer
Kurzform und zwei flektierten Formen, einer pronominalen und einer
nominalen.
Syntaktisch sind die Kurzformen meistens Prädikative und flektierte Formen
treten meist als Attribute auf.
Aus semantischer Sicht teilt man Adjektive in qualitative (absolute) und relative
ein. Die qualitativen Adjektive sind typischer, sie bilden das Zentrum des
adjektivischen Feldes, die relativen Adjektive gehören zur Peripherie.
Adjektive können ergänzungsbedürftig sein, das heißt, sie verfügen über
Valenz. Die Ergänzungen können bei relativen Adjektiven obligatorisch sein,
bei qualitativen Adjektiven sind sie fakultativ.
Das Adjektiv als Wortart wird durch die Kategorie der Komparation
charakterisiert. Die Kategorien des Geschlechts, der Zahl, und des Kasus sind
bei dem Adjektiv nicht selbständig, sie hängen von dem regierenden Substantiv
ab. Die Komparation der Adjektive kann relativ und absolut sein.
Die Deklination der attributiven Adjektive ist variabel: Ein und dasselbe
Adjektiv kann eine starke (pronominale) oder eine schwache (nominale) Form
haben. Die Formenwahl wird nach dem Prinzip der Monoflexion geregelt.
Monoflexion heißt die einmalig gebrauchte typische Endung in der
Substantivgruppe.
DAS ADVERB
Das Wort Adverb stammt aus dem lateinischen ad verbum und bedeutet „zum Verb /
Wort“. Adverbien bezeichnen die Umstände, unter denen sich die Handlung vollzieht.
Morphologisch sind sie dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht flektierbar sind,
ziemlich viele Adverbien lassen sich komparieren. Syntaktisch gehören die
Adverbien in die Gruppe des Verbs und dadurch unterscheiden sie sich von den
Kurzformen der Adjektive, die in den Bereich des Substantivs gehören.
Die Adverbien als Wortklasse sind nicht einheitlich. Man kann sie der Bedeutung und
der Wortbildung nach in mehrere Gruppen einteilen. W.G. Admoni (Admoni 1986:
207-208) unterscheidet beispielsweise adjektivische (qualitative), denominale, alte
Lokaladverbien und Pronominaladverbien. Qualitative Adverbien haben ein
gemeinsames Grundmorphem mit entsprechenden Adjektiven und fallen mit ihrer
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Kurzform zusammen. Sie bezeichnen die Qualität einer Handlung, eines Prozesses
oder eines Zustandes. Die Qualität kann in einem bestimmten Grade vorhanden sein,
deshalb können sie kompariert werden. Syntaktisch sind sie Adverbialbestimmungen
der Art und Weise. Vgl.:
Denominale Adverbien sind von den Nomen gebildet, sie sind meistens erstarrte
Kasusformen auf -s: morgens, abends, sonntags, montags. Einen nominalen
Ursprung hat auch das Adverb heute, das auf hiu tagu (an diesem Tage) zurückgeht,
in der Gegenwartssprache aber nicht mehr zerlegt werden kann. Zu dieser Klasse
gehören auch zusammengesetzte Adverbien, die eine nominale Wurzel und eine
adverbiale Komponente haben: stoßweise, gruppenweise, probeweise.
Denominale Adverbien sind völlig unveränderlich. Syntaktisch sind sie
Adverbialbestimmungen der Zeit, des Ortes, der Art und Weise.
Die Gruppe der alten Lokal- und Pronominaladverbien ist sehr umfangreich. Sie
umfasst solche Adverbien, die aus heutiger Sicht aus einem Morphem bestehen:
Darin, daraus, dabei – worin, woraus, wobei – hierin, hieraus, hierbei; herein,
hinein, dahin – wohin, daher – woher, darauf – worauf und viele andere (vgl.
260
Die Eigenart der deutschen Sprache besteht darin, dass die qualitativen Adverbien
heutzutage mit der Kurzform der Adjektive zusammenfallen, so dass die Kurzform in
deutschen Grammatiken als ‚charakterisierendes Beiwort‘ betrachtet wird, wobei die
Adjektive und Adverbien nicht getrennt werden (Erben 1966: 143). In der russischen
Germanistik werden Kurzformen der Adjektive und Adverbien als selbständige
Wortarten betrachtet. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass diese Wortarten
verschiedene syntaktische Projektionen haben. Wenn sie kontextfrei genommen sind,
so entstehen bei Adjektiven Projektionen auf Substantive und bei Adverbien
Projektionen auf Verben, vgl.:
DAS PRONOMEN
GRUNDLAGEN
Das Wort „Pronomen“ stammt aus dem Lateinischen (pro „für“ + nomen „Nomen“)
und bedeutet „Fürwort“. Die Pronomina verweisen auf Objekte oder Eigenschaften,
ohne sie zu nennen. Traditionell unterscheidet man folgende Gruppen der Pronomina:
(1) Personalpronomen: Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie, Sie. Manche Autoren zählen zu
dieser Gruppe auch das Reflexivpronomen sich und das Reziprokpronomen einander
(Moskalskaja 2004: 210).
263
(2) Interrogativpronomen: Wer, was, was für, welche, welches, welcher. Sie werden
gewöhnlich in Fragesätzen verwendet.
(3) Demonstrativpronomen: Dieser, diese, dieses, die, der, das, derjenige (diejenige,
dasjenige), solch / solcher, dieser, jener.
(4) Indefinitpronomen: Jemand, jeder, jedermann, einer, etwas, jeglicher, gewisser.
Zu dieser Gruppe zählt O.I. Moskalskaja auch negative Pronomen niemand, nichts,
da sie sich Indefinitpronomen anschließen, vgl.: Jemand – niemand, einer – keiner,
etwas – nichts (Moskalskaja 2004: 210). Auch E. Hentschel und H. Weydt betrachten
Pronomina mit der Semantik der Negation als besondere Gruppe der
Indefinitpronomina (Hentschel & Weydt 1994: 228).
(5) Possessivpronomen: Mein, dein, sein, ihr, unser, euer, ihr, Ihr.
(6) Relativpronomen: Der, die, das, welcher, wer, was.
(7) Das unbestimmt-persönliche Pronomen man.
(8) Das unpersönliche Pronomen es.
Semantische Mannigfaltigkeit macht die Beschreibung der Pronomina als eine
Wortart problematisch. Die Pronomen werden verschieden dekliniert und haben
unterschiedliche syntaktische Funktionen. Personalpronomen und die meisten
Indefinitpronomen sowie das Negativpronomen nichts treten im Satz als Subjekte
oder Objekte auf. Die Demonstrativ- und Possessivpronomen und das
Negativpronomen kein sind in der Regel Attribute. Die Funktionen der
Interrogativpronomen verteilen sich auf substantivische (wer, was) und adjektivische
(welcher) Bereiche. Relativpronomina leiten Nebensätze ein.
Doch es gibt Eigenschaften, die die Pronomen als Wortklasse zusammenhalten. Das
ist ihre verallgemeinerte grammatische Bedeutung: Alle Pronomina sind
Stellvertreter: Personalpronomen und zum Teil Demonstrativ- und Interrogativ- und
Indefinitpronomen vertreten die Substantive, Possessivpronomen und zum Teil
Demonstrativ- und Interrogativpronomen vertreten die Adjektive. Es gibt auch eine
syntaktische Gemeinschaft. J. Erben verallgemeinert diese Gemeinschaft als Bezug
auf Nomen einerseits und als situationsbestimmende Funktion andererseits (Erben
264
1966: 192).
Ein anderes wichtiges Merkmal, das die Pronomina zu einer Klasse verbindet, sind
ihre textverweisenden Funktionen. Pronomina unterscheiden sich von allen anderen
Wortarten dadurch, dass sie phorisch sind. Das bedeutet, dass sie entweder
anaphorisch (d.h., sie haben einen Bezug auf bestimmte Personen, die im Vorkontext
genannt werden) oder kataphorisch sind (d.h., sie verweisen auf Personen, die im
nachfolgenden Kontext genannt werden). Der anaphorische Bezug ist immer
linksgerichtet, der kataphorische dagegen ist rechtsgerichtet. Betrachten wir einige
Textausschnitte, in denen Pronomina anaphorisch und kataphorisch verwendet
werden, vgl.:
(1) Auch die Zukunft konnte nicht Gegenstand dieser Gespräche sein. Sie war
ein schwarzer Tunnel voll spitzer Ecken, an denen wir uns stoßen würden [...] (H.
Böll. Wiedersehen in der Allee) – anaphorische Verwendung des Pronomens sie,
Bezug auf das Substantiv die Zukunft im vorangehenden Satz;
(2) Der Jäger und die SA-Leute führten ein Gespräch über eine Witwe Pfundner.
Sie schien sehr munter zu sein, denn die drei zählten einige ihrer Liebschaften
auf (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon) - anaphorische Verwendung des
Pronomens sie, Bezug auf das Substantiv Witwe im vorangehenden Satz;
(3) Da gehen sie und leben sie – Mr Smith und Ms Smith, Mr Brown und Ms
Brown, Mr Miller und Ms Miller, Menschen, für die es keine Rolle spielt, dass
sein Vater 1912 ein Mädchen aus jüdischer Familie geheiratet hat (R. Crott.
Erzähl es niemandem) - kataphorische Verwendung des Pronomens sie – Bezug
auf die Personennamen im Nachkontext.
einen Referenten außerhalb des Textes“ (ebenda). Wir möchten nicht Referenz und
Deixis auseinanderhalten: Die deiktischen Eigenschaften der Pronomina basieren auf
der Referenz. Personalpronomina haben sowohl einen referentiellen als auch einen
deiktischen Bezug.
Betrachten wir referentielle Eigenschaften am Beispiel der Personalpronomen im
Deutschen. In einigen Fällen kommt es vor, dass die Semantik der Personalpronomen
mit entsprechenden Referenzobjekten nicht übereinstimmt. Das kann man deutlich
am Beispiel des unbestimmt-persönlichen Personalpronomens man beobachten:
Dieses Pronomen kann neben seiner gewöhnlichen unbestimmt-persönlichen
Semantik auch auf ganz bestimmte Personen referieren, und zwar:
1. Auf die 2. Person Singular oder Plural, vgl.:
(4) „Eine solche Nase“ - und er tippte mit dem Finger an die seine „hat man
nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich mit Ausdauer und Fleiß.
Oder könntest du mir vielleicht auf Anhieb die exakte Formel von >Amor und
Psyche< nennen? Nun? Könntest du das?“ (P. Süskind. Das Parfum),
wo das Pronomen man auf den Gesprächspartner referiert. Infolge dessen sollte der
Satz folgenderweise interpretiert werden: „Eine solche Nase hast du nicht, junger
Mann! Eine solche Nase sollst du mit Ausdauer und Fleiß erwerben“.
2. Auf die 1. Person Singular, vgl.:
(5) Ich ging wie ein Nachtwandler weiter. Im zweiten Stock stand eine Tür offen.
Das Zimmer war hellgrün gestrichen, die Fenster standen offen, und das
Zimmermädchen drehte die Matratze des Bettes um. Sonderbar, was man alles
sieht, wenn man glaubt, vor Erregung nichts zu sehen! (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
(6) Mein Kopf brummt und dröhnt in der Gasmaske, er ist nahe am Platzen. Die
Lungen sind angestrengt, sie haben nur immer wieder denselben heißen,
verbrauchten Atem, die Schläfenadern schwellen, man glaubt zu ersticken -
Graues Licht sickert zu uns herein. Wind fegt über den Friedhof (E.M. Remarque.
266
wo das Pronomen man in der Bedeutung der 1. Person Singular auftritt, was die
vorangehenden Sätze deutlich machen.
3. Auf die 3. Person Singular und Plural, vgl.:
(7) Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fähigkeiten und
Eigenheiten besaß, die sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen übernatürlich
waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit und der Nacht
völlig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer Besorgung in den Keller
schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit einer Lampe wagten, oder
hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei stockfinsterer Nacht (P. Süskind. Das
Parfum).
Auch das Personalpronomen wir kann, nach der Beobachtung einiger Sprachforscher,
auf Einzelpersonen, auf soziale, nationale, politische Gruppierungen bis hin zur
gesamten Menschheit verweisen (vgl. Quintin 2007), z.B.:
Anderson: Sagen wir es so: Ich würde niemals versuchen, Jugend zu imitieren
(Zeitmagazin Online. 10.10. 2016),
wo das Pronomen wir nur auf den Sprecher referiert und die Semantik der 1. Person
Singular kodiert.
Das Personalpronomen wir kann auch auf die 1. und 2. Person Singular referieren: So
wird z.B. häufig im Umgang mit Kindern das Pronomen wir in der Bedeutung der 1.
oder in der 2. Person Singular verwendet. Dadurch wird die Anteilnahme geäußert
und die Wichtigkeit einfacher Handlungen hervorgehoben, vgl.:
(9) Ich trug ihn, während die Milch warm wurde, auf den Armen in der Küche
hin und her und sprach mit ihm: „Ei, was kriegt denn unser Jüngelchen, was
geben wir ihm denn – ein Eichen“ und so weiter, schlug dann das Ei auf, schlug
es im Mixer und tat es Gregor in die Milch (H. Böll. Die Ansichten eines
267
Clowns).
(10) Natürlich behandeln wir hier die Punktgruppen deshalb, weil man die
Atome eines Moleküls als Punkte betrachten und so die Punktgruppe eines
Moleküls festlegen kann (P. Paetzold. Chemie: Eine Einführung).
(13) Der war dir besoffen! (Belege vgl. Wegener 2007: 144-146).
In den angeführten Sätzen treten mir und dir nicht in ihrer direkten Bedeutung auf,
d.h. als Pronomen, die auf eine bestimmte Person hinweisen, sondern als
Modalpartikeln, die die Sprechereinstellung kodieren (Wegener 2007).
Die deiktischen Eigenschaften der Demonstrativpronomina äußern sich darin, dass
sie nicht auf ein Objekt außerhalb des Textes, sondern auf eine Stelle in einem Text
verweisen können, vgl.:
(14) An diesem Paragraphen wird am besten deutlich, dass und wie der Ausbau
von 1876 eine Verklammerung der jungen Institution mit ihrer regionalen Basis
über Finanzaspekte hinaus anstrebte (W. Huschke. Zukunft Musik: Eine
Geschichte der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar).
Demonstrativpronomina können nicht nur auf eine Stelle im Text, sondern auch auf
ein Objekt außerhalb des Textes verweisen, worin sich ihr referentieller Bezug äußert,
vgl.:
268
(15) Der Sozialstaat, in den die Soziale Arbeit eingebettet ist, wird in dieser
Arbeit vor allem als Moment staatlicher Regulation betrachtet (Ch. Beckmann.
Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit).
VERTIEFUNG
Das Pronomen es
Es gibt auch Arbeiten, in denen auf einen besonderen Status des Personalpronomens
es hingewiesen wird (vgl. Starke 1996). Eine der Eigenschaften von es sieht M.
Starke darin, dass es nicht koordinierbar ist, z.B.:
(a) [Dieses Buch; *Es] und diese Zeitungen sind sehr schön.
Aber:
(a) Sogar [dieses Buch; *es] ist auf den Boden gefallen.
Aber:
Aber:
Aber:
Basierend auf diesen Beobachtungen sowie auf der Analyse des Systems der
Personalpronomina im Italienischen kommt M. Starke zum Schluss, dass
Personalpronomina im Deutschen in zwei Gruppen eingeteilt werden können: In die
270
Gruppe der starken und in die Gruppe der schwachen Pronomina. Starke Pronomina
können nur auf Personen referieren, während schwache Pronomina auf beliebige
Entitäten referieren können (Starke 1996: 425). Das Personalpronomen es ist also ein
schwaches Pronomen, während andere Personalpronomina stark sind.
Das System von Pronomen vom Standpunkt der Sprecherperspektive hat der
französische Sprachforscher E. Benveniste betrachtet. Er weist vor allem auf den
Unterschied zwischen den ersten zwei Vertretern der Wortklasse, ich und du
einerseits und den folgenden er, sie, es andererseits hin (Benveniste 1956).
Aus der Sicht von Sprecherperspektiven behandelt Personalpronomina auch S. Engel.
Im Zuge der Betrachtung der grammatischen und semantischen Merkmale der
Kategorie Person stützt sie ihre Theorie auch auf die Beobachtungen von E. Leiss
(1992). Wie es schon gezeigt wurde (sieh § Die aktionsartmäßige Einteilung der
deutschen Verben aus der Sicht von Sprecherperspektiven), betrachtet E. Leiss das
Verbalgeschehen aus der Sicht von Sprecherperspektiven. Ein innenperspektivisches
Verbalgeschehen ist teilbar und additiv. Ein außerperspektivisches Verbalgeschehen
ist abgeschlossen und nicht teilbar. Derselbe Zugang eignet sich auch für die
Beschreibung der Substantive. So zeichnen sich z.B. Gegenstände durch Ganzheit
und Konturen aus. Nach E. Leiss verhalten sich Substantive in Bezug auf die
Merkmale Additivität/Nonadditivität und Teilbarkeit/Nichtteilbarkeit gegenläufig zu
den Verben (Leiss 1992: 51). Sie zieht folgende Parallele: Sätze mit der 1. Person
entsprechen einer subjektiven Perspektive, während für Sätze mit der 3. Person eine
objektive Darstellung von Ereignissen typisch ist (Engel 1998: 46).
S. Egel zeigt die Andersartigkeit des Personalpronomens der dritten Person und weist
auf morphologische und semantische Kriterien hin:
Erstes morphologisches Kriterium: Nur Personalpronomen der 3. Person weist im
Singular Genusmarkierung auf.
Zweites morphologisches Kriterium: Nur das Personalpronomen der 3. Person besitzt
271
spezielle reflexive Formen. Wie P. Eisenberg schreibt, die 1. und die 2. Person
brauchen kein Reflexivum, weil hier die Referenz mit dem üblichen
Personalpronomen eindeutig angezeigt werden kann (Eisenberg 1994: 191, nach
Engel 1998).
Erstes semantisches Kriterium: Nur das Personalpronomen der 3. Person kann neben
menschlichen Individuen auch andere Entitäten bezeichnen.
Zweites semantisches Kriterium: Nur die Personalpronomina der 1. und 2. Person
bezeichnen die Kommunikationsteilnehmer.
Drittes semantisches Kriterium: Nur das Personalpronomen der 3. Person erfüllen
neben situationsdeiktischer auch textdeiktische Funktion.
Viertes semantisches Kriterium: Die Personalpronomina der 1. und 2. Person können
nicht pluralisiert werden.
S. Engel führt darüber hinaus ein historisches Argument an. Sie weist nämlich darauf
hin, dass das Personalpronomen der 3. Person eine andere Herkunft als die
Personalpronomina der 1. und 2. Person hat. So stellt M. Harries fest, dass sich in
vielen Sprachen nicht nur der bestimmte Artikel, sondern auch das Personalpronomen
der 3. Person aus den Demonstrativpronomina herausgrammatikalisiert hat (Harries
1980, nach Engel 1998).
Dass die Personalpronomina der 1. und der 2. Person nicht pluralisiert werden
können, erklärt, warum durch die Bedeutung des Personalpronomens der ersten
Person das Konzept der Innenperspektivierung semantisch zum Ausdruck gebracht
wird, durch die Bedeutung des Personalpronomens der 3. Person das der
Außenperspektivierung. Das Personalpronomen der 1. Person stellt die
Pronominalentität, auf die es hinweist, als „nicht begrenzt“ und „potentiell
unabgeschlossen“, das Personalpronomen der 3. Person die Entität als „begrenzte,
abgeschlossene Ganzheit dar (vgl. Engel 1998). Diese Position basiert auf dem
Konzept von E. Leiss, sie stellt fest:
„Außenperspektive ist […] das Merkmal der 3. Person im Gegensatz zur 1.
Person“ (Leiss 1991: 7, zitiert nach Engel 1998: 180).
272
Die erste Person verfügt über das Merkmal „Additivität“ und „Teilbarkeit“ und stellt
das Geschehen aus der Innenperspektive dar, die dritte Person verfügt dagegen über
das Merkmal „Unteilbarkeit“ und „Nonadditivität“ und stellt das Geschehen daher
aus der Außenperspektive dar. Die zweite Person hat sowohl die Eigenschaften der
ersten als auch der dritten Person.
So zeigt S. Engel das System der Personalpronomina vom aspektuellen Standpunkt
folgendermaßen:
Tab. 18. Merkmalsverteilung der deutschen Pronomina nach S. Engel (Engel 1998: 180)
S. Engel stellt eine Erklärungshypothese für die Affinität von dritter Person und
Plural auf: Als zentrales Merkmal der 3. Person wurde die Definitheit bestimmt. Die
Funktion des Plurals wurde dagegen als indefinite Mengenangabe definiter Teile
charakterisiert. Daher ist die Funktion des Plurals die Vervielfachung von Entitäten,
die sprachlich als /'- teilbar'/ und /'-additiv'/ dargestellt werden. Diese abstrakte
Erklärung entspricht auch der bildhaften Vorstellung, dass nur von solchen Entitäten
eine 'Mehrzahl' gebildet werden kann, die eine abgeschlossene Ganzheit darstellen,
d.h. eine klar umrissene Kontur auweisen. Von einer Substanz, die als nicht begrenzte
Menge vorgestellt wird, kann dagegen keine Mehrzahl gebildet werden.
Da auch das Personalpronomen der 2. Person die Merkmale /'+ teilbar'/ und /'+
additiv'/ eingebüßt haben, ist die Affinität von zweiter Person und Plural weitaus
schwächer als die von dritter Person und Plural.
Die grammatische Funktion des Personalpronomens der 1. Person weist schließlich
keine Affinität zu der des Plurals auf (Engel 1998: 180-181).
Fazit
273
Die Pronomina verweisen auf Objekte oder Eigenschaften, ohne sie zu nennen.
Ihre Einheit als Wortklasse beruht auf ihrer stellvertretenden Semantik, den
Bezug auf Nomen sowie auf den textverweisenden Funktionen. Sie sind
phorisch, denn sie haben einen referenziellen oder einen deiktischen Bezug: Sie
verweisen auf Personen / Gegenstände oder Eigenschaften, ohne sie zu nennen.
Sie können auch die Sprecherperspektive kodieren.
Aufgaben
Aufgabe 1.
Analysieren Sie den referentiellen Bezug im folgenden Text, den die
Personalpronomina aufweisen:
Helen stand da, ein Feind, bereit, zuzuschlagen mit Liebe und großer Kenntnis
meiner verteidigungslosen Stellen, und ich wäre so sehr im Nachteil gewesen, dass
ich keine Chance gehabt hätte. Hatte ich vorher das erlösende Gefühl eines Todes
gehabt, so wäre es jetzt ein quälendes moralisches Krepieren geworden - nicht mehr
Tod und Auferstehung, sondern gründliche Vernichtung. Man soll Frauen nichts
erklären; man soll handeln.
Ich ging auf Helen zu. Als ich ihre Schulter berührte, fühlte ich, wie sie bebte.
„Warum bist du gekommen?“ fragte sie noch einmal (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon).
Aufgabe 2.
Finden Sie in folgenden Sätzen Adverbien und bestimmen Sie, zu welcher
semantischen Klasse sie gehören:
1. Ich wusste es auch nicht mehr so genau. 2. Draußen quietschte das Tor. 3. Du hast
damit souverän die Zeit besiegt und lebst doppelt. 4. Geburtstage drücken mächtig
aufs Selbstgefühl. Besonders frühmorgens. Er wird sich schon wieder erholen. 5. Der
Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt. 6. Eines Abends erschien er
dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen (Aus: E.M. Remarque. Drei
Kameraden).
274
Aufgabe 3.
Bestimmen Sie, ob die Komparation in folgenden Sätzen absolut oder relativ ist:
1. Ein Soldat, der sich in die oberste Mastspitze geflüchtet hat, wird in hohem Bogen über das Meer
geschleudert (R. Crott. Erzähl es niemandem). 2. Crott wird immer müder (R. Crott. Erzähl es
niemandem). 3. [...] man macht einen längeren und beschwerlichen Fußmarsch durch den dichten
Wald rund um den See [...] (R. Crott. Erzähl es niemandem). 4. Dieser Sommer 1918 ist der
blutigste und der schwerste (E.M. Remarque. Im Westen Nichst Neues). 5. Mit den allerbesten
Wünschen (Titel des Buchs von Ruth Biedemann). 6. Wer im Alter mietfrei wohnt, benötigt ein viel
geringeres Monatsbudget, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (Zeit Online. 26.10.2016). 7.
Um den Schlaf bringen die Nachrichten über den Beginn der ja schon länger erwarteten Offensive
gegen den „Islamischen Staat“ im Irak hier deshalb kaum jemanden (Zeit Online. 19.10.2016).
Aufgabe 4.
Bestimmen Sie den Valenzgrad der Adjektive in den Sätzen:
1. Sie finden, dass alle ihm auf eine vertrackte Weise ähnlich sind (H. Böll. Die Ansichten eines
Clowns). 2. Auf immer neue Zugeständnisse hat sich die kanadische Regierung eingelassen, um die
Kritiker in Europa zu besänftigen (Zeit Online. 27.10.2016). 3. An einem kalten Februarmorgen des
Jahres 1993 klingeln die Polizisten früh an einem Backsteinhaus am Rande der Stadt Lüneburg
(Zeit Online. 27.10.2016).
DAS NUMERALE
Die Numeralien, oder Zahlwörter werden in der deutschen Grammatik
unterschiedlich behandelt: In der Duden-Grammatik werden sie als „Zahladjektive“
in der Wortklasse „Adjektiv“ betrachtet (Duden 1998: 267), W. Jung schreibt z.B.:
„Das Numerale ist keine Wortart im eigentlichen Sinne“, weil Adjektive und
Substantive, Pronomina und Adverbien „Zahlwörter“ sein können. Das können wir an
folgenden Beispielen beobachten:
In der russischen Germanistik werden die Zahlwörter doch als eine Wortklasse
bezeichnet. Der Grund dafür ist ihre verallgemeinerte grammatische Bedeutung der
Zählbarkeit, welche allen Zahlwörtern eigen ist. O.I. Moskalskaja betrachtet das
Numerale als eine Wortart mit Feldstruktur, die sich mehrfach mit den anderen
wortartmäßigen Feldern überschneidet (Moskalskaja 2004: 207). So können z.B. die
Kardinalzahlen, oder die Grundzahlen substantivisch und adjektivisch gebraucht
werden: Zwei, drei, vier, die Million, das Hundert, das Tausend usw. Das Numerale
ein hat eine volle Flexion, z.B.: Eine, eines, einem, einen usw., eins dagegen ist
unflektierbar. Die Ordinalzahlen geben eine Abfolge an und werden substantivisch
und adjektivisch gebraucht: Der erste, der zweite, der dritte usw. Die Bruchzahlen
können sowohl adjektivisch als auch substantivisch verwendet werden: Ein Drittel,
ein Viertel, halb usw. Die Vervielfältigungszahlen werden sowohl adverbial als
auch adjektivisch verwendet: Einfach, zweifach, dreifach usw. Die
Wiederholungszahlen sind in der Regel adverbial: Zweimal, dreimal, viermal usw.
Die Gattungszahlen bezeichnen die Zahl von Klassen, zu der die benannten
Gegenstände gehören (Hentschel & Weydt 1994: 234): Einerlei, zweierlei, dreierlei
(z.B. dreierlei Fisch) usw. Sie treten als Numerale, Adverb und Adjektiv auf. Solche
Zahlwörter wie alle, viele, einige, manche, beide, etliche bezeichnet man als
unbestimmte Zahlwörter. Sie werden als Numerale, als Adjektiv sowie als Pronomen
verwendet.
Im Zentrum des Numeralfeldes befinden sich die Kardinalzahlen, denn in dieser
Gruppe tritt die Bedeutung der Zählbarkeit in ihrer ursprünglichen Form auf und
weist keine Nebenbedeutungen auf. Alle anderen Gruppen bilden die Peripherie des
Feldes, denn sie überschneiden sich mit den Feldern anderer Wortarten (Moskalskaja
2004: 207-208). Die Ordinalzahlen bilden ein Grenzgebiet zu Adjektiven und werden
als Adjektive dekliniert. Die Bruchzahlen bilden ein gemeinsames Segment mit
276
DAS MODALWORT
In der russischen Germanistik werden Modalwörter als eine selbständige Wortart
betrachtet. Diese Position ist in den Arbeiten von E.I. Schendels (1988),
W. G. Admoni (1986), O.I. Moskalskaja (2004), A.T. Krivonosov (2001) vertreten.
Das sind solche Wörter, die eine Vermutung oder einen bestimmten
Wahrscheinlichkeitsgrad bezeichnen, z.B.: Vielleicht, wahrscheinlich, sicher usw.
Modalwörter charakterisieren nicht das Geschehen selbst, sie kodieren die
Sprechereinstellung. Das bedeutet, dass der Sprecher den Wahrscheinlichkeitsgrad
der Wirklichkeit einschätzt, vgl.:
Wahrscheinlich war sie nur kostspielig, und das war in unserer Verwandtschaft
gleichbedeutend mit geldgierig (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Der angeführte Satz enthält zwei Schichten: Die erste Schicht ist die propositionale
Schicht, es handelt sich um einen Sachverhalt. Die Proposition spiegelt die objektive
Wirklichkeit wider: Sie war nur kostspielig, und das war in unserer Verwandtschaft
gleichbedeutend mit geldgierig gehört zum inhaltlichen Plan der Aussage. Das
Modalwort wahrscheinlich macht die zweite, zusätzliche Schicht der Aussage aus:
Durch die Verwendung des Modalwortes wahrscheinlich wird die Einstellung des
Sprechers zum Sachverhalt kodiert.
Modalwörter beeinflussen unser Wahrnehmen der objektiven Tatsachen, worauf noch
J. Lyons (Lyons 1977: 834) hingewiesen hat, als er It is so und I say you so–Sätze
277
betrachtet hat. Im ersten Fall geht es um eine Tatsache, im zweiten dagegen um eine
Meinung. Z.B., wir können also etwas als eine Tatsache bezeichnen oder unsere
Vermutung über eine Tatsache zum Ausdruck bringen:
Wie die Situation von dem Hörer wahrgenommen wird, hängt von modalen
Elementen ab.
In der deutschen Grammatik sind nicht alle Sprachforscher der Ansicht, dass
Modalwörter eine besondere Gruppe bilden. W. Jung betrachtet z.B. Modalwörter im
Rahmen der Wortart „Adjektiv“ (Jung 1997). U. Engel (2006) zählt Modalwörter und
Modalpartikeln zu einer Wortklasse. E. Hentschel und H. Weydt (1994) betrachten
Modalwörter im Rahmen der Wortklasse „Partikeln im weiteren Sinne“. Zu dieser
Gruppe gehören auch Konjunktionen, Konjunktionaladverbien, Partikeln,
Interjektionen. G. Helbig und J. Buscha (2005), H. Brinkmann (1971), U. Spanger
(1972), W. Abraham (2011), E. Leiss (2011) sprechen von Modaladverbien
(vielleicht, wahrscheinlich usw.) und Modalpartikeln (wohl, doch usw.).
Die Modalwörter können verschiedene Einstellungen des Sprechers ausdrücken, von
der Gewissheit an der Richtigkeit der Aussage bis zum Zweifel daran. G. Helbig und
J. Buscha (2005) betrachten die Modalwörter als Indikatoren der Sprechereinstellung,
denn mit ihrer Hilfe wird auf diese Einstellung nur verwiesen. Sie teilen Modalwörter
der Bedeutung nach in folgende Gruppen ein:
(1) Gewissheitsindikatoren, die die Einstellung des Wissens ausdrücken, z.B.
zweifellos, fraglos, tatsächlich. Diese Einstellung könnte man explizieren,
beispielsweise mit einem Satz Ich zweifle nicht daran.
(2) Hypothesenindikatoren, die den Wahrscheinlichkeitsgrad einschätzen, z.B.
vermutlich, wahrscheinlich (unsere Interpretation: Ich vermute das).
(3) Distanzindikatoren, die eine distanzierende Einstellung des Sprechers zum
Sachverhalt ausdrückeт, z.B. angeblich, vorgeblich (unsere Interpretation: Ich habe
278
das selbst nicht gesehen, ich berufe mich darauf, was ich gehört habe).
(4) Emotionsindikatoren, die Gefühle des Sprechers ausdrücken, z.B. leider,
erfreulicherweise (unsere Interpretation: Das freut mich).
(5) Bewertungsindikatoren, die eine evaluative Einstellung des Sprechers zum
Sachverhalt ausdrücken, z.B. leichtsinnigerweise, vorsichtigerweise usw. (unsere
Interpretation: Ich kann das nur vorsichtig behaupten) (Helbig & Buscha 2005:
435).
Im „Lexikon deutscher Modalwörter“ von G. Helbig und A. Helbig (1990) werden
mehr als 160 Wörter solcher Art aufgezählt. Wir sind der Ansicht, dass diese Wörter
semantisch nicht einheitlich sind. Unserer Meinung nach lassen sich die von G.
Helbig und A. Helbig aufgezählten Wörter folgenderweise gruppieren:
(1) Modalwörter, die einen Wahrscheinlichkeitsgrad kodieren, z.B.: Bestimmt,
vielleicht, wahrscheinlich, womöglich. Diese Art der Modalität heißt in der
modernen Linguistik epistemisch.
(2) Modalwörter, die evidentielle Semantik kodieren, d.h. sie verweisen auf die
Quelle der Information, z.B.: Angeblich, offenbar, augenscheinlich.
(3) Adverbien mit der bewertenden Semantik, die die emotionale Einschätzung des
Sachverhalts bezeichnen, z.B. Glücklicherweise, sinnvollerweise, sinnloserweise.
Diese Gruppe betrachten wir nicht als Modalwörter, sondern als Adverbien, weil sie
die emotionale Bewertung des Sachverhalts ausdrücken, indem sie es als positiv /
negativ bezeichnen, während Modalwörter den Wahrscheinlichkeitsgrad eines
Sachverhalts anzeigen. Deswegen halten wir es für sinnvoll, im Rahmen der
Wortklasse „Modalwörter“ nur die Wörter der 1. und der 2. Gruppe zu betrachten.
Fazit
Modalwörter charakterisieren nicht das Geschehen selbst, sie kodieren die
Sprechereinstellung. In der Regel wird der Wahrscheinlichkeitsgrad der
Wirklichkeit vom Standpunkt des Sprechers eingeschätzt. Modalwörter sind
Marker der Modalität der Vermutung (Epistemizität) und der
Informationsquelle (Evidentialität).
279
DIE PARTIKEL
GRUNDLAGEN
Partikeln sind Wörter, die die Sprechereinstellung kodieren, es aber auf eine andere
Weise als Modalwörter tun. Mit Hilfe der Partikeln wird die Aussage verstärkt,
abgeschwächt, einer bestimmten Gradskala zugeordnet, oder mehrere Aussagen
werden verknüpft. Zu der Klasse der Partikeln gehören Wörter mit einer sehr
allgemeinen Bedeutung, die sich schwer beschreiben lässt, z.B. wohl, ja, denn, sehr,
eben, ausgerechnet, nur usw.. Welche Funktion eine Partikel hat, hängt vielmehr
nicht von der Partikel selbst, sondern von dem Kontext ab.
Nicht alle Sprachforscher betrachten Partikeln als eine besondere Wortklasse. So
spricht z.B. U. Engel von Partikeln im weiten Sinne. Er definiert sie als
unveränderliche Wörter, was sie von allen flektierbaren Wörtern unterscheidet. Zur
Gruppe der Partikeln zählt U. Engel Präpositionen, Subjunktoren, Konjunktoren,
Adverbien, Modalpartikeln, Rangierpartikeln, Gradpartikeln, Kopulapartikeln,
Satzäquivalente, Abtönungspartikeln, sonstige Partikeln (Engel 1996: 689). Das
verwischt die Grenzen zwischen einzelnen Wortarten, die gewisse Spezifik sowohl in
der Bedeutung als auch beim Funktionieren aufweisen. Unlogisch ist auch die
Vermischung von Wortklassen (Präpositionen, Adverbien) und ihren Teilen (Modal-,
Rangier-, Grad- und Abtönungspartikeln).
Wir betrachten Partikeln als eine besondere Wortklasse. Sie verfügen über eine Reihe
von Eigenschaften, die sie von den anderen Wortarten unterscheiden, und zwar:
1. Sie sind keine Satzglieder.
2. Sie sind als selbständige Antworten auf Fragen nicht möglich, während
Modalwörter als selbständige Antworten verwendet werden können, vgl.:
B: * Wohl.
280
B: Vielleicht.
3. Sie können nicht erfragt werden. Das bedeutet, man kann nicht die Frage so
formulieren, dass die Partikel als Antwort auftritt.
4. Partikeln machen den pragmatischen Sinn der Aussage aus. Werden sie
weggelassen, ändert sich der Sinn der Aussage, vgl.:
Er musste wohl gemerkt haben, wie mich dieser kleine Satz traf (H. Böll. Die
Ansichten eines Clowns).
2. Gradpartikeln (auch: Fokuspartikeln). Sie beziehen sich nur auf ein bestimmtes
Satzglied. Das sind nur, sogar, bloß, eben, ebenso usw., vgl.:
[...] sie sagte, ich verstünde sie eben nicht und ich wollte sie nicht verstehen (H.
Böll. Die Ansichten eines Clowns).
„Das ist ziemlich teuer“, sagte sie und wurde sofort rot (H. Böll. Die Ansichten
eines Clowns).
4. Diskurspartikeln. Sie beziehen sich auf den ganzen Satz, stehen nicht immer im
Mittelfeld und können betont werden, vgl.:
B: DOCH! (Parlamentsreden).
Sie konnte ja die Kinder taufen lassen und sie so erziehen, wie sie es für richtig
hielt (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Sie kann auch als Fokuspartikel verwendet werden. Ihre Funktion besteht darin,
Tatsachen steigend anzuordnen, z.B.:
Sie gingen Arm in Arm, und er sah glücklich aus, ich wunderte mich wieder,
wieviel Anmut, ja Kindlichkeit sein versorgtes, einsames Gesicht gelegentlich
haben konnte […] (H. Hesse. Siddhartha).
282
Die Partikel ja tritt auch als Diskurspartikel auf, indem Sie die Aussage verstärkt,
z.B.:
ER: Ja, wie kannst du dann behaupten, eine Maus ist in unserm Schlafzimmer?
SIE: Ja weil ich sie gehört habe (DeWaC 3).
VERTIEFUNG
Die Modalpartikel
werden: Fragen mit und ohne diese Modalpartikel kodieren ganz unterschiedliche
Intentionen, vgl.:
a. Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?
(DeWaC 3),
Was macht sie denn, wenn sie mal wirklich böse ist? (DeWaC 2).
Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht
fürs Wasser (H. Hesse. Der Steppenwolf).
Im angeführten Fragment enthält der Satz mit der Partikel ja die Ursache, während
der vorangehende Satz die Wirkung beinhaltet. Zwischen den Sätzen entsteht eine
kausale Relation.
Die Fokuspartikel
Nach G. Zifonun gehören zu den Gradpartikeln Ausdrücke wie bereits und sogar, mit
284
denen eine Einstufung des Gesagten bzw. bestimmter hervorgehobener Aspekte des
Gesagten auf Skalen vorgenommen wird. So wird durch sogar in
angezeigt, dass das Ereignis, dass Hans zu den Gewinnern gehörte, relativ unerwartet
war (Zifonun et al. 1997: 57).
In der sprachwissenschaftlichen Literatur wird darauf hingewiesen, dass bei der
Interpretation von Gradpartikelsätzen bewertende Rangfolgen eine Rolle spielen,
vgl.:
(4) Auch einige der größten Genies waren schlechte Schüler (Jacobs 1983: 129).
Die Diskurspartikel
„Das werden wir ja sehen", sagte sie und lachte (H. Hesse. Der Steppenwolf)
(Modalpartikel).
Rezzo Schlauch (Bündnis 90 / Die Grünen): Ja weil ich nicht alles kommentieren
muss... (Parlamentsreden).
Angela lehnte sich ein wenig erstaunt über den Anruf von Marie in ihr
muscheliges Sofa und dachte an die tollen Zeiten mit Marie zurück. Ja sie waren
von Anfang an dicke Freundinnen gewesen, konnten über alles Mögliche
quatschen, bis dieser Kerl Karunakaran ins Spiel kam (DeWaC).
In den angeführten Belegen führt die Partikel ja Sätze ein, die die vorangehende
Aussage ergänzen und erweitern. Zwischen den Sätzen entstehen keine logischen
Beziehungen. Die Partikel ja an der Satzspitze dient zur Verstärkung der Aussage.
4. Da die Diskurspartikeln keine Satzglieder sind, sind sie nicht erfragbar und man
kann sie nicht negieren (vgl. Аверина 2016a).
Diskurspartikeln, und zwar die betonten Partikeln, beteiligen sich an der Kodierung
des Verumfokus. Das wird im nächsten Abschnitt ausführlicher betrachtet werden.
Der Begriff Verumfokus. Kodierung des Verumfokus durch das Finitum, Subjunktor
und Diskurspartikel. Betonte Partikeln als eine besondere Gruppe der
Diskurspartikeln
Verumfokus ist ein Phänomen, das von T. Höhle (1988), (1992) beschrieben wurde:
Durch die Fokussierung des Finitums betont der Sprecher den Wahrheitswert der
Proposition und negiert gleichzeitig den Wahrheitswert der vorangehenden Aussage,
vgl.:
A: Ich bin sicher, dass Karl den Hund nicht gefüttert hat.
In dem angeführten Beleg wird durch die Fokussierung des Finitums gezeigt, dass der
Sprecher mit der Meinung des Gesprächspartners nicht einverstanden ist.
287
Nach T. Höhle kann die Negation auch durch die Fokussierung der Konjunktion
kodiert werden, vgl.:
B: DOCH,
wo die betonte Partikel DOCH die Funktion hat, die Aussage des Gesprächspartner
zu negieren.
Die betonte Modalpartikel DOCH ist nach J. Meibauer (Meibauer 1994: 121) eine
kontrastakzentuierte Partikel: Durch die Verwendung der betonten Partikel wird der
Kontrast zwischen der Einstellung des Sprechers und des Gesprächspartners gezeigt.
Diese Partikel ist in folgenden Satztypen möglich:
In Aussagesätzen:
In Entscheidungsfragen:
In Ergänzungsfragen:
(ebenda, S. 121).
Durch DOCH wird zusätzlich ausgedrückt, dass der Hörer eine weitere Proposition -p
betrachten muss, die Sprecher, Hörer oder ein Dritter einmal vertreten haben (ebenda,
S. 123-124).
Betont kann auch die Partikel JA sein. Durch Ihre Verwendung in
Aufforderungssätzen wird die Aussage verstärkt, vgl.:
288
Hast du auch JA das Fenster geschlossen? (Beleg von Meibauer (1993: 129).
Betont kann auch die Partikel EH sein. J. Meibauer weist darauf hin, dass die betonte
Partikel EH mit dem Verumfokus austauschbar zu sein scheint:
(b) Müller fragt Schröder: Gerhard, was möchtest du ausdrücken, wie dich
zeigen? Und Schröder sagt: Du weißt EH, was du willst (Zeit Online. 3.09.
1998).
Nach J. Meibauer hat auch die betonte Partikel SCHON die Funktion, einen Kontrast
zu schaffen. Dieser Kontrast besteht zwischen der Einstellung des Sprechers und der
Einstellung einer anderen Person, vgl.:
Nach unseren Beobachtungen hat der Satz mit der betonten Partikel SCHON eine
besondere Schattierung: Dadurch wird nicht nur die Meinung des Sprechers negiert –
es wird auch gezeigt, dass die Person, von der die Rede ist, etwas falsch gemacht hat,
und zwar das, was von ihr/ ihm nicht erwartet wurde, vgl.:
B: Er hat das Brot SCHON gekauft (gemeint wird: Er hat das Brot gekauft, aber
wieder das falsche) (vgl. Аверина 2018с).
Daraus ergibt sich, dass die Semantik von Äußerungen mit betonten Partikeln JA,
DOCH, SCHON und EH nicht identisch ist. Es gibt aber dialektale Unterschiede in
der Verwendung von betonten Partikeln.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Funktionieren des Verums ist das
Fehlen der neuen Information im Satz (des Rhemas). Der Satz muss nur bekannte
Informationen (das Thema) enthalten. Wird ein neues Element in den Satz eingeführt,
kann der Verumfokus nicht kodiert werden, z.B.:
(a)
290
VERKNÜPGUNGSWÖRTER
Im Deutschen gibt es unterschiedliche Verknüpfungswörter. Sie können Wörter,
Satzteile, Sätze und sogar Textfragmente verknüpfen. Präpositionen verbinden sich
mit nominalen Einheiten, Konjunktionen verknüpfen Sätze oder Teilsätze,
Modalpartikeln haben neben ihrer modalen Bedeutung auch die Funktion der
Satzverknüpfung, Konjunktionaladverbien verknüpfen Sätze inhaltlich miteinander,
auch Relativpronomina leiten Sätze ein. Im Folgenden werden Präpositionen,
Konjunktionen und Konjunktionaladverbien besprochen.
Präpositionen
Präpositionen verbinden sich immer mit einem nominalen Element, z.B. mit einem
Substantiv oder einem Pronomen. Bei der semantischen Einteilung der Präpositionen
weisen E. Hentschel und H. Weydt darauf hin, „dass nur eine Minderheit von ihnen
ausschließlich zu einem einzigen Bedeutungsbereich gehört“ (Hentschel & Weydt
1994: 250). Sie unterscheiden folgende Subklassen der Präpositionen:
Subklasse Beispiel
291
Konjunktionen
Allgemeines
(1) Und dann immer noch lieber hier als bei euch! Denn ihr würdet mich auch
einsperren müssen! (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
oder einem Satz eine Apposition (ein Adjunkt) machen. Mit dem Adjunkt wird der
Bezugsgegenstand zusätzlich charakterisiert, z.B.: Meier als Direktor kann sich das
leisten (Zifonun et al. 1997: 61). Adjunktoren sind nicht den Präpositionen (sie haben
keine Kasusrektion) oder Konjunktoren zuzuordnen (ebenda, S. 62). Auch von G.
Helbig und J. Buscha werden als und wie gesondert als Adjunktionen betrachtet
(Helbig & Buscha 2005: 416). Sie weisen darauf hin, dass Adjunktionen im
Unterschied zu Subjunktionen und Konjunktionen innerhalb eines Satzglieds stehen
können, wie es für Präpositionen typisch ist. Im Unterschied zu den Präpositionen
hängt die Rektion vom Verb ab, vgl.:
Einen anderen Standpunkt vertreten E. Hentschel und H. Weydt: Sie betrachten als
und wie in der Reihe der Präpositionen. Obwohl als und wie zur Einleitung von
Nebensätzen verwendet werden können (Als ich nach Hause kam….; wie sich gezeigt
hat…), werden sie auch in Wendungen wie Er verdient sein Geld als Taxifahrer oder
kalt wie Eis gebraucht. Präpositionen dienen der Unterordnung von Nomina, so wie
subordinierende Konjunktionen der Unterordnung ganzer Sätze dienen. Nach E.
Hentschel und H. Weydt können nicht die beiden Wörter als Konjunktionen bewertet
werden, da die durch sie verbundenen Elemente syntaktisch nicht gleichwertig sind
(Hentschel & Weydt 1994: 254). Wir sind der Ansicht, dass als und wie Wörter mit
Doppelfunktionen sind: Sie können als Präpositionen sowie als Konjunktionen
verwendet werden.
1) kopulative, oder anreihende Konjunktionen, z.B. und, auch, sowohl – als auch,
nicht nur – sondern auch, weder – noch,
2) adversative Konjunktionen, Z.B. aber, teils – teils, bald – bald, oder, entweder –
oder,
3) erläuternde Konjunktionen, z.B.: das heißt, nämlich, sozusagen, kurz, zum
Beispiel, beziehungsweise (bzw.) (Admoni 1986: 214).
Nach G. Zifonun gehören zur Klasse der Konjunktoren, die nicht nur koordinierende
Konjunktionen, sondern auch Modalpartikeln einschließen, folgende Subklassen:
Subklasse Beispiele
additiv und, sowohl...als auch
adversativ aber, doch, sondern
alternativ beziehungsweise, oder
explikativ und zwar, das heißt
inkrementiv ja
kausal denn
restriktiv außer, es sei denn
Tab. 20. Subklassen der Konjunktoren nach G. Zifonun (Zifonun et a. 1997: 61).
Einige Germanisten unterscheiden noch Konjunktionaladverbien, die sich von
Konjunktionen unterscheiden (Hentschel & Weydt 1994: 276-277). Das sind solche
Wörter wie deshalb, trotzdem und indessen. Sie verknüpfen Sätze wie
Konjunktionen, unterscheiden sich aber von den letzteren durch die Wortstellung: Sie
können innerhalb des Satzes stehen und sie sind Satzglieder, z.B.:
(1) Diese Wagen erinnern an Zeiten, in denen Autos so waghalsig waren wie ihre
Fahrer. Werden Oldtimer deshalb so geliebt und hoch gehandelt? (Zeit Online.
26.10.2016).
Eine andere Besonderheit dieser Wörter besteht darin, dass sie mit anderen
Konjunktionen kombiniert werden können, z.B.:
(2) Und deshalb kommst du hierher? (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon).
296
Aufgaben
Aufgabe 1.
Nennen Sie in folgenden Sätzen die Fügewörter (Verknüpfungswörter). Welche
Satzkomponenten verbinden Sie?
1. Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau unfassbar über dem Ring der
Vernichtung (E.M. Remarque. Im Westen nichts Neues). 2. Nie ist uns das Leben in
seiner kargen Gestalt so begehrenswert erschienen wie jetzt; – der rote Klatschmohn
auf den Wiesen unserer Quartiere, die glatten Käfer an den Grashalmen, die warmen
Abende in den halbdunklen, kühlen Zimmern, die schwarzen, geheimnisvollen Bäume
297
der Dämmerung, die Sterne und das Fließen des Wassers, die Träume und der lange
Schlaf – o Leben, Leben, Leben! (E.M. Remarque. Im Westen nichts Neues). 3. Und
das tut der ehemalige Gauleiter von Essen auch, nachdem ihn Hitler am 24. April
zum Reichskommissar für die besetzten Gebiete ernannt hat (R. Crott. Erzähl es
niemandem).
Aufgabe 2.
Bestimmen Sie, ob Partikeln in den angeführten Sätzen betont sind oder nicht:
1. Er überlegt, ob man wohl vor Gericht klagen könnte (Zeit Online 13.10.2016). 2. Ob sie es nun
selbst war oder doch Böhnhardt, der die DNA an den Tatort brachte, ist unklar (Zeit Online
27.10.2016). 3. Zur Bestätigung müssen die MacBook-Besitzer dafür bloß auf den im
Einschaltknopf integrieren Fingerabdruckscanner klicken (Zeit Online 27.10.2016). 4. Es war ja
fast immer politisch gewollt, dass der rechtliche Beistand für Asylbewerber wenig lukrativ sein
sollte (Zeit Online 27.10.2016). 5. Wir sollen auch ja nicht vergessen, wem wir verdanken unser
Essen (aus Predigtbeispielen). 6. Da sich die streitenden Belgier in letzter Minute geeinigt haben,
kann der europäisch-kanadische Handelsvertrag Ceta nun wohl doch unterschrieben werden (Zeit
Online 28.10.2016). 7. Der Kollege Hay ist im Augenblick nicht da. (Zurufe von der SPD): Doch!
(Parlamentsreden).
Aufgabe 3.
Bestimmen Sie, zu welcher Klasse die Partikeln in den Aussagen gehören und welche
Funktionen sie haben:
1. Die Lektüre vor allem der ersten Bücher Heidens ist eine Zeitreise besonderer Art. Konrad
Heiden konnte ja in den zwanziger Jahren nicht wissen, was aus Hitlers Bewegung werden würde
(Zeit Online 16.10.2016). 2. Wie vielen Menschen das BER-Desaster geschadet hat, wird wohl nie
ganz erfasst werden (Zeit Online 16.10.2016). 3. Aber dies ist eben keine Wahl wie irgendeine
andere (Zeit Online 16.10.2016). 4. Behördenbashing halte ich nach meinen Erfahrungen sowohl
mit Ali als auch in der Beratung für falsch – jeder bemüht sich! Aber, ja, die Koordination der
Daten zwischen den einzelnen Institutionen muss deutlich besser werden (Zeit Online 13.10.2016).
5. Tsipras erklärte, warum er vergangenes Jahr nach einer turbulenten Verhandlung doch noch
harten Sparmaßnahmen zugestimmt habe: Konservative Kreise in Europa bestünden auf die harte
Sparpolitik (Zeit Online 16.10.2016). 6. Was kann denn noch enthüllt werden, das ihn zu Fall
298
Aufgabe 4.
Bestimmen Sie in den Aussagen die Funktionen der Modalwörter:
1. Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 2.
Wahrscheinlich war es nur eine Ausrede. Sicher sogar (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 3. Die
Auskunft musste gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloss
sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an (E.M. Remarque. Drei Kameraden). 4.
Margot Käßmann erzählte, dass Luther anscheinend eine wenig kraftvolle, hohe Fistelstimme
besaß (Zeit Online. 13.10.2016). 5. Obwohl der Plan offenbar vereitelt wurde, rief Innenminister
Goran Danilović die Montenegriner auf, am Wahlabend nicht auf die Straßen zu strömen (Zeit
Online. 16.10.2016).
DIE INTERJEKTION
Die Interjektionen bilden im Deutschen eine besondere Wortart, die sich nicht
eindeutig interpretieren lässt. So schreibt z.B. W. Jung, dass Interjektionen keine
Wortart im eigentlichen Sinne sind (Jung 1994: 387). Interjektionen drücken etwas
aus, ohne dass sie sich auf eine Proposition beziehen (Fries 1988: 25). N. Fries weist
auf folgende Eigenschaften der Interjektionen hin: Das sind Wörter, die unflektierbar
sind, eine pragmatische Funktion besitzen sowie zum Vollzug einer Äußerung
verwendet werden können (ebenda, S. 32-33).
Syntaktisch können Interjektionen autonom in der Satzfunktion auftreten, z.B.:
(2) Was für ein Stemmeisen? Und worein stecken? Mhm (Zeit Online.
25.10.2016).
Das ist einer der Gründe, warum Interjektionen von G. Helbig und J. Buscha (2005)
im Abschnitt über die Satzäquivalente betrachtet werden.
299
Sie können auch als Adverbien, Substantive sowie ihre Bestandteile verwendet
werden:
(3) Und trotzdem nur der eine Pfui-Rufer in der Wüste? (Zeit Online.
10.10.2008).
(4) Ein einfacher Hochschulwechsel zum nächsten Semester und, Schwupps, ist
alles gut (Zeit Online. 02.06.2016).
Er lächelt viel während des Gesprächs, dazwischen streut er viele Mmmhs, Aahs
und Achs (Zeit Online. 15.03.2007).
Interkultureller Vergleich
Die Analyse der Arbeiten der russischen und deutschen Germanisten über die
Adjektive, Adverbien, Personalpronomina, Numeralia, Modalwörter und Partikeln hat
Folgendes gezeigt:
(1) Es gibt keine wesentlichen Unterschiede bezüglich der Einteilung von Pronomina
in Gruppen. Sowohl in der russischen als auch in der deutschen Germanistik sind sie
in unterschiedliche Gruppen eingeteilt, die in ihrer Bezeichnung zusammenfallen. In
der deutschen Germanistik gibt es verschiedene Meinungen in Bezug auf die Phorik
der Pronomina, ob sie deiktischer (P. Eisenberg) oder referentieller (H. Vater) Natur
ist. In der russischen Germanistik wird auch auf den referentiellen sowie auf den
deiktischen Bezug der Pronomina hingewiesen.
300
Germanistik verwendet. Es gibt auch andere Termini für die Bezeichnung der
Konjunktionen in der deutschen Germanistik: Junktoren (Konjunktionen),
Subjunktoren (unterordnende Konjunktionen), Konjunktoren (nebenordnende
Konjunktionen), Adjunktoren (als und wie) (G. Zifonun), Konjunktionen
(nebenordnende Konjunktionen), Subjunktionen (unterordnende Konjunktionen)
und Adjunktionen (als und wie) (G. Helbig & J. Buscha).
(5) Numeralia werden in der deutschen Germanistik uneinheitlich behandelt. Sie
werden oft im Rahmen der Wortart „Adjektiv“ betrachtet (Duden-Grammatik),
(Grundzüge einer deutschen Grammatik 1981), als „keine Wortart“ (W. Jung) sowie
als eine selbständige Wortart (Hentschel & Weydt). In der russischen Germanistik
werden Numeralia als eine Wortart betrachtet, die sich mit anderen Wortarten
überschneidet (O.I. Moskalskaja).
302
EINFÜHRUNG
Richtung Kognitivistik orientiert. Hier kann man schon Karl Ferdinand Becker mit
seinem Organonbegriff der Sprache den Urvater der kognitiven Linguistik nennen.
Gerade in der deutschen Sprachwissenschaft ist diese Linie stark vertreten. Denken
wir an A. Schleicher mit seinem biologischen Sprachmodell oder an H. Paul, der die
Sprache als psychophysischen Mechanismus verstand. Der Höhepunkt der kognitiven
Linguistik in der deutschen Sprachgeschichte gehört wohl Wilhelm von Humboldt,
der in der Sprache ein aktives bildendes Organ sah, das die Mentalität des Menschen
prägt, so dass die Menschen ihr Weltbild durch Muttersprache gewinnen.
In der gegenwärtigen Linguistik genügt es nicht mehr, Sprache interdisziplinär zu
betrachten, das heißt Forschungsmethoden aus anderen Wissensbereichen auf das
Objekt ‘Sprache’ zu übertragen, vor allem beispielsweise formale Methoden aus
genauen Wissenschaften. Die Sprache ist vielmehr dran, als Forschungsinstrument
für andere Wissenschaften zu dienen, in erster Linie betrifft das soziale
Wissenschaften. Diskursanalysen politischer Texte haben gezeigt, dass sprachliche
Äußerungen ein wahres Bild der Politiker geben können, den wahren Sinn der
Gesetze und Vieles andere mehr. In diesem Bereich kann man sich auf die
Sprechakttheorie von John Austin / John Searle stützen, die auf das Bühlersche
Organonmodell der Sprache zurückgeht und für die nicht mehr die formale, sondern
die inhaltliche Seite der Sätze wichtig ist, vor allem ihre Funktion in der Rede. Somit
erreicht die Sprachwissenschaft, gleich der Philosophie, den Status einer
Transdisziplin, die zur Erschließung der wahren Werte von vielen sozialen
Wissenschaften benutzt werden kann, solcher wie Politologie, Psychologie,
Soziologie, Ökonomie, Jura. Die Untersuchungen auf genannten Gebieten sind ohne
entsprechende Diskursanalysen nicht mehr zu denken.
Auf den ersten Blick bezieht sich das Gesagte vor allem auf die semantische Seite, so
auf die Erschließung des Sinnes der sprachlichen Ausdrücke, der Metaphorik. Doch
dadurch wäre die transdisziplinäre Methode eingeengt, denn die Syntax dient in
hohem Maße dazu, den Stil des Sprechers zu prägen. Somit hilft die Syntax – indirekt
– die inhaltlichen Implikaturen, das Nicht-Gesagte, aber Gemeinte aus dem Text
304
herauszulesen. Ein anschauliches Beispiel kann hier die typisch syntaktische Größe –
Länge oder Kürze der Sätze – liefern. Im vertrauten Freunde- oder Verwandtenkreis
benutzt man keine langen Erklärungen. Die Menschen verstehen einander, ohne lange
Reden zu halten. Also können kurze Sätze ein Zeichen der Vertrautheit sein. Im
Gegensatz dazu muss bei offiziellen Beziehungen ziemlich umständlich erklärt
werden, was man will und warum. Für solche Erklärungen werden gewöhnlich lange
Sätze mit verschiedenen Umstandsadverbialien gebraucht. Solche Sätze können als
Zeichen der sozialen Distanzierung gelten.
In unserer Darstellung stützen wir uns auf folgende Theorieteile, die aus
verschiedenen theoretischen Ansätzen stammen: Auf den traditionellen Ansatz
(Oberflächensyntax), auf den logisch-semantischen Ansatz sowie auf den kognitiv-
pragmatischen Ansatz.
Dieser Ansatz ist auch in der Tradition verwurzelt: So werden Satzglieder nach
logischen Fragen bestimmt. Heutzutage wird dieser Ansatz weit und breit bei
formalen Beschreibungen sprachlicher Einheiten verwendet. H.-W. Eroms findet,
dass sich die Sprache für eine formale Beschreibung sehr gut eignet:
„Sätze sind dadurch gekennzeichnet, dass sie offenbar mit einer begrenzten
Menge von Regeln erfasst werden können. Die Paradigmen, die sich bilden
lassen, sind überschaubar“ (Eroms 2000: 8).
Noch immer fand sie mich zynisch (M. Frisch. Homo faber): Noch immer;
jemanden zynisch finden.
Heute mittag hatte der Vater von einem Diktator in Frankreich gesprochen (S.
Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit): Heute mittag; von einem Diktator
(in Frankreich) sprechen.
Sie saßen vorne am oberen Deck des Schiffes, lasen zusammen ein Buch und
schauten lange den unendlichen blauen Himmel an.
308
In den unterordnenden Wortgruppen bildet das Wort, das dem Sinne nach
bestimmend ist, den Kern oder den Kopf; der Kern kann durch andere Wörter
semantisch und syntaktisch erweitert werden; diese Erweiterungen sind ihm dann
untergeordnet. Solche Wortgruppen werden nach ihren Kernwörtern benannt. Es gibt
zwei Hauptarten von diesen Gruppen: Nominale und verbale. Unter den nominalen
Wortgruppen (oder Nominalphrasen, abgekürzt NP) unterscheidet man Substantiv-
und Pronominalgruppen (Dürscheid 2012: 67). Unter den verbalen Wortgruppen
gibt es solche, in denen das finite Verb den Kern bildet, und solche, in denen der
Infinitiv der Kern ist. Außerdem gibt es im Deutschen Adjektiv-, Adverb- und
Präpositionalgruppen.
Das Substantiv bildet Wortgruppen mit seinen Attributen. Als Attribute treten
Adjektive, Partizipien, Numeralien oder andere Substantive auf. Adjektive und
Partizipien kongruieren mit dem Kernsubstantiv, vgl.: Der moderne Stil; die
geplante Arbeit, ein durchgeführtes Projekt. Die präpositiven Adjektive drücken
dabei „innere“ Eigenschaften oder Merkmale des vom Substantiv bezeichneten
Gegenstandes aus (Admoni 1986: 267). So bezeichnet das Adjektiv blau in der
Wortgruppe das blaue Kleid die Farbe, die dem Kleid eigen ist. Das Adjektiv modern
kennzeichnet in der Wortgruppe der moderne Stil die Eigenart des Stils. Die innere
Verbindung mit dem Substantiv kommt in der Kongruenz zum Ausdruck. Da der
Kopf am Ende der Phrase steht, werden solche Phrasen kopffinal genannt
309
Auf dem Tisch – unter dem Tisch; vor dem Haus – hinter dem Haus – unter dem
Haus; dem Schulgebäude gegenüber; Dir zuliebe; um deines Wohlstandes willen.
Das Substantiv kann auch durch einen Infinitiv, eine Infinitivgruppe oder einen
Nebensatz erweitert werden; es entstehen dabei auch ziemlich erweiterte
Wortgruppen, vgl.:
Die Hoffnung zu genesen; die Hoffnung, die Prüfung gut abzulegen; die
Entscheidung, eine Reise zu unternehmen; der Mann, den ich liebte; das Hotel,
in dem Mozart abgestiegen war; die Frage, ob alle einverstanden sind.
Darunter versteht sie die Erweiterung der Kernsubstantive durch mindestens zwei
Satzglieder, die nicht beigeordnet, semantisch aber gleich wichtig sind. Dabei kann
ein abhängiges Satzglied links von dem Kernwort stehen und das andere Satzglied
rechts davon: Billige Flugtickets nach Berlin.
Abschließend summieren wir mit Chr. Dürscheid (Dürscheid 2012: 70) die
Strukturmuster der untergeordneten kopfinitialen Substantivgruppen mit dem
nachgestellten Attribut:
Das Kind meiner Nachbarin (Genitiv-NP)
Kampf dem Tod (Dativ-NP)
das Konzert letzten Sonntag (Akkusativ-NP)
das Haus dort (Pronominaladverb)
mit dem Sergeanten Grischa (enge Apposition)
die Fahrt nach Paris (PP)
die Entscheidung, nach Hause zu gehen (Infinitivkonstruktion)
eine 3-Zimmer-Wohnung, hell und geräumig (Adjektiv)
der Mann, der zu viel wusste (Relativsatz)
die Frage, ob du kommst (indirekter Fragesatz)
Zu den Nominalphrasen gehören auch die Wortgruppen mit dem Kernwort
Pronomen. Das sind nicht nur Personalpronomina, sondern auch andere pronominale
Arten. G. Zifonun zählt dazu solche Pronomina wie dieser, wer, jemand, niemand
(Zifonun et al. 1997: 77). Zwar kommen solche Phrasen nicht so oft vor, doch sind
sie durchaus möglich. Die Personalpronomina werden durch appositive Substantive
ergänzt, beispielsweise in der Poesie (a, b), andere Kopfpronomina haben
unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten (c-f):
(c) Sie alle; er mit seinen Hirngespinsten; sie, die immer log; sie, eine Philologin
(d) Was alles; wer aus München; wen, den du kennst; wer als gebildeter Mensch;
wer da; der da.
(e) Wir alle; ihr vom Institut; du, der du lange hier lebst; ich, hungrig und
durstig; du da.
(f) Manche aus Mannheim; einige, die schon für tot gehalten wurden; irgendeine,
clever und ausgeschlafen; alle hier (Beispiele aus: Zifonun et al. 1997: 77).
Den Kopf der Phrase kann ein Adjektiv bilden. Die innere Struktur der
Adjektivgruppen ist mit der inneren Struktur der oben angeführten Substantivgruppen
identisch. Wir führen die Strukturmuster der Adjektivgruppen in Anlehnung an Chr.
Dürscheid (Dürscheid 2012: 78) an. Die Adjektive treten dabei in prädikativer
Funktion auf, die als ihre Basisfunktion angesehen wird. Sie sind mit Ausnahme von
letzten zwei kopffinal:
Wenn die Kopfadjektive als Attribute auftreten, sind sie Bestandteile der
Substantivphrasen. Es entstehen erweiterte Attribute, die zwischen dem Begleitwort
des Substantivs und dem Substantiv selbst platziert sind. Die Deklination des
Kopfadjektivs wird nach dem Prinzip der Monoflexion geregelt und hängt von dem
Begleitwort des Substantivs ab, in unserem Fall von dem Artikel. Solche Attribute
312
finden sich in der schriftlichen Rede. Vgl. Sie Transformationen der oben angeführten
Beispiele:
Der seines Sieges sichere Sportler; der seinem Herrchen treue Hund; das einen
Zentner schwere Paket; der auf seine Schüler stolze Lehrer; ein sehr hübsches
Mädchen; ein leicht verletzliches Mädchen.
Verbale Phrasen, deren Kopf das prädikative Verb ist, umfassen den ganzen Satz
außer dem Subjekt und den Partikeln, die die Einstellung des Sprechenden
ausdrücken. Wohl deswegen halten es nicht alle Forscher für möglich, sie zu Phrasen
zu rechnen. In (Zifonun et al. 1997: 83) werden sie als „Gruppen mit einer Verbform
als zentralem Element“ betrachtet. Wir bleiben doch bei dem Terminus verbale
Phrase, wenn wir auch ihre Eigenart anerkennen, welche unserer Meinung nach
durch die Besonderheit des deutschen Sprachbaus geprägt ist. Diese Eigenart besteht
in der Entzweiung des Prädikats, die die Einrahmung der abhängigen Glieder
gewährleistet. Eigenartig ist auch der verbale Kopf. Er ist zum einen durch
Vollverben vertreten, die durch Objekte und Adverbialien ergänzt werden, zum
anderen aber durch Modalverben oder Verben mit modaler oder Phasenbedeutung. Im
letzten Fall bildet der Kopf mit seinen Infinitivergänzungen einen Verbalkomplex
(ebenda). Zu Verbalkomplexen zählt G. Zifonun auch analytische Verbalformen, was
unserer Ansicht nach nicht gerecht ist, weil finite Verbalformen nur Hilfsverben mit
einer rein grammatischen Bedeutung sind. Nach dem Vollverbkopf sind die
Ergänzungen durch Substantive in casus obliqui oder Präpositionalkasus sowie durch
Adverbien vertreten. Wie oben angedeutet, unterscheidet sich die Struktur dieser
Phrasen im Bestand des Satzes und außerhalb desselben. In der Ausgangsform stehen
Ergänzungen vor dem verbalen Kopf. Die Ausgliederung der Ausgangsformen hilft
manchmal den Kopf richtig bestimmen (er ist fett gekennzeichnet). Vgl.:
Sie interessiert sich für moderne Kunst → sich für moderne Kunst interessieren
313
Fazit
Wortgruppen oder Phrasen sind Bausteine der Sätze. Man unterscheidet zwei
Hauptarten der Wortgruppen: Beiordnende und unterordnende. Die interne
Struktur der Wortgruppen wird durch verschiedene Verbindungsmittel
zusammengehalten: Konjunktionen, Präpositionen und Kontaktstellung.
Unterordnende Beziehungen werden als Kongruenz, Rektion und Anschluss
realisiert. Unterordnende Phrasen haben einen Kopf – eine Wortart, die
Ergänzungen heranzieht.
Aufgaben
Aufgabe 1
Benennen Sie folgende Phrasen. Geben Sie entsprechenden Abkürzungen. Zeigen Sie
die Struktur der Phrasen mit Hilfe von Grafiken:
314
solche Gedanken
Herr Brunelli
Über alles lieben
Sich immer auf sie verlassen können
Vertrauter als seine nächsten Verwandten
Keine bestimmte Lieblinsblume
Das süß duftende Löwenmaul
Lange und regelmäßig in dicken Büchern über das Wesen und die Arten der
Blumen lesen
Durch einen Hochsommerwind gemütlich vom Büro aus nach Hause laufen
(Nach K. H. Roehricht. Das Blumenmärchen)
Aufgabe 2
Nehmen Sie an den folgenden Sätzen Verschiebeproben vor, um die Satzglieder zu
bestimmen:
• Man hatte Friedrich einen Tag nach der Geburt eilig getauft.
• Die Liste der Taufpaten zeugt vom Ansehen der Familie.
• Dieser landesweit gefürchtete Mann war dem Vater offenbar sehr zugetan.
• Der Sturz des Oberts Rieger wurde veranlasst durch seine Neider bei Hofe.
• Der Herzog nahm ihn gnädig auf und machte ihn zum Kommandanten des
Gefängnisses auf dem Hohenasperg.
(Nach R. Safranski. Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus)
fünf Satzglieder beschrieben hat: Das Subjekt, das Prädikat, das Attribut, das Objekt
und die Adverbialbestimmung. Diese Satzglieder werden nach logischen Fragen
bestimmt. H. Paul hat noch ein Satzglied hinzugefügt: Das prädikative Attribut. Eine
besondere Bedeutung kommt in der Satzgliedforschung den Arbeiten von H. Glinz
zu.
Glinz beginnt eine neue Etappe in der Satzgliedtheorie, denn er revidiert in seiner
deutschen Grammatik den Begriff “Satzglied”. Sein Herangehen an die Erforschung
der Sprache ist experimentell. So versucht er, um die Satzglieder zu ermitteln,
verschiedene Proben an dem Satz. Die wichtigste davon ist die Verschiebeprobe, mit
deren Hilfe er die Abtrennung der Satzglieder voneinander zeigt (Glinz 1962: 85).
Durch Verschiebung hat er Grenzen der Wortgruppen gefunden, die ein Satzelement
bilden (vgl. Glinz 1962: 90). Daher bestimmt er das Satzglied als eine Untereinheit
des Satzes, „die sich gesamthaft verschieben lässt“. Eines seiner Beispiele:
Man ging durch diese Türe wieder frei aus einer Stube in die andere;
Durch diese Türe ging man wieder frei aus einer Stube in die andere;
Aus einer Stube ging man wieder frei durch diese Türe in die andere;
Frei ging man wieder durch diese Türe aus einer Stube in die andere;
Ging man durch diese Türe wieder frei aus einer Stube in die andere,...;
(Während) man durch diese Türe wieder frei aus einer Stube in die andere ging
(ebenda, S. 86).
Die Verschiebeprobe wird durch die Ersatzprobe ergänzt, die die interne Struktur der
Satzglieder zeigt. H. Glinz illustriert das mit folgenden Beispielen (Glinz 1962: 589):
Ersaztzprobe + Verschiebeprobe
Man ging durch diese Türe wieder
Er trat durch jene Öffnung wiederum
Wilhelm gelangte durch eine Pforte nochmals
Ein trauriger bewegte sich über diese Schwelle von unten
Knabe
316
teilen“ (Wöllstein-Leisten et al. 1997: 2). Phrase ist eine Wortgruppe, die aus einem
oder mehreren Elementen besteht. Sie kann aus mindestens einem Wort, einem
Nomen, bestehen oder erweitert werden (Dürscheid 2012: 138). Nach P. Eisenberg
sind Phrasen vom Typus Substantiv, Verb, Präpositionalgruppe, Verbalgruppe,
Adjektivgruppe u.ä. Konstituentenkategorien des Satzes (Eisenberg 1986: 41-42).
Eine ähnliche partikulare Hypothese finden wir in Bezug auf das Subjekt in der
Verbalphrase. Es wird nämlich angenommen, dass in der Verbalphrase eine
bestimmte Position, und zwar links von dem Verb, von dem Subjekt besetzt wird
(vgl. Dürscheid 2012: 227). Das Subjekt fungiert dann als Spezifizierer. Ihm werden
also eine besondere Position und eine besondere Funktion im Satz zugeschrieben.
Es besteht natürlich kein Eins-zu-Eins-Verhältnis zwischen Phrasen und Satzgliedern.
Eines der Hauptprobleme besteht hier in der Einordnung des Attributs, weil die
adjektivischen Attribute nicht als Ergänzungen angesehen werden. Doch formulieren
wir unsere Schlussfolgerung wie folgt:
Fazit
Phrasen sind syntaktische Kategorien, die im Satz die Funktionen der
Satzglieder übernehmen.
Aufgaben
Aufgabe 1
Finden Sie in den Elementarsätzen des folgenden Textes die Satzbasis, bestimmen Sie
die Art des Subjekts und Prädikats und beschreiben Sie ihre Ausdrucksmittel:
A
Weltoffen, modern und tolerant – so stellt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die
deutsche Gesellschaft dar. Für die große Mehrheit der Menschen bildet die Familie
immer noch das Lebenszentrum, doch sind die Formen des Zusammenlebens offener
geworden: Unterstützt von konsequenten Maßnahmen des Staates zur Gleichstellung,
hat sich das Rollenverständnis von Frauen und Männern geändert. Immer mehr von
ihnen teilen sich häusliche Aufgaben und die Erziehung der Kinder, die als Partner
319
ihrer Eltern betrachtet werden. Gewalt in der Erziehung ist ebenso verpönt, wie das
friedliche Zusammenleben mit Menschen aus anderen Staaten und Kulturen selbst
verständlich geworden ist. Rund neun Prozent der Bevölkerung sind ausländische
Mitbürger und Mitbürgerinnen. Bei jeder sechsten Heirat hat einer der Partner
einen ausländischen Pass. Ins Ausland zieht es die meisten Deutschen auch im
Urlaub: Rund 56 Milliarden Euro gaben sie 2002 dafür aus. Aber sie schätzen auch
das eigene Heim und engagieren sich ehrenamtlich in Vereinen und gemeinnützigen
Organisationen.
(Tatsachen über Deutschland)
B
Ein hübsches junges Mädchen mit dem Namen Gerti, über das kaum etwas
Besonderes zu berichten gewesen wäre, entdeckte eines Tages, dass es sich grundlos
freuen konnte.
Es bedurfte dazu keines außergewöhnlichen Anlasses, keines Festes, keines
Geburtstages, keines großen oder kleinen Geschenkes und auch nicht der
inbrünstigen Liebeserklärung eines Mannes: Nein!, grundlos konnte Gerti sich
freuen.
Die unerhörte Freude kam tief aus ihrem Innern, erfasste ihr ganzes Wesen,
überwältigte sie stürmisch, ja, sie schien ihren ganzen Charakter zu verändern; aus
einem durchschnittlichen Wesen wurde ein bedeutendes, durchdrungen von einem
unsagbaren Jubel.
Man wird mit Recht fragen: Warum? Hier sei nur darauf verwiesen, dass es
Menschen gibt, die ihr eigenes Vorhandensein auf dieser Erde nicht einfach als
selbstverständlich empfinden, sondern als einen Vorzug und eine Bevorzugung
gegenüber den vielen nicht geborenen Wesen.
(K. H. Roehricht. Die Mädchenlerche)
Aufgabe 2
Finden Sie in den Sätzen des folgenden Textes Ergänzungen und Angaben.
320
Aufgabe 3
Bestimmen Sie in den Sätzen des folgenden Textes die Satzglieder. Erklären Sie die
Zweifelsfälle:
Die Tatsachen, die man vielleicht zunächst einmal darbieten sollte, sind brutal:
Am Mittwoch, dem 20. 2. 1974, am Vorabend von Weiberfastnacht, verlässt in
einer Stadt eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren abends gegen 18.45 Uhr
ihre Wohnung, um an einem privaten Tanzvergnügen teilzunehmen.
Vier Tage später, nach einer – man muss es wirklich so ausdrücken (es wird hiermit
auf die notwendigen Niveauunterschiede verwiesen, die den Fluss ermöglichen) –
dramatischen Entwicklung, am Sonntagabend um fast die gleiche Zeit – genauer
gesagt gegen 19.04–, klingelt sie an der Wohnungstür des Kriminalober-
321
kommissars Walter Moeding, der eben dabei ist, sich aus dienstlichen, nicht
privaten Gründen als Scheich zu verkleiden, und gibt dem erschrockenen Moeding
zu Protokoll, sie habe mittags gegen 12.15 in ihrer Wohnung den Journalisten
Werner Tötges erschossen, er möge veranlassen, dass ihre Wohnungstür aufgebro-
chen und er dort »abgeholt« werde; sie selbst habe sich zwischen 12.15 und 19.00
Uhr in der Stadt umhergetrieben, um Reue zu finden, habe aber keine Reue
gefunden; sie bitte außerdem um ihre Verhaftung, sie möchte gern dort sein, wo
auch ihr „lieber Ludwig“ sei.
(H. Böll. Die verlorene Ehre der Katharina Blum)
In diesem Sinne ist der Satz eine Konstituente des Textes. Es entsteht aber die Frage:
Was macht den Satz selbst zu einer Einheit? Die Einheit von Wortgruppen wird von
syntaktischen Beziehungen gewährleistet, von Kongruenz, Rektion und Anschluss.
Der Satz als Struktur wird durch eine andere Beziehung zusammengehalten, die
zwischen den Hauptgliedern des Satzes dem Subjekt und dem Prädikat entsteht.
Diese Beziehung, die Zuordnung heißt, hat eine andere Qualität, denn sie ist
322
wechselseitig.
Subjekt und Prädikat bilden die Satzbasis. Beide Begriffe gehen auf eine solide
Tradition in der Germanistik zurück, und zwar auf die Arbeiten, in welchen Subjekt
und Prädikat als konstituierende Elemente der Satzbedeutung anerkannt werden (vgl.
z.B. Brinkmann 1971: 458; Eichler, Bünting 1989: 37; Admoni 1986: 219). Dieser
Standpunkt ist auch von der generativen Grammatik aufgegriffen worden. Da aber in
dieser Grammatik nicht die Satzglieder, sondern Konstituenten des Satzes
berücksichtigt werden, wird von der Verknüpfung der nominalen und verbalen
Kategorien gesprochen, die den Satz ausmacht (vgl. Grewendorf 1988: 47). Das
Verhältnis zwischen diesen Kategorien ergibt eine neue Qualität, die den Satz als
Struktur ausmacht. Dieses Verhältnis ist die Prädikation. Man nennt dieses
Verhältnis satzbildend, weil es den Satz von der Wortgruppe unterscheidet. Die
Wortgruppe nominiert einen Gegenstand oder eine Handlung mit ihren
Eigenschaften, ohne auf die Zeit Bezug zu nehmen. Der Satz bezeichnet dagegen eine
Situation oder ein Ereignis, was das Zusammentreffen von Subjekt (als Gegenstand
der Rede) und Prädikat, das diesen Gegenstand charakterisiert, gewährleistet.
Das Prädikat enthält im Deutschen fast immer ein finites Verb, was dem Satz ein
explizites satzbildendes Merkmal – das Merkmal der Finitheit – verleiht.
In der generativen Grammatik versteht man dieses Merkmal als eine Projektion der
Flexionskategorie (INFL = inflektion) (Grewendorf 1995: 124), die in der Kongruenz
des Prädikats mit dem Subjekt realisiert wird. Die Inflektionskategorie wird somit zu
einem expliziten Element der Satzstruktur. Das Vorhandensein dieses Elements
ermöglicht es, den Satz als Struktur ohne Bezug auf die Zeit zu betrachten. Das ist
eine neue Definition des Satzbegriffs, die auf die Zeitrelation nicht angewiesen ist.
Der zeitliche und der modale Bezug entsteht nur in der Äußerung, wenn das
strukturelle Schema des Satzes mit konkretem Inhalt gefüllt wird.
In der deutschen Germanistik besteht dagegen die Tendenz, bei der Definition des
Satzes allein die Rolle des finiten Verbs hervorzuheben (vgl. z.B. Engelen 1986: 92;
Griesbach 1986: 29; Duden 1995: 604; Engel 1996: 80). Somit wird dem Subjekt
323
seine Sonderstellung unter den Satzgliedern abgesprochen, es wird als eines der
Aktanten (neben Objekt und Adverbiale) angesehen. Uns liegt es doch nahe, im
Einklang mit der russischen Grammatiktradition, das Subjekt und das Prädikat als
Hauptglieder des Satzes anzuerkennen und das prädikative Verhältnis als Satzbasis zu
betrachten, die das Merkmal der Finitheit besitzt, welches in der Wortgruppe fehlt.
Andere Beziehungen innerhalb des Satzes sind Nebenordnung und Unterordnung.
Durch Nebenordnung werden gleichartige Satzglieder verbunden. Die Unterordnung
wird ebenso wie in Wortgruppen als Kongruenz, Rektion oder Anschluss realisiert.
Ausdrucksmittel der internen Beziehungen im Satz sind Endungen, Konjunktionen,
Präpositionen und Kontaktstellung.
Das Prädikat mit abhängigen Satzgliedern bildet den Prädikatsknoten. Der
Prädikatsknoten kann als eine syntaktische Maßeinheit betrachtet werden. Dem
einfachen Satz liegt ein Prädikatsknoten zugrunde, dem komplexen Satz – zwei oder
mehrere. Folgende Beispiele zeigen, wie Prädikatsknoten aus dem Satz extrahiert
werden können:
Als wir Ferien hatten, haben wir Sankt-Petersburg besucht → Ferien haben +
Sankt-Petersburg besuchen
Aus Italien zurückgekehrt, schrieb Goethe seine Iphigenie – als er aus Italien
zurückgekehrt war;
um das zu verstehen, müssen wir noch ein Thema durchnehmen – damit wir das
verstehen können.
Hier kann man von einer zusätzlichen oder zweitrangigen Prädikation sprechen
(Žerebkov 1979). In der Russistik ist in solchen Fällen gewöhnlich, wie gesagt, von
einer Halbprädikation die Rede (Черемисина, Колосова 1987: 80). Es ist im Grunde
eine Graduierung der Prädikation. Der prädikative Knoten ist vorhanden, aber nicht
voll ausgelastet. In der deutschen Germanistik werden solche Konstruktionen je nach
dem Kernwort der Gruppe Infinitivsätze bzw. Partizipialphrasen genannt (Engel
1996: 259). Andere Autoren vereinigen beide Abarten mit dem Terminus 'reduzierte
Nebensätze' (reduziert um ein Subjekt, das finite Verb und das Einleitungswort)
(Helbig, Buscha 2005: 461). In speziellen Forschungen spricht man von der
Satzwertigkeit solcher Gruppen (Engelen 1986).
Spezielle Untersuchungen zeigen, dass auch andere Konstruktionen satzwertig sein
können, indem sie ein prädikatives Verhältnis implizieren. Dazu gehören
beispielsweise solche Konstruktionen wie der absolute Akkusativ und der absolute
Nominativ sowie Präpositionalgruppen mit verbalem Substantiv als Kernwort. Das
implizite prädikative Verhältnis erlaubt es, diese Konstruktionen leicht in Sätze zu
transformieren, vgl.:
Die Prädikation kann also sowohl explizit als auch implizit sein. So schreibt z.B.
M.L. Kotin: „Ein Wort oder eine Wortgruppe ist dann und nur dann ein Satz, wenn
es/sie eine overte oder implizite Prädikation enthält“ (Kotin 2007b: 196). Wie schon
gezeigt wurde, ist das Merkmal der expliziten, oder overten Prädikation die Finitheit.
Von der impliziten Prädikation können wir dann sprechen, wenn der Satz kein
Finitum enthält. So können wir z.B. folgende syntaktische Einheiten als Sätze
325
betrachten:
Guten Tag!
Achtung!
Feuer!
Wie bitte?
Die Prädikation dieser Sätze kann dadurch bestimmt werden, dass sie ergänzt werden
können, z.B. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag (Guten Tag), achten Sie darauf
(Achtung!), es brennt (Feuer!) und Was haben Sie gesagt? (Wie bitte?). Diesen Sätzen
liegen die Kategorien der Modalität und der Zeit zugrunde, die neben der Kategorie
Person der Kategorie der Prädikativität zugrunde liegen (vgl. auch В.В. Виноградов
1950).
Wieder andere Wortgruppen sind außerhalb des Kontextes nicht satzwertig, sie
besitzen gar keine, anders gesagt, eine Nullprädikation, so ‘meine Mutter’, ‘ein
schönes Bild’. Aber in manchen Kontexten werden auch solche Wortgruppen
satzwertig, vgl.:
Meine Mutter hätte anders gehandelt → Wenn es meine Mutter gewesen wäre,
hätte sie anders gehandelt;
Satzarten
Die Syntax kann nicht getrennt von der Morphologie, Phonetik, Lexik und
Orthographie betrachtet werden. Diese Zusammenhänge sind in vielen Erscheinungen
zu sehen, die wir schon erwähnt haben. Die Wechselwirkung mit der Morphologie
und der Lexik kommt beispielsweise in Wortarten zum Vorschein, die in der
Satzgliedfunktionen auftreten. Äußere und innere Flexionen ermöglichen die
326
Zuordnung und die Kongruenz. Das Merkmal der Finitheit, das dem Satz als Struktur
innewohnt, kooperiert mit Tempora und Modi; mit Hilfe der Tempora wird der Satz
auf die Zeit bezogen. Die Modi – Indikativ, Imperativ und Konjunktiv – gestalten die
Sprechereinstellung zu dem Gesagten, die auch von bestimmter Intonation bestätigt
wird. Der Modusgebrauch in Verbindung mit Satzzeichen und der Intonation
unterscheidet prototypische funktionale Satzarten. Ein für die deutsche Sprache
charakteristisches Merkmal von verschiedenen Satzarten ist der Gebrauch der
Partikeln (Dürscheid 2012: 62).
Der Indikativ gestaltet Aussagesätze, die in deutschen Grammatiken Deklarativ-
oder Konstativsätze genannt werden (Engel 1996: 181). Der Sprecher äußert damit,
dass er seine Aussage für real hält. Der Punkt am Ende signalisiert die
Abgeschlossenheit der Aussage, die Intonation fällt gegen das Satzende. Das finite
Verb besetzt die zweite Stelle. Von den Partikeln sind für die gesprochene Sprache
eben und halt typisch (a), für schriftliche Rede wahrscheinlich oder möglicherweise
(b). Die Partikeln variieren die Sprechereinstellung: In der gesprochenen Sprache
verleihen sie der Aussage die Schattierung der Sicherheit, und in schriftlichen Texten
entsteht die Schattierung der Vermutung. Vgl.:
mit Negationen. Schriftlich wird der Satz mit dem Ausrufezeichen abgeschlossen, das
gewisse Emotionen voraussetzt. Bei dem Sprechen ist die Intonation fallend, aber
emotionsgeladen. In der Peripherie befinden sich solche Sätze, in denen die
Aufforderung durch das Modalverb lassen, den Infinitiv oder überhaupt ohne Verb
ausgedrückt ist. Die wichtigsten Abarten der Imperativsätze sind wie folgt:
Kein Durchgang!
besetzt auch die erste Stelle, man erwartet ebenfalls eine Entscheidung, die aber mit
einem vollständigen Satz formuliert ist. Die Ergänzungsfragen beginnen mit einem
Fragewort, das Verb steht an der zweiten Stelle (g, h). In der Antwort wird eine
Ergänzung erwartet. Mit Bestätigungsfragen erwartet man einen positiven Bescheid,
man will etwas Unbestätigtes in sicheres Wissen überführen (f). Solche Frage sind oft
Verbzweitsätze. Die Nach- und Rückfragen wiederholen den Sachverhalt mit w-
Wörtern (Zifonun et al. 1997: 114). Vgl.:
(e) Soll ich denn gehen, oder warte ich auf dich?
(i) Hast du das Inge gesagt? – Wem habe ich das gesagt? /Ich habe das wem
gesagt?/Ob ich das wem gesagt habe?
Der Konjunktiv zeichnet beispielsweise Wunschsätze aus. Reale Wünsche, die als
erfüllbar gedacht sind, werden durch Konjunktiv I (z.B.: Es lebe der Frieden!) oder
präteritale Reihe des Konjunktivs II (Präteritum und Konditionalis I) ausgedrückt.
Konjunktiv I kommt in der modernen Sprache zum Ausdruck des Wunsches selten
vor. Die Bedeutung der Sätze mit diesem Konjunktiv stellt einen Grenzfall zur
Aufforderung dar. Irreale Wünsche kommen durch Plusquamperfekt Konjunktiv zum
Ausdruck oder wenn das Prädikat der Bedeutung nach phantastisch ist. Vgl. Sie bei
H. Heine: Wenn ich ein Vöglein wäre… Zur Verstärkung des Wunsches wird die
Partikel doch gebraucht, zur Einschränkung – die Partikeln nur und bloß (Dürscheid
2012: 64), aber, doch und ja (ebenda). Die Stellung des Prädikats variiert. In
329
konjunktionslosen Sätzen nimmt es die erste Position an; in den Sätzen, die mit wenn
eingeleitet sind, steht es am Satzende. Die Intonation ist fallend. Der Satz wird in der
Regel mit Ausrufezeichen abgeschlossen, manchmal auch mit dem Punkt. Vgl.:
Ausrufesätze
Schriftliche Rede Aussagesätze
Tab. 23. Die Korrelation von Rede- und Satzarten
Mit Chr. Dürscheid (Dürscheid 2012: 65) zählen wir formale Kennzeichen zur
Unterscheidung der Satzarten: Verbstellung, Modus des Verbs, Intonation, Partikeln
und Satzzeichen.
Strukturelle Satztypen
Man unterscheidet zwei Hauptansätze, nach welchen strukturelle Satztypen
beschrieben werden. Zum einen dient die Stellung des finiten Verbs als
Unterscheidungskriterium, zum anderen ist es die Zahl der Satzbasen. Im ersten Fall
werden die Satztypen manchmal Verbstellungstypen genannt (Dürscheid 2012: 72),
dieser Terminus bezeichnet aber Typen der Verbstellung, nicht die Satztypen. Im
zweiten Fall unterscheidet man Sätze als Konstruktionsformen (Zifonun et al. 1997:
91), sie werden einfach Satzformen genannt.
Die Unterscheidung der Satztypen ist im Deutschen struktureller Art, denn sie werden
durch die Position des finiten Verbs gekennzeichnet. Die Satztypen werden nach
diesen Positionen benannt und heißen Verberst-, Verbzweit- und Verbendsätze.
Diese Satztypen haben in deutschen Grammatiken auch metaphorische
Bezeichnungen. Verberstsätze heißen anders Stirnsätze, Verbzweitsätze werden
Kernsätze genannt und Verbletztsätze Spannsätze.
Grammatische Rolle der fixierten Stellung des finiten Verbs kommt auch darin zum
Ausdruck, dass die strukturellen Satztypen mit funktionalen Satzarten koordinieren.
Die Ausgangsform der Satzarten ist der Aussagesatz, und er wird grammatisch als
Kernsatz realisiert. Ergänzungsfragen sind Sätze mit Zweitstellung des finiten Verbs.
Diese Art von Sätzen bezeichnen wir als Verbzweitsätze. Verbzweitsätze sind auch
manche Ausrufesätze, z.B. Wie schön wäre das!
Stirnsätze werden als Satzarten Aufforderungssatz und Entscheidungsfrage
331
Kommst du heute?
Verbendsätze sind typische Formen der Nebensätze. Es sind Spannsätze, denn wir
sind psychologisch gespannt (vgl. Boost 1964), wann endlich das Verb erscheint. Die
psychologische Spannung entsteht auch in konjunktionalen Wunschsätzen und in
Ausrufesätzen, vgl.:
Sie war siebzehn, als sie zum ersten Mal nach Deutschland kam.
Satzformen
Ausgangsform des einfachen Satzes ist der Elementarsatz. Diesen Begriff hat W.G.
Admoni eingeführt. Er versteht darunter die Satzstruktur als solche, ohne ihre
Funktion zu beachten (Адмони 1963: 19), vgl.:
„Als Elementarsatz tritt […] jeder Satz auf, der in den wichtigsten Zügen seiner
Gestalt mit der Struktur des selbständigen Satzes übereinstimmt, ohne Rücksicht
darauf, ob er eine abgeschlossene Einheit darstellt, und unabhängig davon,
welche Rolle er im Redestrom spielt“ (Admoni 1986: 255).
Es ist demnach nicht wichtig, ob das ein selbständiger einfacher Satz, ein Teil der
Satzreihe oder ein Nebensatz ist. Hauptsache ist, dass die Satzstruktur dabei besteht,
332
In dem angeführten Beispiel ist (1) ein Obersatz zu (2), und (2) ist sein Untersatz und
zugleich ein Obersatz zu (3). (1) nennen wir auch den Hauptsatz und (2) und (3) sind
Nebensätze verschiedenen Grades. Wenn die Satzbasis unvollständig ist, nennt man
sie den Satzrest. Im folgenden Satz ist der Satzrest angestrichen:
Man unterscheidet die Satzformen auch nach dem Erweiterungsgrad der Satzbasen.
Diese Formen variieren je nach der strukturell-grammatischer Füllung. Die
wichtigsten davon sind: Der „nackte“, der erweiterte und der elliptische Satz.
Der nackte Satz besteht nur aus Hauptgliedern, bei den meisten Satztypen des
333
Deutschen sind es Subjekt und Prädikat. „Nackt“ ist eine metaphorische Bezeichnung
dafür, dass die Hauptglieder keine Erweiterungen haben, die strukturell nicht
notwendig sind. Weiter werden wir sehen, dass dieser Begriff für Satzmodellierung
wichtig ist, denn die Satzmodelle werden in der Regel als nackte Sätze gegeben.
Einige Beispiele:
Die Beispiele zeigen, dass die Formen des Prädikats ziemlich mannigfaltig sind. Es
sind analytische Tempusformen (h), Formen mit trennbaren Teilen (b), Formen mit
semantisch schwachem Verb, die einer Erstreckung bedürfen (c) und Formen mit
notwendigen Satzgliedern (d, e). Nackte Sätze können auch eingliedrig sein (f).
In erweiterten Sätzen ist die Satzbasis durch Nebensatzglieder gefüllt, die strukturell
nicht notwendig, also frei in der Satzstruktur sind. Diese Satzglieder werden bei der
Satzmodellierung nicht berücksichtigt, doch sie sind inhaltlich wichtig, denn sie
drücken mannigfaltige Beziehungen der Außenwelt aus. Die Erweiterung kann nach
mehreren Prinzipien stattfinden.
Erstens, Subjekt und Prädikat können als Köpfe Erweiterungen annehmen und
untergeordnete Gruppen bilden. Das Subjekt bildet in der Regel nominale Phrasen,
das Prädikat kann sowohl verbale als auch nominale oder Adjektivphrasen bilden.
Vgl. Sie die Erweiterungen der oben angeführten nackten Sätze, sie sind fett
hervorgehoben:
334
Das Mädchen, das erst drei Jahre alt ist, kann schon lesen.
Manchmal können Erweiterungen hinzugefügt werden, die für den ganzen Satz
gelten. Das sind Partikeln wie schon im oben angeführten Satz (a) und manche
Adverbialien wie sonntags in (d). Auch absolute Konstruktionen können sich auf den
ganzen Satz beziehen: Er trat ins Zimmer, den Hut in der Hand.
Einen Gegensatz zu erweiterten Sätzen bilden Satzformen, in denen ein oder beide
Hauptglieder fehlen. Es gibt zwei Arten solcher Sätze. Zum einen sind es Sätze, die
335
außer dem Kontext verständlich sind, weil sie bestimmte Typen vertreten, die
ziemlich oft gebraucht werden. Solche Sätze heißen elliptisch. Charakteristische
Beispiele entnehmen wir der Grammatik von Zifonun et al. (Zifonun 1997: 86):
Eine andere Art der unvollständigen Sätze wird interaktiv genannt (Zifonun et al.
1997: 90), weil sie als Antwortsätze in Dialogen gemeint werden. Sie sind aus dem
Kontext oder der Situation wiederherstellbar, vgl.:
Die Meinungen der Forscher in Bezug auf solche Sätze sind nicht einheitlich. W.G.
Admoni (Admoni 1986: 252) zählt sie zu elliptischen Sätzen. Wir schließen uns der
Meinung von G. Zifonun an und unterscheiden elliptische und interaktiv
unvollständige Sätze.
Fazit
Satzform wird als interne Struktur nach der Zahl und Gestaltung der Satzbasen
bestimmt. Die Wahl der passenden Satzform wird mittelbar durch die Absicht
des Sprechers / Schreibers geregelt. Satzformen werden auch nach dem Grad
der Erweiterung als nackte, erweiterte, elliptische und unvollständige Sätze
unterschieden. Satzrang wird durch die Abhängigkeit oder potentielle
Selbständigkeit des Elementarsatzes bestimmt. Der jeweilige Satztyp hängt von
der Position des finiten Verbs ab.
336
Wortfolge
Der grammatische Aspekt der Wortfolge prägt die topologische Seite des deutschen
Satzes. Erstens unterscheidet die fixierte Stellung des finiten Verbs die Satztypen,
zweitens ist die Reihenfolge der Satzglieder in den Satzbauplänen so grammatisch
geregelt, dass ihre Positionen unmarkiert erscheinen und keine kommunikativ-
pragmatischen Einstellungen berücksichtigen. Die Satzbaupläne implizieren die
Basisregeln der Wortfolge, die für die Sprachkompetenz eines Fremdsprachlers
besonders wichtig sind.
Die Unterscheidung von Satztypen stützt sich auf das Dreifeldermodell von E. Drach.
Laut diesem Modell teilt die verbale Klammer den Satz in drei Teile: Vorfeld, Mittel-
und Nachfeld. Als topologisches Grundmodell wird der Verbzweitsatz (V2-Satz)
anerkannt (Brinkmann 1971: 477). Den Basisstatus dieses Typs bestätigt der
Terminus „Kernsatz“ (Duden 1998: 814). Dieses Modell wird am häufigsten
gebraucht; diesem Modell entsprechen Deklarativsätze und Interrogativsätze mit
Fragewort:
Ach der alte Stänkerer sei diesmal doch "altersmilde", antwortet er gönnerhaft
(Zeit Online. 30.05.2012).
Ralli, der kommt sogar noch, bevor ich mich aus dem Staub mache (DECOW
16A).
Gestern habe ich angefangen und mir einen Eindruck der Strecke geschaffen
(DECOW 16A).
Durch ELINET haben wir erfahren, dass solche Programme auch in Ländern
wie Italien oder Kroatien existieren (DECOW 16A).
338
Wenn das Subjekt durch eine Wortgruppe ausgedrückt ist, so wird das sowieso als ein
Satzglied angesehen und die ganze Wortgruppe kommt in das Vorfeld. Dasselbe gilt
für andere Satzglieder, was wir schon am Beispiel des Gliedsatzes gesehen haben.
Hier ein Beispiel für die Erweiterung des Subjekts:
Werner und Nina werden Lebensmittel kaufen, wenn sie auf den Markt gehen.
Das Vorfeld muss noch präzisiert werden, und zwar für die Fälle, wenn zum Beispiel
eine Konjunktion vor das im Vorfeld stehende Satzglied geschoben wird, vgl.:
Und Werner wird Lebensmittel kaufen, wenn er auf den Markt geht.
Und Lebensmittel wird Werner kaufen, wenn er auf den Markt geht.
Und kaufen wird Werner Lebensmittel, wenn er auf den Markt geht.
Und wenn er auf den Markt geht, wird Werner Lebensmittel kaufen.
Die Beispiele zeigen, dass die Konjunktion auch fest gebunden ist. In der Tat, sie
nimmt keine Sonderstellung ein, die man manchmal für Konjunktionen reserviert
(vgl. Duden 1998: 819; Eisenberg 1986: 312).
Es gibt aber bestimmte Einschränkungen bei der Verwendung der Satzglieder im
Vorfeld. So weist Chr. Dürscheid darauf hin, dass Nicht-nominativische Pronomina
nur dann im Vorfeld stehen können, wenn sie betont sind (a). So kann das
akkusativische Objektpronomen es, das nicht betonbar ist (nicht zu verwechseln mit
dem unpersönlichen es, das in der Regel im Vorfeld steht), nie das Vorfeld besetzen
(b). Dasselbe gilt auch Modalpartikeln halt, wohl, ja (c) usw. an:
(a) * Ihn habe ich damit nicht gemeint, wohl aber seinen Freund.
Die linke Satzklammer wird von dem Verbum finitum gebildet, vgl.: Ich arbeite
heute zu Hause. Die rechte Satzklammer schließt das Partizip II, Infinitive,
trennbare Verbalpräfixe (bzw. Verbpartikeln) ein, sie kann aber auch leer bleiben,
339
z.B.:
Das Mittelfeld ist zwischen der rechten und der linken Satzklammer. Im Mittelfeld
stehen nominale und präpositionale Satzglieder, Modalpartikeln sowie Pronomen. In
der Regel ist die Abfolge der Wörter im Mittelfeld frei, es gibt aber bestimmte
Gesetzmäßigkeiten bei der Aneinanderreihung von Komponenten. So stehen z.B. das
Dativobjekt vor dem Akkusativobjekt und das Subjekt vor dem Objekt, vgl.: Die
Mutter schenkt der Tochter das Buch. Gestern hat Peter das Buch gelesen. Die
Abfolge >das Akkusativobjekt vor Dativobjekt<, >Objekt vor Subjekt< ist auch dann
möglich, wenn die letztere Komponente fokussiert ist, d.h. die wichtige Information
wird hervorgehoben, vgl.: Die Mutter schenkt das Buch der TOCHter (nicht dem
Sohn). Gestern hat das Buch PETer gelesen (nicht Hans). Pronomen und
Modalpartikeln schließen sich an die rechte Satzklammer an und stehen im oberen
Mittelfeld, vgl.:
In der ersten Halbzeit unterlief ihm sogar ein Airball (Zeit Online. 01.01.2013).
(Falsch ist aber *In der ersten Halbzeit unterlief sogar ein Airball ihm).
Sie kann schon gut Englisch sprechen; Sie wird uns morgen besuchen.
340
Sie zog den Pullover an; Wir lernten einander vor drei Jahren kennen.
Ich habe immer gesagt, dass ich Schritt für Schritt gehe (Zeit Online.
01.01.2013).
Er hat schon fast aufgegeben und sich eingeschrieben für Energie- und
Prozesstechnik an der Technischen Universität Berlin […] (Zeit Online.
01.01.2013).
Das Nachfeld lässt sich weiter unterteilen, und zwar in die linke Satzklammer,
Mittelfeld und rechte Satzklammer, oder auch Schlussfeld genannt (Bech 1983, nach
Pafel 2011: 67). Die Einteilung der Satzglieder nach Subfeldern im Nachfeld kann in
folgender Tabelle veranschaulicht werden:
Linke Satzklammer Mittelfeld Rechte Satzklammer
Oberfeld Unterfeld
dass Steuern erhöht werden müssen
dass er eine Reise hätte machen müssen
Tab. 25. Das topologische Modell des Nachfeldes
Die linke Satzklammer im Nachfeld wird manchmal als COMP-Position bezeichnet
(Pafel 2011: 68). In COMP steht eine Subjunktor bzw. ein Interrogativpronomen wie
z.B. dass, ob, nachdem usw.
In den Verberstsätzen (V1-Satz) steht das finite Verb in der Stirnstellung. Dieses
Stellungsmodell wird in den Aufforderungen, Entscheidungsfragen und in den
341
Kämest Du rechtzeitig
Tab. 26. Topologisches Modell der V1-Sätze
Die Verbletztsätze (VL-Sätze) liefern das topologische Modell des Nebensatzes. Die
Spezifik dieses Modells besteht darin, dass es nur Spannsätze zulässt. Die Spannung
entsteht durch die Satzklammer, die aber anders gestaltet ist als in den ersten zwei
Satztypen. Die linke Satzklammer wird nicht vom finiten Verb gebildet, sondern von
der unterordnenden Konjunktion oder von einem konjunktionalen Relativwort. Die
rechte Satzklammer wird entweder durch das infinite Verb gebildet oder durch einen
ganzen Verbalkomplex. Das Vorfeld kann auch von einem Nebensatz besetzt werden.
Das trifft für Adverbial-, Subjekt- und Objektsätze zu, nicht aber für Attributsätze
(Dürscheid 2012: 95). So entsteht folgendes Schema, in welchem die vorangestellten
Nebensätze das Vorfeld des nachgestellten Hauptsatzes bilden:
Vorfeld Linke SK Mittelfeld Rechte SK
Dass es dir gefällt freut mich
Wenn Du fertig bist gehen wir spazieren
(Sie
fragte) Sie gehen
wohin
Linke Mittelfeld Rechte SK
SK
Tab. 27. Topologisches Modell der VL-Sätze
342
Abschließend kommen wir noch einmal auf den Basisstatus des Verbzweitmodells
zurück. Einige Linguisten meinen, dass sich dieser Status aus kommunikativ-
pragmatischen Gründen ableiten lässt (vgl. dazu Eisenberg 1986: 307). Unseres
Erachtens ist es doch vielleicht wichtiger zu betonen, dass dieses Modell das einzige
ist, in dem alle Stellungsfelder besetzt sind. Die anderen zwei Satztypen kommen
ohne Vorfeld aus, was schon auf ihren ableitbaren Charakter hinweist. Und die
Ableitung erfolgt wieder aus kommunikativ-pragmatischen Gründen. H.-J. Heringer
beschreibt diesen Prozess als Fokussierung der finiten Verben oder w-Fragen in der
Stirnstellung (Heringer 1996: 253). Der Prozess an sich illustriert die
Wechselwirkung der Grammatik und Pragmatik.
Wenden wir uns nun der Reihenfolge der Satzglieder in der internen Struktur der
Satzbaupläne zu. Die Satzbaupläne werden nur für das topologische Grundmodell –
den Kernsatz – gegeben. Dabei ist nur die Abfolge der Satzglieder im Mittelfeld von
Bedeutung. Das Vorfeld und die beiden Satzklammern werden ganz schematisch
angedeutet, das Nachfeld bleibt leer oder kann durch die Nebensätze eingenommen
werden, wenn diese nachgestellt sind. Die Satzglieder, die den Satzbauplan prägen,
füllen Leerstellen um das prädikative Verb aus. Im Satzbauplan befinden sie sich in
unmarkierten Positionen des Mittelfeldes. Die Reihenfolge der Satzglieder im
Satzbauplan kann unseres Erachtens als Basisreihenfolge angesehen werden. Dabei
gelten folgende Regularitäten:
Bei nominalen Satzgliedern geht das Dativobjekt vor dem Akkusativobjekt: Er
stellt dem Vater den Lehrer vor.
Bei pronominalen Satzgliedern steht im Gegenteil das Akkusativobjekt vor
dem Dativobjekt: Er stellt ihn ihm vor.
Die Objekte stehen vor Richtungsangaben: Er legt das Buch auf den Tisch.
Die pronominalen Objekte stehen vor nominalen: Er schleudert ihm den
Handschuh ins Gesicht.
Fazit
Die Wortfolge prägt im Deutschen die Satztypen. Das Grundmodell ist der
343
Funktionale Satzperspektive
Mit der Wortstellung sind die Begriffe der funktionalen Satzperspektive, abgekürzt
FSP, und der Thema-Rhema-Gliederung (TRG), eng verbunden. In der russischen
Linguistik wird dieser Begriff als kommunikative Gliederung (актуальное членение)
bezeichnet. Die FSP zeigt, wie im Satz sprachliche Einheiten geordnet sind, die
etwas Bekanntes und etwas Neues bezeichnen.
Den Begriff der funktionalen Satzperspektive hat der tschechische Sprachforscher W.
Mathesius in die Linguistik eingeführt (Матезиус 1967). Er hat die tschechische
Sprache mit der englischen verglichen und hat bedeutende Unterschiede zwischen
diesen Sprachen festgestellt. Tschechisch ist eine slawische Sprache und hat keinen
Artikel und eine relativ freie Wortstellung. Englisch aber ist eine germanische
Sprache, die einen Artikel und eine ziemlich strenge Wortstellung hat. Diese zwei
Faktoren beeinflussen Unterschiede bei der Äußerung der Gedanken. W. Mathesius
hat diese Unterschiede mit Hilfe von Begriffen Thema und Rhema beschrieben. Der
Terminus Rhema wurde in der Germanistik im Jahre 1928 von Amman verwendet 4
(Ping 2004), später hat der deutsche Sprachforscher K. Boost (1964) mit den Termini
Thema und Rhema operiert.
Mit Thema wird das Bekannte in der Äußerung oder der Ausgangspunkt bezeichnet,
von dem die Äußerung entrollt. Mit Rhema wird das Neue in der Äußerung
bezeichnet. In der Regel steht das Thema am Anfang des Satzes und wird mit dem
bestimmten Artikel gebraucht. Das Rhema steht meistens mit dem unbestimmten
Artikel und strebt dem Satzende zu. Das Thema wird gewöhnlich mit Th bezeichnet
und das Rhema mit Rh. Vgl.:
4 The linguists of the Prague school were the first to investigate the notions of theme and rheme in a
systematic and extensive way (Halliday 1970a: 171, Fries 1995a:3) (Ping 2004: 25).
344
Der nächste Tag (Th) war ein Sonntag (Rh) (Th. Fontane. Frau Jenny Treibel).
Das Thema wird oft mit dem Eigennamen bezeichnet, der eine bekannte Person
nennt, syntaktisch fällt es oft, wie auch im angeführten Beleg, mit dem Subjekt des
Satzes zusammen. Das Rhema gehört in der Regel in den Bereich des Prädikats, es ist
entweder ein Prädikativ oder es kann auch durch ein verbales Prädikat ausgedrückt
werden, vgl.:
Das Thema kann mit Hilfe des bestimmten Artikel markiert werden, das Rhema
dagegen mit Hilfe des unbestimmten. Es ist aber nicht immer so, dass das Rhema
durch den unbestimmten Artikel markiert ist. In vielen Fällen entscheidet der
Kontext, was in der Äußerung das Neue ist. In folgendem Beispiel bezeichnet das
345
grammatische Objekt die Klingel das Neue in der Situation, ist also das Rhema,
obwohl es mit dem bestimmten Artikel steht:
In diesem Augenblicke hörte man die Klingel (Th. Fontane. Frau Jenny Treibel).
Im Herbst sammeln sich in Stadt und Land die Zugvögel zu ihrer Winterreise.
In der Regel steht das Thema am Satzanfang. Es kann aber sein, dass das Rhema dem
Thema vorausgeht. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein, so können z.B. die
rhematischen Teile an der Satzspitze eine emphatische Wortfolge schaffen bzw. der
Textkohäsion beitragen. Ausführlicher werden diese Fragen im Abschnitt
„Vertiefung“ erörtert.
Aufgaben
Aufgabe 1
Finden Sie in den Elementarsätzen des folgenden Auszuges Prädikate und
entscheiden Sie, ob sie Prädikatsknoten bilden. Begründen Sie Ihre Meinung.
Der Verkehrsunfall, dessen Zeuge ich geworden war, hatte sich auf der Autostraße
nach Tel Geborim zugetragen, und zwar um die Mittagszeit, und zwar stieß eine
Regierungslimousine mit einem Radfahrer zusammen, der den Unfall nicht überlebte.
Die Limousine hatte das rote Halt-Signal überfahren, benützte eine Einbahnstraße in
falscher Richtung und wurde von einem unzweifelhaft Volltrunkenen gesteuert. Als
einziger am Tatort vorhandener Zeuge ließ ich mir von der Polizei das Versprechen
abnehmen, bei der Gerichtsverhandlung zu erscheinen und auszusagen, die Wahrheit,
die volle Wahrheit, und nichts als Wahrheit (E. Kishon. Der Prozess)
346
Aufgabe 2.
Finden Sie in dem Auszug aus „Der Besuch der alten Dame von “F. Dürrenmatt
verschiedene Satzarten und Satzformen. Erklären Sie ihre kommunikativen
Äußerungsfunktionen.
ILL Klara.
CLAIRE ZACHANASSIAN Alfred.
ILL Schön, dass du gekommen bist.
CLAIRE ZACHANASSIAN Das habe ich mir immer vorgenommen. Mein Leben
lang, seit ich Güllen verlassen
habe.
ILL unsicher Das ist lieb von dir.
CLAIRE ZACHANASSIAN Auch du hast an mich gedacht?
ILL Natürlich. Immer. Das weißt du doch, Klara.
CLAIRE ZACHANASSIAN Es war wunderbar, all die Tage, da wir zusammen
waren.
ILL stolz: Eben. Zum Lehrer: Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack.
CLAIRE ZACHANASSIAN Nenne mich, wie du mich immer genannt hast.
ILL Mein Wildkätzchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN schnurrt wie eine alte Katze. Wie noch?
ILL Mein Zauberhexchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN Ich nannte dich: mein schwarzer Panther.
ILL Der bin ich noch.
CLAIRE ZACHANASSIAN Unsinn. Du bist fett geworden. Und grau und versoffen.
ILL Doch du bist die gleiche geblieben. Zauberhexchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN Ach was. Auch ich bin alt geworden und fett. Dazu ist
mein linkes Bein hin. Ein Autounfall. Ich fahre nur noch Schnellzüge. Doch die
Prothese ist vortrefflich, findest du nicht? Sie hebt ihren Rock in die Höhe und zeigt
ihr linkes Bein. Lässt sich gut bewegen.
347
ILL wischt sich den Schweiß ab: Wäre nie darauf gekommen, Wildkätzchen.
CLAIRE ZACHANASSIAN Darf ich dir meinen siebenten Gatten vorstellen, Alfred?
Besitzt Tabakplantagen. Führen eine glückliche Ehe.
ILL Aber bitte.
CLAIRE ZACHANASSIAN Komm, Moby, verneig dich. Eigentlich heißt er Pedro,
doch macht sich Moby schöner. Es passt auch besser zu Boby, wie der Kammerdiener
heißt. Den hat man schließlich fürs Leben, da müssen sich dann eben die Gatten nach
seinem Namen richten.
Aufgabe 3
Finden Sie in dem oben angeführten Text verschiedene Satzformen und Satztypen.
Erklären Sie, wodurch sie sich unterscheiden.
Aufgabe 4
Argumentieren Sie dafür, welche Satzarten, Satzformen und Satztypen für einen
dramatischen Text charakteristisch sind.
Aufgabe 5
Finden Sie in einem Text Beispielsätze, in welchen sich verschiedene Satzränge
beobachten lassen, oder bilden Sie selbst solche.
Komplexer Satz
Zum Begriff des komplexen Satzes. Die Einteilung der syntaktischen Einheiten nach
ihrer Komplexität
Oben wurde darauf hingewiesen, dass syntaktische Einheiten von einem einheitlichen
Standpunkt aus eingeteilt werden können, und zwar vom Standpunkt der Prädikation
aus. Der prädikative Knoten kann dabei als syntaktische Maßeinheit gelten. Das
348
ermöglicht eine graduale Einteilung der syntaktischen Einheiten, und zwar nach dem
Grad ihrer Komplexität. Als Ausgangseinheiten der Syntax werden unter diesem
Blickwinkel einfache Sätze angesehen, dabei Sätze ohne satzwertige
Konstruktionen, z. B.:
Ich brauchte sie. Mit ihr war alles einfach (V. Braun. Das ungezwungene Leben
Kasts) → Ich brauchte sie, weil mit ihr alles einfach war.
Man unterscheidet zwei Hauptarten der komplexen Sätze: Satzreihe oder Parataxe
und Satzgefüge oder Hypotaxe.
Satzreihe
Die Satzreihe besteht aus zwei oder mehreren potential selbständigen Sätzen, die
einander beigeordnet sind. Die Art der Verbindung heißt Beiordnung oder Parataxe.
Die Beiordnung verbindet die Teilsätze zu einem Ganzen. Vgl.:
Die Frucht muss treiben (Fr. Schiller. Das Lied von der Glocke).
Die Satzreihe liegt in der Peripherie der komplexen syntaktischen Form. Bei
asyndetischer Verknüpfung der Teilsätze ist die Semantik dieser Verknüpfung
impliziert. Wir schließen daraus den Sinneszusammenhang. Z.B. im oben zitierten
Beispiel aus F. Schiller ist es Begründung. In diesem Zusammenhang hat H. Paul
geschrieben: "Ein rein parataktisches Verhältnis zwischen zwei Sätzen in dem Sinne,
dass keiner den anderen bestimmt, gibt es ... nicht" (Paul 1975: 148). Manchmal lässt
sich das logische Verhältnis zwischen den Teilsätzen nur in einem größeren
Zusammenhang verstehen, vgl.:
(Abends warteten sie auf Monika.) Sie arbeitete in der Stadt, die
Bahnverbindungen sind schlecht (P. Bichsel. Die Tochter).
350
Modale Einstellung lässt sich im Allgemeinen mit keiner Konjunktion verbinden und
muss in jedem konkreten Fall bestimmt werden.
Nach der Art des logischen Verhältnisses zwischen beiden Sätzen der Satzreihe
unterscheidet man 4 semantische Typen.
1. Kopulative oder anreihende Satzreihe, z.B.: Der Frühling kam und es wurde warm.
2. Adversative oder entgegenstellende Satzreihe, z.B.: Ich fahre fort, aber du bleibst
hier; Es ist draußen hell, aber das Licht brennt.
3. Kausative oder begründende Satzreihe, z.B.: Ich eile nach Hause, denn es ist zu
spät.
4. Folgernde oder konsekutive Satzreihe, z.B.: Es ist schon spät, daher muss ich nach
Hause eilen.
Die semantischen Typen realisieren die Absicht der Sprecher / Schreiber, zwei oder
mehrere Situationen der außersprachlichen Welt als eine komplexe Situation zu
bezeichnen.
In der kopulativen Satzreihe reiht sich der zweite Satz an den ersten an. Er erweitert,
erklärt, ergänzt ihn. Die Äußerung gibt das Gesamtbild einer Anordnung wieder. Die
charakteristische Konjunktion ist und. Aber es gibt eine große Reihe von kopulativen
Konjunktionen und Konjunktionaladverbien: Auch, außerdem, nicht nur, sondern
auch, zuerst - dann, ferner, erstens...zweitens, weder...noch, manchmal, teils...teils,
bald...bald.
Manchmal wird dieser Typ in zwei Teile geteilt. Man unterscheidet dann noch
disjunktive oder partitive Satzreihe mit den Konjunktionen bald...bald, teils...teils,
halb...halb, vgl.:
Bei dieser Satzreihe ist der Inhalt des zweiten Satzes ein Gegensatz zum Inhalt des
ersten. Die Äußerung gibt den Gesamtsinn eines Widerspruchs wieder. Zur
Verbindung dienen adversative Konjunktionen und Konjunktionaladverbien. Es gibt
eine Reihe solcher Wörter: Aber, dagegen, doch, jedoch, dennoch, oder, entweder
...oder, trotzdem, allein, sonst u.a. Vgl.:
Ein Taxistand war in der Nähe, aber Anton wollte ein Stück zu Fuß gehen (M.L.
Kaschnitz. Gespenster).
Entweder arbeiten wir zusammen, oder ich suche mir andere Partner.
In dieser Satzreihe wird die beiordnende kausative Konjunktion denn gebraucht. Der
Inhalt des zweiten Satzes begründet den Inhalt des ersten; der Gesamtsinn besteht in
der Argumentation:
Ich muss ein Wörterbuch nehmen, denn ich verstehe den Inhalt nicht.
352
Oft wird in der Grammatik gestritten, ob die Sätze mit denn Satzreihen oder
Satzgefüge sind. Die Wortstellung sowie die Unumkehrbarkeit sind hier gute
Kriterien, z.B.:
Ich muss gehen, weil ich noch viel zu tun habe. Weil ich viel zu tun habe, muss
ich gehen (Satzgefüge). Ich muss gehen, denn ich habe noch viel zu tun.
(Satzreihe). *Denn ich habe viel zu tun, muss ich gehen.
Hier ist der Inhalt des zweiten Satzes die Folge des Inhalts des ersten. Logisch ist das
eine Umkehrung der kausativen Satzreihe. Der Gesamtsinn besteht in der
Bezeichnung der Schlussfolgerung. Die typischen Verbindungsmittel der Teilsätze
sind Konjunktionaladverbien darum, deswegen, deshalb, folglich. Vgl.:
Ich habe das Gedicht schlecht behalten, darum muss ich es noch wiederholen.
Das Licht bewegt sich schneller als der Schall, daher nehmen wir den Blitz
früher wahr als den Donner. - Wir nehmen den Blitz früher als den Donner wahr,
denn das Licht bewegt sich schneller als der Schall.
(1) Was macht Marie? Sie ist aus dem Urlaub zurück und sie erwartet ein Kind;
(2) Warum willst du nicht, dass ich allein auf Urlaub fahre? - Marie ist aus dem
Urlaub zurück und sie erwartet ein Kind (gemeint wird, dass du denselben Weg
353
gehst).
In (1) hat und eine inhaltliche Funktion, die komplexe Äußerung wirkt
objektivierend. In (2) hat die Konjunktion eine epistemische Funktion, die der
Äußerung den Sinn der tadelnden Prophezeiung verleiht. In (3, 4) verbindet und zwei
Sprechakte und wirkt auch personalisierend:
(3) Geh sofort zu Bett! Und dass ich nichts mehr höre! (Zwei Befehle)
(4) Vielen Dank, Frau Schmidt, und schließen Sie bitte die Tür, wenn Sie
hinausgehen (Danksagung und Bitte).
Zu dieser dreifachen Interpretation kann man die Idee von der ikonischen
Wortstellung ergänzen. Das kann uns helfen, die Unterschiede zwischen
symmetrischen und asymmetrischen Satzreihen verstehen. Zu diesen Unterschieden
gelangen wir über den Zusammenhang zwischen der Semantik der Satzreihe und
ihrer Struktur. Man kann bemerken, dass eine einfache Semantik in einer einfachen
Struktur realisiert wird. Im folgenden Beispiel haben wir es mit der Anordnung von
zwei Qualitätsmerkmalen zu tun, wobei die Teilsätze symmetrisch wirken, vgl.:
(5a) Die Luft ist blau, das Tal ist grün (L. Hölty).
(6) Bald regnet es, bald schneit es. - Bald schneit es, bald regnet es.
Die Kombination der Symmetrie und der Umstellung ergibt vier Typen der
354
(7) Welle kam und Stern und Kreis zerfiel (M.L. Kaschnitz. Am Strande) - * Stern
zerfiel und Welle kam.
Hier ist die Umkehrung durch das temporale Verhältnis der Elementarsätze
verhindert.
3. Asymmetrische umkehrbare:
(8) Und dann läutete es, und wir gingen zurück auf unsere Plätze (M.L.
Kaschnitz. Gespenster) → Wir gingen zurück auf unsere Plätze, und dann läutete
es.
(9) Wohin? fragte Anton, und das Mädchen sagte mit seiner hellen süßen Stimme:
Zu uns (M.L. Kaschnitz. Gespenster) → * Das Mädchen sagte mit seiner hellen
süßen Stimme: Zu uns, und Anton fragte: Wohin?
Die Gesetzmäßigkeiten, die hier gelten, sind noch zu erforschen. Die Umkehrbarkeit
hängt natürlich vom Sinneszusammenhang ab, aber auch von sozialen Regularitäten.
So zeigt z.B. der Beleg (8), dass der allgemeine Sinneszusammenhang die
Umkehrung erlaubt, die soziale Regularität aber lehrt, dass es im Theater kaum
vorkommt.
Zuletzt sprechen wir über die Wortfolge in der Satzreihe. Das ist für Fremdsprachler
nötig, weil in unserem Sprachbewusstsein gerade hier andere Prototypen vorhanden
sind. Es handelt sich hier eigentlich um die Wortfolge nach bestimmten
Konjunktionen. Sonst haben die Teilsätze die Wortfolge der einfachen Sätze mit der
Zweitstellung des finiten Verbs. Doch einige Konjunktionen wirken auf diese
Wortfolge nicht ein, die anderen dagegen beeinflussen sie, indem sie die erste Stelle
im Satz einnehmen. Solche Konjunktionen, die noch als Adverbien aufgefasst werden
355
können, nehmen die erste Stelle im Satz ein und verlangen sofort das finite Verb nach
sich. Hierher gehören: Ferner, außerdem, dennoch, bald, halb, teils.
Das sind keine echten Konjunktionen, darum wirken sie auf die Wortfolge ein und
rufen die Inversion hervor. Andere Konjunktionen sind ihrem Ursprung nach
Pronominaladverbien, wie z.B. darum. Sie rufen auch die Inversion hervor. Es gibt
auch solche Fälle, wo die Wortfolge nach einigen Konjunktionen schwankt, wie nach
den Konjunktionen also, doch, entweder... oder, weder ... noch.
Das zeugt davon, dass diese Konjunktionen nicht als echte aufgefasst werden. Zu den
echten Konjunktionen gehören aber, allein, denn, oder, nämlich, und, sondern, nicht
nur ... sondern auch. Nach diesen Konjunktionen wird der Satz der Regel nach aus
gewöhnlichen Elementarsätzen aufgebaut. Diese Konjunktionen nehmen keine Stelle
im Satz ein.
Die Konjunktionen aber, auch, nämlich sind beweglich. Sie brauchen nicht immer,
an der Spitze des Satzes zu stehen.
Fazit
Satzreihen liegen im gesamtsyntaktischen Feld in der Peripherie der
komplexen Syntax, denn die Verbindung der Teilsätze ist darin ziemlich
locker. Davon zeugt die Wortfolge und die Beweglichkeit von einigen
Konjunktionen. Die Komplexität der parataktischen Äußerungen resultiert
aus entsprechenden Sprecherabsichten. Kopulative Satzreihen sind eher
objektivierend, andere semantische Typen (adversative, kausative und
folgernde Satzreihen) neigen zur Personalisierung. Die Einschränkungen in
der Umstellung der Teilsätze widerspiegeln gewöhnlich die außersprachlichen
Normen.
Satzgefüge
Komplexe Sätze, in denen ein Teilsatz strukturell-grammatisch führend ist und andere
Teil- oder Elementarsätze ihm untergeordnet sind, heißen Satzgefüge oder
Hypotaxen. Der grammatisch führende Satz heißt Hauptsatz, in neueren
Grammatiken auch Matrixsatz (Dürscheid 2012: 57). Die strukturell untergeordneten
Sätze heißen Nebensätze. Ihre untergeordnete Position heißt auch Einbettung.
356
Die Teilsätze der Satzgefüge können auf dreierlei Art verbunden werden: 1) Mit Hilfe
von unterordnenden Konjunktionen; 2) mit Hilfe von Konjunktionaladverbien oder
Relativpronomen und 3) konjunktionslos oder uneingeleitet.
Unterordnende Konjunktionen sind keine Satzglieder, ihre Funktion besteht darin, die
Nebensätze einzuleiten. Deswegen werden sie in manchen deutschen Grammatiken
Subjunktoren genannt. Da mit ihrer Hilfe operiert wird (Teilsätze auf eine besondere
Art miteinander verbunden werden), heißen sie auch Operatoren (Zifonun et al.
1997: 2240). Die Subjunktoren haben eine lexikalische Bedeutung; sie bezeichnen
die Semantik der unterordnenden Verbindung. Die Klasse der Subjunktoren umfasst
nicht nur einfache Konjunktionen wie dass, als, wenn, weil, nachdem, bevor u.a.,
sondern auch eine Reihe von festen Verbindungen. Diese Verbindungen bestehen aus:
• Präposition + Subjunktor: Anstatt dass, ohne dass;
• Adverb + Subjunktor: So dass, insofern als, insoweit als;
• Partikel + Subjunktor: Zumal dass;
• Partizip II + Subjunktor: Vorausgesetzt, dass; angenommen, dass; gesetzt den
Fall, dass;
• Präpositionalgruppe + Subjunktor: Unter der Voraussetzung, dass; unter der
Bedingung, dass, im Falle, dass; für den Fall, dass (Zifonun et al. 1997:
2240).
Die zweite Einleitungsart ist relativ, denn die Einleitungsmittel sind W- oder D-
Wörter. Sie funktionieren im Bestand der Nebensätze als Satzglieder und können
Subjekte (a), Objekte (b) und Adverbialbestimmungen (c) sein, vgl.:
(b) Ich sollte den ersten wählen, den ich zu sehen bekomme;
357
Nicht eingeleitete Nebensätze unterscheiden sich durch die Stellung des finiten Verbs.
Es gibt zwei Arten dieser Sätze: Irreale Bedingungssätze (a) und Objektsätze der
indirekten Rede (b). Im ersten Fall sind es Verberstsätze, im zweiten Fall werden sie
als Verbzweitsätze realisiert. Vgl.:
Nebensätze
Eingeleitet uneigeleitet
Der Nebensatz kann vor dem Hauptsatz stehen, dann heißt er Vordersatz. Wenn er
nach dem Hauptsatz steht, ist das Nachsatz. Wenn er innerhalb des Hauptsatzes
platziert ist, heiß er Zwischensatz. Ein paar Beispiele:
Als ich fünf Jahre alt war, lebte unsere Familie auf dem Lande.
Ich konnte den Roman auf Deutsch nicht lesen, weil er zu schwer für mich war.
Die Aufgabe, die wir für morgen haben, ist ziemlich leicht.
358
Die meisten Nebensätze erfüllen die Funktionen der Satzglieder, sie heißen auch
entsprechend: Subjekt-, Prädikativ-, Objekt-, Attribut- und Adverbialsätze. Man
bestimmt ihre Funktion nach logischen Fragen, vgl.:
...es machte mich nervös, dass man nicht rauchen durfte (M. Frisch. Homo
faber)→ Was machte mich nervös?
Im Grunde war es Hanna, die damals nicht heiraten wollte (ebenda) → Wie
war Hanna? Was wird über Hanna gesagt?
Sätze solcher Art sind übrigens ein deutsches Spezifikum. Im Russischen z.B.
entsprechen ihnen einfache Sätze mit kommunikativer Hervorhebung des Subjekts:
Именно Ганна не хотела тогда выходить замуж.
Alle waren gespannt, wer wohl...um Isolde kämpfen würde (G. de Bruyn. Tristan
und Isolde) → Worauf waren alle gespannt?
Der Film spielte im Mittelalter, auf einer Straße, auf der man Bernstein
transportierte (A. Seghers. Überfahrt) → Auf welcher Straße spielte der Film?
Die Sache eilte, da ich meine Stelle in Bagdad anzutreten hatte (M. Frisch.
Homo faber) → Warum eilte die Sache?
Es ist aber nicht immer leicht eine logische Frage sinnvoll zu stellen. Wie fragen
wir z.B. nach dem Inhalt des Nebensatzes in folgenden Fällen:
Unser Zug war besser als erwartet: Eine Dieselmaschine und vier
Wagen mit Air-condition, so dass wir die Hitze vergaßen (M. Frisch. Homo
faber) → Was war die Folge dessen, dass unser Zug gut war?
Ich...schämte mich, obwohl ich mich im Recht fühlte (E. Neutsch. Auf der Suche
nach Gatt) → Trotz welchen Umstandes schämte ich mich?
Die Kleine mochte nach der Mutter geraten sein, die ewig kränkelte (H.
359
Sakowski. Daniel Druskat) → Wie war die Mutter? (Eine Frage nach einem
Prädikativ-, nicht nach einem Attributsatz).
Soweit ich urteilen kann, ist die Stadt Rothenburg eine der schönsten Städte
Deutschlands.
Subjekt-, Prädikativ- und Objektsätze stellen Nebensätze dar, die erweiterte Varianten
der Nominalphrasen sind. In (Zifonun et al. 1997: 2253) sind sie in der Gruppe der
Termsätze vereinigt. Prototypischerweise sind sie mit Konjunktionen dass, ob
eingeleitet, sowie mit W-Elementen. Prototypischerweise sind sie Komplemente
(Zifonun et al. 1997: 1448).
Die Subjektsätze vertreten das Subjekt des Hauptsatzes, wenn dieses Subjekt mit
einem Wort schwer auszudrücken ist. Sie bezeichnen eine Tatsache, eine bestimmte
Gruppe von Menschen oder Gegenständen, denen ein gemeinsames Merkmal eigen
ist. Sie können auch einen Zustand nennen, der als irreal erscheint (Аминева 2005:
5). Da der Nebensatz die Funktion des Subjekts im Hauptsatz übernimmt, kann der
Hauptsatz gar ohne Subjekt vorkommen oder kann die Position des Subjekts formal
durch das unpersönliche Pronomen es in der Funktion des Platzhalters besetzt
werden. Die im Nebensatz genannte Situation wird durch den Hauptsatz bewertet.
Der Hauptsatz erscheint dabei in voller Form oder ist zum Satzrest reduziert. Die
Nebensätze sind entweder Nach- oder Vordersätze, vgl.:
Es nervt, dass der Hermann anderen den Erfolg nicht gönnt (Stern. 19.03.2005).
Schade nur, dass er nicht als Journalist auftreten konnte (D. Schwanitz. Der
Campus).
Es erscheint mir so, als ob es der beste Ort auf der ganzen Party wäre (C.
360
Kracht. Faserland).
Was jeder von uns tut, […], geht den anderen etwas an (L. Ossowski. Die
Rivalin).
der realen Welt, die nicht mit einem Wort bezeichnet werden können oder deren
einwortige Bezeichnung unter bestimmten Bedingungen vermieden wird (Аминева
2005: 5). Die Unterteilung des peripheren Segments geschieht nach dem Referenztyp
des Subjektsatzes, welcher das Subjekt entweder beschreibt (1) oder darauf nur
hinweist (2). Vgl. Sie:
(1) Gequält hat mich, dass wir Julia die Geborgenheit verweigerten (B. Schlink.
Der Vorleser) vs. (2) Was er jetzt empfand, war die Angst… (P. Süskind. Das
Parfum).
Ihre periphere Lage kommt auch noch dadurch zum Ausdruck, dass sie in elliptischen
Strukturen vorkommen, in denen prototypische Subjekte kaum möglich sind, vgl.:
Schade nur, dass er nicht als Journalist auftreten konnte (D. Schwanitz. Der
Campus).
Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass sich für die Beschreibung der
peripheren Segmente nicht funktional-semantische, sondern funktional-pragmatische
Felder besser eignen. Mit ihrer Hilfe kann gezeigt werden, welche Präferenzen es im
Gebrauch der peripheren Mittel gibt. So zeigt beispielsweise T.A. Aminewa, dass die
Frequenz von deskriptiven und hinweisenden Subjekten in verschiedenen
Funktionsbereichen (der schöngeistigen Literatur, der Presse und der Sprache der
Wissenschaft) verschieden ist.
Die Objektsätze geben oft indirekte Rede, jemandes Gedanken oder Gefühle wieder.
Das bedeutet, dass man damit auf Informationsquellen verweist. Der Sprecher will
sich von dem Gesagten distanzieren. Es entsteht die Modalität, die Evidentialität
genannt wird. Im Deutschen ist in solchen Fällen der Konjunktiv I oder II üblich. In
der modernen Sprache ist aber auch der Indikativ durchaus möglich.
Im Hauptsatz der Objektsätze werden als Prädikate Verben des Sagens (verba
dicendi), des Denkens oder des Fühlens (verba sentienti) gebraucht. Hier kommen
auch sogenannte kognitive Verben vor, die das Wissen, Erkennen oder andere
psychomentale Tätigkeit bezeichnen. Statistische Forschungen haben gezeigt, dass in
362
der schöngeistigen Literatur am häufigsten unter diesen Prädikaten das Verb wissen
vorkommt; diesem Verb folgen sagen und sehen (Гундарева, Кострова 2005: 98).
Die Nebensätze werden durch Konjunktionen dass und ob eingeleitet sein. Dass leitet
faktische Informationen ein, die von der dritten Person oder aus der inneren Welt des
Sprechers stammen. Die Konjunktion ob leitet indirekte Fragen oder hypothetische
Informationen ein. Die Objektsätze können auch durch Relativpronomen, z.B. wer,
was oder Konjunktionaladverbien, z.B. womit, wonach u.a. eingeleitet oder gar
uneingeleitet sein. In konjunktionslosen Objektsätzen ist der Konjunktiv das einzige
Mittel, die Indirektheit zu bezeichnen. Vgl.:
Ich sagte ihr, dass sie mir wichtiger sei als Lernen und Schule (B. Schlink. Der
Vorleser).
Ich weiß bis heute nicht, ob ich mich schämen muss (H. Böll. Die Ansichten eines
Clowns).
John […] überlegte sich immer wieder von neuem, was er ihm sagen könnte (S.
Nadolny. Die Entdeckung der Langsamkeit).
Die Spezifik von Objektsätzen in der Wissenschaftssprache besteht darin, dass sie
argumentative Ausdrucksweise gestalten. Im Vergleich zu Prosatexten, wo wie
erwähnt solche Matrixprädikate wie wissen und sagen dominieren, sind diese
Prädikate in der Wissenschaftssprache selten. Im Gegenteil sind da solche Prädikate
gewichtet, die eine Beweisführung belegen oder die Meinung des Forschers
verdeutlichen. Zu den oben angeführten verbalen Prädikaten kann man solche
nominalen hinzufügen wie etw. gemeinsam haben, die einen Vergleich implizieren
und somit einen Perspektivenwechsel. Dazu zählen auch kausative verbal-nominale
Prädikate vom Typus etw. deutlich machen. Darüber hinaus können rein nominale
Prädikate, beispielsweise von etw. unabhängig sein eine gewisse semantische Grenze
ziehen und somit eine Perspektivierung gestalten. Das vorläufige Resultat kann im
wissenschaftlichen Text dadurch signalisiert werden, dass die Perspektive auf etwas
363
Ich lasse vorerst offen, wo in einer solchen Hierarchie die anderen adverbialen
Nebensätze …zu plazieren sind (Clément 1996: 58).
…wer annimmt, hier wäre das Lemma nach seinen Subkategorien gegliedert,
sieht sich getäuscht (G. Kempcke, R. Pasch. Die Konjunktionen in
Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache).
Die Funktion des Objekts kann anhand der Objekte und Objektsätze im Rahmen des
funktional-pragmatischen Objektfeldes beschrieben werden. Das Zentrum des Feldes
gehört dem Objekt als Satzglied, ausgedrückt durch das Substantiv, und die
Peripherie wird von Objektsätzen gebildet. Die periphere Position der Objektsätze
erklärt die Kontaminierung der Bedeutung der Indirektheit, die sie aufweisen. Das
periphere Segment des Objektfeldes vereinigt indirekte Äußerungen. Die Struktur
dieses Segments wird durch die Semantik der Prädikate bestimmt, die Objektsätze
einleiten und somit die Relativierungsform ihres Inhalts bestimmen. Die Peripherie
ist nicht homogen, sie ist in Mikrofelder aufgeteilt. Die wichtigsten davon sind: Das
Mikrofeld der psychomentalen und der äußerungseinleitenden Relativierung. Das
Mikrofeld der psychomentalen Relativierung ist polyzentrisch. Darin lassen sich vier
Segmente ausgliedern. Das kognitive Segment hat das Verb wissen als Zentrum, das
mentale – das Verb denken, das sensorische – das Verb sehen und das
psychoemotionale – das Verb spüren (Гундарева, Кострова 2005: 97).
364
Das Lustige an ihm war, dass ihn keiner verstand (C. Kracht. Faserland).
Bei den Prädikativsätzen, die im wissenschaftlichen Stil gebraucht werden, fällt auf,
dass die Funktion der Kopula nicht nur den Verben wie sein oder heißen obliegt,
sondern dass diese Funktion auch solche Verben wie bestehen, bedeuten und liegen
übernehmen, die interpretierende Sätze einführen. Hier handelt es sich u.E. wieder
um Konzentrierung auf das Objekt. Bei liegen ist die räumliche Semantik
unumstritten; bei den Verben mit dem Präfix be- kann die etymologische Analyse
diese Semantik verdeutlichen. Die ursprüngliche Funktion dieses Präfixes bestimmt
F. Kluge (1999: 88) als rein örtlich, die noch in bestehen, unserer Meinung nach, zu
erkennen ist. Laut F. Kluge wurde diese Funktion später verallgemeinert, so dass das
Präfix zur Transitivierung von ursprünglich intransitiven Verben (beispielsweise
bedeuten) gebraucht wurde. H. Paul (Paul 1960: 73) führt die Grundbedeutung von
bedeuten auf die Tätigkeit einer Person zurück, die jemandem etw. zu verstehen gibt.
Den Inhalt des Prädikativsatzes bei diesem Verb kann man als ein hinweisendes
Argument interpretieren (Kostrova 2013: 145). Vgl.:
Eine Verknüpfung vom Typ A […] bedeutet im Kern, dass sich die […]
Sachverhalte oder Ereignisse […] zeitlich überlappen (Clément 1996: 44).
Als er aufstehen konnte, waren seine Angreifer fort (H. Mann. Die Jugend des
Königs Henri Quatre).
„Wer war das?“ fragte Marke, als er den Mann […] sah (G. de Bruyn. Tristan
und Isolde).
Wenn Helene sich in diesem Zustand befand, erwachten in ihr gewöhnlich die
Muttergefühle (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
Bei der Konjunktion während erstreckt sich die Betrachtzeit für den Hauptsatz über
die ganze Zeitspanne des Nebensatzes. Die Betrachtzeit kann mit der Sprechzeit
zusammenfallen (a), oder ihr voran gehen (b). Wenn die Subjekte im Neben- und
Hauptsatz verschieden sind, kann der Nebensatz eine zusätzliche Bedeutung des
Gegensatzes bekommen (c), vgl.:
(a) Während ich das tue, starre ich dem Mann ins Gesicht (C. Kracht.
Faserland).
(b) Während wir die Treppe hinunter gingen, sprachen wir miteinander.
(c) Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland
noch alles hässlich und grau ist (C. Kracht. Faserland).
Die Konjunktion solange hat eine ähnliche Bedeutung (a), kann aber manchmal den
Nebensinn der Bedingung implizieren (b). Vgl.:
(a) Die Tür stand offen, solange es nicht dunkel war (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon).
(b) Solange er sich unbeweglich hielt, stumpfte der Schmerz […] ab (B. Apitz.
Nackt unter Wölfen).
Die Konjunktion sobald drückt eine zeitliche Begrenzung aus, bis zu der sich die
Betrachtzeit für den Hauptsatz erstrecken kann:
Er hatte ein paarmal […] den Hörer aufgelegt, sobald sie sich meldete (E. Panitz.
Absage an Viktoria).
Die Konjunktion sooft drückt das wiederholte temporale Verhältnis zwischen dem
367
Neben- und Hauptsatz aus, das heißt die wiederholte Möglichkeit einer Betrachtzeit
von dem Ereignis des Nebensatzes. Vgl.:
Sooft sie sich gegenüberstanden, war etwas zwischen ihnen, was […] ignoriert
werden musste (B. Apitz. Nackt unter Wölfen).
Die Konjunktionen seitdem und seit drücken den zeitlichen Moment aus, von dem an
die Betrachtzeit für den Hauptsatz beginnt. Die Betrachtzeit fällt mit der Sprechzeit
zusammen oder liegt davor. Vgl.:
Seitdem (seit) wir in der Stadt sind, gehen wir oft ins Theater.
Seitdem (seit) wir in der Stadt waren, gingen wir oft ins Theater.
Zur zweiten Gruppe der temporalen Subjunktoren, die das Verhältnis der
Vorzeitigkeit zwischen dem Neben- und Hauptsatz zwingend bezeichnen, gehört im
Deutschen nur eine Konjunktion nachdem. Er bezeichnet das Verhältnis der
Vorzeitigkeit zwischen dem Neben- und Hauptsatz. Die Tempora müssen dieses
Verhältnis auch zwingend wiedergeben, das heißt, hier wird consecutio temporum
realisiert. Dabei sind folgende Tempuskombinationen zugelassen: Plusquamperfekt
im Nebensatz + Präteritum im Hauptsatz oder Perfekt im Nebensatz + Präsens im
Hauptsatz. Der Bezug auf die Gegenwart wird selten realisiert (d, e). Der Nebensatz
kann als Vorder-, Zwischen- oder Nachsatz realisiert werden (a-c). Vgl.:
(b) Genau zwei Wochen, nachdem Fabian seinen Auftrag bekommen hatte,
meldete er Taubenhaus, dass sein Entwurf fertig sei (B. Kellermann. Totentanz).
(c) Misstrauisch verfolgte Förste das Tun des Mandrill, nachdem dieser
zurückgekommen war (B. Apitz. Nackt unter Wölfen).
368
(d) Nachdem wir jetzt alle eingetroffen sind, können wir uns der Tagesordnung
widmen (Beispiel aus: Zifonun et al. 1997: 1149).
(e) Er hat so einen dummen Ausdruck im Gesicht, dasselbe Grinsen, das er hat,
nachdem er einen Witz erzählt (C. Kracht. Faserland).
Die Konjunktionen als und sobald können auch die Vorzeitigkeit ausdrücken, das ist
aber nicht zwingend. Sie bezeichnen dabei nicht den Zeitintervall für den Hauptsatz,
sondern die „äußere“ Betrachtzeit (Zifonun et al. 1997: 1147), eine abgeschlossene
Etappe eines Prozesses. Die Abgeschlossenheit wird lexikalisch durch die Semantik
des Prädikats ausgedrückt und manchmal durch Partikeln verstärkt. Vgl.:
Als Sabeth es endlich entdeckte, streckte sie die Zunge heraus (M. Frisch. Homo
faber).
Erst als er fort war, ganz fort war, erlaubte sie sich, heimlich zu weinen (H.
Mann. Die Jugend des Königs Henry Quatre).
Die temporalen Konjunktionen der dritten Gruppe drücken die Nachzeitigkeit aus.
Das sind die Konjunktionen bis, bevor und ehe (Zifonun et al., 1997: 1149). Bis zeigt
zeitliche Grenze an, bis zu welcher das Ereignis des Hauptsatzes dauert (a). Bevor
und ehe sind Synonyme; sie haben direkte und übertragene Bedeutungen. In direkten
Bedeutungen bezeichnen sie ein Zeitintervall, das nach der Ereigniszeit des
Hauptsatzes liegt (b, c). In übertragenen Bedeutungen bezeichnen sie unmögliche
oder nicht stattgefundene Handlungen (d, e). Vgl.:
(a) Gräber blickte ihm nach, bis er in der Dämmerung verschwunden war (E.M.
Remarque. Zeit zu leben und Zeit zu sterben); Sie nahm alles hin, bis er fertig
war (H. Mann. Die Jugend des Königs Henri Quatre).
(c) Es dauerte eine Weile, ehe Gräber wusste, wo er war (E.M. Remarque. Zeit
zu leben und Zeit zu sterben).
369
(d) Bevor Alexander antworten konnte, tat es Wally (F. Weiskopf. Abschied vom
Frieden).
Und glauben Sie, dass ich vor zehn Jahren irgendwelche Illusionen hatte? Das
wäre recht töricht, wenn man eine Frau nimmt, die um zwanzig Jahre jünger ist
(A. Schnitzler. Die Gefährtin).
…und ehe ich mich noch gefasst habe, spricht er schon, das entsetzensvolle
Antlitz auf mich gerichtet: das ist der leibhaftige Satan! (H. von Kleist. Das
Käthchen von Heilbronn).
Das Beispiel (20) macht deutlich, dass wir die Falschheit oder Absurdität einer
Konsequenz genau dann […] begründen müssen, wenn wir uns nicht auf
intersubjektiv geteilte Meinungen […] stützen können (Eggs 1979: 428).
Bevor wir uns endgültig auf die textbezogenen Aspekte konzentrieren können,
sind allerdings noch zwei weitere wortabhängige Merkmale zu berücksichtigen
(J. Liedtke. Narrationsdynamik).
Lokalsätze geben die Semantik des Ortes, wo sich jemand oder etwas befindet, an
oder sie bezeichnen die Richtung, wohin sich jemand bewegt oder welche gezeigt
wird. Diese Sätze kommen nicht so oft wie Temporalsätze vor, weil der Ort oder die
Richtung meistens durch perspektivistische / nicht perspektivistische, deiktische oder
nicht deiktische Adverbialien angegeben wird. Diese Adverbialien sind sehr
ausführlich in der Grammatik (Zifonun et al. 1997: 1150-1172) beschrieben, während
Lokalsätze in dieser Grammatik gar nicht erwähnt sind.
Lokalsätze werden durch W-Adverbialien eingeleitet und sind Nachsätze. In der
Regel werden im Hauptsatz solche Korrelate wie dorthin und dort verwendet, vgl.:
(a) Wir finden ihn dort, wo er gewöhnlich ist, nämlich im Café nebenan.
(d) Ich kaufe nur dort ein, wo ich alles finden kann.
Deutschen zwei unterordnende kausale Konjunktionen weil und da, die sich der
Bedeutung und dem Gebrauch nach unterscheiden. Die gebräuchliche Konjunktion
ist weil, ihre Hauptdomäne ist die gesprochene Sprache, die direkte oder erlebte
Rede. Man kommentiert mit weil-Sätzen seine Einschätzungen (a), man antwortet
damit auf die Fragen (b), man gebraucht sie mit Verstärkungspartikeln (c). In all
diesen Fällen kann da nicht gebraucht werden. Vgl. Sie Beispiele aus einem
deutschen Schallarchiv (Кострова 1992а: 73-75):
(a) Diese Brokatkleider sind sehr schön im Tragen, weil sie in sich gemustert
sind;
(b) War das nicht recht langweilig? – Ach, das ging, weil immer Betrieb war;
(c) Ich hatte aber auch meine Abfahrtsschier mit, weil mit Langlaufschiern kann
man ja nicht die Berge runterfahren.
In den Beispielen stehen die Nebensätze nach den Hauptsätzen, das ist ihre typische
Position. Die da-Sätze sind dagegen prototypischerweise Vordersätze. Sie werden
meistens schriftlich gebraucht, oft in wissenschaftlichen Texten, und dienen dazu, die
Verbindung zu dem vorhergehenden Text zu schaffen. Sie bezeichnen etwas, wovon
der Gedanke entrollt. Sie nennen etwas, was in einem bestimmten Leserkreis bekannt
ist (a), oder sie verweisen auf das im Vortext Gesagte (b) (Kostrova 2013: 146):
(a) Da Quirk et al. eine Grammatik des Englischen ist, sollte man sich hüten,
diese Kriterien […] auf das Deutsche zu übertragen (D. Clément. Wie frei sind
die Adjunkte?).
(b) Da die genannten drei Klassen von Argumenten durch bestimmte Partikeln
ausgeführt werden können, seien sie im Folgenden etwas ausführlicher
dargestellt (E. Eggs. Argumente mit „wenn…“).
Die Konjunktion weil wird in den wissenschaftlichen Texten fast ausschließlich mit
Korrelaten vom Typus deshalb gebraucht (ebenda), vgl.:
Ich will das Geld nicht, weil: Was soll ich damit (Beispiel aus der Duden-
Grammatik). Die Lesart ist etwa so: ‚Wenn ich überlege, was ich mit dem Geld
machen sollte, verstehe ich, dass ich keine Ahnung davon habe, deshalb verzichte
ich darauf.‘
Ein dialogisches Beispiel, entnommen aus der Zulassungsarbeit von K. Mayer unter
der Betreuung von Prof. H. Altmann, illustriert, dass diese Konstruktion nicht nur in
süddeutschen Dialekten gebräuchlich ist:
B: Die muss aber noch kommen, weil, ich erwarte noch was. (B stammt aus
Bonn.) (Mayer 1993).
RIG: nein?
Abschließend muss man sagen, dass die Veränderung der Wortstellung im Nebensatz
eine rege Diskussion unter deutschen Linguisten hervorgerufen hat. Die angeführten
Beispiele zeigen, dass diese Diskussion auch den Grammatikunterricht an den
Universitäten betroffen hat. Es ist ein seltener Fall, weil die syntaktische Entwicklung
in unserer Gegenwart geschieht und wir sie mit beobachten können. Deutsche
Linguisten meinen dazu, dass dieser Prozess die Grundlagen der Verbstellung im
Nebensatz doch nicht berührt.
Konditionalsätze bezeichnen die Bedingung, unter welcher die Handlung des
Hauptsatzes stattfindet. Sie unterscheiden sich von anderen Adverbialsätzen dadurch,
dass sie in einer Wechselbeziehung mit dem Hauptsatz stehen. Das heißt, dass der
Hauptsatz ohne bedingenden Nebensatz nicht existieren kann. Kennzeichnend ist
auch die Modalität dieser Sätze, sie ist immer hypothetisch. Wenn in diesen Sätzen
der Indikativ gebraucht wird, drücken sie reale erfüllbare Bedingungen aus (a). Der
Konjunktiv bezeichnet entweder eine potentiale (b) oder eine irreale kontrafaktische
Bedingung (c).
Bedingende Konjunktionen sind wenn und falls, aber Bedingungssätze können auch
uneingeleitet sein. Im letzten Fall sind sie Verberstsätze (d). Prototypische
Konjunktion ist wenn. Falls wird selten gebraucht (e). Die wenn-Sätze werden
sowohl in der Umgangssprache als auch in der Kunstprosa und in wissenschaftlichen
Texten gebraucht. In der Kunstprosa imitieren sie meist die gesprochene Sprache und
drücken Vermutungen über ein mögliches Benehmen der Menschen oder über irreale
Zustände aus (Кострова 1992а: 106-107). Vgl.:
(a) […] wenn Sie Gilberte jetzt heiraten, […] dann haben Sie meine
Einwilligung (L. Feuchtwanger. Narrenweisheit).
374
(b) Wenn du mich lange bitten würdest, ich würde gehen (H. Fallada. Kleiner
Mann – was nun?).
(c) Wenn Vera wüsste, dass ich euch besuche, hätte sie sicher grüßen lassen (H.
Kant. Die Aula).
So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte (C. Kracht.
Faserland).
(d) […] und hätten wir diesen halbungarischen Jungen nicht gehabt, dann hätten
wir nie gewusst, was wir im Sportunterricht zu tun hatten (C. Kracht Faserland).
(e) Oder falls es was Aufregendes gibt, ruf ich dich an oder schau vorbei (W.
Bauer. Magic Afternoon).
(a) Formt man einen mehrdeutigen Beleg in einen Fragesatz um, dann bleibt für
375
den während-Satz nur noch die temporale Lesart möglich (D. Clément.
Linguistisches Grundwissen).
(b) Wenn nicht ‚aber‘ oder ‚hingegen‘, sondern ‚währenddessen‘ einsetzbar ist,
dann hat man es mit einer temporalen Verknüpfung zu tun (D. Clément.
Linguistisches Grundwissen).
(c) Wenn im Falle des Satzes (26) eindeutig entschieden werden kann, dass der
Sachverhalt „Mein Bruder bekommt ein Eis“ präsupponiert ist, so lässt sich
diese Entscheidung… (E. Eggs. Argumente mit ‚wenn…‘).
(d) Nehmen wir den Satz „Jedes Schwein ist ein Schwein“ in der Bedeutung
„Jedes Schwein ist und bleibt ein Schwein“[…], so wird deutlich… (D.
Wunderlich. Grundlagen der Linguistik).
(e) Wenn gesagt wurde, dass ein Satz „Jede Frau ist eine Frau“ bezüglich
allermöglichen Referenzpunkte wahr ist, so sind hier die Intensionen der beiden
Vorkommen von „Frau“ als identisch genommen worden (D. Wunderlich.
Grundlagen der Linguistik).
Ich klappe den braunen Cordkragen hoch, obwohl ich das normalerweise nie
mache (C. Kracht. Faserland).
[…] das sehe ich sofort, obwohl ich nicht viel lese (C. Kracht. Faserland).
Die Nebensätze mit obwohl machen eine ähnliche Entwicklung durch wie weil-Sätze,
das heißt: Das finite Verb wird im Nebensatz an die 2. Stelle gerückt. Im nächsten
Beleg zeugt die Pause davon, dass der Sprechende nach Gegenargumenten sucht.
376
Man kann also seiner Äußerung die epistemische Modalität zuschreiben, vgl.:
Ich bin ein leidenschaftlicher Sportler, obwohl (Pause) - ich sollte eigentlich
keinen Sport betreiben ... (Sandig 1973, zitiert nach Mayer 1993).
Die Einräumung kann auch durch die Konjunktion wenn in Verbindung mit den
Partikeln auch, schon ausgedrückt werden. Die Partikeln stehen nicht unbedingt
gleich nach der Konjunktion, sie können sich im Satz bewegen. Bei der Nachstellung
des Hauptsatzes kann er mit dem Subjekt beginnen. Vgl.:
Konsekutivsätze drücken Folgen aus dem Hauptsatz aus. Diese Folgen können
positiv oder negativ sein. Für beide Fälle ist charakteristisch, dass im Hauptsatz die
verstärkende Partikel zu gebraucht wird, die die Folge „rechtfertigt“. Positive Folgen
werden durch die Konjunktion so dass ausgedrückt, negative Folgen – durch die
Konjunktion als dass. Wenn im Hauptsatz das Pronomen so oder das Adverb genug
gebraucht werden, so wird der Nebensatz mit der Konjunktion dass eingeleitet und
die finale Bedeutung bleibt dabei erhalten (Grammis 2.0). Vgl.:
Sie […] verdreht immer die Augen, so dass nur das Weiße zu sehen ist (C. Kracht.
Faserland).
Durch die vorgezogenen Neuwahlen ist die Zeit zu kurz, als dass sich beide
Parteien vernünftig verständigen können (DECOW 16A).
Leider ist sie zwar laut genug, dass man sie hören kann (Grammis 2.0).
Hoffentlich regnet es nicht so stark, dass wir den Ausflug nicht machen können
(Grammis 2.0).
Finalsätze drücken das Ziel, mit welchem das Ereignis des Hauptsatzes stattfindet,
aus. Die Konjunktion ist damit. Diese Sätze unterscheiden sich von Infinitivgruppen
377
mit um…zu dadurch, dass der Nebensatz ein selbständiges Subjekt enthält und die
Infinitivgruppe keines. Vgl.:
[…] ich sage nun mal so, damit man ihn unvoreingenommen versteht (C. Kracht.
Faserland).
Den Film haben sie uns mal in der Schule gezeigt […], damit wir sehen, wie man
durch Film fein manipulieren kann (C. Kracht. Faserland).
Die Vergleichsätze gibt es zweierlei Art. Die einen drücken einen realen Vergleich
aus und werden mit dem Relativadverb wie eingeleitet. Die Realität wird durch den
Indikativ angezeigt. Die irrealen Vergleichsätze bezeichnen einen nicht realen
Vergleich, der durch die Konjunktionen als ob, als wenn oder durch die Konjunktion
als mit der Zweitstellung des finiten Verbs zum Ausdruck kommt. Der irreale Modus
wird durch den Konjunktiv bezeichnet, dabei kann sowohl der Konjunktiv I als auch
der Konjunktiv II vorkommen, oder auch die Umschreibung mit würde. In der
modernen Prosa kann in solchen Sätzen auch der Indikativ gebraucht werden, der
dann den irrealen Vergleich der Realität näher bringt. Vgl.:
Ich habe das Gefühl, als ob ich nach hinten kippe (C. Kracht. Faserland).
Das passiert alles so, als ob es gar nicht zu verhindern wäre (C. Kracht.
Faserland).
Der Fahrer sieht ziemlich alt aus, so, als würde er jeden Moment sterben (C.
Kracht. Faserland).
Der Schein der Fackeln fällt auf ihre Gesichter, und es sieht tatsächlich mal so
aus, als ob viele ganz gut angezogen sind (C. Kracht. Faserland).
Eine besondere Art der Nebensätze bilden Attributsätze. Sie beziehen sich nicht auf
den ganzen Hauptsatz, sondern nur auf ein substantivisches Satzglied, deswegen
werden sie in deutschen Grammatiken Gliedsätze oder sogar Gliedteilsätze genannt.
Das sind immer Relativsätze, denn sie werden durch Relativpronomina in
verschiedenen Kasus eingeleitet. Dabei erfüllen diese Relativpronomina, im
378
Ich sehe Rollo, der sich viel schneller umgezogen hat als ich (C. Kracht.
Faserland).
Beim Sportunterricht musste der Junge, dessen Name mir nicht mehr einfällt,
immer übersetzen (C. Kracht. Faserland).
Ich öffne meinen Koffer, den irgend jemand hochgetragen hat (C. Kracht.
Faserland).
Das Gästezimmer, in das er mich führt, ist eher unpersönlich eingerichtet (C.
Kracht. Faserland).
Ich kaufe nur reife Tomaten (das Adjektiv beschreibt die Qualität der Tomaten)
vs. Ich kaufe nur die Tomaten, die reif sind (der Nebensatz beschreibt, wie
Auswahl aus einer Menge geschieht) (Суворина 2006).
Die Partei-Linke begehrt gegen die Reformpläne ihres Kanzlers auf, der den
379
Nur in diesem Fall kann man überhaupt eine Intension des gesamten Satzes
erhalten, die die Intensionen aller Teilausdrücke in geeigneter Weise
„aufrechnet“ (D. Wunderlich. Grundlagen der Linguistik).
Sie erwähnt andere Sprachen, in denen dasselbe Phänomen beobachtbar ist (D.
Clément. Linguistisches Grundwissen).
380
Aufgaben
Aufgabe 1
Bestimmen Sie die syntaktischen Funktionen der Nebensätze in folgenden Auszügen:
A
Während in Chats die phatische Kommunikation, der Zeitvertreib und die Insze-
nierung von Sprache im Vordergrund stehen, E-Mails überwiegend im klassischen
Sinne Verwendung finden und Kommunikationsinhalte im Zentrum stehen, sind
SMS-Mitteilungen dazwischen anzusiedeln. Mit ihnen werden Verabredungen ge-
troffen, wird »angeklopft«, rückversichert, geflirtet oder es werden Liebesbotschaf-
ten ausgetauscht.
(Torsten Siever. Von MfC bis cu 18ter)
B
Sprechen zu Tieren ist ein häufiges Phänomen. Wer Tierhalter ist, kann es an sich
selbst beobachten, wer es nicht ist, an anderen. Auch Kinder, die ein Tier betreuen
oder einem begegnen, sprechen oft zu ihm. Im Reitsport oder im Hundesport wird
zum Tier gesprochen, beim beruflichen Umgang ebenfalls (Tierarztpraxis, Tier -
pfleger im Zoo, Hundeführer der Polizei). Es tritt einzelsprach- und kulturraum-
übergreifend auf, es handelt sich zum Beispiel nicht um ein typisches Phänomen
entwickelter postindustrieller Gesellschaften.
(Hans-Werner Huneke. Als-ob-Gespräche)
C
Es gibt kein Familienmitglied, das ein anderes Familienmitglied jemals ernst
nimmt. Hätte Goethe eine alte Tante gehabt, sie wäre sicherlich nach Weimar
gekommen, um zu sehen, was der Junge macht, hätte ihrem Pompadour etwas
Cachou entnommen und wäre schließlich durch und durch beleidigt wieder
abgefahren. Goethe hat aber solche Tanten nicht gehabt, sondern seine Ruhe – und
auf diese Weise ist der »Faust« entstanden. Die Tante hätte ihn übertrieben
381
gefunden.
(Kurt Tucholsky. Die Familie)
Aufgabe 2
Ergänzen Sie folgende Satzfragmente bis zu komplexen Ganzsätzen und bestimmen
Sie ihren Typ:
Als wir… …weil wir…
Wenn wir… …denn wir…
Bevor wir… Da wir…
Nachdem wir… Obwohl wir…
Kaum dass wir… Hätten wir…
Dass wir… …ob wir…
Aufgabe 3
Bestimmen Sie die semantische Art der syndetischen und asyndetischen Satzreihen
im folgenden Auszug:
Das war in Hamburg, wo jede vernünftige Reiseroute aufeuhören hat, weil es die
schönste Stadt Deutschlands ist - und es war vor dem dreiteiligen Spiegel. Der
Spiegel stand in einem Hotel, das Hotel stand vor der Alster, der Mann stand vor
dem Spiegel. Die Morgen-Uhr zeigte genau fünf Minuten vor einhalb zehn.
Der Mann war nur mit seinem Selbstbewußtsem bekleidet, und es war jenes Stadium
eines Ferientages, wo man sich mit geradezu wollüstiger Langsamkeit anzieht, trödelt,
Sachen im Zimmer umherschleppt, tausend überflüssige Dinge aus dem Koffer holt,
sie wieder hineinpackt, Taschentücher zählt und sich überhaupt benimmt wie ein
mittlerer Irrer: Es ist ein geschäftiges Nichtstun, und dazu sind ja die Ferien auch
da. Der Mann stand vor dem Spiegel.
(Kurt Tucholsky. Frauen sind eitel. Männer? – Nie!)
382
Aufgabe 4
Finden Sie in dem Auszug Gliedsätze:
Ich ging früh nach Hause. Als ich die Korridortür aufschloss, hörte ich Musik. Es
war das Grammophon Erna Bönigs, der Sekretärin. Eine leise, klare Frauenstimme
sang. Dann kam ein Geglitzer von gedämpften Geigen und Banjopizzicatis. Und
wieder die Stimme, eindringlich, weich, als wäre sie ganz erfüllt von Glück. Ich
horchte, um die Worte zu verstehen. Es klang sonderbar rührend, hier auf dem
dunklen Korridor, zwischen der Nähmaschine von Frau Bender und den Koffern
der Familie Hasse, wie die Frau da so leise sang. Ich sah den ausgestopften
Wildschweinsschädel über der Küche an. Ich hörte das Dienst mädchen mit
Geschirr herumrumoren. „Wie hab ich nur leben können ohne dich“; sang die
Stimme, ein paar Schritte weiter hinter der Tür.
(Erich Maria Remarque. Drei Kameraden)
Test
1. Welcher Hauptsatz passt zu dem Nebensatz „…, für Tuna war nichts so wichtig
wie gerade das“?:
a. Er zweifelte
b. Er kannte
c. Er wusste
d. Er setzte fort
2. Welcher Nebensatz passt zu dem Hauptsatz „Ihr Atem ging rasch. Nicht aber,…“?
a. weil sie müde gewesen wäre
b. denn sie wäre müde gewesen
c. da sie müde gewesen wäre
d. obwohl sie müde gewesen wäre
383
Das Wort Text stammt vom lateinischen Wort textus, das bedeutet „geflochtenes“,
„Gewebe“. Der Text ist ein Gewebe aus Wortgruppen und Sätzen. Sätze, aus denen
ein Text besteht, sind inhaltlich miteinander verbunden.
In der Sprachwissenschaft gibt es unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Text“.
In der russischen Germanistik vertritt O.I. Moskalskaja die traditionelle Position und
definiert Text als „jedes Stück zusammenhängender Rede, angefangen mit einer
schlichten Äußerung im Alltag bis zu einer Novelle, einem Roman, einer
publizistischen Schrift oder einer wissenschaftlichen Abhandlung, da sie alle
Erzeugnisse der kommunikativen Sprechtätigkeit der Menschen sind“ (Moskalskaja
2004: 326). Außer den traditionellen Definitionen gibt es auch solche, in denen
paralinguistische und semiotische Einheiten (z.B. Symbole, Formeln, Mimik, Gestik
usw.) mit eingeschlossen werden. Dabei basieren die Definitionen auf der Theorie der
Sprechhandlungen von John L. Austin und John R. Searle. So definiert I. Rosengren
385
Ein Text verfügt über mehrere Eigenschaften, oder nach R. Beaugrande und W.
Dressler (1981) kann man von Textualitätskriterien sprechen. Die wichtigsten davon
sind Kohäsion und Kohärenz. Der Unterschied zwischen der Textkohäsion und
Textkohärenz basiert auf dem Modell von N. Chomsky, dass die Sprache in zwei
parallele Ebenen einteilt, nämlich in die Oberflächen- und Tiefenstruktur. Die
Textoberflächenstruktur ist an Sprachmaterial gebunden, während die Tiefenstruktur
eine erschlossene konzeptuelle Basis darstellt. Die Textkohäsion wird aus der
Textoberflächenstruktur erschlossen, die Textkohärenz dagegen aus der
Texttiefenstruktur. Betrachten wir diese Begriffe etwas ausführlicher.
Die Kohäsion ist grammatische Verknüpfung der Wörter, Sätze, Satzfolgen, z.B.
durch Proformen, Konjunktionen, gleiches Tempus, Wortstellung. Die
Kohäsionsmittel sind Verbindungsmittel morphosyntaktischer Art, sie schaffen eine
logisch-formale Einheit und werden auch im Rahmen des Satzes, das heißt der
einfachen und der komplexen Syntax, studiert.
Die Kohäsion kann auf der phonologischen Ebene insbesondere bei lyrischen
Texten beobachtet werden, wo neben Rhythmus auch der Reim eine sehr wichtige
Rolle spielt (Averintseva-Klisch 2013: 8), vgl.:
Im Abendsonnenschein
und Verbmodus gezählt. O.I. Moskalskaja weist darauf hin, dass eine einheitliche
temporale Struktur eines der wichtigsten Gestaltungsmittel des Textes ist
(Moskalskaja 2004: 333). Z.B. in einem erzählenden Text dominiert die Form des
Präteritums und des von ihm abhängigen Plusquamperfekts, vgl.:
Es war schon schlimm genug für ihn gewesen, als ich damals das Taxi nahm. Es
tat mir jetzt leid, ich hätte es ihm erklären müssen, niemand sonst war ich
irgendwelche Erklärungen schuldig. Ich ging vom Spiegel weg; es gefiel mir zu
gut, was ich dort sah, ich dachte keinen Augenblick daran, dass ich selbst es
war, den ich sah. Das war kein Clown mehr, ein Toter, der einen Toten spielte (H.
Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Ein künstlerischer Text kann auch Dialoge enthalten – in diesem Fall kann ein
Zusammenspiel des Präteritums und des Perfekts beobachtet werden, vgl.:
„Ja“, sagte ich. „Du erinnerst dich doch noch an Edgar? In Köln habt ihr euch
doch bei uns getroffen, und zu Hause spielten wir doch immer bei Wienekens und
aßen Kartoffelsalat“.
„Ja, natürlich“, sagte er, „natürlich erinnere ich mich, aber Wieneken ist gar
nicht im Lande, soviel ich weiß. Jemand hat mir erzählt, dass er eine
Studienreise macht, mit irgendeiner Kommission, Indien oder Thailand, ich weiß
nicht genau“. „Bist du sicher?“ fragte ich. „Ziemlich“, sagte er, „ja, jetzt
erinnere ich mich, Heribert hats mir erzählt“. „Wer?“ schrie ich, „wer hats dir
erzählt?“
Er schwieg, ich hörte ihn nicht einmal mehr seufzen, und ich wusste jetzt, warum
er nicht zu mir kommen wollte (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Texte haben in der Regel eine einheitliche modale Struktur. In einem künstlerischen
Text vermischen sich Indikativformen mit Konjunktiv- und Imperativformen, da
Figuren des künstlerischen Werkes ihre Überlegungen, Zweifel, Befehle,
Vermutungen u.a.m. ausdrücken können.
387
Der bestimmte / unbestimmte Artikel tritt auch als eines der Mittel der Textkohäsion.
Der bestimmte Artikel übt anaphorische Funktion aus, da er auf die Vorinformation
zeigt. Der unbestimmte Artikel übt kataphorische Funktion aus, da er auf noch nicht
Bekanntes verweist, vgl.:
Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur
ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles
dem Kinde geben sollte.
Auf der lexikalischen Ebene kann die Kohäsion dadurch kodiert werden, dass
Elemente des Textes wörtlich wiederholt werden. Das kommt in Reimen häufig vor:
Auf der syntaktischen Ebene wird die Kohäsion durch die syntaktische Parallelität
ausgedrückt, vgl.:
Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen
befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen -
sondern Stahlhelm und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen
befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre
montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN! (W. Borchert. Dann gibt es nur eins).
Einer sah auf seine Schuhe und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte
jemand: Sie haben wohl alles verloren? (W. Borchert. Die Küchenuhr).
Eine philosophische Maus pries die gütige Natur, dass sie die Mäuse zu einem so
vorzüglichen Gegenstande ihrer Erhaltung gemacht habe. „Denn eine Hälfte von
uns", sprach sie, „erhielt von ihr Flügel, dass, wenn wir hier unten auch alle von
den Katzen ausgerottet würden, sie doch mit leichter Mühe aus den
Fledermäusen unser ausgerottetes Geschlecht wieder herstellen könnte." (G.E.
Lessing. Die Maus).
Das ist es. Aber in den Ferien will man ja nicht zu Hause bleiben (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas
Unvorsichtiges (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Neben den Konnektoren dienen auch Ellipsen dazu, die Textkohärenz zu schaffen,
vgl.:
„Ich war über fünf Jahre in der Emigration gewesen. Wo waren Sie im Herbst
38?“
„In Paris“.
Als Kohäsionsmittel werden oft textverweisende Ausdrücke gebraucht, mit denen die
Referenzobjekte in anderer Weise wiedererwähnt werden. Die Textverweisung wird
in zwei Varianten realisiert: Als Anapher und Katapher.
Anapher gilt für vorher Eingeführtes; sie ist zurück verweisend. Da der Text linear
ist, kann man sie als linksverweisend bestimmen. Explizite Anapher korreliert mit
dem Antezedens (dem Bezugswort im Vortext), vgl.:
Sie hatten sich im Café Florian verabredet. Er war pünktlicher als sie, und er
ärgerte sich darüber (G. Wohmann. Schönes goldenes Haar).
389
Im zweiten Satz beziehen sich die anaphorischen Pronomina er und sie auf das
Bezugswort – Pronomen sie (3. Person Plural) im ersten Satz.
M. Averintseva-Klisch weist darauf hin, dass der Anaphern-Ausdruck in der Regel
morphologisch definit ist. Als Marker der Definitheit können z.B. der bestimmte
Artikel bzw. Demonstrativpronomen auftreten (Averintseva-Klisch 2013: 35).
Katapher gilt für nachher Eingeführtes; sie ist rechts verweisend. Vgl.:
Der nächste Beleg illustriert die Wiederaufnahme durch Antonyme und Synonyme.
Das ist ein Auszug aus F. Schillers Erzählung „Der Geisterseher“: Fett hervorgehoben
werden die Lexeme, die antonymische Begriffe bezeichnen (Krieg – Friede,
unterbrechen – erneuern) oder interparadigmale Synonyme sind (kennen lernen –
Bekanntschaft):
Es war auf meiner Zurückreise nach Kurland..., als ich den Prinzen von ** in
Venedig besuchte. Wir hatten uns in **schen Kriegsdiensten kennen lernen und
390
Bernie betrat das Sitzungszimmer des Fachbereichs und warf seine Tasche auf
das Kopfende des Tisches. Er war der erste. Selbst sein Freund Bauer war nicht
da. Er ließ sich auf seinen Sessel fallen und räumte die Tasche aus: Die
Protokolle der letzten Sitzung, zwei Pakete Traubenzucker, die Grammatologie
von Derrida, die er immer noch nicht gelesen hatte, eine Staatsarbeit mit dem
Titel Die fallische Frau im französischen Film, ein Programm der Szenekinos,
ein Exemplar der Universitätszeitung... und die Akten mit den Fällen Brockhaus
und Fiedler... (D. Schwanitz. Der Campus).
Neben dem Begriff Text existiert in der Sprachwissenschaft auch der Begriff Diskurs.
Es gibt unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs. Traditionell wird darauf
hingewiesen, dass Diskurs als Menge formal oder funktional zusammengehöriger
Texte im Sinne von textübergreifender Struktur dargestellt werden kann (Busse &
Teubert 1994). Nach der Auffassung von I.H. Warnke ist der singuläre Text
Konstituente eines größeren Kontextes. Dieser Kontext wird Diskurs genannt. Der
Diskurs als transtextuelle Struktur von Aussagen ist ein sprachliches Phänomen, das
nicht durch singuläre Texte begrenzt ist (vgl. Warnke 2008: 36). Die Diskurslinguistik
befasst sich also mit intertextuellen Verweisen und thematisch-funktionalen
Übereinstimmungen von Texten.
Die Diskursanalyse basiert auf einer neuen Ontologie, die nicht nur die
Entstehungszeit, den Entstehungsort und die beschriebenen Ereignisse berücksichtigt,
sondern vor allem Sprechakte, die diese Ereignisse interpretieren (vgl. Макаров
391
2003: 16).
Diese Sprechakte umfassen sowohl den Schaffungsprozess des Textes von dem Autor
selbst als auch den späteren interpretativen Prozess von seinen Lesern, der
Jahrhunderte dauern kann. Der Autor befasst sich mit Fragen, die ihm nahe liegen.
Mit seinen Texten gibt er Antworten auf die Fragen, die für ihn und für seine
Zeitgenossen von Bedeutung sind. Wir können diese dialogische Situation
rekonstruieren, wenn wir uns die Persönlichkeit des Autors vorstellen sowie die
Atmosphäre seiner Zeit. Damit befasst sich die Literaturgeschichte, die Basisdaten für
die linguistische Interpretation liefert. In diesem Fall ist der Diskurs rückwärts
gerichtet.
Eine andere Seite des diskursiven Prozesses kann mit der Frage formuliert werden:
Wie erreicht das Buch seine Leser? Es ist auch kein einfacher Prozess. In der
modernen Welt, die von Informationen überflutet ist, gibt es mehrere Möglichkeiten,
ein Buch bekannt zu machen. Beispielsweise sind es Annoncieren, Rezensionen,
Buchmessen, Präsentationen, Werbung in den Massenmedien, Kurzfassungen,
digitale Versionen, Interwievs mit dem Autor, Autorenlesungen, Verfilmungen. Alle
gezählten Möglichkeiten haben eigene spezifische Texte. Es entsteht eine
Gesamtheit von Texten – der Diskurs, der dem Text das Leben verleiht und
verlängert, denn ohne diesen diskursiven Prozess ist der Text tot. Diesmal ist der
Diskurs vorwärts gerichtet.
R. Beaugrande und W. Dressler unterscheiden folgende Textualitätskriterien:
- Intentionalität: Texte werden immer mit einer bestimmten Absicht produziert.
- Akzeptabilität: Der Leser erwartet einen kohäsiven und kohärenten Text.
- Informativität: Jeder Text ist informativ, er enthält nicht vorhersagbare Anteile.
- Situationalität: Ein Text ist für bestimmte Situation konzipiert und für diese auch
relevant.
- Intertextualität: Ein Text hat grundlegenden Bezug auf andere, vorher produzierte
Texte (Beaugrande & Dressler 1981: 8-13).
Die genannten Kriterien können kritisiert werden, z.B. in Bezug auf ihre
392
Informativität und Situtionalität. So weisen A. Kiklewicz und M.L. Kotin darauf hin,
dass die in Texten und durch Texte realisierten Diskurspraktiken nicht obligatorisch
über kommunikative Funktion bewerkstelligt werden (Kiklewicz & Kotin 2017). In
Zusammenhang damit geht M.L. Kotin davon aus, dass der Text bzw. Diskurs aus
linguistischer Sicht nicht allein über die kommunikative Intention seines Ermittelten,
ja nicht primär über diese, definiert werden kann:
Um es etwas extrem auszudrücken: Ein Wahnsinnsgeflüster eines Sterbenden
oder geistig Gestörten, ein Selbstgespräch, ein Gebet oder ein Tagebuch sind
nicht weniger Texte als ein Bewerbungsschreiben, ein Einstellungsgespräch oder
ein Werbespot (Kotin 2007b: 269).
Der Satz kommt in der Rede nicht vereinzelt vor, er geht Verbindungen mit
vorhergehenden Sätzen ein und beeinflusst die nachfolgenden Äußerungen. Die
Gesetzmäßigkeiten, die bei solcher Vernetzung entstehen, werden in der Hypersyntax
studiert. Der Begriff Hypersyntax geht in der russischen Germanistik auf O.I.
Moskalskaja zurück, die zwischen dem Mikro- und Makro- oder Gesamttext
unterscheidet. Unter Mikrotext versteht sie „eine strukturierte kohärente Satzfolge
innerhalb des Textes“ (Moskalskaja 1983: 327). Somit gehört der Mikrotext als
Teiltext in den Bereich der Hypersyntax, der Gesamttext dagegen überschreitet deren
Grenzen und bildet den Gegenstand der Stilistik und Pragmatik.
Die Hypersyntax verfügt über eigene Einheiten, die satzübergreifend sind. Die
wichtigsten davon sind die transfrastische Einheit (TFE) und der Absatz. Dazu
kommen noch die dialogische Einheit und die uneigentliche Rede (Москальская
1981).
Die TFE ist eine strukturell organisierte inhaltlich relativ geschlossene Satzfolge, die
eine Äußerung bildet (vgl. Москальская 1981: 17). Ihre obere Grenze ist der Absatz.
393
(1) Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. (2) Die Krankheit begann im
Herbst und endete im Februar. (3) Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde,
desto schwächer wurde ich. (4) Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. (5)
Der Januar war warm, und meine Mutter richtete mir das Bett auf dem Balkon.
(6) Ich sah den Himmel, die Sonne, die Wolken und hörte die Kinder im Hof
spielen. (7) Eines frühen abends im Februar hörte ich eine Amsel singen (B.
Schlink. Der Vorleser).
Der Absatz kann einer TFE gleich sein oder einige TFE umfassen, es kommt auf den
Stil des Autors oder auf die Leserorientierung an. Der eben angeführte Absatz, der
dem Roman von B. Schlink „Der Vorleser“ entnommen ist, besteht aus 2 TFE. In der
ersten TFE geht es um die Krankheit des Jungen und sein Befinden im alten Jahr
(Sätze 1-3), in der zweiten handelt es sich um den Zustand des Kranken im neuen
Jahr (Sätze 4-7). Das nächste Beispiel zeigt einen kurzen Absatz, der mit einer TFE
zusammenfällt:
Sünde ist, nicht ausdauernd danach zu forschen, wozu ich lebe. Andere Sünden
sind im Verhältnis zu ihr Stümpereien (E. Strittmatter. Selbstermunterungen).
Die dialogische Einheit ist eine Abart der TFE, die auf dem Wechsel der Sprecher
394
beruht. Ihre Repliken sind durch ein gemeinsames Thema und die gegenseitige
Synsemantie verbunden: weder der Stimulus noch die Reaktion haben ohne einander
einen Sinn (vgl. Москальская 1981: 42). Das kann man an der folgenden
dialogischen Einheit sehen:
Böttrich: Keine Silbe (B. Schirmer. Der schöne Tag meines Lebens).
Die allgemeine Funktion der TFE (die dialogischen Einheiten und die Absätze
inbegriffen) kann man als Kompositionsbildung des Textes bestimmen. In der
Komposition eines Textes sind zwei prinzipiell verschiedene funktionelle Abarten zu
unterscheiden: Die objektivierenden und die personalisierenden Textteile. Die
ersteren werden als objektivierende TFE realisiert. Die zweiten stellen
Modellierungen der dialogischen Situation dar: Es sind dialogische Einheiten und
verschiedene Arten der uneigentlichen Rede.
Die uneigentliche Rede stellt Mikrotexte dar, die eine zusätzliche Perspektive in den
Gesamttext bringen und ihn auf solche Weise gliedern. Sie hat einige Abarten. Die
wichtigsten davon sind: zitierte, indirekte und erlebte Rede. Jede Abart hat
spezifische Absonderungssignale. Zitierte Rede wird gewöhnlich von der
Autorenrede durch Gänsefüßchen abgesondert. Indirekte Rede wird durch den
Gebrauch der einleitenden Verben, den Personenwechsel und den Konjunktiv
markiert. Erlebte Rede ist keine gesprochene Rede, sie spiegelt die Gedanken oder
Gefühle des Autors, des Erzählers oder der Personagen wider; manchmal hat sie die
Form des inneren Monologs. Ihr Absonderungssignal ist Personenwechsel, zu dem
oft elliptische oder emotional geladene Sätze kommen. Folgende Beispiele
illustrieren alle drei Arten der uneigentlichen Rede, vgl. entsprechend:
Der Dichter, sagt Valery, „stellt her, wonach ihn verlangte. Er stellt
Pseudomechanismen aus sich heraus, die imstande sind, ihm die Energie, die sie
ihn gekostet haben, zurückzugeben oder sogar noch mehr“ (B. Strauß. Paare,
Passanten).
395
Sie entkämen ihm aber nicht, sagte Klaus Buch. Er lade hiermit die Halms zum
Abendessen ein und sei eigentlich nicht bereit, irgendeine Form der Absage zu
akzeptieren (M. Walser. Ein fliehendes Pferd).
Nur die Sprache, sagte er sich, hat dich bisher diese wie immer auch elende
Einsamkeit überhaupt ertragen lassen. Du hast ja keine Ahnung, was geschieht,
wenn diese Sprache einmal Alles von dir fordert... (B. Strauß. Paare, Passanten).
In der sprachlichen Hierarchie liegt die Ebene der Hypersyntax zwischen der
komplexen Syntax und dem Text. Hypersyntaktische Einheiten sind Mediostrukturen
zwischen komplexen Sätzen und Gesamttexten. Es sind die obersten sprachlichen
Einheiten, die grammatisch zusammenhalten. Texte sind keine grammatischen
Einheiten, sondern psycholinguistische oder pragmatische.
Fazit
Hypersyntaktische Einheiten lassen sich strukturell-semantisch ausgliedern.
Die wichtigsten davon sind die TFE und der Absatz. Die TFE ist thematisch
gebunden und mit syntaktischen Verbindungsmitteln zusammengehalten. Eine
Abart der TFE ist die dialogische Einheit. Den TFE kommen
kompositionsbildende Funktionen im Rahmen des Textes zu. Im Allgemeinen
lassen sich zwei funktionale Hauptarten der TFE unterscheiden: die
objektivierenden und die personalisierenden.
Die Kohäsion und die Kohärenz sind die wichtigsten hypersyntaktischen Mittel,
die die Äußerungen zu einem Text verbinden. Die Kohäsion wird vorwiegend
durch syntaktische Mittel realisiert (Konjunktionen, Proformen,
textverweisende Wörter), die Kohärenz entsteht durch semantische Relationen
zwischen den Wörtern im Text.
Die minimale Einheit der Diskursanalyse ist die Interaktion (Макаров 2003: 43). Der
einfachste Fall der Interaktion ist eine binäre Beziehung von zwei Gesprächspartnern,
von denen der eine die Kommunikation iniziiert, der andere aber auf seine Repliken
reagiert. Dabei kann man sich die beiden als bestimmte Rollenträger vorstellen.
Besonders klar treten diese Rollen in der Kommunikation bei Organisationen an den
396
Tag. Deshalb ist die Kategorie Diskurs geeignet, die Kommunikation im Rahmen von
verschiedenen Institutionen und Organisationen zu untersuchen. Es geht dabei um
den institutionellen Diskurs. Solche Untersuchungen haben eine angewandte
Bedeutung für verschiedene soziokulturelle und berufliche Sphären. Untersucht
werden z.B. Unterrichtskommunikation (Lehrer-Schüler-Gespräche),
Businesskommunikation (Gespräche der Businesspartner), Kommunikation beim
Arzt (Arzt-Patienten-Gespräche), juristische Experten-Laien-Kommunikation u.a.m.
Ein neues Untersuchungsgebiet ist die institutionelle Kommunikation mit Hilfe von
elektronischen Medien. So wird in der Schweiz und teilweise in Russland die
Universitätskommunikation zwischen Dekanat und Studierenden per E-Mail
organisiert. Auf solche Weise werden die Studierenden über alle Neuigkeiten und
Veränderungen im Unterrichtsprozess benachrichtigt. Sie können individuelle
Konsultationen mit Professoren vereinbaren, sich für bestimmte Veranstaltungen
einschreiben u.s.w. Die Linguisten untersuchen dabei kommunikative Strategien und
Taktiken bei der Iniziierung und Reaktion und die sprachlichen Formen, die dafür
gewählt werden.
Die dialogische Situation ist in dem nach vorwärts gerichteten Diskurs deutlich zu
sehen. Der interpretierte Text gibt Anlass zum Dialog, seine Interpretationen sind
Reaktionen darauf. Es geschieht ein distanzierter Dialog zwischen dem Autor und
seinen Interpreten ähnlich wie es bei einem Musikstück ist, das von jemand gespielt
oder gesungen wird. Es gibt Beispiele, wenn ein künstlerisches Werk aus
verschiedenen Gründen erst von den Nachkommen eine ihm gebührende
Wertschätzung bekommt, manchmal nach dem Ableben des Autors. Viele Beispiele
dieser Art liefert die russische Literatur (die Werke von M.A. Bulgakow, W.W.
Nabokow u.a.). Das zeigt, dass sich die Interpretation mit der Zeit verändert.
Nicht so durchsichtig ist die Dialogität in einem künstlerischen Text selbst. Doch
auch hier lassen sich bestimmte Regularitäten feststellen.
Die dialogische Struktur eines künstlerischen Textes kommt in verschiedenen Formen
vor. Die deutlichste davon ist der Dialog der handelnden Personen. Der Autor lässt
397
Als Teschner an jenem Vormittag im März 1942 in der Druckerei der Harstad
Tidende steht, um einen Auftrag der Wehrmacht zu besprechen, bemerkt der
Norweger, dass Teschner eine Trauerbinde am Arm trägt und sehr
niedergeschlagen und unglücklich wirkt. „Darf ich fragen, was passiert ist?“,
sagt er zu dem Deutschen, und Teschner erzählt, dass seine Frau umgekommen
sei (R. Crott. Erzähl es niemandem).
Eine andere Abart derselben dialogischen Form ist der „Monolog im Dialog“. Es
kommt vor, wenn der Autor eine Erzählung nachvollzieht, die von einem Helden
geführt wird, der sich an seine Hörer wendet. Die Anrede zeigt, dass es ein Gespräch
ist. Vgl. Sie den Anfang einer Erzählung von G. Grass:
Eine andere dialogische Form ist die innere (erlebte) Rede, wobei der Protagonist /
der Erzähler mit sich selber in Gedanken redet, streitet, nach Argumenten sucht, sich
an etwas erinnert. Die sprachlichen Zeichen der Veränderung der Erzählperspektive
sind der Wechsel der grammatischen Person und des Tempus, der Gebrauch der
Exklamativ- oder Interrogativsätze. Vgl.:
Wer mag mich verraten haben? Jetzt, nach drei Wochen? Er fühlte mechanisch
mit den Händen nach, ob alle Knöpfe geschlossen seien. Oder...was kann er
sonst von mir wollen, mitten in der Nacht? (D. Noll. Die Abenteuer des Werner
Holt).
Eines der wichtigsten Mittel der erlebten Rede ist die Verwendung der Umschreibung
398
Er hatte die Ordnung immer geliebt und nie gehalten. Leonore würde sie
schaffen, sie häufte, nach Jahren geordnet, auf dem großen Atelierboden
Dokumente und Zeichnungen, Briefe und Abrechnungen aufeinander; nach
fünfzig Jahren noch zitterte der Boden unter dem Stampfen der
Druckereimaschinen; neunzehnhundertsieben, acht, neun, zehn; schon war
Leonores Stapeln anzusehen, dass sie mit dem wachsenden Jahrhundert größer
wurden, neunzehnhundertneun war größer als neunzehnhundertacht, zehn größer
als neun. Leonore würde die Kurve seiner Tätigkeiten herausfinden, sie war auf
Präzision gedrillt (H. Böll. Billard um halb zehn).
Ein weiterer künstlerischer Griff, der zur Schaffung der dialogischen Strukturierung
des Textes beiträgt, ist die Spaltung des Autors oder des Erzählers: Er kann als
objektiver Berichterstatter auftreten und dann sich plötzlich einschätzend oder
ergänzend in die Erzählung einmischen. Es gibt ein besonderes Mittel dazu: Die
Parenthese (den Einschub). Vgl.:
Als sie am anderen Morgen mit Mama frühstückte – Mama wirkte etwas
abwesend heute – , war Heinz schon weg (A. Muschg. Ein ungetreuer Prokurist).
Ich war enttäuscht (ich hatte mir meinen 50. Geburtstag etwas anders
vorgestellt, offen gestanden) von dem Wein, aber sonst zufrieden... (M. Frisch.
Skizze).
Die subjektive Einmischung des Autors ist aber öfter implizit. Man kann sie im
Gebrauch der Partikeln oder einschätzenden Epiteta sehen, aber auch in den Tropen
und rhetorischen Figuren, die die Erzählung expressiv machen. Das sind implizite
diskursive Mittel der Dialogisierung, die wir intuitiv fühlen und in einem
Interpretationsprozess explizieren können. Vgl. Sie das Beispiel, in dem die Metapher
die etwas ironische Einstellung des Autors zu seiner Heldin wiedergibt:
5 Wir bedanken uns bei M.L. Kotin, dass er uns darauf hingewiesen hat.
399
...Sehnsucht nach einer neuen Zeit rann über ihren Körper wie Wasser,
geschmeidig und feucht (A. Andersch. Die Rote).
Die Einstellung des Autors wird gewöhnlich in der Sekundärliteratur thematisiert. Die
Texte, die dabei entstehen, bilden zusammen mit dem Originaltext einen Diskurs. Der
Originaltext iniziiert verschiedene Reaktionen; die Dialogizität kommt im Gesamttext
(Diskurs) zum Ausdruck.
Fazit
Bei der Rekonstruktion der dialogischen Situation in einem Text ist der
diskursive Prozess rückwärts gerichtet, bei der Promotion eines Textes
orientiert er sich auf die Zukunft. In beiden Fällen gewährleistet der Diskurs
das Fortleben des Textes.
In diesem Abschnitt gehen wir auf die Forschungsgeschichte der Satzglieder ein. Die
zeitgenössische Linguistik tendiert zur formalen Beschreibung der sprachlichen
Einheiten, die für maschinelle Textverarbeitung nötig ist. Wir sind aber vom
automatischen Verständnis der Satzglieder noch weit entfernt. So wird in der
Fachliteratur darauf hingewiesen, „noch keine Syntax einer einzelnen Sprache ist
innerhalb eines konsistenten theoretischen Rahmens auch nur annähernd vollständig
beschrieben worden“ (Schmitz 1992: 113); „man sollte mindestens teilweise das
Problem der syntaktischen Eindeutigkeit lösen“ (übersetzt von uns, vgl. Прикладная
и компьютерная лингвистика 2017: 57). Es wird immer noch nach Kriterien
gesucht, die erlauben könnten, in jedem konkreten Fall den Sinn der Satzglieder
formal zu beschreiben.
Wir führen weiter einige Herangehen an das Problem der Satzglieder an, die in
400
Das System der Satzglieder, wie es heute gängig ist, geht auf die Lehre von K.F.
Becker zurück, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinem
Satzgliedsystem auftrat. Er definierte fünf Satzglieder, die bis heute eine Grundlage
für die Schulgrammatik bilden. Das waren: Subjekt, Prädikat, Objekt, Attribut und
Adverbialbestimmung.
Das Grundprinzip seiner Satzgliedlehre ist logischer Natur. Man kommt an die
Satzglieder mit logischen Fragen heran. Mit „wer?’ und „was?“ wird nach dem
Subjekt erfragt, mit „wem?“ und „wen?“ nach dem Objekt, mit „wo?“, „wann?“,
„wohin?’, „warum?“ u.a. nach Adverbialien. Auch die Termini hat K.F. Becker teils
aus der Logik übernommen (so finden sich die Begriffe „Subjekt“, „Prädikat“ schon
bei Aristoteles), teils aus der scholastischen Philosophie (Kopula, Objekt, Attribut).
Da seine Lehre auf logischen Prinzipien beruht, hat sie universellen Charakter. Die
Spezifik von einzelnen Sprachen wird darin nicht berücksichtigt. Das kann man als
Vorteil und als Nachteil sehen. Der Vorteil besteht in der Einfachheit der Theorie, die
schon seit zwei Jahrhunderten überall bekannt ist. Den Nachteil sieht man in ihrem
logischen Schematismus, der die sprachinternen Eigenschaften übersieht. So müssen
zum Beispiel die Ausdrucksmöglichkeiten von Satzgliedern extra dargestellt werden,
wobei keine Eins-zu-Eins-Entsprechungen entstehen. Das heißt, eine und dieselbe
sprachliche Einheit kann in der Funktion von verschiedenen Satzgliedern erscheinen,
vgl.:
Er sprach von einem Monat, den er als Urlaub nehmen möchte – Objekt.
Und umgekehrt: Ein und dasselbe Satzglied kann durch verschiedene sprachliche
401
Wer zu spät kommt,/ Der zu spät Gekommene / Der Verspätete hat das
Nachsehen.
Zu den Nachteilen der Theorie zählt man auch die Tatsache, dass sie nicht alle
Elemente des Satzes umfasst. So können Interjektionen, Konjunktionen,
Modalwörter, Partikeln, Artikel und Korrelate keine Satzglieder sein (Vgl.
Sommerfeldt / Starke 1998: 203).
Ein umstrittenes Problem ist das Attribut als Satzglied. Heutzutage wird ihm eine
zweitrangige Rolle zugewiesen, weil es immer ein Teil eines anderen Satzgliedes ist.
So nennt man es zum Beispiel „Gliedteil“ (Sommerfeldt / Starke 1998: 203). Die
Unterscheidung der hierarchischen Struktur der Satzglieder kommt der
sprachinternen Organisation des Satzes nahe.
Einen anderen Schritt in dieser Richtung macht H. Paul, indem er ein neues Satzglied
beschreibt – das prädikative Attribut. Es ist ein Satzglied mit doppelter syntaktischer
Abhängigkeit: Es bezieht sich zugleich auf das Prädikat einerseits oder auf das
Subjekt und Objekt andererseits. Seine semantische Eigenart besteht darin, dass es
keine ständigen, sondern zeitweilige Merkmale der Subjekte und Objekte bezeichnet.
H. Pauls Beispiele:
Ich kam müde, gesund, wohlbehalten an; Ich trinke den Kaffee gern warm (Paul
1954: 49).
Die Geschichte der Satzgliedforschung zeigt, dass rein logisches Verfahren durch
syntaktisches ergänzt wurde: Man zog syntaktische Bezogenheit der Wörter in
Betracht. Auf diese Weise wurden Attribute als zweitrangige Satzglieder definiert und
Prädikatsattribute ausgegliedert. Weiter versuchte man, formale Kriterien bei der
Definition der Satzglieder zu verwenden.
entsprechende Abkürzungen. Weiter zählen wir die Phrasen und ihre abgekürzten
Bezeichnungen auf.
Phrasen, deren Kopf Substantive bilden, heißen Nominalphrasen (NP). Ihre
Komplemente stehen rechts vom Kopf. Adjektivattribute und Artikel, die links vom
Kopf stehen, sind keine Komplemente, somit wird ihre Zweitrangigkeit in der
Struktur der Phrase bestimmt (vgl. Wöllstein-Leisten et al. 1997: 27):
Es wird auch die Position der Phrasen innerhalb des Satzes bestimmt. Die Position im
Satz kann die Funktion der Phrase angeben, das heißt ihren Satzgliedwert. Die erste
Stelle (das Vorfeld) wird Spezifiziererposition genannt. In dieser Position sind NP
Subjekte. In anderen Positionen sind ihre Satzgliedfunktionen nicht festgelegt, sie
können als Prädikative, direkte und indirekte Objekte, manchmal auch als
Adverbialien auftreten:
Adjektivphrasen (AdjP) haben ein Adjektiv als Kopf und können prädikativ oder
attributiv auftreten. Als Prädikative im Bestand des nominalen Prädikats können sie
rechts (a) oder links (b) ergänzt werden, als Attribute nur links (c), vgl.:
Adverbialphrasen (AdvP) bestehen oft nur aus dem Adverb als Kopf; doch
manchmal haben sie Komplemente. Wichtig ist zu merken, dass in der GTG, also bei
404
In den Präpositionalphrasen (PP) bildet die Präposition den Kopf, denn sie fordert
eine bestimmte Rektion. In diesem Punkt weicht die GTG von der Tradition ab.
Traditionell hält man in der Substantivgruppe das Substantiv für das Kernwort. Doch
die Präposition ist es, die den Kasus des Substantivs regiert und somit zum Kernwort
wird. PP treten als präpositionale Objekte und Adverbialien auf. Vgl.:
Adverbialbestimmung.
Phrasen können Teile anderer übergeordneter Phrasen sein. So sind oft die
Nominalphrasen, Adverbialphrasen und Präpositionalphrasen Bestandteile von
Prädikatsverbänden, also Verbalphrasen. Phrasen sind ihrerseits Teile des Satzes. In
beiden Fällen sind Phrasen Konstituenten. Wortformen, die Teile von Phrasen sind,
sind ihre Konstituenten. Konstituente ist also der Oberbegriff für „Phrase“ und
„Wortform“.
Fazit
Phrasen sind experimentell abtrennbare Komponenten des Satzes, die
bestimmte Positionen im Satz einnehmen und syntaktische Funktionen der
Satzglieder übernehmen. Diese Funktionen stimmen aber nicht immer mit
traditionellen Satzgliedern überein. Die Annahme der Phrasenstrukturen als
grammatischer Kategorie für Satzglieder ist doch nicht möglich, denn es gibt
kein Eins-zu-Eins-Verhältnis zwischen Phrasen und Satzgliedern.
Wenn wir Satzglieder als Funktionen sehen, die im Satz einer Wortform oder
Wortgruppe zugeschrieben werden können, müssen wir zwischen grammatischen und
pragmatischen Funktionen unterscheiden.
Syntaktisch gesehen, korrespondieren Funktionen mit Phrasen. Phrasen sind
polyfunktional. Wie wir gesehen haben, kann jede Phrase im Satz mehrere
syntaktische Funktionen übernehmen. Das Problem ist, dass ihre Funktionen in der
traditionellen und der strukturellen Grammatik unterschiedlich verstanden werden.
Die GTG geht bei der Bestimmung der Funktionen von rein formalen Kriterien aus.
Das sind Wortartkategorie des Kernwortes und die Art seiner Abhängigkeit von
anderen Konstituenten. Diese Kriterien sind hierarchisch, das zweite steht über dem
ersten. Nach dem zweiten Kriterium unterscheidet man Komplemente als
notwendige Ergänzungen und Adjunkte als freie Angaben.
Eine ausführliche Analyse von Ergänzungen (E) führt H.-W. Eroms durch. Er führt
folgende Arten der E an, wobei die Terminologie teils der strukturellen, teils der
406
Esubj. Eakk.Enom Er nennt [sie seine Geliebte]; Esubj.Eakk.Edir. Er legt [das Buch auf den
Tisch]; Esubj.Esit. Sie wohnt [im Erdgeschoss]. Esubj Eprop Es ist, als ob er schlafe.
Ein anfechtbarer Punkt dieser Konzeption ist, dass das Subjekt anderen Ergänzungen
gleich gesetzt wird. H.-W. Eroms weist mit Recht darauf hin, dass in den
Depedenzgrammatiken die Sonderstellung des Subjekts heruntergespielt wird (Eroms
2000: 183). Ein formales Merkmal, welches das Subjekt von allen anderen E
unterscheidet, ist, dass es die Kongruenz auslöst (vgl. Dürscheid 2012: 34). In der
traditionellen Grammatik hat das Wort oder die Wortgruppe in der Subjektposition
eindeutig die Funktion des Hauptgliedes. In der GTG wird das Subjekt neben dem
prädikativen Verb als Satzbasis angesehen.
407
Adjunkte (freie Angaben) sind in der GTG nicht nur traditionelle fakultative
Adverbialbestimmungen, sondern auch adjektivische Attribute, weil sie in der Regel
von dem zu bestimmenden Substantiv nicht gefordert werden. In folgenden
Beispielsätzen sind die Adjunkte durch Eckklammern gekennzeichnet, vgl.:
Er fährt [morgen nach Hamburg]; Die Braut hielt einen [gelben] Rosenstrauß in
der Hand.
grammatische.
Fazit
In der Kategorialgrammatik, die von dem Autorenkollektiv unter der Leitung von G.
Zifonun am Institut für deutsche Sprache Mannheim verfasst wurde, geht man bei der
Bestimmung der Satzglieder von einem anderen Ansatz aus. Die Elemente des Satzes
werden als Konzepte aufgefasst, was die Orientierung auf kognitive Grammatik
preisgibt. Es wird zwischen funktionalen und kompositionalen Konzepten
unterschieden. Zu den funktionalen Konzepten rechnet man Elementarpropositionen,
Prädikate und Argumente, sie spiegeln die primären Funktionen der sprachlichen
Einheiten in der Rede (als elementare Propositionen, die Sachverhalte wiedergeben)
und im Satz (als Prädikate und ihre Argumente) wider. Die kompositionalen
Konzepte spiegeln die Komposition des Satzes aus struktureller Sicht wider, sie
werden in den Termini Verbalkomplex und Komplement behandelt (Zifonun et al.
1997: 1027).
Bei der Definition des Verbalkomplexes geht man von dem grundlegenden Konzept
der Valenz aus. Das Verb als strukturelles Zentrum des Satzes bindet an sich dank
seiner Valenz Komplemente. Der funktionale Aspekt: Wie das Prädikat mit seinen
Argumenten verbunden ist, wird im Rahmen der Prädikatenlogik beschrieben
(ebenda).
Wichtig ist der Unterschied zwischen Komplementen und Supplementen. Die
Komplemente „sättigen“ die Valenz des prädikativen Verbs. In dieser Funktion treten
Nominal-, Präpositional- und Adverbphrasen, Nebensätze und Infinitivkonstruktionen
auf (ebenda, S. 1028). Ihre Funktionen werden für primär gehalten, denn sie gestalten
eine Elementarproposition oder – in der Terminologie von W.G. Admoni – den
409
Elementarsatz.
Bei der Abgrenzung der Supplemente wird das zusätzliche Kriterium, und zwar ihr
Wirkungsbereich oder Skopus verwendet. Für den Bereich der Supplemente ist die
Modifikation von Satz- und Verb- oder Verbgruppenbedeutungen zentral (ebenda, S.
1121). Die Berücksichtigung von Skopus ist für die Kategorie ‚Angaben‘ besonders
wichtig, denn er hilft die Bedeutungsgruppen der Adverbien differenzieren.
Um den kategorialen Status eines adverbialen Satzgliedes zu bestimmen, überprüft
man, inwieweit sich sein Wirkungsbereich erstreckt, mit anderen Worten, – wie groß
sein Skopus ist. Nach diesem Prinzip werden im Bereich der Supplemente drei Typen
unterschieden, von denen zwei zu Adverbialien gerechnet werden und der dritte – die
Abtönungspartikeln – nicht. Die Abtönungspartikeln haben einen besonderen
kategorialen Status: Ihr Skopus erstreckt sich auf den ganzen Satz, so dass sie die
Bedeutung des ganzen Satzes modifizieren (Zifonun et al. 1997: 1121).
Die kategorialen Unterschiede werden mit Hilfe von Transformationen überprüft, die
diese drei Typen voneinander abgrenzen. Das Wissenskriterium wird durch
Hinzufügung von Testsätzen überprüft: „Es ist der Fall, dass…“ oder „Ist es der
Fall, dass…“. Die Abtönungspartikeln werden abgegrenzt, weil die Sätze mit diesen
Partikeln (1, 2) keinen von beiden Testsätzen zulassen (1a, 2a). Ohne die Partikeln
sind die Transformationen möglich (1b, 2b). Die Abtönungspartikeln schließen den
ganzen Satzinhalt in ihren Wirkungsbereich ein, können aber selbständig nicht
gebraucht werden. Ihre Position im Satz ist durch das Mittelfeld eingeschränkt, sie
können weder im Vorfeld noch im Nachfeld stehen. Sie sind also weder semantisch
noch syntaktisch selbständig, was ihren kategorialen Status bestimmt: Sie sind keine
Satzglieder, vgl.:
(2 b) Ist es der Fall, dass du krank bist? (Beispiele von Zifonun et al. 1997:
1122).
Zwei andere kategoriale Typen unterscheiden sich dadurch, ob sie sich wieder auf
den ganzen Satz beziehen oder nur auf die Gruppe des Verbs. Die Grenze verläuft
zwischen temporalen und lokalen Adverbialien einerseits und qualitativen
Adverbialien, die die Semantik des Verbs modifizieren, andererseits. Die ersten
werden Satzadverbialien genannt, denn sie können in der Satzfunktion auftreten und
dabei die Satzbasis (Subjekt + Prädikat) charakterisieren. In dieser Funktion treten
Adverbien, Präpositionalgruppen des Substantivs, Modalpartikeln auf, vgl.:
Die qualitativen Adverbialien modifizieren semantisch nur das Verb, deshalb heißen
sie Verbgruppenadverbialien. Sie werden durch Adverbien, Präpositionalgruppen
des Substantivs oder vergleichende Konstruktionen mit wie ausgedrückt. Vgl.:
Fazit
Der Beitrag der Kategorialgrammatik zu der Theorie der Satzglieder ist nicht zu
übersehen. Im Rahmen dieses Ansatzes wird der Wert von Komplementen und
Supplementen graduiert sowie der Wert der Adverbien. Außerdem wird der
Satzgliedwert den Partikeln abgesprochen, was experimentell bewiesen ist.
dargestellt, was einerseits die Entwicklung dieser Verfahren zeigt, andererseits für
den Vergleich der russischen und deutschen Traditionen von Bedeutung ist. Man kann
dabei verfolgen, wie die Formalisierung der Satzstruktur etappenweise realisiert wird.
Da der Begriff der Referenz durch das menschliche Bewusstsein realisiert wird, ist er
logischer Natur. Dies berücksichtigend, bezeichnet W.G. Admoni die Satzmodelle,
die auf Referenz aufbauen, logisch-grammatische Satztypen. Das sind keine rein
412
logischen Satztypen, weil sie auch grammatische Strukturen beinhalten, nämlich die
Formen des Subjekts und des Prädikats.
Es ist W.G. Admoni gelungen, fünf semantische Grundtypen der Sätze aufzustellen,
die typische Sachverhalte bezeichnen. Das ist nur möglich, wenn man einen sehr
hohen Grad der Verallgemeinerung voraussetzt und keine Details berücksichtigt.
Davon ausgehend, benutzt W.G. Admoni den Begriff des „nackten Satzes“, das heißt
eines Satzes, der nur aus Subjekt und Prädikat besteht, gebraucht ihn aber mit
Berücksichtigung des „erweiterten Prädikats“.
Zu den fünf logisch-grammatischen Grundtypen von W.G. Admoni (Admoni 1986:
238) gehören:
Der intransitive Satz (das nominativische Tätigkeits- oder Zustandssubjekt +
Tätigkeit oder Zustand, durch ein Verb ausgedrückt),
Der transitive Satz (das nominativische Tätigkeitssubjekt + Tätigkeit, durch
ein Verb ausgedrückt + Objekt der Handlung, durch Akkusativ oder Dativ
ausgedrückt),
Der „Erkenntnissatz“ (das zu bestimmende Nominativsubjekt+ kopulatives
Verb + Nominativprädikat, das das Subjekt bestimmt),
Der „Eigenschaftssatz“ (Träger einer Eigenschaft, durch Nominativ
ausgedrückt+ kopulatives Verb + Eigenschaft, durch die Kurzform der
Adjektive ausgedrückt),
Der unpersönliche Satz mit der Bedeutung des passiven Zustandes (Akkusativ
oder Dativ des Trägers des Zustandes + passiver Zustand, durch ein Verb
ausgedrückt).
W.G. Admoni betont, dass diese Grundtypen natürlich nicht die ganze Masse von
möglichen Sätzen umfassen, dass sie aber die Grundlage bilden, um alle möglichen
Sätze abzuleiten. In seinem Studienbuch (Admoni 1986) führt er zwölf Typen an. Wir
erläutern hier nur die fünf oben angeführten.
Den ersten grundlegenden Satztypus definiert W.G. Admoni (Admoni 1986: 239)
wie folgt: Arbeiter arbeiten; Arbeiter haben gearbeitet. Die Semantik dieses
413
grundlegenden Satztypus kann man als Urheber der Handlung + die Handlung oder
Träger eines Zustandes + Zustand bestimmen. Die Beispiele zeigen, dass in diesem
Typus die Beziehungen eines Gegenstandes (im weiten Sinne des Wortes) zu einem
Vorgang abgebildet sind.
Den zweiten Grundtypus illustriert W.G. Admoni mit folgenden Beispielen:
Arbeiter fällen Bäume; Er hilft seinem Vater; Ich bedarf deiner Hilfe; Ich denke an
dich (ebenda). Dieser Satztypus enthält eine Relation zwischen dem Urheber der
Handlung und dem Objekt dieser Handlung. Kennzeichnend ist ein objektives Verb
als Prädikat. Wie die Beispiele zeigen, kann das Objekt verschiedene Formen
annehmen: Es kann nach transitiven Verben im Akkusativ stehen und nach
intransitiven, aber objektiven Verben steht es im Dativ oder mit einer Präposition. Der
Beispielssatz mit dem Genitiv ist in der Gegenwartssprache praktisch aus dem
Gebrauch gekommen. Solche Sätze sind nur noch in der Jurasprache geblieben, die
sehr konservativ ist. Wichtig ist aber, dass die Möglichkeit besteht, solche Sätze zu
bilden.
Der dritte Grundtypus ist Die Rose ist eine Blume. Die Semantik dieses Grundtypus
bestimmt W.G. Admoni als Einbeziehung des Einzelnen oder des Besonderen in das
Allgemeine, als die Zuordnung eines engeren Begriffs zu einem umfangreicheren
(Admoni 1986: 241). Charakteristisches Merkmal dieses Typus ist das nominale
Prädikat mit einem Substantiv als Prädikativ.
Der vierte Grundtypus drückt die Beschaffenheit eines Gegenstandes aus. Das
illustriert W.G. Admoni (1986: 243) mit dem Mustersatz Die Rose ist schön. Die
Semantik, die hier zum Ausdruck kommt, kann man als qualitatives Merkmal eines
Gegenstandes bestimmen. Typisches Merkmal besteht darin, dass in der Funktion des
Prädikativs die Kurzform des Adjektivs gebraucht wird.
Der fünfte logisch-grammatische Typus lässt sich folgenderweise modellieren:
Nominativsubstantiv + Kopula + Genitivprädikativ (Admoni 1986: 245). Das
Prädikativ kann auch durch ein Substantiv mit Präposition von ausgedrückt werden.
Die Semantik dieses Typus ist sehr mannigfaltig. Mit diesem Typus kann man den
414
inneren Zustand des Subjekts, die Zugehörigkeit, die Qualität u.a.m. bezeichnen,
vgl.: Er ist guter Laune; Er ist des Teufels; Die Mütze ist Pauls.
Die genannten logisch-grammatischen Satztypen von W.G. Admoni werden mit
unterschiedlicher Häufigkeit gebraucht. Einige Proben aus der schöngeistigen
Literatur zeigen, dass darin die Handlungssätze am häufigsten vorkommen (Admoni
1986: 249). Das hängt aber vom Genre ab. So kann man in der Poesie Gedichte
finden, wo Sätze ohne finites Verb präferiert sind, die die Existenz von gewissen
Gegenständen oder Erscheinungen bezeichnen. Nach W.G. Admoni (1986: 248)
bilden sie den zwölften logisch-grammatischen Satztypus. Ihr Gebrauch ist extrem
spezifisch.
Die logisch-grammatischen Grundtypen von W.G. Admoni fallen mit den
grundlegenden Satzbauplänen von H. Brinkmann zusammen. H. Brinkmann
unterscheidet zudem zwischen dem Bauplan und dem Satzmodell. Unter dem
Bauplan versteht er die durch die Stellung der Personalform bestimmte Anordnung
innerhalb eines Satzes (Brinkmann 1971: 476). Satzmodelle sind grammatisch
gekennzeichnet durch die Kombination der Wortklassen und Wortformen, die sie
fordern oder zulassen; inhaltlich – durch eine besondere Weise, die zugrunde liegende
Situation zu interpretieren. So kann die Situation Er hat mich mit seinem Kommen
überrascht verschiedenartig bezeichnet werden. H. Brinkmann führt folgende
Möglichkeiten an, von denen jede ein Bezeichnungsmodell darstellt:
Sein Kommen hat mich überrascht – Sein Kommen war für mich überraschend –
Sein Kommen war für mich eine Überraschung (Brinkmann 1971: 522).
In der deutschen Grammatiktradition geht man bei der Satzmodellierung von der
verbozentrischen Theorie aus. Das Verbum finitum wird für das strukturelle Zentrum
des Satzes gehalten. Der Schlüsselbegriff, der bei der Satzmodellierung gebraucht
wird und die Satzbaupläne (wie auch die Satzmuster) unterscheiden hilft, ist die
Valenz (Sitta 1998: 676). Um das Verb als strukturelles Zentrum des Satzes herum
eröffnen sich leere Stellen, die von Ergänzungen ausgefüllt werden. Zu den
Ergänzungen links von dem Verb zählt das Subjekt, rechts von dem Verb füllen die
Leerstellen Nebenglieder des Satzes aus, vor allem Objekte. Darin liegt u.E. ein
großer Mangel dieser Theorie, denn das Subjekt verliert seine grundlegende
satzbildende Bedeutung, die ihm als Mitgestalter der Satzbasis zukommt. Hier wird
es aus der Satzbasis ausgeschlossen. Nach unserer Ansicht gehört es doch dazu und
gestaltet den Satzbauplan mit. Mit dieser Korrektur können wir die Theorie der
Satzbaupläne annehmen. Wir betrachten dabei nur die Leerstellen, die sich rechts
vom Verb eröffnen, die linke Leerstelle wird für das Subjekt als Teil der Satzbasis
reserviert.
Die Duden-Grammatik bringt eine Liste der Satzbaupläne der deutschen
Gegenwartssprache. Sie sind aus Satzgliedern konstituiert. Zu den konstitutiven
Satzgliedern gehören:
– Subjekt
– Prädikativer Nominativ (der Gleichsetzungsnominativ genannt wird)
– Prädikativer Akkusativ (Gleichsetzungsakkusativ)
416
–Akkusativobjekt
– Dativobjekt
– Genitivobjekt
– Präpositionalobjekt
– Raumergänzung
– Zeitergänzung
– Artergänzung
– Begründungsergänzung (Sitta 1998: 679).
Vgl. Sie einige Beispiele:
1. Subjekt + Prädikat: Die Rosen blühen.
2. Subjekt + Prädikat + Akkusativobjekt: Der Gärtner bindet die Blumen.
3. Subjekt + Prädikat + Dativobjekt: Der Sohn dankte dem Vater.
4. Subjekt + Prädikat + Begründungsergänzung: Das Verbrechen geschah aus
Eifersucht (ebenda, S. 708).
Die Liste zählt insgesamt 36 Einheiten, von denen 23 Hauptsatzbaupläne bilden und
die übrigen Nebenpläne. Die Varianten werden nicht berücksichtigt, jedes Satzglied
kommt nur einmal vor. Die Varianten entstehen:
– Durch die Wortstellung;
– durch die Satzart (Deklarativ-, Interrogativ-, Imperativsatz);
– durch den Satztyp (Haupt- oder Nebensatz);
– durch die Erweiterung durch Angaben;
– durch das Tempus oder den Modus.
Von den Nebengliedern des Satzes kommen im Satzbauplan sowohl obligatorische
als auch fakultative Ergänzungen vor. Zusammenfassend nennt sie H. Sitta in der
Duden-Grammatik konstitutive Glieder, da sie die Prädikatsverben ergänzen und
somit die Satzbaupläne konstituieren. Zum Beispiel Akkusative sind für den
Satzbauplan immer konstitutiv, wenn auch sie nicht immer obligatorisch sind. Vgl.:
Es gibt aber auch solche Satzglieder, die nicht vom Verb abhängen, sondern eher die
Satzbasis charakterisieren. Man nennt sie freie Angaben. Dazu gehören
Adverbialbestimmungen des Raumes, der Zeit, des Grundes, der Art und Weise.
Diese Satzglieder gehören in der Regel nicht zum Satzbauplan. Es gibt wenige
Ausnahmen, wo sie obligatorisch sind und als Ergänzungen betrachtet werden, vgl.:
Unabhängig vom Verb kann im Satz auch der freie Dativ erscheinen, er begründet
keine Satzbaupläne, vgl.:
Der Satz ist eine hierarchische Struktur. Man unterscheidet da Glieder des ersten und
des zweiten Grades. Die letzten hängen nicht vom Prädikat ab, sondern von einer
Ergänzung (ebenda, S. 679). Vgl.:
Daher muss auch im folgenden Satz die angestrichene Ergänzung als Ergänzung des
ersten Grades angesehen werden:
O.I. Moskalskaja behandelt den Satz als ein komplexes bilaterales Zeichen mit
kognitivem, nominativem und kommunikativem Wert, als Kreuzpunkt mehrerer
denotativer, signifikativer, satzsemantischer und struktureller Bedeutungen. Das
theoretische Modell der Satzbeschreibung setzt nicht nur ein Modell der
Strukturbeschreibung, sondern auch ein Modell der Beschreibung der Satzsemantik
voraus. O.I. Moskalskaja weist darauf hin, dass zwischen der Struktur und der
Semantik des Satzes keine 1:1 Beziehung besteht. Die semantische Modellierung von
Sätzen hat es nicht mit der Oberflächenstruktur der Sätze, sondern mit deren
419
Tiefenstruktur zu tun. Unter Tiefenstruktur wird dabei die Struktur des Satzinhaltes
oder die Satzsemantik verstanden. Die letztere wird von der Oberflächenstruktur des
Satzes verkörpert, d.h. von der Satzstruktur. Die Satzstruktur dient dabei als
Ausgangspunkt der Beschreibung. Den strukturellen Satzmodellen werden auf Grund
der Analyse der Argument-Prädikat-Beziehung und der Rollen der Argumente
semantische Satzmodelle zugeordnet.
O.I. Moskalskaja hat folgende Satzmodelle aufgestellt:
I. Modellblock – zweigliedrige Sätze mit nominalem Prädikat
II. Modellblock – zweigliedrige Sätze mit verbalem Prädikat
III. Modellblock – zweigliedrige Sätze mit der Komponente Infinitiv
IV. Modellblock – formal zweigliedrige Sätze mit der Komponente es
V. Modellblock – eingliedrige Sätze
VI. Modellblock – phraseologisierte Satzmodelle.
Der Modellblock zweigliedriger Sätze mit nominalem Prädikat umfasst fünf
Satzmodelle:
№ Satzmodell Besispiele
1 N1 cop N1 Müller war Schlosser
2 N1 cop Adj / Part1,2, Pronadj, Num Die Welt schien menschenleer
Die Tür blieb geöffnet
Wir sind zu wenige
3 N1 cop Adj – S Karo ist einkluger Hund
4 N1 cop Adj – N2../pN2…, Inf Ich bin auf Ihre Hilfe angewiesen
Der ist mir recht. Gundel schien nicht
gesonnen, dem Ratz zu folgen
5 N1 cop Adv / S2, pS2.. So soll es sein.
Er war guter Dinge.
Tony war in großer Eile.
cop – Kopulaverb.
Vom Standpunkt der Zugehörigkeit der strukturellen Modelle zu einem semantischen
Typ lassen sich die Modelle des ersten Modellblocks folgendermaßen einteilen:
(1) Eigenschaftsaussagen (Modell 2, Modell 3, Modell 5), vgl.: Er ist alt. Er ist
guter Laune. Karo ist ein kluger Hund und
(2) Relationsaussagen (Modell 1, Modell 4, Modell 2), vgl.: Müller ist Schlosser. Er
ist seiner Mutter ähnlich. Er ist älter als sein Bruder.
Der Modellblock zweigliedriger Sätze mit verbalem Prädikat umfasst die größte
Anzahl von Satzmodellen. Unter ihnen findet man folgende Subklassen:
1. Modelle aus zwei Komponenten mit absolut einwertigem Verb im Aktiv, z.B.: Das
Streichholz erlosch.
2. Modelle aus drei Komponenten mit zweiwertigem objektlosem Verb im Aktiv,
z.B.: Ich lebe auf dem Lande.
3. Modelle aus drei, vier oder fünf Komponenten mit einem Objektverb im Aktiv,
Z.B.: Er nahm die Mütze ab.
4. Modelle aus drei oder vier Komponenten mit einem Objekt- bzw. einem
objektlosen Verb, die im rechten Teil einen Infinitiv oder eine Infinitivkonstruktion
aufweisen, Z.B.: Hans verspricht uns, pünktlich zu sein.
5. Modelle aus zwei, drei und vier Komponenten mit einem Verb im Passiv, Z.B.:
Der Brief wurde geschrieben.
Die aufgezählten strukturellen Modelle lassen sich aus semantischer Sicht in folgende
Typen unterteilen:
(1) Relationsaussagen, z.B.: Die Stadt wurde von Bomben zerstört.
(2) Eigenschaftsaussagen, z.B. Er hinkt.
(3) Existenzaussagen, z.B. Das Versicherungsamt befindet sich in diesem Gebäude.
Der Modellblock zweigliedriger Sätze mit der Komponente Inf umfasst Sätze, bei
denen ein Hauptglied oder beide Hauptglieder durch einen Inf repräsentiert sind, z.B.:
Es macht Spaß, hier zu bleiben. Sätze aus diesem Modellblock sind den Eigenschafts-
und Relationsaussagen zuzuordnen.
421
Aufgaben
Aufgabe 1
Ordnen Sie die Elementarsätze der folgenden Texte den Bauplänen der Duden-
Grammatik zu. Beachten Sie die Satzteile, die konstitutiv und nicht konstitutiv sind:
A
Die Kunst ist lang, das Leben kurz, und kurz ist auch eine Deutschstunde. Wie viel
Literatur passt denn eigentlich in eine Deutschstunde, und ist in ihr überhaupt Platz für
Literatur? Einige Kleingläubige haben gemeint, das passe ganz und gar nicht
zusammen: die große Literatur und die kleine Deutschstunde. Man solle sich doch eher
damit begnügen, das zu lehren, was man im Alltag braucht und was man gelegentlich
mit einem schrecklichen Wort „Fertigkeiten" nennt. Aber was ist das für ein
Sprachunterricht, der nur Fertigkeiten lehrt! Womit soll man da eigentlich so schnell fertig
werden? Natürlich, wenn man die Ziele des Sprachunterrichts, zumal des
422
geworden.
Wir sind alle optisch außerordentlich beeinflussbar. Wer hier vor mehr als sechs
Mikrophonen spricht, hat selbstverständlich mehr zu sagen als andere. Die besseren
Argumente entsprechen der besseren Kleidung. Diese Verwechslungen haben wir
gelernt. Wir machen keine Politik. Wir wollen Eindruck machen. Wir werden nicht
müde, einander beweisen zu wollen, dass wir eigentlich gar nicht so sind, wie wir
eigentlich sind. In Deutschland wird die Unzulänglichkeit robust. Wir verstehen keinen
Spaß. Die Polizei hilft ihren Freunden. Die Jugend ist ein Risiko, auf das sich die deutsche
Bevölkerung nicht mehr einlassen will. Deshalb sprach unsere Regierung von
Naturkatastrophen und verabschiedete Notstandsgesetze.
Wir tragen unser Schicksal wie eine Uniform. Wir applaudieren der Lüge. Bei uns sind
auch die Holzwege aus deutscher Eiche. Wir erkennen die Juden schon wieder auf den
ersten Blick.
(Wolf Wondratschek. Deutschunterricht)
Aufgabe 2
Geben Sie verschiedene Satzmuster zum Ausdruck der folgenden Gedanken:
Schweigen oder Unwillen waren die Antworten;
Man hört die Leute von weitem lachen;
Das Wiehern und Gelächter der Zuschauer erfolgt wie auf eine gelungene
Clown-Nummer.
In der westlichen Germanistik ist der generative Ansatz an die Satzmodellierung weit
verbreitet. Dieser Ansatz wurde Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA von N.
Chomsky und seinen Schülern erarbeitet. Der Beitrag von N. Chomsky zu der
linguistischen Theorie wird als Chomskyanische Revolution bezeichnet. N. Chomsky
424
entwickelte seine Theorie anhand der englischen Sprache, die sich strukturell von der
deutschen Sprache unterscheidet. Prinzipiell ist der Unterschied in der Positionierung
der analytischen Verbalformen: Im Englischen stehen sie neben einander, im
Deutschen müssen sie im einfachen Satz distanziert gestellt werden. Dieser
Unterschied erschwert die Anwendung von Chomskys Theorie an die deutsche
Sprache. In Deutschland wurde diese Theorie von G. Grewendorf an die deutsche
Sprache adaptiert.
Die Generative Grammatik ist eigentlich keine Syntaxtheorie, sondern eine
Sprachtheorie, denn darin wird der Spracherwerb aus kognitiver Sicht erklärt. Es geht
dabei nicht primär um die Beschreibung syntaktischer Phänomene, „sondern um die
Modellierung der Kenntnisse, die den Sprecher dazu befähigen, sprachliche
Strukturen aufzubauen, sie zu generieren“ (Dürscheid 2012: 126). Mit seiner Theorie
setzt Chomsky das Vorhandensein einer Universalen Grammatik voraus, die jedem
Menschen angeboren ist. Ihr universaler Charakter wird in allgemeinen Prinzipien
realisiert, die mit universalen kognitiven Fähigkeiten eng zusammenhängen und das
Kind befähigen, sprachliche Strukturen zu verstehen und zu produzieren. Diese
Prinzipien haben in jeder Sprache unterschiedliche Parameter. Die Parameter dienen
als eine Art Filter, die sprachspezifische Phänomene bei dem Spracherwerb
durchlassen. So erwerben die Kinder die Sprache intuitiv: Sie hören, wie man in einer
bestimmten Sprache spricht, behalten und reproduzieren die gefilterten Strukturen.
Die Generative Grammatik hat in ihrer Entwicklung einige Phasen durchgemacht.
Die wichtigsten davon sind: Die Standardtheorie (1960er und 1970er Jahre), die
Government-Binding-Theorie (1980er Jahre) und das Minimalistische Programm
(1990er Jahre). Wir erläutern kurz diese Etappen.
Die Kategorialgrammatik (s. oben) ist später als eine besondere Forschungsrichtung
entstanden und benutzt viele Resultate der GTG. Wir haben in diesem Buch die
zeitliche Anordnung der beiden Forschungsrichtungen zu Gunsten der Logik verletzt.
Für uns war es wichtig, die Modellierung von Wortgruppen als einen kontinuierlichen
Prozess darzustellen. In der GTG ist aber die Modellierung der Sätze vorrangig.
425
Konstituentenanalyse
Der Satz kann in seine Konstituenten gegliedert werden. Konstituente nennt man
jede sprachliche Einheit, die Teil einer größeren sprachlichen Einheit ist (Bußmann
1990: 264). Die Konstituenten sind also die kleinsten strukturellen Einheiten, die den
Satz formen. Sie können kleiner als Satzglieder sein. Im Buch „Deutsche
Satzstruktur“ (Wöllstein-Leisten et al. 1997: 11) illustrieren das die Autoren mit
folgendem Satz: Ein kleiner Zwerg steht auf einem hohen Berg.
Die Wortgruppe ein kleiner Zwerg wird als Subjekt bestimmt. Diese Wortgruppe kann
auch als eine Konstituente aufgefasst werden, denn sie ist Teil einer größeren
sprachlichen Einheit, des Satzes. Doch als Struktureinheit kann sie weiter gegliedert
werden, und zwar in die unmittelbaren Konstituenten. So gesehen, besteht sie aus drei
unmittelbaren Konstituenten, je nach der Zahl der Wörter. Ähnlich sind die
Verhältnisse in der Wortgruppe auf einem hohen Berg, die funktional eine Einheit –
Adverbialbestimmung des Ortes – ist, strukturell-grammatisch jedoch aus vier
unmittelbaren Konstituenten besteht.
Die Konstituenten machen die Satzstruktur durchsichtig. Es gibt mehrere
Möglichkeiten, die Konstituentenstruktur des Satzes darzustellen: Durch den
Strukturbaum, durch die Schachtelung, durch die Klammerung. Am anschaulichsten
ist der Strukturbaum. Er zeigt sowohl die Konstituenten als Satzglieder als auch ihre
Zusammensetzung. Im oben erwähnten Buch wird der angeführte Satz in Form von
einem Baumdiagramm abgebildet.
426
Mit Hilfe eines Fragetests wird eine funktionalen Konstituente erfragt: Was
beginnt in den Bundesländern nicht am gleichen Tag?
Substitutionstest zeigt, wie eine Konstituente durch eine andere ersetzt
werden kann, vgl.:
Die erste Entwicklungsetappe der GTG heißt, wie oben angedeutet, die
428
NP VP
Peter
NP NP V
der Familie das Geschenk bringt
Abb. 8. Die hierarchische Satzstrukur
Das Baumdiagramm stellt eine abstrakte Satzstruktur dar, die von Generativisten die
Tiefenstruktur (TS) genannt wurde. In der TS steht das Verb im Deutschen am
Ende, weil die verbalen Elemente in analytischen Tempusformen eine Einheit bilden
sollen (Dürscheid 2012: 129). Die TS liegt der Oberflächenstruktur (OS) zugrunde,
sie gibt einen bestimmten Sachverhalt wieder. In dieser Struktur werden keine
funktionalen Unterschiede beachtet, die verschiedene Satzarten ergeben oder
verschiedene kommunikative Gewichtung haben. Deshalb können von einer TS
mehrere OS abgeleitet werden. Die Ableitung erfolgt über Transformationen, vgl.:
Fazit
In der Standardtheorie wurden Phrasenstrukturregeln erarbeitet, die
Satzmodelle in Form von symbolischen Zeichen darstellen, die zugleich als
Anweisungen zur Bildung der Sätze dienen. Baumdiagramme zeigen die
hierarchische Struktur der Sätze. Tiefenstrukturen geben in abstrakter
Form den Sachverhalt wieder. Sie liegen konkreten Oberflächenstrukturen
zugrunde.
430
Es gibt keine deutsche Bezeichnung für die nächste Entwicklungsstufe der GTG. Der
englische Titel besagt, dass in dieser Stufe Verbindungsmittel den Kern der Theorie
ausmachen. Es wird gezeigt, wie diese Verbindungsmittel ermöglichen, den Satz zu
generieren. Sie werden als strukturelle Rektion und Kongruenz realisiert. Neu ist
auch die Beachtung der Repräsentationsformen des Satzes, die mit dem Problem der
Grammatikalität der syntaktischen Strukturen zusammenhängen. Die Forscher
versuchten, Bedingungen zu formalisieren, welche grammatisch richtige Strukturen
zu bilden ermöglichen. Es entstand ein Gesamtmodell, in dem vier Ebenen
zusammenwirken: Zu der Tiefenstruktur, die nun D-Struktur (deep structure) genannt
wurde, und der Oberflächenstruktur (S-Struktur, aus dem Englischen surface
structure) wurden die Logische Form (LG) und Phonetische Form (PF) ergänzt.
Die GB-Theorie besteht aus einigen Modulen. Eines davon, in dem es um Phrasen
geht, heißt X-bar-Theorie. Man kann diesen Namen folgenderweise erklären. Durch
X wird eine beliebige Phrase bezeichnet, deren Kopf eine lexikalische Bedeutung hat.
X kann eine Nominalphrase (NP), eine Verbalphrase (VP), eine Adjektivphrase (AP)
oder eine Präpositionalphrase (PP) vertreten. Das ist deshalb möglich, weil alle
aufgezählten Phrasen ähnlich gebaut sind: Sie haben einen Kopf, der seine
Eigenschaften auf die Komplemente projiziert. Demzufolge bedeutet das Symbol XP
eine beliebige Phrase. Den Kopf notiert man in der Regel als Xₒ.
Eine wichtige Annahme, die die X-bar-Theorie von der Standardtheorie
unterscheidet, ist, dass zwischen dem Kopf (Xₒ) und der Phrase (XP) eine
Zwischenebene postuliert wird, die man als X‘ bezeichnet. Z.B. unter den
Nominalphrasen gibt es solche Wortketten, die eine Einheit bilden und als eine
Ganzheit funktionieren. Chr. Dürscheid (Dürscheid 2012: 131) zeigt das anhand der
Wortkette Buch von Chomsky. Diese Wortkette lässt sich gesamt eliminieren: Peter
kennt dieses Buch von Chomsky und Paul jenes__. Solche Wortketten werden in den
Diagrammen auf der Zwischenebene platziert, die zwischen lexikalischer und
phrasaler Ebene liegt, in dem angeführten Beispiel zwischen N und NP. Die
431
ein Buch lesen, sich für Musik interessieren, dem Vater danken.
Die Spezifizierer nehmen im Strukturbaum eine höhere Position ein als die
Komplemente. Mit den Satzgliedern verglichen, ist der Status der Komplemente
Objekten ähnlich und der Status der Spezifizierer gleicht funktional Subjekten. Die
dritte Position gehört den Adjunkten. Das sind Konstituenten, die von Köpfen nicht
gefordert werden. Folgendes Diagramm illustriert diese Positionen (Dürscheid 2012:
135):
VP
Adjunkt VP
Spezifizierer V‘
Komplement V
an Weihnachten sie Kinder beschenken
Abb. 9. Spezifizierer, Komplemente und Adjunkte
Das X-bar-Schema wird auf die Satzmodellierung übertragen. Der Satz wird auch als
eine Phrase analysiert, die einen Kopf hat, dessen Eigenschaften auf den ganzen Satz
432
projiziert werden. Den Kopf der Satzphrase bildet ein funktionaler Knoten, der
Inflektion, abgekürzt INFL, heißt. Dieser englische Terminus bedeutet
Formveränderung. Man bezeichnet damit die funktionale Kategorie, die das
prädikative Verb mit Spezifizierer in der Funktion des Subjekts verbindet. INFL
vereinigt zwei funktionale Merkmale: Tempus und Kongruenz, die auf Englisch
Agreement heißt. Diese Merkmale verleihen dem Verb die Finitheit, das heißt machen
aus einer Phrase einen Satz.
Aus dem Gesagten kann man schlussfolgern, dass die GB-Theorie das traditionelle
Verständnis des Satzes, beispielsweise in W.G. Admoni (1986), formalisiert und die
Satzstruktur anhand von Baumdiagrammen veranschaulicht. Der Verdienst dieser
Theorie ist, dass darin die funktionale Kategorie INFL einen abgesonderten Status
gewinnt, was für die Formalisierung der Satzstruktur besonders wichtig ist. Es ist z.B.
für die maschinelle Übersetzung von besonderer Bedeutung. Die Baumdiagramme
helfen dem Computer grammatische Charakteristik des Verbs in solchen Fällen
unterscheiden, wie wir singen und zusammen singen. Im ersten Fall wird die INFL
besagen, dass es ein prädikatives Verb in der ersten Person Plural ist; der Zweite Fall
ist aber nicht eindeutig, weil der Infinitiv im Deutschen mit den Formen der 1. und 3.
Person Plural Präsens homonym ist. In Wortgruppen mit Infinitiv wie zusammen
singen fehlt INFL und beim Gebrauch der konjugierten Formen ist INFL vorhanden.
Ein anderer Verdienst der GB-Theorie ist, dass die Logischen und Phonetischen
Formen als selbständige Repräsentationsebenen des Satzes ausgesondert wurden. Die
Phonetische Form gibt die lautliche Gestaltung des Satzes an, was für den
Spracherwerb unentbehrlich ist. Auf der Ebene der Logischen Form wird der Satz
semantisch interpretiert. Auch grammatisch richtige Sätze können keinen Sinn haben.
Wir führen hier die russische Entsprechung von Chomsky’s Beispiel an: Зеленые
идеи бешено спят. Nur die LF kann entscheiden, dass diese Struktur keinen Sinn
hat.
Fazit
Die GB-Theorie überführt das traditionelle Verständnis des Satzes auf eine
433
Satzes. Dieses Prinzip wird sowohl auf den einfachen als auch auf den komplexen
Satz und entsprechende Äußerungen angewandt. Der komplexe Satz wird dabei
konzeptuell als eine Mediostruktur verstanden, die zwischen dem einfachen Satz und
einer transphrastischen Einheit (einem Mikrotext) positioniert ist. Ihre sinngebenden
Konzepte sind kognitiv-pragmatische Situationen, die durch komplexe Äußerungen
zum Ausdruck kommen.
Der kognitiv-pragmatische Ansatz ist auch für solche Bereiche relevant wie
Wortfolge und Thema-Rhema-Gliederung, die in diesem Abschnitt erörtert werden.
In neueren Forschungen ist die Syntax durch die Sprechakttheorie ergänzt, die Teil
der Pragmatik ist. Man betrachtet sprachliche, vor allem syntaktische Einheiten als
sprachliche Handlungen, mit denen gefragt, gebeten oder etwas konstatiert werden
kann. Daraus folgt, dass der Begriff ‚Satz’ präzisiert werden muss, und zwar durch
die Ausgliederung des pragmatischen Begriffs der Äußerung. In der Tat, wenn man
sich nur auf den Begriff des Satzes beschränkt, ist dieser Begriff unscharf. Auch 200
Definitionen genügen nicht, um ihn zu umreißen. Als einer der letzten hat sich mit
dem Begriff 'Satz' Beat Louis Müller auseinandergesetzt. Seine bemerkenswerten
Ausführungen vereinigen die semiotischen und die pragmatischen Ansätze. Er
definiert den Satz als ein Zeichen, das eine komplexe Struktur besitzt, welche einen
illokutiven Anspruch signalisiert (Müller 1985: 150). An anderer Stelle erklärt er
aber, dass sich diese Definition auf einen aktualisierten Textsatz bezieht. Der Satz als
solcher trägt keinen illokutiven Anspruch (ebenda, S. 124). Hier fehlt nur ein Schritt,
um die Begriffe 'Satz' und 'Äußerung' auseinanderzuhalten.
Ähnlich unterscheidet H.-J. Heringer den Satz von seinen individuellen
„Äußerungen, die Realisierungen eines Musters oder Schemas sind“ (Heringer 1996:
16). Und weiter heißt es bei H.-J. Heringer: „Wir nehmen an, ein Satz sei ein Schema
für kleinste, potentiell selbständige Äußerungen“ (Heringer 1996: 19).
Prinzipiell ist die Unterscheidung von Satz als Struktur und Äußerung als
435
(1) Sie besprechen mit Ihrer Freundin, die in einer Firma tätig ist, die
Möglichkeit, Anfang Februar nach Sankt-Petersburg zu reisen. Die Freundin sagt
zu Ihnen: „Du bist Studentin! (Und hast grade um diese Zeit Ferien! Ich aber bin
nicht sicher, ob ich gerade um diese Zeit Urlaub bekomme)“.
436
(2) Sie beklagen sich, dass Sie zu viele Aufgaben haben. Der Professor antwortet
darauf: „Sie sind Studentin! (Das gehört ja in Ihren Tätigkeitsbereich!)“.
Die Semantik der Sätze der direkten Rede, die nicht eingeklammert sind, ist
identisch. Diese Sätze haben dieselben Satzbaupläne (Subjekt + Kopulaverb +
Prädikativ). Sie gehören zu demselben logisch-grammatischen Typus, denn beide
bezeichnen eine Identifizierung. Ihre Semantik ist sprachsystematisch gleich. Der
formal-grammatische Unterschied besteht darin, dass in (1) die Du-Form gebraucht
ist, in (2) aber die höfliche Sie-Form.
Was in Klammern steht, ist nicht gesagt, es ist nur gemeint. Es macht den
pragmatischen Inhalt der Äußerung aus, ihre pragmatische Bedeutung. Diese
Bedeutung lässt sich aus der Situation ableiten. Die Äußerungen gehören
verschiedenen Personen, zu denen sie in unterschiedlicher Beziehung stehen und die
sie auch unterschiedlich wahrnehmen. Diese Beziehungsunterschiede bestimmen bei
den Sprechenden die Wahl der Anredeform. In (1) ist die Anrede das Signal der
sozialen Gleichheit, der näheren Beziehung, in (2) signalisiert sie die soziale
Ungleichheit und somit eine distanzierte Beziehung.
In (1) können wir die Illokution der Sprechenden so verstehen, dass sie sich von dem
sozialen Status einer Studentin distanzieren will. Wir sind aber nicht sicher, ob sie ihr
Ziel auch erreicht hat, ob also der Handlungseffekt der war, den sie gewollt hat. Ihre
Gesprächspartnerin kann als Antwort auf Ihren Reisevorschlag einen gewissen Reiz
verspüren. Ihre Antwort könnte sein: „Ja, aber…“. Die Sprechende hat sich mit ihrer
Äußerung wirklich distanziert, und die Folge davon war die Gereiztheit der Freundin.
In diesem Falle wäre der Effekt größer als erwartet, die Perlokution würde die
Illokution übertreffen. Unter anderen Umständen könnte die Freundin auch anders
reagieren, zum Beispiel die Äußerung (1) nicht ernst nehmen oder gar außer Acht
lassen. Ihre Antwort könnte dann sein: „Ach, lass das…“. Das würde bedeuten, dass
der Effekt nicht so groß als erwartet wäre, die Perlokution schwächer als geplant. Wir
sehen, dass eine und dieselbe Äußerung unterschiedliche Wirkungen erzielen kann.
Fazit
437
Bei dem Satz kommt es also vor allem auf die grammatische Gestaltung an,
bei der Äußerung – auf die Sprechhandlung und ihren Handlungseffekt.
Die interne Struktur des Satzes und der Äußerung
Satz und Äußerung sind als jeweils eine grammatische und eine pragmatische Einheit
verschieden. Das verursacht, dass auch ihre internen Strukturen zu unterscheiden
sind. Die Struktur des Satzes wird durch interne syntaktische Beziehungen gestaltet.
Diese Beziehungen können dreierlei sein: Zu-, Neben- und Unterordnung.
Die Zuordnung besteht zwischen dem Subjekt und dem Prädikat. In der russischen
Tradition heißt sie Kongruenz. Die Kongruenz kennzeichnet das prädikative
Verhältnis, das in der GB-Theorie durch INFL einen besonderen Status gewinnt. In
russischer Tradition heißt dieses Verhältnis anders Prädikation.
Die eben erwähnten Begriffe gehen auf die russische Tradition in der Germanistik
zurück, und auf die Arbeiten der ausländischen Germanisten, in welchen Subjekt und
Prädikat als konstituierende Elemente der Satzbedeutung anerkannt werden (vgl. z.B.
Admoni 1986: 219; Brinkmann 1971: 458; Eichler / Bünting 1989: 37). Dieser
Standpunkt ist auch von manchen Vertretern der generativen Grammatik aufgegriffen
worden, bei denen es heißt, dass die Verknüpfung der nominalen und verbalen
Kategorien den Satz ausmacht (vgl. Grewendorf 1988: 47). In der russischen
Germanistik (anders als in der ausländischen) wird der Wirklichkeitsbezug des Satzes
präzisiert, und zwar als Prädikation und Modalität. Die Modalität macht im
Wesentlichen die pragmatische Bedeutung des Satzes aus, sie macht den Satz zur
Äußerung. Sie wird etwas später zur Sprache kommen.
Interne Beziehungen (Zuordnung, Rektion, Kongruenz und Anschluss) halten jeden
Satz zusammen. Ihre Ausdrucksmittel sind Endungen, Konjunktionen, Präpositionen
und Kontaktstellung. Anders verhält es sich bei der Äußerung. Ihre Ganzheit wird
von anderen Gesetzen zusammengehalten. In erster Linie sind das Redeabsicht und
Situationsbezogenheit. Die Redeabsicht heißt Illokution, die Situationsbezogenheit
nennt man Referenz. Die Illokution und die Referenz machen einen abstrakten Satz
zu einer konkreten Äußerung.
438
Sprachliche Handlungen sind dabei ganz allgemein zu verstehen als Aussage, Frage
und Aufforderung. Wollen wir nun an einem Beispiel veranschaulichen, worin der
Unterschied zwischen dem illokutiven Potential eines aktiven und eines passiven
Satzes besteht, denen ein und derselbe Sachverhalt zu Grunde liegt. Beide Sätze
können als konstatierende Äußerungen gelten:
Das illokutive Potential von (1) und (2) kann man wie folgt beschreiben. Wenn man
(1) sagt, so will man die Tätigkeit der Studierenden im Mittelpunkt haben, wobei die
439
Studierenden als aktive Personen aufgefasst werden. Der Satzakzent fällt auf
Vorlesung. Mit (2) will man dagegen darauf aufmerksam machen, von wem die
Vorlesung gehört wird. In beiden Fällen ist das illokutive Potential konstatierend,
doch die Situationen, in welchen beide Sätze als Äußerungen gebraucht werden
können, sind verschieden. Der aktive Satz kann in einem Lehrerbericht vorkommen,
wo er etwa so fortgesetzt werden kann: „Die Studierenden hören eine Vorlesung,
dann veranstalten wir zu diesem Thema ein Seminar, dann schreiben sie eine
Kontrollarbeit“. Es ist aber auch eine andere Situation denkbar: Der aktive Satz kann
als Antwort auf die Frage sein „Was machen die Studierenden zur Zeit?“ Der passive
Satz realisiert ein anderes illokutives Potential. Er kann als Antwort auf die Frage
gelten „Für welches Auditorium soll ich die Vorlesung vorbereiten?“ Andererseits
kann der passive Satz in eine Planung eingebaut werden, etwa in dem Kontext: „Die
Vorlesung wird von Studierenden gehört, dann wird sie korrigiert, durch neue
Tatsachen bereichert und zu einem populär-wissenschaftlichen Artikel verarbeitet“.
Wir sehen also, dass beide Sätze als Strukturen typisiert sind, und beide Äußerungen
mit ihrem illokutiven Potential ebenfalls. Doch die Gebrauchssituationen sind
einmalig.
Das Beispiel zeigt auch, dass der Satz und die Äußerung formal zusammenfallen
können. Wenn das der Fall ist, spricht G. Zifonun von Vollsätzen. Sie versteht unter
Vollsatz die expliziteste Realisierungsform der kommunikativen Einheiten:
„Explizit ist im Vollsatz insbesondere die grammatische Kodierung des Prädikats
durch den Verbstamm, des Zeitbezugs sowie des Verbmodus durch das
Verbalmorphem des finiten Verbs“ (Zifonun et al. 1997: 87).
Vollsätze vertreten die Überschneidungssphäre von Sätzen und Äußerungen, was der
feldmäßigen Organisation der sprachlichen Phänomene entspricht.
Kommunikative Minimaleinheiten sind funktional bestimmt, deshalb behalten sie
nicht immer die explizite Satzform und gehören zur Peripherie des Feldes. Die
Gesamtstruktur des syntaktischen Feldes kann man sich folgenderweise vorstellen:
Satz (der innere Kreis) – Vollsatz (der Zwischenring) – Äußerung (der Außenring):
440
Satz
Aufgaben
Aufgabe 1
Finden Sie in den Sätzen der folgenden Texte Prädikatsknoten und bestimmen Sie die
Beziehungen, die diese strukturieren.
A
441
Ich habe geschlafen. Ich muss wohl geschlafen haben. Ich habe einen tiefen Schlaf.
Ich habe es weder blitzen sehen noch donnern hören. Ich höre schlecht. Ich bin
besonders kurzsichtig. Ich habe diese Hand noch nie gesehen. Ich bin über ihn
hinweggestiegen, um ihn nicht zu wecken. Man hat ihn zugedeckt, es war ja kühl. Er
hat häufig Nasenbluten.
(Jutta Schutting. Sprachführer)
B
Die Rede ist von der Sprache der Neuen Empfindsamkeit, die sich zu einem
erheblichen Teil aus jener Sprache speist, die sich in den Psychotherapien
herausgebildet hat, um Persönlichstes und Privatestes zu einem Gesprächsgegenstand
zu machen.
Der Empfindungsmensch, der diese Sprache spricht, ist ein bedingungsloser Anhänger
der Meinung, dass sich die Menschheit am besten in psychologischen Kategorien
beschreiben lasse. Er psychologisiert alles: Moral, Politik, Verbrechen, Krankheit. Ein
Mann hat seine Frau verlassen? Er kommt nicht los von seinen frühkindlichen
Bindungsproblemen. Ein Politiker tritt für eine höhere Besteuerung der
Wohlhabenden ein? Ihn plagt der pure Neid. Ein Schüler benimmt sich unleidlich
flegelhaft? Er sucht in Wahrheit Zuwendung. Eine Hausfrau hat Asthma? Sie fühlt
sich in ihrer Ehe frustriert. Ein Mann hat seinen Chef erschossen? Er wollte nur
seinem übermächtigen Vater beweisen, dass er ein Mann ist. Nichts gegen psycholo-
gische Erklärungen; sie können auch einmal richtig sein. Es verdient nur festgehalten
zu werden, dass sie in anderen Epochen, anderen Kulturen keine Rolle spielten; und
dass trotz aller Wertschätzung, die sie heute genießen, ein großer Teil von ihnen auf
sehr schwachen Füßen steht. Diese Psychologisierung verhakt sich mit der
Überzeugung, dass die Psyche bodenlos sei: So sehr man sich auch anstrenge, man
komme ihr nie auf den Grund. Alles leidenschaftliche Psychologisieren scheint nie
eine auch nur halbwegs vertrauenswürdige - und verbindliche - Erkenntnis zu
zeitigen.
(Dieter Zimmer. Redens Arten)
442
Aufgabe 2
Erklären Sie die Monoflexion in folgenden Substantivgruppen:
ein junger Wolf, ihre schwarzen Seelen, ein Glas schwarzen Tees, moderne Medien,
der beste Film.
Aufgabe 3
Vergleichen Sie die interne Struktur der Sätze (grammatische Beziehungen) und
entsprechender Äußerungen (Illokution und Referenz) in der Fabel von Gotthold
Ephraim Lessing. Sind die Propositionen in den Absätzen 1 und 2 gleich oder
unterschiedlich?
Aufgabe 4
Bestimmen Sie die Illokution und die Referenz der Äußerungen in folgenden Texten:
A
Im Taxi
Das Hotel liegt aber in der anderen Richtung! Fährt man hier immer bei Rot über die
Kreuzung? Was fahren Sie so schnell? Warum schalten Sie die Scheinwerfer nicht
443
ein?
(J. Schutting. Sprachführer)
B
Im Restaurant
Das habe ich nicht bestellt. Schicken Sie das in die Küche zurück! Ich kann mich
nicht mehr erinnern, was ich bestellt habe – ist der alte Oberkeller noch im Dienst?
Ist das die Suppe? Bitte zahlen, ich warte schon drei Stunden!
(Jutta Schutting. Sprachführer)
C
Unangenehme Situationen
Der Wechselkurs ist mir nicht angenehm. Die Berge sind mir etwas zu hoch. Ich bin
von Ihren Fähigkeiten als Billardspieler enttäuscht.
(J. Schutting. Sprachführer)
D
„Mein Gott, wie siehst du denn aus?“
Gabriele betrachtete ihn von hinten im Spiegel.
„Die Katze hat mich zerfleischt“.
Wieder dieses heitere Gelächter.
„Die Leute werden sagen, ich hätte dich zerkratzt. Oder diese Babsi“.
„Babsi?“
„Ja, sie hat gerade angerufen. Ich hab ihr gesagt, du könntest jetzt nicht telefonieren,
du hättest noch keine Hose an. — Wer ist Babsi, Hanno?“
Der Ton der Frage war wie fernes Wetterleuchten.
„Babsi? Keine Ahnung“.
Also hatte sie angerufen! Und sie hatte ihm doch hoch und heilig versprochen, es nie zu
tun.
„Du bist ein schlechter Lügner“.
„Ich schwöre dir, ich weiß nicht, wer Babsi ist. Ich habe Hunderte von Studentinnen,
und ich kann nicht alle Namen behalten.
444
Was weiß denn ich, wer Babsi ist. Die nennen sich doch alle beim Vornamen, aber ich
kenne nur die Nachnamen!“
War das zu viel an Erklärung? Verriet er sich damit? Wirkte er vielleicht nicht
nonchalant genug, wenn er diese komplizierten Deklarationen abgab? Er musste
diesen Eindruck vermeiden.
(D. Schwanitz. Der Campus)
Einige verbale Modi sind eindeutig und gestalten entsprechend Imperativ- und
Optativ- oder Wunschsätze. Andere verbale Modi (der Indikativ und der
Konjunktiv) sind vieldeutig, deshalb können sie an und für sich keinen Satzmodus
markieren. In solchen Fällen resultiert der Satzmodus aus der Illokution der
entsprechenden Äußerungen, die formal in der Interpunktion zum Ausdruck kommt.
So wird der Indikativ in den Aussagen, Fragen und Ausrufen gebraucht. Aber
kombiniert mit Satzzeichen, ergibt er verschiedene Satzmodi. Bei einer Behauptung,
die durch den Punkt am Ende markiert ist, bestimmt man die Satzart als
Deklarativsatz. In einer Frage, markiert durch das Fragezeichen, nennt man die
Satzart Interrogativsatz und bei der emotionalen Hervorhebung, durch das
Ausrufezeichen markiert, entsteht der Exklamativsatz. Somit werden die Satzarten
durch das Zusammenspiel von morphologischem Modus und Satzzeichen markiert
und dem Sprachsystem zugeordnet. Deshalb werden sie in der russischen
Germanistik als Satzformen bezeichnet, die ein Paradigma bilden (Moskalskaja 1983:
219). Auch U. Engel zählt die Satzarten zu Variationen der Satzmuster, d.h. auch zum
Satzparadigma (Engel 1996: 181). Wir behalten mit U. Engel den Terminus Satzart,
weil die Komponente -art eher den modalen Sinn impliziert als die Komponente
-form.
Aussage, Frage und Aufforderung sind kommunikative Äußerungstypen. Es gibt
viel mehr kommunikative Äußerungstypen als Satzarten. Zum Beispiel die Satzart
Imperativsatz kann in mehreren Äußerungstypen realisiert werden. Sie drücken
Varianten der Aufforderung aus. Zum Beispiel Bitte, Befehl, Flehen, Gebet u.a.m.
Andererseits kann eine Satzart verschiedene Sprechhandlungen ausdrücken. Das
kommt vor, wenn der Sprechende seine Absicht nur indirekt ausdrückt. So kann er
seine Aufforderung in Form von einer Frage gestalten. Dann haben wir es mit einer
funktionalen Transposition zu tun. Der Interrogativsatz wird dann als eine
Aufforderung verstanden, vgl.:
Fazit
Die Unterscheidung der Satzarten ist nicht nur kommunikativ-pragmatischer,
sondern auch systematisch-grammatischer Natur. Im Normalfall ist jede Satzart
mit einer bestimmten Illokution verbunden und wird als Sprechhandlung in der
Form von Äußerung realisiert. Sie kann aber auch in transponierten
Funktionen auftreten, dann stimmt der Äußerungstyp mit der Satzart nicht
überein.
Der Satz gibt die Situation des Besitzes wieder, der folgender Sachverhalt zugrunde
liegt: Personen + ihr Verhältnis zum Objekt des Besitzes. Dieser verallgemeinernde
Sachverhalt heißt Proposition. Diese Proposition wird durch die einfache Satzform
bezeichnet. Der einfache Satz referiert zur einfachen Situation. Dieselbe Proposition
kann konzeptuell als Frage dargestellt werden: Hatten Thomes und Peter einen
Fußball mit?
Die komplexe Äußerung kann als Konzept einer komplexen Situation betrachtet
werden, in der mindestens zwei Situationen zusammenhängen. Dieser
449
Thomas und Peter hatten einen Fußball mit und mit dem hatten wir gespielt.
Die Satzreihe gibt den Zusammenhang von zwei Situationen wieder: Die Situation
des Besitzes wird mit der Handlungssituation gekoppelt. Es entsteht ein komplexer
Sachverhalt: (Personen + ihr Verhältnis zum Objekt des Besitzes) + (Personen +
Handlung mit dem Objekt des Besitzes). Die Teilsituationen werden durch
Elementarsätze bezeichnet, die mit einander koordinieren (nebengeordnet sind). Die
komplexe Situation kann als Tatsache (wie oben) oder als Wunsch / Möglichkeit
dargestellt werden: Wenn Thomas und Peter einen Fußball hätten, könnten wir damit
spielen.
Fazit
Satzform wird als interne Struktur nach der Zahl und Gestaltung der Satzbasen
bestimmt. Die Wahl der passenden Satzform wird mittelbar durch die Illokution
des Sprechers / Schreibers über entsprechende Referenzbezüge geregelt.
Aufgaben
Aufgabe 1
Bestimmen Sie den Sachverhalt der Situationen, die mit folgenden Sätzen bezeichnet
sind. Erklären Sie, wie Illokutionen der Sprecher den Äußerungstyp gestalten und die
Wortwahl beeinflussen:
• Ich wollte aufs Feld, doch es regnete, regnete.
• „Flick die zwei Stühle“, sagte meine Frau.
• Einmal saß die Großmutter vor dem Fernsehapparat. Es lief ein aufregender
Film. Die Großmutter rutschte hin und her. Der Stuhl brach zusammen. Die
Großmutter ist schwer. Zu dritt mussten wir sie aufheben.
(E. Strittmatter. Schulzenhofer Kramkalender)
Aufgabe 2
450
Test
➢ Rektion ist:
1) eine Nebenordnung
2) eine Zuordnung
3) Anpassung an die Form des regierenden Wortes
4) Bestimmung des Kasus durch ein syntaktisch übergeordnetes Wort
4) Anschluss
5) Zuordnung
Deklarativsatz
Fragesatz
Interrogativsatz
Imperativsatz
Zur Terminologie
Mit der Komponente Stellung- finden sich in der modernen Germanistik solche
verbreiteten Termini wie Stellungsregularitäten, Stellungsfelder und
Stellungseinheiten, die im Rahmen der topologischen Modellierung des deutschen
Satzes gebraucht werden (Zifonun et al. 1997: 1498). Bemerkenswert ist auch, dass
die Satztypen nach der Verbstellung bestimmt werden, wobei fixierte Positionen des
finiten Verbs als strukturelle Stellungsregularitäten aufgefasst, also zum
Sprachsystem gerechnet werden.
Viele Forscher sprechen von der Satzgliedfolge (vgl. z.B. Eisenberg 1986: 300). Die
Komponente Folge- (-folge) erscheint auch in den Arbeiten von U. Engel, der über
die Folgeregeln schreibt, indem er eine Grundfolge und Folgevarianten aufstellt
(Engel 1996: 303). Da es sich dabei eher um Variierung der Reihenfolge handelt,
erscheint es sinnvoll, die Termini mit der Komponente „Folge“ für die Äußerungen
zu reservieren. Für die Sätze, oder genauer für die Satzbaupläne wäre unserer Ansicht
nach der Terminus „Wortstellung“ vorbehalten.
Fazit
Es erscheint angebracht, den Terminus „Wortstellung“ zu gebrauchen, wenn es
um systematische Regularitäten, also um Sätze geht, und die Termini
„Wortfolge“ und „Folgevarianten“ in Bezug auf die Äußerungen zu verwenden.
Jetzt sehen wir zu, wie die Stellungsfelder beim realen Funktionieren der
Satzbaupläne besetzt werden. Wir beginnen mit Deklarativsätzen, denn sie stellen die
„syntaktische Ruhelage“ dar. Hier muss es sich eigentlich nicht mehr um Sätze,
sondern um Äußerungen handeln, die eine Aussagefunktion haben. Wir gehen dann
von der unmarkierten Besetzung der Stellungsfelder zur markierten über, die durch
Bewegung der Satzglieder entsteht.
Das Vorfeld wird in der syntaktischen Ruhelage gewöhnlich durch ein Subjekt belegt.
Spezielle Untersuchungen zeigen, dass es in über 50% der Fälle so ist (vgl. dazu
454
Dürscheid 2012: 95). Diese Art Wortstellung nennt man gerade. Wenn dagegen das
Vorfeld von einem anderen Satzglied eingenommen wird, so spricht man von einer
Inversion. Dabei können sich in das Vorfeld Satzglieder aus allen anderen
Stellungsfeldern bewegen, die nach der linken Satzklammer stehen. Die Bewegung
wird durch kommunikativ-pragmatische Gründe gesteuert. Davon seien zwei zu
nennen. Erstens kann das ins Vorfeld gerückte Glied den Anschluss an den Vortext
schaffen und zweitens kann es den Wunsch des Sprechenden bezeugen, etwas
besonders hervorzuheben (vgl. dazu Lötscher 1987: 143). Das finite Verb bleibt
unverrückbar an seiner zweiten Stelle, vgl.:
sind außer dem Subjekt adverbiale Nebensätze sowie lokale und temporale
Adverbialien (Heringer 1996: 249). Wenn direkte Objekte oder infinite Teile des
Prädikats aus der rechten Satzklammer linksversetzt werden, so wirkt das schon
expressiv (vgl. die letzten zwei Sätze in der Tabelle 30).
Jetzt stellen wir einige Präferenzen für die Bewegung der Äußerungsteile im
Mittelfeld fest. Zuerst müssen wir aber die syntaktische Ruhelage bestimmen, wie sie
uns unter kommunikativ-pragmatischen Bedingungen erscheint. Die Bedingungen für
solche Ruhelage beschreibt J. Lenerz. Die wichtigste davon ist die Thema-Rhema-
Bedingung. Diese besagt, dass die Satzglieder mit Themafunktion den Satzgliedern
mit Rhemafunktion vorausgehen (Lenerz 1977). Diese Regularität entspricht im
Normalfall der Abfolge des Satzbauplanes „Dativobjekt vor Akkusativobjekt“. Ein
Beispiel dafür:
Eine andere Bedingung heißt nach J. Lenerz die Definitheitsbedingung. Sie schreibt
vor, dass die definiten (bestimmten) Satzglieder den indefiniten (unbestimmten)
vorausgehen. Wir sollen uns merken, dass in diesem Fall die Basisabfolge des
Satzbauplanes manchmal verändert werden muss. Das ist eigentlich ein Zeichen
dessen, dass es unter Einwirkung von kommunikativ-pragmatischen Einstellungen
vor sich geht. Somit haben wir es hier mit einer Bewegung zu tun. Die Umstellung
zieht aber keine Expressivität herbei, da hier wieder das Thema vor dem Rhema steht.
Es ist also immer noch syntaktische Ruhelage, vgl.:
Er zeigte dem Freund seine Arbeit; Der Literaturlehrer machte die Schüler mit
neuen Büchern bekannt.
Das Gesetz der wachsenden Glieder, das in diesem Zusammenhang auch erwähnt
456
wird (vgl. Behagel 1932, zitiert nach: Dürscheid 2012: 71), entspricht im
Allgemeinen auch den Abfolgen der Satzbaupläne, da die Pronomina gewöhnlich den
nominalen Satzgliedern vorausgehen, vgl.:
Er zeigte mir die Umgebung; Sie brachte uns auf den neuesten Stand der Dinge.
Die kommunikative Funktion der Bewegungen aus dem Mittelfeld heraus versteht
H.-J. Heringer als Fokussierung. Dabei wird das aus der Basisfolge bewegte Element
mit besonderer Aufmerksamkeit belegt oder als relevant hervorgehoben (Heringer
1996: 253). Die Linksversetzungen haben wir oben beschrieben, die
Rechtsversetzungen sind Ausrahmungen, sie werden weiter behandelt, weil dabei
immer spezifische kommunikativ-pragmatische Funktionen realisiert werden.
Fazit
Die syntaktische Ruhelage ergibt eine unmarkierte strukturell bedingte
Wortstellung. Die Bewegung der Satzglieder im Satz wird kommunikativ-
pragmatisch gesteuert und ergibt markierte Folgevarianten. Die Markierung
entsteht durch die Links- oder Rechtsversetzung der Satzglieder von ihrer
gewöhnlichen Position und kann der Äußerung Expressivität verleihen.
457
In diesem Abschnitt gehen wir auf die Frage ein, wie topologische Positionen des
Satzes und die Thema-Rhema-Gliederung miteinander korrelieren.
Die Kategorie Rhema stützt sich auf den Begriff des Unterschiedes, der durch
Unbekanntes, Unbestimmtes, Nichtglaubwürdiges zum Ausdruck kommt
(Слюсарева 1981: 98), das heißt durch aktuelle neue Informationen. Sie bilden eine
Opposition zur Kategorie Thema. Die Neuheit, die im Rhema zustande kommt, ist
auch kein homogener Begriff. Es können absolut neue Informationen sein, die weder
im Vortext noch als Vorwissen vorhanden sind. Es kann auch etwas dem Hörer
Bekanntes sein, das aber in einen neuen Zusammenhang eingeflochten wird (Daneš
1974: 111).
Das Rhema wird im Deutschen in der emotional neutralen Rede in der Regel durch
den unbestimmten Artikel und die Stellung am Ende der Äußerung gekennzeichnet.
Seine topologische Position im Nachfeld gilt für typisch. Vgl.:
Wunsiedels Stellvertreter war ein Mann mit Namen Broschek (H. Böll. Es wird
etwas geschehen).
Es ist dabei zu beachten, dass das Rhema im Deutschen oft nicht am absoluten Ende
des Satzes steht, weil diese Position für die unveränderlichen Prädikatsteile und im
Nebensatz für das Verbum finitum reserviert ist. So erscheint das Rhema an der
vorletzten Stelle, was der Satzakzent kennzeichnet, vgl.:
(a) Heute sehen die Scheine ja hübsch aus (G. Grass. Mein Jahrhundert).
(b) So wurde ich als erster in den Prüfungsraum geführt, wo auf reizenden
Tischen die Fragebogen bereitlagen (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Doch oft wird das Rhema aus der Situation oder aus dem Vortext bestimmt, erscheint
aber in einem gewissen Zusammenhang als neu. Deshalb steht das rhematische
Substantiv mit dem bestimmten Artikel. In der schöngeistigen Literatur ist das kein
seltener Fall, besonders in der Ich-Erzählung, wo der Sprechende sich daran erinnert,
458
was ihm schon bekannt ist. Aber er ordnet seine Rede so, dass auch der Hörer seinen
Gedanken folgen kann, vgl. (b).
Die Opposition zwischen Thema und Rhema kann aufgehoben werden. Das ist zum
Beispiel der Fall, wenn der gesamte Kontext berücksichtigt wird. Dann kann ein
Satzglied im Satz als Rhema gelten und im Textzusammenhang sein Thema
bezeichnen. So erscheint in der Erzählung von G. Grass „1923“ (das Jahr, das in
Westeuropa und in Amerika im Zeichen der Inflation steht) das Wort das
Inflationsgeld mit dem bestimmten Artikel, weil es wohl ihr Thema prägt. Zugleich
aber gehört es in dem konkreten Satz zum Rhema, wovon seine Stellung im Vorfeld
zeugt, die sonst für Objekte nicht typisch ist. Vgl.:
Das Inflationsgeld fand ich nach Mutters Tod in ihrem Haushaltsbuch (G. Grass.
Mein Jahrhundert).
Wenn das Rhema in eine untypische Position rückt (vor dem Thema steht), wird die
Äußerung expressiv. Wenn das Rhema dem thematischen Bestand vorausgeht, heißt
die Wortstellung emphatisch, vgl.:
…fest steht nur, dass sie alle aus erster Hand stammen (ebenda).
Die Expressivität entsteht aber auch in den Fällen, wo es keine Emphase gibt. Das
kommt in den Äußerungen mit komplexem Rhema vor. Das Thema kann in solchen
Äußerungen vor dem Rhemabestand erscheinen, die Äußerung ist dann nicht
emphatisch. Wenn aber im Rhemabestand die rhematische Hauptkomponente der
rhematischen Nebenkomponente vorausgeht, so wirkt die Äußerung expressiv
(Гончарова 1999: 17). Vgl.:
zweiten Fall ist die Emphase absolut, da sie dem Thema vorausgeht. Diese Arten sind
in Tabelle 31 dargestellt.
Zwei Positionen haben im Satz einen besonderen stilistischen Wert: Der absolute
Anfang und das absolute Ende. Je nachdem, welche von diesen Positionen die
emphatischen Wendung besetzt, kann man zwei Arten der Hervorhebung
unterscheiden: Die kontrastive Emphase und den Nachtrag. Die kontrastive Emphase
wird gewöhnlich gespalten. Ihr erster Teil, der oft in der Anfangsposition steht, trägt
einen starken kontrastiven Akzent. Der Nachtrag steht am absoluten Ende des Satzes
und ist als Ausklammerung markiert. Zusätzlich wird der Nachtrag durch Satzzeichen
abgetrennt – durch ein Komma oder einen Doppelpunkt. Vgl. Sie Beispiele in der
Tabelle 32:
Kontrastive In der Ausklammerungsposition
(Nachtrag)
Meine Überlegungen waren jedoch Sie waren ein ideales Gespann, der
müßig. Zu mir war Mark Hübner Direktor und sein Hausmeister
gekommen, nicht zum Direktor (G. Görlich. Eine Anzeige in der
(G. Görlich. Eine Anzeige in der Zeitung).
Zeitung). Sie haben etwas vergessen: die
Vergangenheit (H. M. Enzensberger.
Ach, Europa!).
460
Die Funktionen der Wortstellung sind grammatischer Art, die Funktionen der
Folgevarianten sind eher kommunikativ-pragmatisch interpretierbar.
Grammatische Funktionen der Wortstellung sehen wir darin, dass sie
1) die Satzarten und Strukturtypen der Sätze gestaltet und
2) die interne Organisation der einzelnen Stellungsfelder und des ganzen Satzes
ermöglicht.
Die kommunikativ-pragmatischen Funktionen der Folgevarianten werden oft von
stilistischen nicht unterschieden. Die Realisierung dieser Funktionen wird von zwei
Faktoren bestimmt. Zum einen sind das Faktoren der Text- oder Dialogsteuerung,
zum anderen ist das die Sprechereinstellung auf die Hervorhebung von einem oder
mehreren Elementen der Äußerung. Für den ersten Faktor ist besonders das Vorfeld
relevant, für den zweiten sind beide Eindrucksstellen wichtig, sowohl das Vor- als
auch das Nachfeld.
Die Besetzung des Vorfeldes aus den Gründen der Kommunikationssteuerung wurde
schon oben erwähnt. Hier ist die Möglichkeit gemeint, an das Vorhergesagte oder an
die Gesprächssituation anzuknüpfen oder den Text zu strukturieren. Aus diesem
Grunde erscheinen im Vorfeld oft lokale und temporale Adverbialien oder
Pronominaladverbien. Hier geht es um die „linke Peripherie“ der Äußerung (Rizzi
1997). Diese Satzglieder hängen von dem Prädikatsverb nicht ab, sind also für die
Satzstruktur nicht zwingend und in diesem Sinne peripher. Sie bilden eine Art
Interface zwischen der Proposition und dem übergeordneten Diskurs, in den sie
461
eingebettet sind (Rizzi 1997: 283). Da sie aber in der Äußerung linksversetzt sind,
werden sie für die linke Peripherie gehalten. Vgl.:
Sie setzte sich an einen Tisch...und bestellte Tee und ein Wurstbrot. Dann blickte
sie zum Fenster hinaus (A. Andersch. Sansibar).
Worauf ich hinaus will, ist die Feststellung, dass der Kontrabass das mit Abstand
wichtigste Orchesterinstrument schlechthin ist (P. Süskind. Der Kontrabass).
Auf der anderen Seite ist eines unvorstellbar... (P. Süskind. Der Kontrabass).
Ich musste endlich eure Wohnung sehen. Will mich ein bisschen freuen an eurem
Glück. Das macht mich wieder jung (G. Eich. Träume).
Wenn im Vorfeld ein Rhema oder dessen Teil erscheint, d.h., wenn das Rhema bzw.
sein Teil topikalisiert wird, so geschieht das aus psychologischen Gründen: Der Hörer
sollte sofort einen Eindruck bekommen. Das Rhema wird hervorgehoben. Je
ungewöhnlicher die Vorfeldstellung für ein Satzglied ist, desto stärker wird es
hervorgehoben. Vgl.:
Aber ohne uns geht erst recht nichts (P. Süskind. Der Kontrabass).
Auch das Prädikativ kann rhematisiert und stark betont werden, vgl.:
Mein Gott, ist das schön bei euch! (G. Eich. Träume).
Und der Haifisch, der hat Zähne (B. Brecht. Wenn die Haifische Menschen
wären).
„Sie sehen aber aus wie ein Eskimo!“ (K. Stiller. Ausländer).
Der Schaffner hatte vergessen, es ihm zu sagen (G. Herburger. Ein Vormittag).
463
Manchmal dienen Ausrahmungen dazu, das hervorzuheben, was vom Verb bezeichnet
ist, vgl.:
Karl war sogar einmal verheiratet gewesen mit einem Mädchen Anfang zwanzig
(G. Herburger. Ein Vormittag).
Nachträge sind nur lose mit dem Satz verbunden, der auch ohne sie abgeschlossen ist.
Oft werden gleichartige Satzglieder nachgetragen. Es entsteht der Eindruck, dass der
Sprechende sich korrigieren, etwas verdeutlichen oder etwas ergänzen will. Vgl.:
„Aber zieh die hellgraue Hose an, die grüne Jacke und das weiße Hemd.“ (G.
Herburger. Ein Vormittag).
Er konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne Karl hätte leben sollen, und hier
schon gar nicht (G. Herburger. Ein Vormittag).
Fazit
Kommunikativ-pragmatische Funktionen der Folgevarietäten bestehen zum
einen in der Text- oder Dialogsteuerung und zum anderen in der Hervorhebung.
Im ersten Fall geht es um Linksversetzung, im zweiten – sowohl um
Linksversetzung (bei der Prolepse oder Rhematisierung) als auch um
Ausklammerung oder Nachtrag.
Das Thema und das Gegebene, das Rhema und das Neue
In der einschlägigen Literatur wird oft betont, dass der Themabegriff nicht homogen
ist. W. Mathesius unterscheidet im Themabestand zwei Hauptkomponenten: Das
eigentliche Thema und den Ausgangspunkt, von dem die Äußerung entrollt
(Матезиус 1967: 240). Vgl. folgende Äußerung, mit der G. Grass eine seiner
Erzählungen in dem Sammelband “Mein Jahrhundert” beginnt:
(1) Gleich nach dem Frühstück…setzten wir unser Gespräch fort… (G. Grass.
Mein Jahrhundert).
In der Äußerung (1) ist wir das Thema, das die vorangehende Erzählung fortsetzt. Die
Wortgruppe Gleich nach dem Frühstück bildet den Ausgangspunkt, die temporale
Kulisse der weiteren Handlung. Den thematischen Charakter dieser Wortgruppe sieht
man an dem Gebrauch des bestimmten Artikels.
Der Kategorie Thema kommen andere Kategorien nahe, solche wie Subjekt,
Gegebenes, Bestimmtheit. Jede von diesen Kategorien hat ihre Spezifik, die in
manchen Sprachen implizit ist, in anderen aber explizit zum Ausdruck kommt. So
wird zum Beispiel im Chinesischen oder im Japanischen das Subjekt anders gestaltet
als das Thema im weiteren Sinne (den Ausgangspunkt einbegriffen). Wenn man das
berücksichtigt, hilft das die Unterschiede zwischen dem Thema (Topik) und dem
Subjekt auch in anderen Sprachen zu verstehen, wo sie nicht deutlich sind. Diese
Unterschiede lassen sich folgenderweise formulieren (vgl. Ли / Томпсон 1982: 196-
205):
1. Das Thema muss immer grammatisch bestimmt sein, das heißt unter anderem vom
bestimmten Artikel begleitet werden. Für das Subjekt ist das nicht obligatorisch:
2. Das Subjekt kongruiert gewöhnlich mit dem verbalen Prädikat, für das Thema
muss das nicht sein. In dem Beispiel (2) kongruiert das Prädikat stehen mit dem
Subjekt und nicht mit dem Thema, das den Satz eröffnet.
465
3. Das Subjekt kann rein formal sein und keine Semantik beinhalten (vgl. das
unpersönliche Pronomen es als Subjekt). Das Thema ist immer mit Inhalt beladen. Es
fokussiert den Blick, setzt Gültigkeitsgrenzen der Prädikation.
4. Die grammatischen Prozesse, zum Beispiel Passivierung, betreffen das Subjekt;
das Thema wird darin nicht einbezogen. Vgl.:
(3) Beim Abschied wurden viele Tränen vergossen (G. de Bruyn. Tristan und
Isolde).
Hier können wir ein aktives Subjekt man voraussetzen, das bei der Passivierung
ausgelassen ist. Das Thema Beim Abschied ist sowohl im aktiven als auch im
passiven Satz vorhanden.
5. Das grammatische Subjekt ist nur auf den Satz bezogen; das Thema ist eine
Textkategorie.
Die Kategorie Gegebenes orientiert sich vor allem auf den Hörer, und zwar auf sein
Gedächtnisvermögen. Wenn der Sprechende meint, dass bestimmte Informationen im
Bewusstsein des Hörers noch präsent sind, so bewertet er sie als Gegebenes und
spricht sie schwach betont aus (Чейф 1982: 314, 202). Das Gegebene muss von Zeit
zu Zeit als solches bestätigt werden. Zum Beispiel kann der Eigenname durch das
Personalpronomen ersetzt werden, aber das darf in der Regel nicht für den ganzen
Text gelten, sondern für einen Textteil. Dann muss der Eigenname wiederholt werden
(Чейф 1982: 280-285).
Das Thema ist im Text nicht immer das Gegebene. Der Sprechende kann auch neue
Informationen als Gegebenes präsentieren. Dabei entsteht der sogenannte
Einstiegseffekt (Harweg 1968: 166), der den Hörer gleich in die Erzählsituation
versetzt. Vgl. Beispiele (1-3).
Die Kategorie Bestimmtheit wird durch den bestimmten Artikel kodiert. Es liegt an
der primären Kategorisierung und Individualisierung bzw. Klassenzugehörigkeit. So
erklärt man den Gebrauch des bestimmten Artikels mit Substantiven, die einmalige
Gegenstände bezeichnen, solche wie die Sonne, der Mond u.a. Die Bestimmtheit
466
einer Bezeichnung garantiert nicht ihre thematische Rolle. Der bestimmte Referent
kann auch Rhema sein. Vgl.:
(4) Wir haben Banse lange beobachtet. An zwei Sonntagen war er auf der
Rennbahn (J. Petersen. Und ringsum Schweigen).
Der bestimmte Artikel in der angestrichenen rhematischen Wendung wird durch die
Einmaligkeit der Rennbahn in der Gegend erklärt, um die es sich handelt. Dieses
Beispiel deutet an, dass die Kategorie Bestimmtheit mit außersprachlichen
Kenntnissen der Kommunikanten eng zusammenhängt.
Substantive in der Rhemaposition können den bestimmten Artikel auch in dem Falle
haben, wenn sie eine bestimmte Menge bezeichnen. Somit wird die Perfektivität
kodiert. Dabei kann die Gegenüberstellung der Innenperspektive und der
Außenperspektive des Sprechers (nach E. Leiss) bezeichnet werden, vgl.:
Fazit
Der Kategorie Thema kommen andere Kategorien nahe, solche wie Subjekt,
Gegebenes, Bestimmtheit. Jede von diesen Kategorien hat ihre Spezifik. Die
Kategorie Gegebenes orientiert sich vor allem auf den Hörer, und zwar auf
sein Gedächtnisvermögen. Das Thema ist im Text nicht immer das Gegebene.
Der Sprechende kann auch neue Informationen als Gegebenes präsentieren.
Die Kategorie Bestimmtheit wird durch den bestimmten Artikel kodiert. Es
liegt an der primären Kategorisierung und Individualisierung bzw.
Klassenzugehörigkeit. Die Verwendung des bestimmten/ unbestimmten
Artikels kann aus der Außen- und Innenperspektive erklärt werden.
Neben den Begriffen Thema und Rhema werden in den deutschen Grammatiken
467
letzter Zeit auch die Begriffe Topik und Kommentar verwendet. Sie kamen in die
amerikanische Sprachwissenschaft in den 50er Jahren und wurden später auch in der
deutschen Linguistik verwendet.
Die Unterscheidung von Topik und Kommentar fand noch in der antiken Forschung
statt: Der Philosoph Aristoteles hat Subjekt und Prädikat auseinander gehalten. Im
Großen und Ganzen entspricht das Subjekt einem Topik und das Prädikat einem
Kommentar. R. Musan (2010) findet Übereinstimmungen zwischen dem
psychologischen Subjekt (Gabelentz 1868) und Topik bzw. dem psychologischen
Prädikat (ebenda) und einem Kommentar, was von H. Paul (1880) übernommen
wurde (Musan 2010: 26-27).
Was Topik ist, können wir an folgenden Belegen von R. Musan beobachten:
Der Satz (a) ist die Aussage von Ulrikes Sommerhut, der Satz (b) ist die Aussage von
dem Blumentopf. Das Topik von (a) ist dementsprechend „Ulrikes neuer
Sommerhut“, das Topik von (b) ist „Die Ähnlichkeit mit dem Blumentopf“ (ebenda,
S. 27).
Es gibt bestimmte Ähnlichkeiten zwischen Topik und Thema und Kommentar und
Rhema, aber das ist nicht dasselbe. Häufig fallen Topik und Thema und Kommentar
und Rhema zusammen, vgl.:
a. Was hat Johannes gemacht? Johannes [Topik, Thema] hat Schach gespielt
[Kommentar, Rhema].
Es ist aber möglich, dass Topik mit dem Rhema und Kommentar mit dem Thema
übereinstimmen, vgl.:
b. Was haben die Kinder gespielt? Ein Junge [Topik, Rhema] hat Schach gespielt
[Kommentar, Thema], ein Mädchen [Topik, Rhema] hat Puppen gespielt
[Kommentar, Thema].
468
Der Satz (a) enthält eine Topik-Einheit, der Satz (b) enthält mehrere Topik-Einheiten.
Es kann auch sein, dass Sätze kein Topik haben, vgl.:
R. Musan weist darauf hin, dass es eine Korrelation zwischen der Unterscheidung
von Bekannt und Unbekannt und der Akzentuierung gibt: Ein Ausdruck, der etwas
Unbekanntes bezeichnet, erhält einen Akzent, während ein Ausdruck, der etwas
Bekanntes bezeichnet, keinen Akzent hat (Musan 2010: 46), z.B.:
In a. ist Nastassja Topik, das Neue ist Sonntag. In b. ist Berlin das Neue (vgl. auch
Halliday 1967). Die neue Komponente im Kommentar ist nach M.A.K. Halliday
Informationsfokus (information focus).
Informationsperspektive
Einige Wissenschaftler erforschen die TRG aus der Sicht des Sprachvergleichs in
469
a. Erst am Potsdamer Platz sahen wir..., was geschehen war… (G. Grass. Mein
Jahrhundert).
In der gesprochenen Sprache wird der Fokus durch den Akzent gesteuert. Solch ein
Akzent wird im Deutschen auf unterschiedliche Weise realisiert:
eine deutliche Veränderung der Tonhöhe nach oben und nach unten, vgl.:
Fokussiert werden also Elemente, die auf etwas verweisen. Dabei wird häufig die
Aufmerksamkeit auf eine der Alternativen gelenkt. Den Rest des Satzes nennt man
470
Hintergrund, vgl.:
Diesen Satz mit dem kontrastiven Topik betrachten wir im größeren Kontext:
Sp. 1: Was hatte Max an? Was hatte Alex an? Was hatte Paul an?
Neben dem Kontrast wird durch die Fokussierung auch die Korrektur kodiert, Z.B.:
Eva hat eine Ratte. Nein, Eva hat eine KATze (Beleg von Musan 2010: 43).
Durch den Fokus werden skalare Alternativen zum Ausdruck gebracht. Durch die
Fokussierung werden entweder „höhere“ oder „niedrige Werte“ als Alternativen ins
Spiel gebracht, vgl.:
a. Wie ist Charlotte mit Mathe zurechtgekommen? - Naja, Charlotte hat in der
471
b. Wie ist Charlotte mit Latein zurechtgekommen? - Ganz gut, Charlotte hat in der
Klausur sogar eine ZWEI geschrieben (Musan 2010: 44).
Durch den Verumfokus (Höhle 1992) wird die Negation kodiert, was wir schon im
Abschnitt über die Modalpartikeln beschrieben haben. Die Negation wird durch die
Betonung des Finitums oder des Subjunktors kodiert, wenn der vorangehende Satz
eine Negation enthält, vgl.:
Eine der Möglichkeiten der Kodierung des Verums ist die Verwendung der betonten
Diskurspartikeln (sieh § Der Begriff Verumfokus).
Neben dem Verumfokus wird in der letzten Zeit auch von Faulsum gesprochen
(Repp 2012). Seine Funktion besteht darin, die vorangehende Aussage, die keine
Negation enthält, zu negieren, vgl.:
B: Paul kann NICHT ins Schwimmbad gegangen sein (Repp 2012: 237).
Fazit
Neben dem Paar Thema-Rhema gibt es auch Paare Topik-Kommentar und
Neu-Gegeben. Diese Dimensionen haben viel Gemeinsames, bedeuten aber
nicht dasselbe. Sie sind für die Analyse der Informationsperspektive des Textes
relevant. Die letztere wird stellenweise durch die Fokussierung sowie durch das
kontrastive Topik gewichtet. Die Hauptmittel dieser Gewichtung sind
Kontrastbetonung und Partikeln.
472
Thematische Progression
Die TRG ist nicht auf eine Äußerung beschränkt, sondern muss im Rahmen des
Textes betrachtet werden. So gesehen, kommt dem Thema eine wichtigere Funktion
zu als dem Rhema. Der Themenwechsel ergibt ein Gerüst, auf das sich das Sujet
stützt.
Die thematischen Elemente des Textes können zweierlei sein: Die einen sind stabil,
die anderen mobil. Die ersten sichern die thematische Stabilität des Textes oder des
Textsegments, die zweiten adaptieren die Äußerung an die Textstruktur. Die
thematische Stabilität kommt in den sogenannten topikalen Ketten zum Ausdruck,
wobei ein Thema als Hyperthema (Th) oder als Mikrothema (Tm) aufgefasst wird. Th
und Tm sind gewöhnlich bestimmt. In einem literarischen Text kann man sie
entsprechend der Hauptperson und anderen Personen gleichsetzten.
Die Adaption der Äußerung erfolgt durch kontextuelle Themen (Tk). Tk setzt
gewöhnlich temporale oder lokale Grenzen der Erzählung oder nimmt etwas vom
Vortext auf. Im ersten Fall ist das in der Regel etwas nicht Gegebenes, was nur als
solches dargestellt wird; in dieser Abart ist T k ein Ausgangspunkt der Äußerung. Im
zweiten Fall ist Tk vom Kontext ableitbar und dementsprechend gegeben. Für beide
Abarten sind der bestimmte Artikel und die Demonstrativpronomina typisch. T k
gelten im Allgemeinen als Bindeelemente des Textes.
Das Zusammenspiel von stabilen und mobilen thematischen Elementen lässt einige
Űberlappungen zu. So kann das Tk, das mit Einstiegseffekt eingeführt ist, einem
neuen Thema (Tn) gleich sein, das später zu einem stabilen Thema, meistens Tm
wird. In diesem Fall wird die Opposition zwischen Gegebenem und Neuem
neutralisiert und Tk wird zu einem Tn. Somit haben wir 4 grundlegende topikal-
473
bindende Textelemente: Th, Tm, Tk und Tn (Кострова 1984: 16). Vgl. die Verteilung
von diesen Elementen am Anfang des Romans von H. Böll „Billard um halbzehn“:
(Tk) An diesem Morgen war (Th) Fähmel zum ersten Mal unhöflich (Tk = Tn) zu
ihr, fast grob. (Th) Er rief (Tm) sie gegen halb zwölf an, und schon (Tk) der Klang
seiner Stimme verhieß Unheil; (Tk) diese Schwingungen waren (Tm) ihr
ungewohnt.
Ein anderes Modell von Themenwechsel finden wir bei F. Daneš. Er führt den Begriff
der thematischen Progression (TP) ein. Er versteht darunter die Wahl und Anordnung
von Äußerungsthemen, ihre Zusammenwirkung und Hierarchie (Daneš 1974). Im
Unterschied zu unserem Modell, das nur thematische (genauer topikale) Elemente
berücksichtigt, sind bei F. Daneš sowohl Thema als auch Rhema im Spiel. Er
beschreibt die Grundtypen der TP. Man kann sie als abstrakte Modelle ansehen, nach
denen der Text gebaut wird (vgl. Филиппов 2003: 161). Diese Modelle sehen
folgenderweise aus.
Der erste Typ heißt einfache lineare TP. Hier wird das Rhema der ersten Äußerung
zum Thema der zweiten:
T1→ R1
↓
T2 (=R1) → R2
↓
T3 (R2) → R3 ...
In unserem Modell entsprechen T2 und T3 verschiedenen Tk. Hier findet die thematische
Wiederaufnahme des rhematischen Elements statt. Diese Art Themenwechsel nennen
wir Themenbindung. Vgl.:
Mein Sohn Mattes (R1) schenkte (Th) mir (R1) zwei kleine Schiffe. (Tk) Sie (R2) sind
aus goldenem Staniolpapier und haben eine besondere Eigenart: Niemand sieht
ihnen an, dass sie Schiffe sind (E. Strittmatter. Schulzenhofer Kramkalender).
( Th → R1
474
↓
Tk → R2)
Der zweite TP-Typ von F. Daneš heißt TP mit durchlaufendem Thema. Hier
werden verschiedene Informationen zu einem und demselben Thema gesammelt. Aus
der Textperspektive nennen wir dieses Modell monotopikal:
T1→ R1
│
T1→ R2
│
T1→ R3
Vgl.:
Im Land Parmenien, das man heute Bretagne nennt, lebte einst (Tn) ein Fürst mit
Namen Rivalin. (Th) Er (R1) war sehr jung, (R1’) schön von Gestalt und (R1“)
reich, freigebig, höflich treu und tapfer und darum (R1’“) allen seinen Rittern
Vorbild.
Doch (R2) wollte (Th) er seine höflichen Tugenden (R2’) noch verfeinern. Deshalb
(R3) brach (Th) er (R3’) zu einer Reise auf... (G. de Bruyn. Tristan und Isolde).
Den dritten Typ bildet die TP mit abgeleitetem Thema. In diesem Fall werden von
einem allgemeinen Thema ein oder mehrere Tk abgeleitet. So heißt eine der
Kurzerzählungen von E. Strittmatter Nach dem Gewitter, wo das Gewitter das Th
bildet, von dem noch zwei Themen abgeleitet werden: Der Regen und die Wolken,
475
vgl.:
(T1) Der Regen (R1) rasselt nicht mehr, und (T2) die Wolken (R2) schwimmen im
leisen Nachregen wie ausgelaichte Fische davon (E. Strittmatter. Nach dem
Gewitter).
Th
__________
│ │
T1→R1 T2→R2
Den folgenden Typ bildet bei Daneš die TP mit gespaltenem Thema, das man aber
als eine Abart des abgeleiteten Themas verstehen kann. So können T1 und T2 in dem
obigen Beispiel entweder als von dem Hyperthema abgeleitete oder als Teilthemen
desselben Hyperthemas angesehen werden. So kommen wir auf drei wichtigste TP-
Typen.
Diese drei TP-Typen zeigen, wie sich die Kommunikation entwickelt. J. Firbas (1992:
6) hat die Entwicklung der Kommunikation mit dem Terminus kommunikativer
Dynamismus bezeichnet. Der kommunikative Dynamismus ist eine inhärente
Eigenschaft der linguistischen Elemente. Er kann aber in unterschiedlichem Grade
vertreten sein. Die lineare Anordnung der Elemente im Satz und ihre Betonung in der
Äußerung zeigen uns, welche Rolle diese Elemente für die Erreichung des
kommunikativen Ziels spielen: Ob sie die Kommunikation dynamisch voran bringen
wie bei der einfachen linearen Progression, oder ob sie die Entwicklung
verlangsamen wie bei zwei anderen Typen. Die von Daneš beschriebenen Typen der
TP kann man für Grundtypen der thematischen Textorganisation halten. Es kommen
noch zwei Typen hinzu, die zur Hervorhebung des Dynamismus dienen oder im
Gegenteil den Dynamismus abschwächen. J. Firbas hat diese Typen Typen mit
476
(Tk) Mein Fenster (R1) stand offen. (R2) Nacht war’s. (R3) Still war’s. (Tk’) Die
Stille (R4) vor einem Regen (E. Strittmatter. Nach dem Gewitter).
Tk → R1 ┼ R 2 ┼ R 3
↓
Tk’ → R4
Das Modell zeigt, dass der fallende Dynamismus nichts anders ist als
Themenaufnahme oder Themenbindung. Andererseits führt der anwachsende
Dynamismus zum Verschwinden des Themas: Die zwei folgenden Sätze sind
athematisch, wodurch eine kommunikative Spannung erreicht wird. Danach kommt
der sogenannte thematische Sprung, den Daneš als eine besondere Art der TP
betrachtet. Vom Tk (Fenster) „springt“ der Autor über zwei athematische Sätze zu
einem Thema, das aus dem Kontext entsteht und als Tk’ (Stille) bezeichnet werden
kann.
Zum Schluss muss noch ein Modell der TP angeführt werden, das bei tschechischen
Linguisten fehlt. Dieses Modell ist aber bei einer Textanalyse unentbehrlich, weil der
Text in der Regel den Wechsel der handelnden Personen und Umstände voraussetzt.
Dabei werden zwei oder mehrere Themen verflochten, und es entsteht ein topikales
Netz. Diese Art TP nennen wir polythematische Progression oder die Progression
mit parallel laufenden Themen. Vgl.:
Als (Tm) sie (R1) nach seiner Hand fasste, (R2) riss ( Tm’) er sich heftig (R2’) los
(F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
Tm → R1 ║ Tm’ → R2
477
Fazit
Man kann von 6 TP-Typen sprechen, mit deren Hilfe die Textorganisation
erfolgt: TP mit Themenbindung, mit durchlaufendem Thema, mit abgeleitetem
oder gespaltenem Thema, mit parallel laufenden Themen und mit
anwachsendem oder fallendem kommunikativen Dynamismus.
Der rhematische Bestand der Äußerung ist weniger erforscht. Anhand der
russischen Sprache beschreibt G.A. Zolotova typische Prädikate, die im Bestand des
Rhemas in verschiedenen kommunikativen Verfahren erscheinen: Beschreibung,
Erzählung und Erörterung. Für die Beschreibung sind nominale Prädikate typisch, für
die Erzählung aktionale, für die Erörterung argumentativ-einschätzende (Золотова
1979).
Der rhematische Bestand des Textes ist viel autonomer als der thematische. Die
Themen bilden im Text ein Netz, anders ist es um die Rhemas bestellt. Sie sind mit
situativer Semantik verbunden. F. Daneš meint, dass die aktuelle Textstruktur als
rhematische Folge der semantischen Beziehungen zwischen einzelnen Rhemas
beschrieben werden kann (Daneš 1974: 127). Diese Beziehungen können entweder
zur Progression oder zur Stagnation des Textes beitragen. Diese beiden Begriffe
wurden von R. Harweg eingeführt. Darin kommt die Zusammenwirkung von
kommunikativer Funktion, Semantik und Form der sprachlichen Einheiten zum
Ausdruck. Man kann sie als zwei Hauptarten der Textentfaltung betrachten. Die
Textprogression entsteht dank der Substitution, die Stagnation – infolge der
Wiederholung oder des Zitierens (Harweg 1972: 21). Die Textprogression ist u.E.
eher logisch, die Textstagnation appelliert an die Gedanken und Gefühle des Lesers.
Die rhematische Progression kann in Analogie zu den oben beschriebenen Modellen
von Daneš schematisiert werden. So wird sie in paarweise auftretenden oder
komplexen Äußerungen in folgenden Varianten realisiert: Rhematische Determinanz,
rhematische Gegenüberstellung, rhematische Einbeziehung, rhematische Explikation
478
und rhematische Ergänzung (vgl. Кострова 1984: 23). Der einfachste Fall ist aber
wohl rhematische Anreihung.
Rhematische Anreihung finden wir zum Beispiel in einer Satzreihe oder in einem
Satz mit gleichartigen Prädikaten, wo ein rhematischer Teil den anderen ergänzt.
Zusammen gestalten sie ein einheitliches Bild. Vgl.:
(1) Das klang so echt, dass die Königin Mitleid mit ihm bekam (G. de Bruyn.
Tristan und Isolde).
(2) Sie...stellten Fragen, weil sie erfahren wollten, aus welchem Land er stamme
(G. de Bruyn. Tristan und Isolde).
Im Beispielsatz (1) ruft die Echtheit von Tristan, um den es geht, das Mitleidgefühl
der Königin; im Satz (2) werden Fragen durch den Wunsch hervorgerufen, Tristans
Abstammungsland zu erfahren. Schematisch kann man das so darstellen:
Echt → Mitleid
Fragen stellen ← etwas erfahren wollen
In beiden Fällen haben wir es mit der Textprogression zu tun. In (1) fällt sie mit der
Richtung der Determinanz zusammen und wird noch durch das Pronomen so
unterstützt, das einer Erklärung bedarf. In (2) kann man die Textprogression, die trotz
der regressiven Determinanz stattfindet, mit Hilfe einer Nominalisierung feststellen.
Wenn man beide Nebensätze zu einem Satzglied transformiert, kommt die
progressive Richtung der Informationsanhäufung an den Tag:
(3a) „Ich war ein Spielmann bei Hofe“, erzählte Tristan, „und ich verdiente viel
dabei. Doch wollte ich noch mehr und wurde zum Hauptmann“ (G. de Bruyn.
Tristan und Isolde).
Schematisch dargestellt: Viel ↔ noch mehr, wobei das zweite Oppositionsglied die
weitere Handlung hervorruft und die Textprogression sichert:
(4a) Hinter dem Garten beginnt der Hochwald. Dort steht dichtes Unterholz,
Ebereschen und Espenschösslinge (E. Strittmatter. Schulzenhofer Kramkalender)
→ (4b) Der Hochwald besteht aus Unterholz, Ebereschen und
Espenschösslingen.
(5a) Der Mensch muss eine Aufgabe haben, sonst lebt er wie ein Tier (D. Noll.
Abenteuer des Werner Holt).
Die gegenseitige Bedingtheit von beiden Äußerungsteilen lässt sich mit Hilfe einer
Negierungstransformation überprüfen. Wenn wir die Negation in den ersten Teil
einführen, muss der negative Sinn der Konjunktion sonst gelöscht werden:
(5b) Wenn der Mensch keine Aufgabe hat, lebt er wie ein Tier.
480
Versuchen wir nun die Rolle der rhematischen Progression aus der Textperspektive
einzuschätzen. Aus dieser Sicht müssen wir uns auf verschiedene pragmatische
Einstellungen beziehen, die einzelne Textteile prägen. Die wichtigsten Einstellungen
sind:
die Objektivierung;
die Personalisierung;
der Perspektivenwechsel.
Bei der Objektivierung besteht die Funktion der rhematischen Entwicklung in der
temporalen Anordnung von Handlungen und Ereignissen. Diese Anordnung trägt in
der Regel zur Textprogression bei. Das kommt am deutlichsten in Temporalsätzen
zum Ausdruck. Vgl.:
Als sie nach seiner Hand fasste, riss er sich heftig los (F. Weiskopf. Abschied
vom Frieden) – zwei Handlungen sind in unmittelbarer Folge dargestellt.
Holt saß in der Wachstube, als Schulze das Zimmer verließ (D. Noll. Abenteuer
des Werner Holt) – eine Handlung überlagert zeitlich die andere.
etwas explizit oder implizit, indem sie beispielsweise etwas vom neutralen Benehmen
abheben. Deshalb bedürfen sie im neutralen Kontext einer Erklärung, die sich im
nachfolgenden Satz oder Satzteil findet (Кострова 1986: 40). Vgl.:
Das hat keiner erfahren, weil er sich doch umgebracht hat (W. Bredel. Dein
unbekannter Bruder) (keiner erfahren ← hat sich umgebracht);
Sie freuten sich einige Zeit, weil sie wieder vereint waren (R. Musil. Ausgewählte
Prosa) (freuten sich ← waren vereint).
Rhematische Entwicklung in der erlebten Rede ist emotionsgeladen. Ein Zeichen der
Emotionalität ist zum Beispiel der selbständige Gebrauch eines Nebensatzes, der
ohne Hauptsatz die Aufregung des Sprechenden / Denkenden an den Tag legt. Vgl.:
Aber sie nahm sich vor, Wally auf keinen Fall zurückzuhalten. Obwohl sie sich
schlechterdings nicht vorstellen konnte, was Wally an diesem Maler...gefunden
hatte (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
MUTTER Dieser herrliche Blick! Der Fluss mit den Dampfern, der Park drüben,
die Hochhäuser, – mein Gott, ist das schön (G. Eich. Träume).
„Rühren Sie mich nicht an“! zischte er. „Sie werden verhaftet!“ (E.M. Remarque.
Die Nacht von Lissabon).
Fazit
Die rhematische Entwicklung bildet die Informationsperspektive des Textes. Aus
linearer Sicht findet sie in binären Einheiten statt. Das ist immer ein
semantischer Wechsel, dessen Abarten Anreihung, Determination, Einbeziehung,
Gegenüberstellung und gegenseitige Ergänzung sind. Integrativ gesehen
wechseln kommunikativ-pragmatische Erzählperspektiven, die verschiedene
Darstellungsarten prägen: Objektivierung, Personalisierung und
Perspektivenwechsel.
Außer der thematischen Progression und der rhematischen Entwicklung gibt es noch
ein Verfahren der Textorganisation, und zwar die Thematisierung. Man versteht
darunter den unselbständigen sprachlichen Akt, mit dem der Sprecher einen
Gegenstand oder Sachverhalt für den Adressaten zu einem Thema im Folgetext macht
(GDS: 513). Die Thematisierung hat verschiedene Abarten je nachdem, ob ein neues
Thema eingeführt oder ob ein schon erwähntes Thema fortgeführt wird. Den ersten
Fall bezeichnet man als Neuthematisierung, den zweiten als Rethematisierung.
Den Űbergang zu einem neuen Thema und den damit verbundenen Themaabbruch
nennt man Dethematisierung.
Mittel der Thematisierung koordinieren mit den Satz- und Äußerungselementen. So
werden in der Satzstruktur manche Positionen gern zur Thematisierung benutzt.
Manche Satzglieder sind besonders geeignet, die Thematisierungsfunktion zu
übernehmen.
Von den topologischen Positionen werden für die Thematisierung vor allem die
Positionen im Vorfeld und vor dem Vorfeld benutzt. Es handelt sich hier zum Teil
um die Fälle, die wir oben als Tilgung von Thema und Rhema definiert haben. Die
Kontrastbetonung im Vorfeld macht die Satzglieder im Rahmen der Äußerung zu
483
[Tn=R] Die neuen Medien sind wirklich [R] ein Problem. [Tk] Sie [R]
beschäftigen uns schon lange (GDS: 515).
Die Äußerung kann aber auch anders verstanden werden, dann erscheint der
Thematisierungsausdruck im Nachfeld:
Die neuen Medien sind wirklich [Tn=R] ein Problem. [Tk] Es [R] beschäftigt uns
schon lange (ebenda).
[Tn=R] Die neuen Medien, [T] die sind wirklich [R] ein Problem.
Was die Satzglieder betrifft, so kommt in erster Linie das Subjekt als
Thematisierungsmittel in Frage. Es tritt sowieso oft als Thema auf und kann in dieser
Funktion noch zusätzlich aktualisiert werden. Seine typische topologische Position ist
im Vorfeld. Wenn es abgesondert wird, so rückt es weiter nach links und kommt in
das Vorvorfeld. Vgl. das obige Beispiel.
Zu den Thematisierungen zählt man auch die temporalen und lokalen Adverbialien,
die am Satzanfang stehen und temporale oder lokale Kulisse der Handlung bilden. In
der russischen Linguistik wird ihr besonderer Status terminologisch betont, im
Unterschied zu einfachen Adverbialien heißen sie Determinanten. Vgl.:
Auf Pfingsten begann kurz nach halb fünf das Finale (G. Grass. Mein
Jahrhundert).
Nahe dem Savignyplatz ... befand sich dieses besondere Lokal (ebenda).
Soviel steht fest: Wie nach der Fresswelle die Reisewelle, so kam mit dem
Wirtschaftswunder das deutsche Fräuleinwunder (G. Grass. Mein Jahrhundert).
Die größeren Textteile, die im Zeichen der thematisierenden Ausdrücke stehen, sind
innerlich verschiedenartig strukturiert. In Analogie zu Rhemaentwicklung kann man
hier von Themaentwicklung sprechen. Die wichtigsten Arten dieser Entwicklung
(vgl. GDS: 537) überlappen sich teilweise mit der thematischen Progression:
• Themensplitterung (Eltern → Mutter und Vater) entspricht der TP mit
abgeleitetem Thema;
• Themensubstituierung (Emma → sie) entspricht der TP mit durchlaufendem
Thema;
• Themenreihung entspricht in unserer Terminologie der polythematischen
Progression.
Für den Textausbau ist es wichtig, die Hierarchien zur Themenfortführung zu
beachten. Wenn der Eigenname im Text erscheint, so wird er zuerst durch eine
definite Kennzeichnung ersetzt, dann durch eine Anapher. So erscheint beim
Nacherzählen von G. Görlichs „Anzeige in der Zeitung“ folgende Hierarchie
angebracht:
Fazit
Die Thematisierung und die Themaentwicklung sind Mittel der
Textorganisation, die in verschiedenen Formen zustande kommen. Die
Thematisierung erstreckt sich dabei über größere Textstellen, die ihrerseits
durch Themaentwicklung strukturiert sind. Themaentwicklung kann auch als
selbständiges Mittel der Textorganisation auftreten.
485
Interkultureller Vergleich
Im Bereich der Syntax weisen die russische und die deutsche
Grammatikbeschreibung viele gemeinsame Züge auf. Das kommt daher, dass das
Beschreibungsobjekt im Allgemeinen gleich verstanden wird. Der Gegenstand der
Syntax wird in beiden Fällen als Wortgruppen und Sätze sowie Mittel zu ihrer
Erzeugung interpretiert.
Die Unterschiede betreffen theoretische Aspekte und die damit verbundene
Terminologie. Theoretische Unterschiede sind nicht zuletzt soziokulturell
untermauert. Das findet darin Ausdruck, dass es in jeder Kultur bestimmte
Traditionen gibt, wie grammatische Begriffe formuliert und klassifiziert werden.
Diese Traditionen stützen sich auf die Spezifik der Muttersprache und beeinflussen
die Grammatikbeschreibungen einer Fremdsprache. Die russische Germanistik nimmt
theoretische Leistungen der Russistik wahr; die deutsche Germanistik orientiert sich
an den Leistungen der amerikanischen Linguistik. Außerdem gebraucht man in der
Muttersprache bei der grammatischen Beschreibung ziemlich oft synonymische
Termini, beispielsweise Verdeutschungen der lateinischen Bezeichnungen; in
russischen Grammatiken des Deutschen sind Verdeutschungen selten. In deutschen
Grammatiken kommen auch metaphorische Termini vor, die für Ausländer
Verständnisschwierigkeiten bereiten.
Im Bereich der Wortgruppen sind terminologische Unterschiede, die theoretische
Differenzen widerspiegeln, rasant. In der russischen Germanistik wird der Terminus
Wortgruppe wörtlich verstanden, nämlich als eine Gruppe von mindestens zwei
Wörtern mit selbständiger lexikalischer Bedeutung. In der deutschen Germanistik ist
der Terminus Phrase verbreitet, der eher funktional im Sinne einer Satzgliedfunktion
zu verstehen ist. Dementsprechend kann die Phrase einem Wort gleich sein.
Ein anderer wichtiger Unterschied besteht in Beschreibungsprinzipien der
Wortgruppen. In der russischen Germanistik stehen zwei entgegengesetzte
486
Wortgruppen im Vordergrund: Die Gruppe des Substantivs und die Gruppe des Verbs
(Admoni 1986). Bei der Beschreibung dieser Gruppen wird nicht nur die
Wortstellung beachtet, sondern auch morphologische Gestaltung der Glieder,
beispielsweise die Tendenz zur Monoflexion in der Substantivgruppe, und der
Satzgliedwert der abhängigen Glieder in der Verbalgruppe. In der deutschen
Germanistik herrscht der formal-grammatische Ansatz: Es wird auf die Position des
Kopfes geachtet, welche entweder als kopfinitial oder als kopffinal definiert ist.
Unterschiedlich wird der Kopf der Präpositionalphrase verstanden. In der deutschen
Germanistik wird die Präposition für den Kopf gehalten. Für die russische
Germanistik ist das ungewöhnlich, denn hier geht man bei der Bestimmung des
Kernwortes nicht von strukturellen Kriterien wie Rektion aus, sondern von der
Semantik, die bei dem Substantiv ausgeprägter ist als bei der Präposition.
Im Bereich des einfachen Satzes wird in der russischen Germanistik zwischen Satz
und Äußerung konsequent eine Scheidungslinie gezogen, während in der deutschen
Germanistik dieser Unterschied nicht konsequent wahrgenommen wird. In der
Grammatik (Zifonun et al. 1997) sprechen die Autoren von kommunikativen
Minimaleinheiten, die ungefähr unserem Begriff Äußerung gleichen. In anderen
Grammatiken wird dieser Unterschied nicht gemacht.
Ein bedeutender Unterschied der deutschen Germanistik von der russischen besteht
darin, dass in der ersteren viel mehr Aufmerksamkeit der Beschreibung von
verschiedenen Theorien geschenkt wird (Dürscheid 2012). Das ermöglicht es, den
Ursprung von einzelnen syntaktischen Erscheinungen zu verfolgen und sie
konsequent zu erklären, was dem Prinzip der erklärenden Syntax entspricht. Dabei
werden viele westliche Theorien einbezogen, was in der russischen Germanistik nicht
der Fall ist. So wird beispielsweise die Generierung des einfachen Satzes im Rahmen
der Generativen Grammatik und ihrer Entwicklungsphasen der Standardtheorie und
der Government-Binding-Theorie erklärt. Dabei werden sehr viele Termini der
jeweiligen Theorien verwendet, wie move α, x-bar, Komplement, Supplement,
Spezifizierer, Adjunkt, die in der russischen Germanistik gewöhnlich fehlen. In der
487
Grammatik für das Fach Deutsch als Fremdsprache scheint es wichtiger, eine
systematische Beschreibung des deutschen Sprachbaus im Vergleich zu dem
Sprachbau der Muttersprache zu geben, wenn auch dieser Vergleich nicht immer
explizit ist.
Aufgaben
Aufgabe 1
Erklären Sie die Ausrahmung:
Immerhin hatten wir einen Neger in unserer Stadt, einen lebensgroßen Neger, den die
Kriegswirren verschlagen hatten nach Europa, in unser Land, in diese Provinz,
schließlich in unsere kleine Stadt, in der es schon damals wieder Menschen gab, die
jeglichen Rassenschranken abhold waren, die sich in dieser Ablehnung ergingen in
Gesprächen, bis ihnen eines Tages ein weltweit verzweigter Umstand den Neger
bescherte.
Es steht uns wohl an, sagte der Bürgermeister, diesen Menschen -aus welchem Lande
auch immer er stammt, was immer er sein mag, Neger oder Chinese - aufzunehmen,
ihn wie einen schwarzen Bruder willkommen zu heißen und ihm Heimat und Brot zu
geben.
Die Ratsherren stimmten dem Bürgermeister zu, indem sie nickten und sagten: Ob Neger
oder Chinese.
Wir müssen verhindern, sagte der Bürgermeister weiter, dass er als Hilfsarbeiter in der
Fabrik oder als Hauer im Bergwerk unterkommt; erst recht müssen wir verhindern, dass
er als Knecht und Viehfütterer landet irgendwo in der Landwirtschaft.
Nun kam es unter den Ratsherren zu kurzfristigen Verfeindungen. Alle ereiferten sich
und redeten durcheinander. Jeder pries sein Haus und die herrlichen
Entfaltungsmöglichkeiten darin für einen Neger.
Ruhe, rief der Bürgermeister. Er griff zur Schelle und schellte. Noch einmal
beschwichtigte er mit ausgebreiteten Armen: Es ist nur ein Neger da!
488
Aufgabe 2
Finden Sie Mittel, die zur Markierung von Thema und Rhema benutzt werden.
Erklären Sie ihre Wirkung:
Das Glück ist ein Wie, kein Was, ein Talent, kein Objekt.
Sich wegwerfen können für einen Augenblick, Jahre opfern können für das
Lächeln einer Frau, das ist Glück.
Glück hat weder mit Ratio noch mit Moral etwas zu tun, es ist etwas seinem Wesen
nach Magisches, einer frühen, jugendlichen Menschheitsstufe Zugehörendes.
Der naive Glückliche, der von den Feen Beschenkte, von den Göttern
Verwöhnte, ist kein Gegenstand für die rationale Betrachtung, er ist Symbol und
steht jenseits des Persönlichen und des Geschichtlichen. Dennoch gibt es
hervorragende Menschen, aus deren Leben das »Glück« nicht wegzudenken ist,
bestehe es auch nur darin, dass sie und die ihnen gemäße Aufgabe tatsächlich
geschichtlich und biographisch einander finden und treffen, dass sie nicht zu früh
und nicht zu spät geboren wurden.
Wenn ein Gedicht das Vertonen nötig hat, um zu wirken, dann ist es wenig wert, kann
aber einem begabten Musiker dennoch Anlass zu etwas Schönem werden, es gibt hundert
Beispiele. Und wenn ein Gedicht für sich allein der Wirkung fähig ist, dann wird es
immer wieder Leser finden, und die Versuche der Komponisten können es nicht kaputt
machen. Im Ganzen gilt wohl: Je individueller und differenzierter ein Gedicht ist, desto
mehr Widerstand setzt es dem Komponisten entgegen. Und je einfacher, allgemeiner,
konventioneller es ist, desto leichter tut die Musik.
(Hermann Hesse. Lektüre für Minuten)
Aufgabe 3
489
Aufgabe 4
Modellieren Sie rhematische Entwicklung in den Äußerungen der folgenden
490
Dichtung ist nicht ein Abschreiben des Lebens, sondern ein Verdichten, ein
Zusammensehen und Zusammenfassen des Zufälligen zum Typischen und Gültigen.
(Hermann Hesse. Lektüre für Minuten)
Es war einmal ein Doppeldecker, also ein Flugzeug mit zwei Tragflächen
übereinander, das war grün angestrichen. Den jungen Mann, der darin saß und es
steuerte, nannten die Leute nur den Doppeldecker, obwohl er natürlich einen
anderen Namen hatte. Das war sein Spitzname. Den richtigen Namen kannte niemand
mehr. Es gibt ja die verschiedensten Arten von Flugzeugen, große und kleine,
schnelle und langsame, aber die Doppeldecker sind fast ausgestorben. Selten sieht man
noch, wie sie ihre Kurven fliegen. Darum waren der Doppeldecker und sein Flieger
allgemein bekannt.
(Karl Hermann Roehricht. Der Doppeldecker)
Aufgabe 5
Ekstatisch
Elegisch
Heiter
Atmete er
Das Leben
Und seine Wandlungen
Im Gedicht
(Rose Ausländer. Rilke)
Aufgabe 6.
Setzen Sie in den Sätzen jeweils den dazu passenden Fokusakzent:
1. A: Max hat sich nicht verspätet. B: Max hat sich verspätet, er ist erst um 7 Uhr gekommen. 2. A:
Michaela ist gestern ins Kino gegangen. B: Michaela ist nicht ins Kino gegangen, sie ist zur Schule
gelaufen. 3. A: Was haben die Gäste gemacht? B: Alex hat getanzt. C: Peter hat gesungen. 4. Was
hat Lotte im Wald gesehen? Lotte hat nur einen Igel gesehen. Lotte hat sogar einen Fuchs im Wald
gesehen.
493
Test
1. Wählen Sie ein Gedicht und ein Prosastück, das Sie rezitieren möchten.
3. Fertigen Sie einen Handout für die Mitarbeit in der Gruppe an.
Als Haupteinheiten der Syntax werden gewöhnlich die Wortgruppe und der Satz
aufgefasst. Wortgruppen haben wir oben als Zusammenfügung von mindestens
zwei bedeutungstragenden Wörtern definiert, die keinen prädikativen Sinn
ergeben, d.h. keinen Satz bilden, z.B. der blaue Himmel, ein Buch lesen, vorne
sitzen; aber auch: Auf dem Tisch, unter / über / in dem Tisch.
Wortgruppen werden als Bausteine für einen einfachen oder einen Elementarsatz
verwendet, d.h. den Satz mit einer Prädikation, vgl.:
Ich brauchte sie. Mit ihr war alles einfach (V. Braun. Das ungezwungene Leben
Kasts) → Ich brauchte sie, weil mit ihr alles einfach war.
Syntaktische Einheiten, die mehr als einen Prädikatsknoten enthalten, nennen wir
Einheiten mit prolongierter syntaktischer Form (Кострова 1992a). Der Terminus
'prolongiert' implikatiert zum einen, dass die Form lang genug ist, zum anderen, dass
ihre Semantik mindestens zwei Einheiten einschließt. Es versteht sich, dass
prolongierte Einheiten zur komplexen Syntax gehören.
Prolongierte syntaktische Form ist einerseits ein metasprachlicher Begriff, der alle
Einheiten bezeichnet, die mehr als einen Prädikatsknoten enthalten. So gesehen, ist
das ein übergreifender Begriff, der verschiedene syntaktische Einheiten abdeckt.
Andererseits aber wird prolongierte syntaktische Form in einer Reihe von
sprachlichen Einheiten realisiert, die als ihre Teile gelten können. Dazu gehören
folgende Strukturen:
1. Einfache Sätze mit zweitrangiger Prädikation, welche bei einer
Entfaltungstransformation expliziert werden kann, vgl.:
Ohne mein Brot könnten Sie Ihre Bücher gar nicht lesen (W. Borchert. Das
Gesamtwerk) → Wenn Sie mein Brot nicht hätten,...
Nein, nein, es war ganz und gar kein kleiner Dienst – bei rechtem Lichte
betrachtet (B. Kellermann. Der 9. November) → wenn man ihn bei rechtem
Lichte betrachtet.
Sage nur ein Wort, und ich werde es Papa erzählen (B. Kellermann. Der 9.
November) → wenn du nur ein Wort sagst,...
Ivy war Mannequin, sie wählte ihre Kleider nach der Wagenfarbe (M. Frisch.
Homo faber) → Da Ivy Mannequin war,…
Da unser Autobus in Congonha hielt, kamen wir nicht wie Pilger im Tal an (A.
Seghers. Überfahrt).
Eine Weile wartete Ackermann noch, bis die Haustüre ins Schloss fiel (B.
Kellermann. Der 9. November).
4. Zwei oder mehrere Sätze, die durch einen Punkt, einen Ausrufe- oder
Fragezeichen getrennt sind, semantisch aber zusammengehören und in ein
Satzgefüge transformiert werden können:
5. Ein Teil des Satzgefüges und ein nachfolgender einfacher Satz. In diesem
Falle erweist sich die semantische Zusammengehörigkeit stärker als syntaktische
Gliederung:
Um den Sinn einer prolongierten syntaktischen Form zu verstehen, muss sie der
Leser / Hörer immer reinterpretieren. Das machen wir eigentlich mit jedem Satz,
auch mit einem einfachen. Für H. Brinkmann beispielsweise ist der Satz ein
'Nacheinander', das zugleich 'als Miteinander' gilt (Brinkmann 1971: 456). Gerade
dieses Moment bringt syntaktische Einheiten der Pragmatik nahe, die immer mit der
Reinterpretation zu tun hat. So gesehen bildet die prolongierte syntaktische Form
einen natürlichen Übergang zum Text – einer Einheit, die den
Untersuchungsgegenstand der Pragmatik bildet. Versuchen wir, diese Übergänge zu
verdeutlichen.
Je nach ihren Eigenschaften bilden syntaktische Einheiten Gruppen, welche ihrerseits
das ganze syntaktische System ergeben. Heutzutage wird die Existenz solcher
Gruppen durch die Feldartigkeit des Systems erklärt. Dieses System ist gewiss ein
mentales Konstrukt, das wir gesamtsyntaktisches Feld nennen. Weiter folgt eine
Hypothese, wie man sich ein derartiges Feld vorstellen könnte. Diese Hypothese ist
noch nicht an allen Aspekten gleichmäßig deutlich ausgearbeitet. Wir führen sie doch
schon jetzt an, weil sie einen Anstoß zu anderen Untersuchungen und
Systematisierungen geben kann.
Das Zentrum des gesamtsyntaktischen Feldes ist von einfachen Sätzen mit einem
Prädikatsknoten gebildet. Andere syntaktische Einheiten machen die Peripherie des
Feldes aus. In der Peripherie werden Übergänge zu den Wortgruppen einerseits und
zu dem Text andererseits geschaffen.
Die Übergangszone zum einfachen Satz ist skalierbar und besteht aus diversen
syntaktischen Einheiten, angefangen mit satzwertigen (halbprädikativen)
Konstruktionen. Dazu gehören vor allem Infinitiv- und Partizipialgruppen sowie
abgesonderte Konstruktionen wie der absolute Akkusativ oder der absolute
Nominativ. Weiter entfernt vom Zentrum sind Wortgruppen mit implikatierter
Prädikation, die auch nicht einheitlich sind und mindestens zwei Untergruppen
aufweisen: Die mit einem verbalen und die mit einem nicht-verbalen Substantiv als
Kern. Die Positionierung der Verbalgruppen (mit Ausnahme der obengenannten) und
497
Der einfache Satz ist eine Grundeinheit der traditionellen Syntax, der komplexe
Satz kann als Grundeinheit der komplexen Syntax gelten. Er repräsentiert die
syntaktische Form, die wir prolongiert nennen. Das kommt darin zum Ausdruck, dass
er mindestens zwei explizite Prädikatsknoten enthält, was die syntaktische Form
quantitativ prolongiert und qualitativ kompliziert macht. Qualitative Komplizierung
entsteht dadurch, dass die beiden Prädikatsknoten eine bestimmte semantische
498
Wenden wir uns zuerst der traditionellen Syntax zu. Hier wird der komplexe Satz in
der Regel als Vereinigung von zwei oder mehreren Sätzen verstanden. Wenn die
Sätze gleichwertig sind, nennt man diese Vereinigung Satzreihe, wenn der eine
Satz grammatisch ‘führend’ ist, heißt die Vereinigung Satzgefüge. Im Satzgefüge
heißen die Teilsätze Haupt- und Nebensatz. Der Nebensatz ist dem Hauptsatz
grammatisch untergeordnet. Das kommt im Deutschen besonders auffällig zum
Ausdruck, und zwar durch eine besondere Wortstellung. Der Terminus ‘Nebensatz’ ist
aber manchmal irreführend, da die Nebensätze dem Inhalt nach wichtiger sein
können als die Hauptsätze, vgl.:
Es war, als zeige ein Tier die Zähne (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon)
– Der Hauptsatz ist hier semantisch leer.
Analog wird die Modalität des komplexen Satzes verstanden. So kann das Satzgefüge
mit einem irrealen Vergleichssatz in einen realen (faktischen) Hauptsatz und einen
irrealen (nichtfaktischen) Nebensatz eingeteilt werden, vgl.:
(1) Es war mir, als ob ich diesen Mann schon gesehen hätte.
Solche Sätze heißen in der russischen Germanistik Sätze mit verschiedener Modalität
(Гулыгa, 1971). Es gibt auch komplexe Sätze mit gleicher Modalität, z. B. irreale
Bedingungssätze:
(2) Wenn wir verheiratet wären, braucht’ ich überhaupt nicht zu gehen (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Neben dem linearen Ansatz findet sich in der traditionellen Syntax aber auch der
integrative. Das kommt in einem anderen Terminus zum Ausdruck, und zwar, der
Nebensatz wird oft als Gliedsatz bezeichnet. Das bedeutet, dass er als Glied des
Hauptsatzes verstanden wird. In den neueren pragmatisch orientierten Arbeiten
findet sich der Terminus Subprädikation (Redder 1990: 197), der die untergeordnete
Funktion des Nebensatzes hervorhebt.
Der Terminus Gliedsatz setzt voraus, dass der entsprechende Nebensatz die
Funktion eines Satzgliedes übernimmt und in manchen Fällen bis zu diesem
zusammengerollt werden kann nach dem Muster: Wenn das Wetter schlecht ist →
bei schlechtem Wetter.
Die meisten Nebensätze erfüllen wirklich, wie in GRUNDLAGEN gezeigt worden
501
ist, die Funktionen der Satzglieder, sie heißen auch entsprechend: Subjekt-,
Prädikativ-, Objekt-, Attribut- und Adverbialsätze. Man bestimmt ihre Funktion nach
logischen Fragen, vgl.:
...es machte mich nervös, dass man nicht rauchen durfte (M.Frisch. Homo
faber)→ Was machte mich nervös?
Alle waren gespannt, wer wohl...um Isolde kämpfen würde (G. de Bruyn. Tristan
und Isolde) → Worauf waren alle gespannt?
Der Film spielte im Mittelalter, auf einer Straße, auf der man Bernstein
transportierte (A. Seghers. Überfahrt)→ Auf welcher Straße spielte der Film?
Die Sache eilte, da ich meine Stelle in Bagdad anzutreten hatte (M. Frisch.
Homo faber) → Warum eilte die Sache?
Im Grunde war es Hanna, die damals nicht heiraten wollte (M. Frisch. Homo
faber) → Wie war Hanna? Was wird über Hanna gesagt?
Sätze solcher Art wie der letzte sind übrigens ein deutsches Spezifikum. Im
Russischen z.B. entsprechen ihnen einfache Sätze mit kommunikativer Hervorhebung
des Subjekts: Именно Ганна не хотела тогда выходить замуж.
Es ist aber nicht immer leicht, eine logische Frage sinnvoll zu stellen. Wie fragen wir
z. B. nach dem Inhalt des Nebensatzes in folgenden Fällen:
Unser Zug war besser als erwartet: Eine Dieselmaschine und vier Wagen
mit Air-condition, so dass wir die Hitze vergaßen (M. Frisch. Homo faber).
Ich...schämte mich, obwohl ich mich im Recht fühlte (E. Neutsch. Auf der Suche
nach Gatt).
Die Kleine mochte nach der Mutter geraten sein, die ewig kränkelte (H.
Sakowski. Daniel Druskat) → Wie war die Mutter? (Eine Frage nach einem
Prädikativ-, nicht nach einem Attributsatz).
Soweit ich urteilen kann, ist die Stadt Rothenburg eine der schönsten Städte
Deutschlands.
Fazit
Mit dem Terminus ‘Gliedsatz’ kommt die traditionelle Syntax der modernen
Satzlehre am nächsten. Dieser Terminus berücksichtigt die Integration des
Nebensatzes in den Hauptsatz, d.h. zum Teil die pragmatische Interpretation
des Ganzen. Die Pragmatik des komplexen Satzes lässt sich nur bestimmen,
wenn dieser als Ganzes aufgefasst wird.
Bei diesem Ansatz kann von der Polyprädikativität kaum die Rede sein. Hier wäre
ein anderer Begriff vonnöten, der die Prädikation des gesamten Satzgefüges
bezeichnen würde. Wir kommen auf diesen Begriff, wenn wir den komplexen Satz
als eine Mediostruktur betrachten, die zwischen dem einfachen Satz und dem Text
positioniert ist.
Der komplexe Satz als Mediostruktur zwischen dem einfachen Satz und dem Text
Wir haben gesehen, dass die Interpretation des komplexen Satzes bis heute nicht
eindeutig ist. Die Widersprüche gehen einerseits auf die Komplexität dieser
sprachlichen Einheit zurück, andererseits aber auf verschiedene Forschungsansätze.
Das letztere kommt zum Vorschein, wenn wir den komplexen Satz konsequent im
sprachlichen System betrachten, das heißt seine Zusammenhänge mit solchen
sprachlichen Einheiten verfolgen, die die untere und obere Ebene im Sprachsystem
einnehmen. Es geht also um die Überprüfung seiner Beziehungen zu dem einfachen
Satz (die untere Ebene des Sprachsystems) und – streng gesagt – zu der
transphrastischen Einheit, die die obere Ebene des Sprachsystems bildet. Der
Einfachheit halber halten wir für die obere Ebene den Text, wenn wir uns auch dessen
bewusst sind, dass der Text kein syntaktischer, sondern eher ein psycholinguistischer
503
enthalten aber Informationen, die sowohl für die lineare Entfaltung des Textes als
auch für die interne Struktur des Ganzsatzes wichtig sind. Diese Informationen
konzentrieren sich in der Einleitungskonjunktion des Nebensatzes. L. Rizzi schreibt
dieser Konjunktion (in seiner Terminologie dem Complementizer) die Fähigkeit zu,
zwei Arten von Informationen auszudrücken, die dem äußeren und dem inneren
Kontext zugewandt sind. Die Orientierung nach außen wird von der „höheren
Instanz“ – dem Vortext – bestimmt und als Umstand oder Relation realisiert. Diese
Orientierung markiert die Position des Nebensatzes in der linearen Kette. Nach N.
Chomsky (1995) wird dadurch die Illokution spezifiziert (zit. nach Rizzi 1997: 293).
In der inneren Orientierung kommt die Kongruenz der Konjunktion mit dem Prädikat
des Nebensatzes zum Ausdruck, in dem Sinne, dass finite Merkmale des prädikativen
Verbs, vor allem Tempus und Modus, auf die Konjunktion abgestimmt sind (ebenda).
Welche finiten Merkmale von der Konjunktion spezifiziert werden, wird nicht durch
die Morphologie des Verbs bestimmt, sondern steht der Semantik der Konjunktion
frei (Rizzi 1997: 285).
Die Konzeption von L. Rizzi stimmt in vielen Zügen mit unserer etwas früher
(Кострова 1991, 1992b) formulierten Auffassung des komplexen Satzes überein. Die
Parallelität der Konzeptionen kommt in Folgendem zum Ausdruck. In beiden Fällen
wird den Prädikationen des Matrix- und des Nebensatzes unterschiedliche Bedeutung
zugewiesen, wobei die Prädikation des Matrixsatzes auf den Text bezogen ist und die
des Nebensatzes auf die Konjunktion. Somit wird der unterschiedliche Rang der
beiden Prädikationen anerkannt. Identisch ist auch, dass in beiden Konzeptionen
zwischen linearem und integrativem Ansatz unterschieden wird, wenn auch dieser
Unterschied bei L. Rizzi nicht expliziert ist.
In unserer Konzeption wird die kognitiv-pragmatische Interpretationsrichtung des
komplexen Satzes konsequent durchgeführt und die oben besprochenen Ansätze – der
lineare sowie der integrative - auseinander gehalten.
Wie wir bereits gesehen haben, erscheint der komplexe Satz bei dem linearen Ansatz
als eine polyprädikative Einheit mit linearer Verkettung der prädikativen Knoten.
505
Diese Verkettung kann man sich als eine einfache Addition vorstellen, die in dem
Schema (a + b) abgebildet ist. Beim integrativen Ansatz erscheint der komplexe Satz
als eine Konstituente des Textes. In diesem Falle muss seine Prädikation auch als
etwas Ganzes wahrgenommen werden und nicht als eine einfache Summe. Man
könnte sich diese neue komplexe Prädikation als Multiplizieren nach dem Schema (a
x b) vorstellen. In der traditionellen Syntax fehlt eine entsprechende Bezeichnung für
eine derartige Prädikation. In einigen neueren Untersuchungen wird dafür der
Terminus Prädikation reserviert, für die Prädikation des Nebensatzes dagegen der
Terminus Sub-Prädikation gebraucht (vgl. z.B. Redder 1990: 197). In mancher
Hinsicht ist diese Unterscheidung gut, denn sie berücksichtigt die Unterordnung des
Nebensatzes. Andererseits aber besteht im Terminus Prädikation kein deutlicher
Unterschied zwischen dem einfachen und dem komplexen Satz. J.S. Stepanov führt
den Terminus Superprädikation ein, der diesen Unterschied deutlich macht. Unter
dem Superprädikat versteht er die koordinierende oder subordinierende Konjunktion,
die die Elementarsätze zu einer komplexen Einheit verbindet (Степанов 1985: 135).
Das Superprädikat bezeichnet die semantische Beziehung zwischen den
Prädikatsknoten des Haupt- und Nebensatzes und kann den komplexen Satz in
höheren Einheiten vertreten, so in der transphrastischen Einheit oder im Text.
Der Terminus Superprädikation füllt also die Lücke im Begriffssystem, indem er dem
integrativen Ansatz den entsprechenden Begriff zuordnet. Beide Termini: Poly- und
Superprädikation scheinen im Rahmen der entsprechenden Ansätze berechtigt zu
sein. Der erste bezieht sich dabei auf die untere Ebene des einfachen Satzes, indem er
die Linearität des komplexen Gedankengangs widerspiegelt. Der zweite Terminus
orientiert sich auf die obere Ebene des Textes und prägt den integrativen Ansatz,
indem er die Vereinigung von Haupt- und Nebensatz als eine Ganzheit vertritt. Aus
dieser Sicht erscheint der komplexe Satz als Mittelglied (Mediostruktur) zwischen
dem einfachen Satz und dem Text (Кострова 1992b, Kostrova 2014 ).
Die Beziehungen, die dabei entstehen, lassen sich folgenderweise schematisieren:
Ebenen des Art der Prädikation Das sprachliche Produkt
506
Sprachsystems
Transphrastische global-situative Text
Einheit
Komplexer Satz superprädikatie komplexe Äußerung
polyprädikative Äußerungskette=Text
einfacher Satz situative Äußerung
Tab. 33. Arten der Prädikation in verschiedenen sprachlichen Einheiten
Neben der Prädikation zählt zu den wichtigsten Eigenschaften des Satzes seine
Modalität. In der russischen Grammatiktradition wird sie als zweite
äußerungsbildende Eigenschaft, unentbehrlich bei der Beschreibung der Sätze,
angesehen. Dennoch wird dieser Aspekt fast nur an dem einfachen Satz gemessen.
Der Modus des einfachen Satzes wird als Teil der verbalen Prädikation verstanden,
durch den die Einschätzung der Wirklichkeit / Nichtwirklichkeit des Satzinhalts
vonseiten des Sprechenden zum Ausdruck kommt (Admoni 1986: 250; Moskalskaja
1983: 220). In der deutschen Tradition wird die Modalität nicht nur mit Verb, sondern
auch mit Adverb verbunden (vgl. z. B. Eisenberg 1986; Helbig / Helbig 1990). Da
aber diese Wortarten auch die Satzmodalität prägen, scheint es logisch, diese im
Ganzen zu charakterisieren. Das Verb bleibt dabei das Hauptmittel zum Ausdruck der
Modalität. Der Sprechende kann einen bestimmten Sachverhalt als real oder als irreal
hinstellen. Dementsprechend gebraucht er den Modus realis (den Indikativ) oder den
Modus irrealis (den Konjunktiv). Diese Opposition lässt natürlich eine ganze Reihe
von Übergangsfällen offen, von denen hier abgesehen wird.
In den neueren Syntaxtheorien wird der Begriff der Modalität als ein pragmatischer
Begriff verstanden, weil der Sprecherbezug den Satz zu einer Äußerung macht. Die
Satzmodalität wird als Vermittlungsinstanz zwischen dem Satztypus und der
Illokution des Sprechenden angesehen (Brandt / Reis / Rosengren / Zimmermann
1992). Z.B. ein volitiver Modus vermittelt dem Imperativsatz eine
Regulierungsfunktion; ein emotiver Modus vermittelt dem Ausrufesatz eine
Ausdrucksfunktion (Ausdruck der Gefühle und Wertungen); ein epistemischer Modus
507
Die Satzgefüge oder Hypotaxen bilden das Zentrum der komplexen Syntax. Sie
bezeichnen komplexe Situationen grammatisch rangiert: Die eine wird als
grammatisch führend angesehen, die andere aber als abhängig. In der traditionellen
Syntax werden die Satzgefüge je nach der Funktion der Nebensätze innerhalb der
hypotaktischen Struktur eingeteilt. Das ist eine funktional-semantische Einteilung,
die eng mit der Logik zusammenhängt. Die Funktion des Nebensatzes wird meistens
nach logischen Fragen bestimmt. Dies kann man als eine Basiseinteilung ansehen.
Sie ergibt innerstrukturell funktionale Typen der Satzgefüge. Innerhalb jedes
funktionalen Typus kann man nach der Semantik des Superprädikats
gesamtsemantische Klassen der Satzgefüge aufstellen. Diese Klassen setzen sich
aus Satzgefügen zusammen, deren Nebensätze verschiedene Einleitungsmittel haben
und doch durch semantisches Konzept als Oberbegriff (Temporalität, Kausalität etc.)
oder gemeinsame Funktion (Subjekt, Objekt etc.) zusammengehalten werden. So
umfasst der funktionale Typ der Adverbialsätze verschiedene gesamtsemantische
Klassen, die nach der Semantik des Superprädikats unterschieden werden:
Temporal-, Kausal-, Konditional-, Konsekutiv- und Finalsätze. Sie geben
entsprechende Konzepte wieder: Temporalität, Kausalität, Bedingtheit, Einräumung
und Zielsetzung. Innerhalb des funktionalen Typus der Objektsätze unterscheidet
man gesamtsemantische Klassen der reinen Objektsätze und der indirekten
Fragen. Da ‚reine‘ Objektsätze meistens fremde Meinungen oder fremde Gedanken
ausdrücken, werden sie als evidentielle Informierung bezeichnet. (Evidentiell heißt
dabei ‚auf eine Informationsquelle verweisend‘). Indirekte Fragen geben das Konzept
der evidentiellen Interessenbekundung wieder. Bei den Subjektsätzen kann man vom
Konzept eines deskriptiven Subjekts sprechen (vgl. Аминева 2005), bei
Prädikativsätzen vom Konzept eines deskriptiven Prädikativs. Die Attributsätze
geben das Konzept der authentischen Attribuierung wieder.
Die gesamtsemantischen Klassen können weitergeteilt werden, diesmal nach der
nominierenden Semantik des Superprädikats. Dabei entstehen semantische
510
Subklassen. Diese Einteilung ist konkret. Sie ordnet die Satzgefüge einer
bestimmten gesamtsemantischen Klasse zu, je nach der nominierenden Semantik der
Superprädikate, d.h. je nachdem, wie sie die Verbindung von zwei einfachen
Situationen der realen Welt bezeichnen. Wir betrachten das am Beispiel der
Temporalsätze.
In den Grammatiken wird die Semantik der temporalen Konjunktionen entweder
nach der Bedeutung der relativen Zeit, die sie ausdrücken (Gleich-, Vor- oder
Nachzeitigkeit) (vgl. z.B. Helbig & Buscha 2005: 600-602), oder nach ihrer
aspektualen Veranlagung beschrieben. Da aber im Deutschen die Kategorie des
Aspekts als explizite Kategorie fehlt, wird die aspektuale Veranlagung nur implizit
mitberücksichtigt, um z. B. die Bedeutung der Konjunktionen als und wenn zu
unterscheiden. Wir vereinigen diese zwei Ansätze, was uns erlaubt, die temporalen
Konjunktionen systemhaft zu ordnen.
Gesamtsemantische Klassen mit temporaler Semantik sind durch das invariante
Konzept der relativen Temporalität geprägt. Dieses invariante Konzept realisiert
sich in zwei konzeptuellen Subinvarianten: Der Gleichzeitigkeit und der
Nichtgleichzeitigkeit. Die beiden Arten: Die invarianten und subinvarianten
Konzepte sind abstrakte Entitäten, die wir bei der semantischen Analyse der
temporalen Konjunktionen feststellen. Das ist – so Chomsky – die Ebene der
Tiefenstruktur. In den Oberflächenstrukturen kommen konkrete Realisierungen
dieser Semantik in temporalen Subklassen vor, die durch Varietät der
subordinierenden Konjunktionen entstehen. Die Subklassen bilden sich als
Ergebnis der Kombinatorik der relativen Zeit, des Aspekts und des
kommunikativen Registers oder des funktionalen Stils. Vgl. Tabelle 35:
Die Matrix zeigt unter anderem die Möglichkeiten einer funktionalen Synonymie
zwischen verschiedenen Subklassen. So sieht man, dass eine vollständige
Synonymie (wenn auch mit unterschiedlicher stilistischer Prägung) bei solchen
Konjunktionen vorhanden ist, die relativ selten gebraucht werden: indem und
indessen, ehe und bevor. Selten sind auch Konjunktionen, die man als formale
Varianten ansehen kann: seit/seitdem, kaum dass/kaum als. Bei gebräuchlichen
Konjunktionen erlaubt dieser Ansatz, ihre Semantik ziemlich genau zu beschreiben.
Wenn wir die Satzgefüge als eine Mediostruktur zwischen dem einfachen Satz
512
und dem Text betrachten, müssen wir anerkennen, dass sie eine
Übergangsebene in der sprachlichen Hierarchie besetzen. Ihre Zwischenstellung
beeinflusst, dass sie als Klasse heterogen sind. Diese Tatsache ist in der Linguistik
natürlich nicht unbeachtet geblieben. So schreibt z. B. C. Fabricius-Hansen, dass der
Begriff der Subordination eigentlich nicht sehr aufschlussreich ist und aufgelöst
werden müsste (Fabricius-Hansen 1992). A. Peyer betrachtet die Nebensätze als nicht
homogene Strukturen mit einem prototypischen Zentrum (Peyer 1997: 26). Im
Weiteren wird für Nicht-Homogenität argumentiert, indem innerhalb der
nominierenden gesamtsemantischen Klassen der Satzgefüge strukturell-semantische
Subklassen unterschieden werden.
Man nehme an, dass jede konzeptualisierte gesamtsemantische Klasse der Satzgefüge
eine Feldstruktur hat. Man kann also eine Subklasse finden, die im Zentrum des
Feldes ist, seinen Kern bildet; andere aber neigen entweder zu der niedrigeren Ebene
des einfachen Satzes, oder zu der höheren Ebene des Textes. Die Subklassen werden
hier aufgrund der Merkmale ausgegliedert, die eine Opposition bilden:
Syntaktischer Idiomatismus steht der strukturellen Einfachheit gegenüber.
Den Begriff des syntaktischen Idiomatismus hat in Bezug auf den komplexen Satz
E.W. Gulyga geprägt. Sie versteht darunter den Verkettungsgrad der Prädikatsknoten
des Haupt- und Nebensatzes (Гулыга 1971: 94-95). Wenn die beiden
Prädikatsknoten stark genug verkettet sind, ist es unmöglich, das Satzgefüge in
selbständige Sätze zu zerlegen, ohne den Sinn verändert zu haben. Sie sind
konzeptuell unzerlegbar. Solche Satzgefüge sind eigentlich syntaktische Idiome.
Dazu gehören beispielsweise die Satzgefüge mit den temporalen Konjunktionen
während, solange, bis, bevor. Vgl.:
Der Chauffeur stieß ihn an, während er umschaltete (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon)→ * Der Chauffeur stieß ihn an. Er schaltete um;
Die Tür stand offen, solange es nicht dunkel war (E.M. Remarque. Die Nacht
von Lissabon) → * Die Tür stand offen. Es war nicht dunkel;
513
Da heulte die Sirene auf, bis ihr der lange Atem ausging (B. Apitz. Nackt unter
Wölfen) → * Da heulte die Sirene auf. Ihr ging der lange Atem aus.
Als Gegenglied zum Begriff des syntaktischen Idiomatismus haben wir den Begriff
strukturelle Einfachheit eingeführt. Strukturelle Einfachheit bedeutet, dass die
syntaktische Form mit dem Modell des Satzgefüges zusammenfällt. Die syntaktische
Form ist dabei nicht kompliziert. Das heißt, in ihrem Bestand fehlen solche
Elemente, die sie auf den Kontext oder auf die Situation beziehen (adversative
Konjunktionen, Partikeln). In strukturell einfachen Satzgefügen haben gewöhnlich
der Haupt- und der Nebensatz ein und dasselbe Subjekt; beide Elementarsätze sind
nicht groß im Umfang; ihre Stellung in Bezug aufeinander widerspiegelt ikonisch
die Folge der Ereignisse in der realen Welt. Die strukturelle Einfachheit setzt voraus,
dass der Sinn des Satzgefüges durchsichtig ist. Deswegen können solche Satzgefüge
leicht in Elementarsätze zerfallen, ohne dass der Sinn irgendwie verletzt wird
(Кострова 1992а: 132). Vgl.:
Als Felix 10 Minuten später die Treppe hochstieg, hörte er sie murmelnd zur
Nacht beten (J. Brĕzan. Semester der verlorenen Zeit) → Felix stieg 10 Min.
später die Treppe hoch. Er hörte sie...zur Nacht beten.
Wenn du konkret denkst, kommst du mit dem Rechnen nie zu Ende (H. Kant. Die
Aula) → Beim konkreten Denken…
Zerlegbare Subklasse ist von Satzgefügen gebildet, in denen der Haupt- und der
Nebensatz selbständige Subjekte haben und keine sprachlichen Einheiten enthalten,
die auf den vorhergehenden oder nachfolgenden Text verweisen. Das ermöglicht,
dass sie leicht in Elementarsätze zerfallen (das Beispiel s. oben).
Im Bestand der nicht-zerlegbaren Subklasse finden sich die Satzgefüge, in denen
verschiedene Subjekte im Haupt- und Nebensatz sowie adversative Konjunktionen
oder Partikeln vorhanden sind. Die komplizierenden Mittel stehen außerhalb des
Modells, sind aber Komponenten der syntaktischen Form. Sie machen diese Form
idiomatisch. Die Satzgefüge können nicht zerlegt werden, ohne dass der Sinn
verändert wird. Vgl. :
Doch als Krämer zur Tür ging, verlor Kluttig die Beherrschung (B. Apitz.
Nackt unter Wölfen) → Krämer ging zur Tür. Das ließ Kluttig die Beherrschung
verlieren.
Jeder Subklasse liegen variierende Konzepte der Temporalität zugrunde, während der
Begriff der Temporalität derselbe bleibt. Die Begriffe und Konzepte können
gleichnamig sein. Bei ihrem Vergleich wird aber festgestellt, dass die Begriffe
beständiger sind und Konzepte je nach der Gebrauchssituation variieren. Das
Konzept der Temporalität ist ein Kategorien- oder Type-Konzept. Seine Variierung
in den Subkonzepten unter dem Einfluss der lexikalischen Füllung und des
515
Die Kategorien-Konzepte können auch auf eine andere Weise modifiziert werden,
und zwar dadurch, ob ihr Ausdruck stilistisch neutral oder in einem gewissen Maße
expressiv wirkt. Diese Modifizierung hängt mit den Begriffen der Ikonizität und
Nicht-Ikonizität zusammen. Wir wenden uns zunächst diesen Begriffen zu.
In der Linguistik wird seit langem das Problem der Arbitrarität des sprachlichen
Zeichens diskutiert. Dieses Problem ist mit ihrer Bezeichnungsfunktion verbunden.
Wenn wir dieses Problem auf die komplexen Sätze anwenden, ergibt sich Folgendes.
Komplexe Sätze als syntaktische Zeichen im realen Gebrauch, wo sie zu
Äußerungen werden, bekommen manche Merkmale der Ikonizität, die in ihrer
Widerspiegelungs- und / oder Projektionsfähigkeit wurzeln. Sie widerspiegeln oder
projizieren dabei nicht nur unsere Vorstellungen von der objektiven Welt, sondern
auch unsere subjektiven Gedankengänge. Ihre Projektionsfähigkeit wird in den Fällen
realisiert, wenn sie keine Situationen widerspiegeln, sondern neue Zusammenhänge
schaffen, z.B. in einer Konversation.
516
Betrachten wir einige Fälle, wo die syntaktische Ikonizität ziemlich deutlich zum
Ausdruck kommt. Das Zeichen ist ikonisch, wenn es bestimmte strukturelle
Eigenschaften des Bezeichneten ausdrückt bzw. aufweist. Es muss eine bestimmte
Formähnlichkeit bestehen zwischen unserer Wahrnehmung von Elementen /
Strukturen der Realität und ihren sprachlichen Entsprechungen. Das syntaktische
Zeichen ist in der Regel komplex, besteht also aus einigen Komponenten. Wenn
diese Komponenten den Komponenten einer realen Situation entsprechen, kann man
das als Ikonizität betrachten. Z.B.:
Der Marschall (Tristans Pflegevater) schickte die beiden (Tristan und seinen
Lehrer) in fremde Länder (G. De Bruyn. Tristan und Isolde).
Als das Schiff vor Canoel ankerte, ging Rual als erster ans Land (G. de
Bruyn. Tristan und Isolde).
Die syntaktische Ikonizität ist, wie wir gesehen haben, abstrakt. Noch abstrakter
ist die semantische Ikonizität. In der Semantik verbinden wir die Ikonizität des
Zeichens mit der Durchsichtigkeit seiner inneren Form (vgl. Кострова 1992а: 132).
Wenn das syntaktische Zeichen oder seine Komponente semantisch motiviert
sind, ist ihre innere Form durchsichtig. Sie haben gewöhnlich eine spezialisierte
Bedeutung, sind seltener im Gebrauch, weil sie spezielle Situationen
bezeichnen. Unter den temporalen Konjunktionen können wir solche ikonisch
517
Als Fabian geendet hatte, stand Taubenhaus langsam auf... (B. Kellermann.
Totentanz).
Während der König zu Bett ging, tauschten Isolde und Brangäne die Kleider (G.
de Bruyn. Tristan und Isolde).
Die Klasse verstummte aber, als Gruber den Mund zur Antwort öffnete (D. Noll.
Abenteuer des Werner Holt).
Kaum dass Bochow sie eingeleitet hatte, kam aus den Reihen der Versammelten
die Förderung nach dem bewaffneten Aufstand (B. Apitz. Nackt unter Wölfen).
Wenn du nicht da bist, komme ich und hole dich (H. Kant. Die Aula).
Oder falls es was Aufregendes gibt, ruf ich dich an oder schau vorbei (W. Bauer.
Magic Afternoon).
Wirf sie doch einfach um, wenn sie dich quält, diese Schachpartie! (G.
Hauptmann. Vor Sonnenuntergang).
Separatisierte Nebensätze wirken oft expressiv, weil sie pragmatisch relevant sind.
Die semantische Relevanz kann sogar zu semantischen und syntaktischen
Veränderungen führen wie in den Sätzen mit weil. Nach der Konjunktion steht
manchmal der Doppelpunkt und die Wortstellung ist gerade:
Fazit
Die (Nicht)Ikonizität der komplexen Äußerungen kann syntaktischer und
semantischer Art sein. Die Kombination von diesen Arten ergibt entweder
neutrale oder expressive Konzeptualisierung der Situation durch entsprechende
Äußerungen. Die Expressivität wird im thematischen Register und dem Register
der unmittelbaren Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln erreicht.
stärker modalisiert sind. Das Verhältnis dieser zwei Typen kontrastiert zu der
Autorenrede: Die Temporalsätze betragen hier etwa 20%, und die Kausalsätze etwa
80 %. Das Beschreibungsprinzip, das daraus folgt, nennen wir das Prinzip der
Registergebundenheit.
Das kommunikative Register und die Illokution des Sprechers bestimmen die Wahl
der Kategorie der Person, was auch die Modifizierung der Kategorien-Konzepte
beeinflusst. D. Davidson (Davidson 2001/2004: 339) meint mit Recht, dass die drei
Personen unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Realität darstellen. Von dieser
Konzeption ausgehend, beschreibt E. Leiss (Leiss 2009: 20) die Unterschiede
zwischen den Personen wie folgt:
„Die erste Person lässt sich mit unmittelbarer Evidenz gleichsetzen; die zweite
Person wird als Fremdbewusstsein definiert, zu dem es nur einen mittelbaren
Zugang gibt. Objektiviert werden diese beiden Wissensquellen von der Welt
durch die sogenannte „Triangulation“. Die dritte Person ist „etwas qualitativ
anderes als die erste und die zweite Person. Sie ist komplexer konstruiert, da sie
die beiden anderen voraussetzt“.
Die Komplexität der dritten Person kann man an der Kategorie Autor/Erzähler sehen.
Die Autorenrede zeigt in der Regel die Distanzierung des Autors von den Ereignissen,
die er beschreibt oder von denen er berichtet. Deshalb sind für sie die dritte Person
und das Präteritum typisch. In dieser Redeart, in die die meisten Temporalsätze
integriert sind, werden Elemente vermieden, die die Realität der Aussage in Frage
stellen könnten. K. Büchle (Büchle 1980: 159-163) stellt fest, dass das Futurum hier
praktisch ausgeschlossen ist; O.A. Кострова (Кострова 1999: 19) konstatiert, dass in
Temporalsätzen der Konjunktiv und Modalpartikeln ausbleiben. Das Fehlen dieser
Elemente macht die Narration objektivierend.
Doch der Autor, der „objektiv“ schreiben sollte, repräsentiert in Wirklichkeit immer
seine eigene Weltauffassung oder er delegiert diese dem Er-Erzähler. Das bedeutet,
dass hinter der dritten Person immer die erste Person steckt. Daher können auch in
einem „objektiven“ Text evidentielle Verhältnisse entstehen, was auch in
Temporalsätzen der Fall ist. Hier kommen wir auf ein anderes Beschreibungsprinzip
zu sprechen – die Differenzierung des Erzählers. Dieses Prinzip basiert auf der
522
Komplexität der dritten Person. Die Illokutionen des Erzählers variieren je nachdem,
welche Perspektive er wählt. Er kann als Augenzeuge von temporalen
Zusammenhängen auftreten, dann ist in ihm die erste Person impliziert. Er kann diese
Zusammenhänge abstrahiert darstellen, dann repräsentiert er einen objektivierenden
Darsteller. Aber er kann bestimmte Merkmale hervorheben und sie damit zu
temporalen Orientierungspunkten machen, dann integriert er die erste und die dritte
Person.
Die erste Möglichkeit – Autor/Erzähler als Augenzeuge – hängt mit unserer
Wahrnehmung der Zeit zusammen. Den Zeitverlauf merkt sich der Mensch in der
Regel mit Hilfe des Sehens oder Hörens. Die Wahrnehmung der lautlichen Signale
macht den Zeitverlauf evident. Diese Eigenschaft wird seit langem in den Uhren
verwendet, die die Stunden schlagen. Das Token-Konzept könnte man als evidentielle
Temporalität beschreiben. Vgl.:
Als die Säulenuhr auf dem Kaminsims elf schlug, war Alexander mit seinen
Papieren … fertig (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
Der Autor tritt hier als impliziter Augenzeuge auf, als ob er selbst dabei wäre und den
Glockenschlag hörte und somit die beschriebene temporale Anordnung bezeugte. Die
Modalität, die dabei zum Ausdruck kommt, kann man implizite Evidentialität nennen.
Die visuelle Fixierung von einzelnen Objekten oder Handlungen kann auch zu
zeitlichen Orientierungen werden. Solche Orientierungen werden als evident
empfunden. Wenn sie in Temporalnebensätzen erscheinen, stehen sie gewöhnlich im
kommunikativen Fokus. Die Statistik zeigt, dass bis zu 70% aller Temporalsätze
diese Satzstruktur haben. Das implizite evidentielle Verhältnis kann durch eine
Transformation bestätigt werden. In solchen Fällen wird der Erzähler einem
impliziten Evidenzträger gleichgesetzt und die Modalität als Evidentialität eingestuft.
Dabei entstehen ebenfalls evidentielle Token-Konzepte. Vgl.:
Als er ihm seine neue Brücke zeigte, … setzte Taubenhaus sich aufrecht… (B.
Kellermann. Totentanz) → Man sah, wie er ihm seine neue Brücke zeigte und wie
523
Als sie in ihrem Zimmer allein waren, umarmte er zuerst seine Frau, dann seinen
Sohn (H. Mann. Die Jugend des Königs Henri Quatre).
Ein anderer Fall liegt vor, wenn die zeitliche Orientierung nicht unmittelbar
wahrgenommen werden kann. Dann wird die Situation anders bezeichnet,
beispielsweise durch Substantive mit temporaler Semantik im Bestand des
Hauptsatzes. Der Sprecher ist hier kein Evidenzträger mehr, er tritt als Narrator auf.
Der Nebensatz fixiert dabei nur einen Zeitpunkt innerhalb einer längeren Zeitspanne,
die im Hauptsatz bezeichnet ist. Das illustriert eine andere temporale Anordnung der
Situationen, die dem logischen Verhältnis der Inklusion entspricht. Die
Transformation, die die Evidentialität explizieren würde, ist hier unmöglich. Das
Token-Konzept ist hier lokalisierte oder kondensierte Temporalität, denn es wird
keine relative, sondern eine absolute Zeit angegeben. Vgl.:
Es war Februar, als sie in Pan anlangten… (H. Mann. Die Jugend des Königs
Henri Quatre) → *Man sah, dass es Februar war; aber: Man erzählte, dass es
Februar war.
Die narrative Schattierung entsteht auch, wenn sich im kommunikativen Fokus des
Nebensatzes temporale Adverbialien oder Adverbien mit der Semantik der
Wiederholung befinden. Vgl.:
Als sie ihren kleinen Sohn wieder bei sich hatte, unterrichtete sie ihn vor allem
in der Geschichte ihres Hauses (H. Mann. Die Jugend des Königs Henri
Quatre).
Als er sie zum zweitenmal küsste, seufzte Irene schluchzend auf… (F. Weiskopf.
Abschied vom Frieden).
auch die Personalisierung ist nicht homogen. Wenn sich der Sprecher an etwas
erinnert, so sind diese Erinnerungen in der Regel seine Evozierungen aus dem
eigenen Leben. Die Personalisierung kommt durch die erste Person zum Ausdruck.
Der Sprecher wird zum persönlichen Narrator. Im folgenden Beispiel setzt auch das
deiktische hier die Perspektive, die von der ersten Person ausgeht. Der persönliche
Narrator gebraucht oft die präsentischen Tempusformen, wodurch die Erzählung
lebendiger wird und einen stärkeren Grad der Modalisierung aufweist. Die Token-
Konzepte kann man als temporale Evozierung und temporale Motivierung
bezeichnen. Vgl.:
Karli und ich warteten hier in der Sandgrube, bis Kobelian wiederkam (H.
Müller. Atemschaukel).
Wenn der Tag anbricht, werd ich dich rufen (H. von Kleist. Das Käthchen von
Heilbronn).
Und red kein ungereimtes Zeug, wenn die uns ausfragen! (H. Moers. Familie
Berger in Seenot).
Die Analyse der semantisch gleichartigen Satzfolgen, die durch das temporale
Verhältnis verbunden sind, erlaubt es, einige wichtige Gesetzmäßigkeiten ihrer
Vereinigung zu entdecken, die über die vorhandenen Beschreibungen hinausreichen.
525
Die wichtigsten Token-Konzepte der temporalen Folge: Das Prinzip der Ikonizität
Für das Mikrofeld der temporalen Folge ist das Token-Konzept Etappen der
globalen Prozesse charakteristisch. Die Bezeichnung zeigt, dass dieses Konzept im
Rahmen des Textes entsteht, in dem diese globalen Prozesse beschrieben werden. Die
Ausgliederung von einzelnen Etappen dieses Prozesses wird mit verschiedenen
sprachlichen Mitteln markiert. Dazu gehören:
• Die Position des Temporalsatzes am Anfang eines Kapitels oder eines
Absatzes, die den Beginn der Etappe bezeichnet;
• die Position in der Absatzmitte, was die Einschaltung der Etappe in den
globalen Prozess kennzeichnet;
• Vorderstellung des temporalen Nebensatzes im Satzgefüge;
• Consecutio temporum im Satzgefüge: Plusquamperfekt im Neben- und
Präteritum im Hauptsatz;
526
Als Züpfners Vater uns das Gedicht vorgelesen hatte, wartete er ein paar
Minuten und fragte dann lächelnd: „Na, möchte einer was dazu sagen?“ (H.
Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Als ich auf den Bahnhofsplatz trat, fiel alles, was ich vorher gedacht hatte, von
mir ab (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Ich merkte die Ironie erst, nachdem ich es gesagt hatte (E.M. Remarque. Die
Nacht von Lissabon).
Die Konjunktion kaum dass kodiert das Konzept der raschen Etappenfolge:
[...] kaum habe ich den Mantel abgeworfen, die Schuhe (ich hasse Schuhe) in die
Ecke geknallt, bringt mir ein hübsches Zimmermädchen Kaffee und Kognak (H.
Böll. Die Ansichten eines Clowns).
Die Temporalsätze mit der Konjunktion bis kennzeichnen den Abschluss einer Etappe
und stehen dann am Ende des Absatzes. Das Plusquamperfekt betont die
Abgeschlossenheit:
Das Konzept der temporalen Folge wird durch lexikalische Füllung der Satzgefüge
modifiziert. Wenn dabei die Bedeutung der Gegengerichtetheit der Handlung des
Hauptsatzes in Bezug auf die Handlung des Nebensatzes, entsteht das Token-
Konzept der Gegenreaktion. Die Gegengerichtetheit wird durch die adversative
527
Konjunktion aber betont oder durch die Konjunktion und in der adversativen
Bedeutung sowie durch die Verben mit der Semantik des Sagens, des Schweigens
oder der Kausierung vom Typus rütteln, anfauchen. Vgl.:
Aber als Holt in der Pause mit einem Radiergummi aufs Katheder stieg, rief
Wolzow mit rauer, wüster Stimme… (D. Noll. Die Abenteuer des Werner Holt).
Und als er unmutig schwieg, fügte sie hinzu… (F. Weiskopf. Abschied vom
Frieden).
Eine andere Modifizierung des Konzepts der temporalen Folge entsteht bei dem
Gebrauch der Prädikatsverben mit der Semantik des Wahrnehmens im Satzgefüge, es
ist dann sensualisierte Temporalität, vgl.:
Doch als er sah, dass es fromme Pilger waren, setzte er sich an den Wegrand und
wartete auf sie (G. de Bruyn. Tristan).
Wieder andere Modifizierung wird beim Gebrauch der Konjunktionen ehe, bevor
erzeugt, wenn sie postpositive Nebensätze einleiten. In diesen Fällen bezeichnet der
Hauptsatz in der Vorderstellung eine gewisse Stagnation, eine Verlangsamung der
Handlung. Es entsteht eine Pause, bevor die Handlung des Nebensatzes ausgeführt
wird. Wir nennen dieses Token-Konzept temporale Stagnation. Die Pause kann dabei
durch Substantive mit temporaler Semantik bezeichnet werden, z.B. Weile, Augenblick.
Vgl.:
Lange hielt er die Schicksalspost auf der ölschmutzigen Hand, ehe er sich die
Hände wusch.
(M.-W. Schulz. Wir sind nicht Staub im Wind) → erst dann wusch er sich die
Hände.
Bevor wir auf ihr Zimmer gingen, blieben wir im Flur noch am Fenster stehen
und blickten auf die Straße (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns) → …erst dann
gingen wir auf ihr Zimmer.
528
Die wichtigsten Token-Konzepte der temporalen Folge: Das Prinzip der Nicht-Ikonizität
Diesen Konzepten ist gemeinsam, das bei ihrem Ausdruck der Nebensatz dem
Hauptsatz folgt, wodurch die reale Folge der Handlungen oder Ereignisse verletzt
wird: Das temporal folgende Ereignis wird in der linearen Kette zuerst dargestellt, es
kommt dem früheren Ereignis zuvor. Wir haben dieses Token-Konzept
zuvorkommende Temporalität benannt. Da die nachfolgende Handlung zuerst
genannt wird, gewinnen solche Satzgefüge eine expressive Schattierung.
Innerhalb dieses Token-Konzeptes kann man einige Varianten unterscheiden. In einer
Variante wird das Token-Konzept der Gegenreaktion realisiert, wenn diese
Reaktion der Handlung, auf welche sie reagiert, zuvorkommt. Die Reaktion erscheint
oft in Form der direkten Rede, die von den einleitenden Worten des Autors begleitet
wird. Die Vorzeitigkeit der nachfolgenden Handlung wird im Nebensatz durch die
Konjunktionen als, nachdem in der Wechselwirkung mit dem Plusquamperfekt oder
mit der terminativen Semantik des Prädikats kodiert. Vgl.:
“Da, lies nur, lies nur!” drängte sie, als Irene abwehrend die Hände hinter dem
Rücken verbarg. (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden) → als Antwort auf Irenes
abwehrende Geste.
„Jaja“, nickte er vor sich hin, nachdem ihm Krämer den Grund seines Besuches
erklärt hatte. (B. Apitz. Nackt unter Wölfen) → als Antwort auf Krämers
Erklärung.
“Es gibt tausend Mädchen”, knurrte der Vater, als Felix ihm und der Mutter von
der Verlobung erzählte. (J. Brĕzan. Semester der verlorenen Zeit) → Nachdem
Felix von der Verlobung erzählt hatte, knurrte der Vater…
Das…Erleben hielt die Sinne der beiden noch im Bann, nachdem sie bereits
geraume Zeit allein mit sich waren. (B. Apitz. Nackt unter Wölfen) → …obwohl
sie bereits geraume Zeit allein mit sich waren.
Es ist noch ein Token-Konzept zu nennen, und zwar das Konzept der
aufgeschobenen Introduktion. Dieses Konzept wird mit Hilfe der interpositiven
Temporalsätze realisiert. Der interpositive Nebensatz knüpft an den vorhergehenden
Text an, aber der Anfang des Hauptsatzes kommt dazwischen, deshalb geschieht die
Introduktion als aufgeschoben. Vgl.:
Alexander schritt auf Fußspitzen an ihm vorbei und öffnete, ohne anzuklopfen,
die Tür zu Seelmeyers Arbeitszimmer. Der Bankier stand, als Alexander eintrat,
am Telefon (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
Diese Token-Konzepte sind nicht ikonisch, die Position des Nebensatzes wird nicht
berücksichtigt. Die typischsten Konzepte sind wie folgt.
1. Das Konzept des gleichzeitigen Verlaufs von Handlungen oder Prozessen wird in
Satzgefügen mit der Konjunktion während realisiert. Die Subjekte des Haupt- und
Nebensatzes sind verschieden, die Handlungen verlaufen parallel und sind
gleichwertig, was die Transformation in eine Satzreihe bestätigt. Vgl.:
Schließlich stand Marie auf und ging ins Badezimmer, während ich auf ihrem Bett
sitzenblieb, weiterrauchte und an die scheußlichen Pillen dachte, die ich hatte in die
Gosse rollen lassen (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns) → Marie ging ins
Badezimmer und ih blieb auf ihrem Bett sitzen
530
2. Das Konzept der begleitenden Handlung wird im Satzgefüge mit einem und
demselben Subjekt im Haupt- und Nebensatz realisiert. Der begleitende Charakter
kommt bei der Übersetzung ins Russische an den Tag, wobei der Nebensatz in eine
adverbiale Partizipialgruppe transformiert wird. Vgl.:
“Wie bitte?” äffte sie Adrienne nach, während sie die letzten Nadeln in ihre
Frisur steckte. (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden) → «Пардон, как вы
сказали?» – передразнила она Адриенну, втыкая в прическу последние
шпильки (übersetzt von I. Tatarinowa).
3. Das Konzept temporale Eingrenzung kommt mit Hilfe der Satzgefüge mit der
Konjunktion solange vor. Seine Variante ist wiederholte temporale Eingrenzung,
die mit Hilfe der Konjunktionen sooft, sobald zustande kommt. Vgl.:
Solange ich nüchtern bin, steigert sich die Angst vor dem Auftritt [...] (H. Böll.
Die Ansichten eines Clowns).
Ich kann es kochen, solange wir Holz haben (E.M. Remarque. Die Nacht von
Lissabon).
[...] beide Anreden setzten uns in Verlegenheit, und wir kamen, sooft wir uns sahen,
aus dieser Verlegenheit nicht raus (H. Böll. Die Ansichten eines Clowns).
[...] sobald ich sie sah, war die Angst wieder weg (H. Böll. Die Ansichten eines
Clowns).
Sie weinte glücklich, als sie sich zum Fenster des Eisenbahnwaggons
hinausbeugte. (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden) → …indem sie sich zum
Fenster des Eisenbahnwaggons hinausbeugte.
Seine Füße wankten, als er vom Stuhl herunterstieg. (F. Weiskopf. Abschied vom
Frieden) → …indem er vom Stuhl herunterstieg.
531
Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich
die Beklemmung, dass er den Himmel und die Freiheit abschlösse (E.M.
Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Als sie später zurückkehrte, begegnete ihr Ziesenitz (H. Sakowski. Daniel
Druskat).
5. Das Konzept des unterbrochenen Vorhabens fixiert den Moment, wenn eine
Person ihre Aufmerksamkeit auf etwas Anderes umschaltet. Das Vorhaben wird durch
das Modalverb wollen wiedergegeben, die Fixierung des Moments kommt mit
Partikeln gerade, schon, noch zum Ausdruck. Vgl.:
Sie wollte sich schon mit einem neuen Buch zurückziehen, als ihr Blick zufällig
über den Sekretär glitt (F. Weiskopf. Abschied vom Frieden).
Er rief ihn an, gerade als er ins Büro schlüpfen wollte (B. Kellermann.
Totentanz).
6. Ein ähnliches Konzept gibt die unterbrochene Folge wegen verfehlter Ereignisse
wieder. Es wird mit Hilfe der Konjunktionen ehe, bevor realisiert. Im Nebensatz ist
das Modalverb können obligatorisch. Dieses Verb macht im Zusammenspiel mit der
Konjunktion die Idiomatik des Ausdrucks aus, was bei der Übersetzung expliziert
wird. Vgl.;
…noch ehe er sich mit wilden Fäusten gegen die Tür trommeln konnte, war
Kropinski bei ihm (B. Apitz. Nackt unter Wölfen). → С искаженным от ужаса
лицом он … хотел было заколотить руками по двери, но подоспевший
Кропинский оттащил его прочь (übersetzt von I. Tatarinowa).
Eines Abends, als Hans mit Labuda beim Kraftwerk geplatzte Rohre reparierte,
sprang Veith in den Leitungsschacht und fragte… (E. Panitz. Absage an Viktoria).
Im elften Jahr war Henri, als er mitgenommen wurde auf die große Reise des
Königs Karl des Neunten durch Frankreich (H. Mann. Die Jugend des Königs
Henri Quatre).
Diese Token-Konzepte haben den Charakter von Reflexionen. Mit ihrer Hilfe werden
Ereignisse aus dem Leben von verschiedenen Personen evoziert oder persönliche
Erfahrungen verallgemeinert. Nicht selten haben sie auch einen hypothetischen
Charakter, besonders wenn sie auf die Zukunft referieren. Die wichtigsten Konzepte
sind dabei:
1) Evozierung einer Etappe aus dem Leben des Sprechers. Im Unterschied zur
Autorenrede wird durch das Subjekt markiert, das in der 1.Person Singular oder
Plural gebraucht ist. Die Etappe wird durch die Konjunktion und betont. Beim
Ausdruck dieser Konzepte kommen die Züge der gesprochenen Sprache zum
Ausdruck: Emotionalität, Spontaneität, Abbruch u.a.m. Oft kommt auch
Vergegenwärtigung vor, wobei das historische Präsens zum Ausdruck der
vergangenen Ereignisse gebraucht wird. Vgl.:
533
Und als es mit unserem Glück zu Ende ging, bin ich eben in mein Leben zurück
(A. Schnitzler. Die Gefährtin).
Ich kam einmal zufällig dazu, als sie – einen – vor mir – Ich wollte nichts hören –
aber – (A. Schnitzler. Die Gefährtin).
Du hast mir einmal erzählt – erinnerst Du Dich – die Jugendliebe mit den
blonden Locken – als Du noch Student warst (A. Schnitzler. Die Gefährtin).
Als ich die Konservendose unter der Ruderbank gesehen habe, hätt’ ich’s mir
denken können, dass das Boot leck ist (H. Moers. Familie Berger in Seenot).
Einmal kam die Nachtschwester dazu, angelockt durch den polternden Baß
unseres Rektors, und es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihr zum Vergnügen Pats
klargemacht hatte, dass ich nicht verrückt geworden sei (E.M. Remarque. Drei
Kameraden).
Wenn sie tanken, gibt’s so einen Zweig gratis (E.M. Remarque. Drei Kameraden).
Wenn Eginhardt mit Kundschaft aus der Thurneck zurückkommt, geb ich euch
meine weitern Befehle (ebenda).
Wenn man's gar nicht erwartet, erwischt's einen am leichtesten (E.M. Remarque.
Drei Kameraden).
Diese Konzepte werden auch mit Hilfe der Konjunktionen wiedergegeben, die eine
zeitliche Eingrenzung bedeuten, vgl.:
Wir wollen sie (die Briefe) verbrennen, ehe er kommt (A. Schnitzler. Die
Gefährtin).
534
Ich bin bereit, dies alles mit Füßen zu treten, sobald Sie mich nur überzeugt
haben werden, dass der Preis nicht schlimmer noch als das Opfer ist (F. Schiller.
Kabale und Liebe).
Rede ihr doch zu, dass sie ihren Eigensinn fahren lässt und sich endlich zu einem
festen Bündnisse mit dem Herrn Damis entschließt, ehe ich als Vater ein
Machtwort rede (H. von Kleist. Das Käthchen von Heilbronn).
Doch rasch, ehe Gottschalk kommt (H. von Kleist. Das Käthchen von
Heilbronn).
Auf die Weise kann es etwas länger dauern, bis wir Amerika entdecken (H.
Moers. Familie Berger in Seenot).
Ich sagte, bis der alte Vater, der Theobald sich aufgefunden, würd ich ihr in der
Herberge ein Unterkommen verschaffen (H. von Kleist. Das Käthchen von
Heilbronn).
Ich wollte meinen Pass auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an
ihn glaubte (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon).
Nein! eh ich meine Tochter an so einen Schuft wegwerfe, lieber soll sie mir –
Gott verzeih mir’s (F. Schiller. Sämtliche Erzählungen).
Schier dich zum Satan, infame Kupplerin! - Eh will ich mit meiner Geig’ auf den
Bettel herumziehen und das Concert um was Warmes geben - eh will ich mein
Violoncello zerschlagen und Mist im Sonanzboden führen, eh ich mir's
schmecken lass’ von dem Geld, das mein einziges Kind mit Seel’ und Seligkeit
abverdient (ebenda).
(1) Reden Sie mit Nastassja, weil sie dort gewesen ist und Bescheid weiß.
Der Matrixsatz in (a) ist ein direktiver Sprechakt, da er eine Aufforderung ausdrückt.
Der Nebensatz ist ein repräsentativer Sprechakt: Der Sprecher betont die Wahrheit
der ausgedrückten Proposition. Da der Nebensatz einen selbständigen Sprechakt
bildet, kann man sagen, dass er illokutiv unabhängig von dem Hauptsatz ist.
Es entsteht die Frage: Nach welchen Kriterien werden Nebensätzen in illokutiv
selbständige und illokutiv unselbständige eingeteilt?
M. Thurmair (1989), M. Coniglio (2011), A. Averina (2015) haben gezeigt, dass
Modalpartikeln in illokutiv selbständigen Nebensätzen verwendet werden können,
während das für illokutiv unselbständige Nebensätze nicht möglich ist, vgl.:
(3) Demnach rettete ein Beamter des Bundeskriminalamtes den Diplomaten, indem er
ihn (*ja) auf den Boden warf (Zeit Online. 12.11.2016) – die Modalpartikel ja ist im
Nebensatz nicht möglich, da der Nebensatz illokutiv unselbständig ist.
(4) Ich habe gehört, dass Karl in Rom WAR – der Nebensatz ist illokutiv selbständig,
die Betonung des Finitums ist möglich.
(5)* Ich bedauere, dass Karl in Rom WAR – der Nebensatz ist illokutiv
537
Auch die Modalverben in sekundärer Bedeutung (d.h. zum Ausdruck der Vermutung)
sind in einem illokutiv selbständigen Satz akzeptabel (Аверина 2018a, Аверина
2018b), in einem illokutiv unselbständigen Satz kann nur die primäre Bedeutung
wiedergegeben werden, vgl.:
(6) Während er in Stuttgart war, habe er "keine Ahnung von den Gesprächen gehabt,
die offenbar stattgefunden haben müssen", sagt Archer (Beleg vgl. Аверина 2018b) –
das Modalverb müssen ist in epistemischer Lesart im illokutiv selbständigen
Nebensatz möglich.
(7)* Sie wohnen in Zelten und wandern stets dorthin, wo es Futter und ausreichend
Trinkwasser für ihre Herden geben muss (*kann, *dürfte, *mag) (ebenda) –
Modalverben sind in epistemischer Lesart in illokutiv unselbständigen Nebensätzen
nicht möglich.
(9) She put Len on her right while she will put Gillian on the corner of the table
(Haegeman 2012: 128).
(10) Sie sagt, dass sie zu dieser Frage entweder "auch Bericht erstatten" wird oder
aber über diese Frage "die Aussage macht" (Zeit Online. 04.10. 2016).
In (10) ist das Prädikat des Matrixsatzes nicht-faktiv, der Nebensatz ist daher illokutiv
selbständig. In (1) ist das Prädikat des Matrixsatzes faktiv, der Nebensatz ist illokutiv
unselbständig. Den Unterschied zwischen faktiven und nicht-faktiven Prädikaten
haben P. Kiparski und C. Kiparski gezeigt: Faktive Prädikate präsupponieren die
Wahrheit der Proposition. Das bedeutet, dass der Sprecher präsupponiert, dass der
eingebettete Teilsatz eine wahre Proposition ausdrückt und irgendwelche Behauptung
über diese Proposition macht (Kiparski & Kiparski 1970: 263). Zu dieser Gruppe
gehören solche Prädikate wie bedauern, bereuen, vergessen usw. Nicht-faktive
Prädikate sind z.B. vermuten, sagen, mitteilen, glauben, schlussfolgern usw. Nach M.
Krifka sind Faktiva sprechaktbezogen, während Non-Faktiva keine Sprechakte sind
(Krifka 2002). Diese Tatsache kann die Möglichkeit der Einbettung von
539
Modalpartikeln erklären: Da der Matrixsatz mit Non-Faktiva kein Sprechakt ist, kann
der Nebensatz diese Funktion übernehmen und Modalpartikeln einschließen (Averina
2015: 158).
Weitere Mechanismen für die Bestimmung der illokutiven Selbständigkeit des
deutschen Nebensatzes sowie eine Übersicht von Kriterien solch einer
Selbständigkeit sind ausführlich beschrieben in (Averina 2015).
Also verstehen wir unter der illokutiven Selbständigkeit des Nebensatzes im
Deutschen die Fähigkeit des letzteren, einen selbständigen Sprechakt zu bilden und
Modalpartikeln einzuschließen. Modalpartikeln sind Marker der illokutiven Kraft und
unterscheiden sich wesentlich von Modalwörtern dadurch, dass sie über eine
mehrfache Deixis verfügen. In (Аверина 2016b) wurde gezeigt, dass Modalwörter in
illokutiv unselbständige Sätze eingebettet werden können, während das für
Modalpartikeln nicht möglich ist, vgl.:
(12b) Helmchen bedauerte, dass (*ja) viele Ärzte keine Zeit mehr für ihre Patienten
hätten (Ebenda).
Da das Prädikat des Hauptsatzes faktiv ist, ist der Nebensatz illokutiv unselbständig,
Modalpartikeln sind nicht möglich, während Modalwörter in solch einen Satz
eingebettet werden können.
Einer der Gründe, warum Modalpartikeln andere modale Komponenten in die
Aussage anziehen, ist ihre zweifache Deixis, worauf W. Abraham hingewiesen hat.
Modalpartikeln kodieren unterschiedliche Deixis im folgenden Sinne: Der Sprecher
schätzt den Stand des Hörerwissensbewusstseins ab, lässt den Hörer von diesem
Einschätzungsakt wissen und lädt ihn ein, zu dieser seiner (des Sprechers)
Einschätzung von p Stellung zu nehmen (zu bestätigen, zu korrigieren, zu
modifizieren) (Abraham 2011: 140). Davon ausgehend kann man sagen, dass die
540
Textsorten
Der Begriff Textsorte entstand in der Linguistik in den 70er Jahren. Neben dem
Begriff Textsorte wurden solche Begriffe wie Textart, Stilart, Textttyp, Textklasse usw.
verwendet (Grosse 1974), (Sandig 1978), (Motsch & Viehweger 1981), (Isenberg
1984) u a.m. In den 90er Jahren wurde der Begriff Textsorte häufiger gebraucht
(Adamzik 1995), (Fix 1998), (Heinemann & Viehweger 1991) u.a.m. und bleibt bis
heute als einer der Grundbegriffe der Textlinguistik.
Die Einteilung von Texten in Textsorten ist für die Grammatikforschung schon
deshalb sehr wichtig, weil sie erlaubt, eine Korrelation zwischen typologischen
Eigenschaften von Texten und Realisierung von grammatischen Kategorien in
unterschiedlichen Texttypen zu finden, worauf schon M.N. Levtschenko hingewiesen
hat (Левченко 2013).
Es gibt mehrere Definitionen des Begriffs Textsorte. K. Brinker versteht unter
Textsorten
„konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen [...]. Sie
haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum
Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung,
erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den
Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion
und Rezeption von Texten geben“ (Brinker 2001: 124).
Welt der Wissenschaft. Gemeint ist hiermit die Welt, in der mögliche Welten
gedanklich konstruiert werden.
Welt der individuellen Sinnfindung. Für jedes Individuum ist vorauszusetzen,
dass es sich an einem eigenen Bezugssystem orientiert, das möglicherweise mit
Entitäten und Sachverhalten rechnet und in dem Werte, Aussagen und
Argumente Gültigkeit haben, die für andere Individuen nicht zulässig sind oder
keinen Sinn haben (Adamzik 2008).
In der Fachliteratur unterscheidet man traditionell dem Kommunikationsbereich nach
Textsorten der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Justiz, des Bildungswesens
u.a.m. Es wird auch die Frage erhoben, welche Medien bei einer Textsortenanalyse
eine Rolle spielen können, dazu gehört auch der Einbezug von Bildern (Fix &
Wellmann 2000), (Opiłowski 2017) u.a.m. So weist M. Thurmair darauf hin, dass
solche Fragen wie wer produziert den Text für wen? und wer rezipiert den Text? als
Differenzierungskriterien auftreten. Was den Produzenten angeht, so unterscheidet
man Textsorten danach, ob es einen Produzenten gibt oder ob der Text von
unterschiedlichen Instanzen verfasst ist. Was den Rezipienten betrifft, so lassen sich
Textsorten unterscheiden, die einen konkreten Adressaten haben oder mehrfach
orientiert sind (nach Thurmaur 2010: 287).
Eine ausführliche Auslegung von Textsorten nach dem zweiten Kriterium – der
Textfunktion – hat K. Brinker vorgeschlagen. Dabei werden fünf Textfunktionen
angenommen: Informationsfunktion, Appellfunktion, Obligationsfunktion,
Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion (Brinker 2001: 105). In der Fachliteratur
wird auch darauf hingewiesen, dass viele Textsorten mehrere Funktionen aufweisen
(Thurmair 2010: 289). Deswegen wurde z.B. von K. Adamzik die Kategorie „Ertrag“
vorgeschlagen. Darunter versteht man das, was die Kommunikationsteilnehmer aus
einem bestimmten Text gewinnen können (Adamzik 2016). Sie stellt folgende
Kategorien von Erträgen zusammen:
Intellektuelle: Man erfährt, lernt oder begreift etwas;
praktische: Man ändert etwas in der Welt, ernennt z.B. jemanden in einer
543
Textsortenklasse,
z.B. Juristische Textsortenklasse
↓
Textsorten
Textsortenvarianten
Verordnung Gesetz Staatsvertrag Gerichtsurteil Bescheid Beschluss
Tab. 36. Die hierarchische Abstufung von Texten am Beispiel der juristischen Texte nach D. Busse
(2000)
Die Autoren weisen darauf hin, dass das vorgeschlagene Schema nicht als Absolutum
545
Der Satz (a) ist die Antwort auf die Frage Wann hat der Gärtner mit der Köchin
gesprochen? Der Satz (b) beantwortet die Frage Mit wem hat der Gärtner am Freitag
gesprochen? Der Satz (c) antwortet auf die Frage Wer hat mit der Köchin
gesprochen? und (d) wird in dem Falle verwendet, wenn im Vorkontext negiert
wurde, dass der Gärtner mit der Köchin überhaupt gesprochen hat.
In der Untersuchung der Informationsstruktur werden traditionell folgende
Dimensionen betrachtet (vgl. Krifka (2004), auch Musan (2010: 85)):
a. psychologisches Subjekt – psychologisches Prädikat
b. Topik – Kommentar
c. Thema – Rhema
d. given, gegeben – new, neu
e. Hintergrund – Fokus
f. Präsupposition – Fokus
Diese Dimensionen treten als Komponenten der Informationsstruktur von Sätzen auf.
Die Information kann in mehreren Sätzen ausgedrückt werden. Es gibt auch Fragen,
547
Jeder Text hat Haupt- und Nebenstruktur. Z.B. die Hauptstruktur der
Alltagserzählung kann dadurch charakterisiert werden, dass die aus der
Gesamtstruktur ausgewählten Ereignisse in der realen Geschehensfolge nach dem
Prinzip der chronologischen Abfolge dargestellt werden müssen. Die
Nebenstrukturen erweitern die Hauptstruktur des Textes. Sie enthalten Bewertungen,
beschreibende Informationen und Kommentare, die nach dem Ereignis, auf das sie
bezogen sind, eingeführt werden. Analysieren wir ein Beispiel aus (Klein &
Stutterheim 1992: 71-72):
„Zukunftspläne“
Text: „Ich habe noch keine klaren Pläne. Erst möchte ich einmal die Schule fertig
machen. Ehrlich gestanden ist das nicht ganz sicher, denn eigentlich würde ich
gerne Musiker werden, aber mein Vater möchte das nicht. Also werde ich wohl
studieren, wahrscheinlich Französisch. Dann habe ich vor, Lehrer zu werden,
obwohl die Berufschancen im Moment ziemlich schlecht sind. Etwas werde ich
bestimmt tun: Ich werde eine Ostasienreise machen, mindestens ein Jahr lang.
Vielleicht kann ich das nach der Schule vor dem Studium tun“.
548
Die Quaestio bestimmt die Art der Information im Antworttext. Dabei werden
Ereignisse und Handlungen angegeben, die die Hauptstruktur bilden. Die
Nebenstrukturen (im Text fett) beinhalten das Verhalten des Sprechers zum Inhalt der
Aussage, seine Bewertungen und Einstellungen.
W. Klein und Chr. Stutterheim betonen, dass jeder Text als Antwort auf die Quaestio
oder leitende Frage aufgefasst werden kann. Diese Quaestio legt gewisse Vorgaben
für den Textaufbau fest und gibt dementsprechend eine Gliederung in Haupt- und
Nebenstruktur vor (ebenda, S. 90). Dabei geht es nicht unbedingt um eine wichtigere
Information – entscheidend ist dabei, ob ein Satz eine direkte Antwort auf die
Quaestio darstellt oder nicht. Nebenstrukturen können auch sehr wichtige
Informationen beinhalten.
Fazit
Alle Texte können in Textsortenklassen, weiter in Textsorten und in
Textsortenvarianten eingeteilt werden. Jede Textsortenvariante kann aus der
Sicht der Informationsstruktur charakterisiert werden, der das Quaestio-
Modell zugrunde liegt. Die Textanalyse nach diesem Modell ermöglicht es,
Haupt- und Nebenstruktur des Textes auseinander zu halten.
Aufgaben
Hi Mai Ich schwör Ich war voll lieb, im europapark wars geil. Hab hier 2geile hosen
u Oberteile
Happy birthday meine süße! Tut mir unentiich leid das ich heut nich konnte! Ciao
noch nen schönen Birthday! Lisa
na wie geht's? Hab jetzt mein Handy, freu* MB HDL Natascha
Guten Abend, Herr Otto, bestellen Sie doch bitte Ihrer Frau liebe Grüße & ich habe es
endlich geschafft die Chips zu kaufen & genieße diese gerade, Rebecca
550
SMS-Dialog
A; Mach mir nochma blonde strähnen. Komm Mittwoch euskirchen? Oder
ackwalant?
B: Ma guken! Wann triffste dich ma mit makuss? Bye Bye my love... hdl futzii
A: Der ist ulaub! Leider. Komm hab morgen nix zu tun. Ich will aqualand. Das is so
geil da. Ich schwöre auf alles! Oda rheinbach.Warste da schonma?? Hap dich liep.
Aufgabe 6. Bestimmen Sie, welche Textteile zur Haupt- und welche zur
Nebenstruktur gehören:
ZEIT: Aus Ihrer Sicht: Waren die vergangenen Wochen ein guter oder ein schlechter
Witz?
Böhmermann: Ein sehr guter Witz. Am allermeisten habe ich mich über die Tatsache
amüsiert, dass die Chefin des Landes der Dichter und Denker offenbar nicht einen
Moment über das Witzgedicht und besonders seine Einbindung nachgedacht hat,
bevor sie sich mit ihrem öffentlichen Urteil blamiert hat. Ich habe mich noch gestern
Abend gemeinsam mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan – wir folgen uns
gegenseitig bei Twitter – per Direktnachricht über die Kanzlerin beömmelt. ��
��� „Bewusst verletzend", haha, da muss man erst mal drauf kommen. ���
551
Test
Wählen Sie Charakteristiken, die für einen Satz gelten. Kreuzen Sie die falsche
Charakteristik an:
• gehört zur Language
• kann modelliert werden
• hat einen Referenzbezug
• hat eine Wortfolge
Wählen Sie Chrakteristiken, die für eine Äußerung gelten. Kreuzen Sie die falsche
Charakteristik an:
• hat eine pragmatische Funktion
• nimmt fakultative Angaben an
• hat eine Wortstellung
• hat keinen Situationsbezug
Wie bestimmen Sie die Satzform?
• nach der Stellung des finiten Verbs
• nach der Funktion in der Rede
• nach der Zahl der Satzbasen
• nach der Rolle im Ganzsatz
Wie bestimmen Sie den Satztyp?
• nach der Wortfolge
• nach der Rolle im Ganzsatz
• nach der Satzbasis
• nach obligatorischen Satzgliedern
Was ist thematische Progression? Wählen Sie eine korrekte Definition:
Themawechsel
Anordnung von Themen
552
Interkultureller Vergleich
Bei der Behandlung komplexer Sätze in russischen und deutschen Grammatiken
lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch bedeutende Unterschiede beobachten.
Gemeinsamkeiten umfassen Grundfragen der strukturell-semantischen Charakteristik,
nämlich:
Einteilung der komplexen Sätze in Satzreihen (Parataxen) und Satzgefüge
(Hypotaxen);
Einteilung der Nebensätze nach der Art der Einleitung und nach der Position
im Satzganzen;
Syntaktische Einteilung der Nebensätze je nach der Funktion des
entsprechenden Satzgliedes;
Beschreibung der Nebensätze als Verbletztsätze;
Beschreibung von semantischen Typen der Satzreihen;
Die Unterschiede im Bereich des komplexen Satzes lassen sich im Folgenden
beobachten.
In der russischen Germanistik wird auf strukturelle Unterschiede zwischen dem
Hauptsatz und dem Nebensatz geachtet (Admoni 1986: 275), denn es ist für die
Fremdsprachler wegen der Wortstellung wichtig. In der deutschen Syntax wird
dagegen dem formalen Merkmal ‚Grad der Unterordnung‘ mehr Aufmerksamkeit
geschenkt (Dürscheid 2012: 57).
Deutsche Grammatiker benutzen für die Erklärung der Struktur von komplexen
Sätzen Baumdiagramme der generativen Transformationsgrammatik.
In russischen Grammatiken des Deutschen wird das Problem der Beziehungen der
komplexen Sätze mit höheren Redeeinheiten – dem Absatz und dem Text – diskutiert.
In deutschen Grammatiken kommt das viel seltener vor.
In russischen Grammatiken wird der pragmatische Aspekt stärker beachtet, indem der
Gebrauch des komplexen Satzes in enger Verbindung mit Redearten betrachtet wird
554
Terminologische Lakunen
Russische Germanistik Deutsche Germanistik
w-Wörter – d-Wörter Polyprädikativität als Eigenschaft des
komplexen Satzes
GLOSSAR
Ablaut, der – ein spontaner Vokalwechsel, der auf die indoeuropäische Epoche
zurückgeht und in anderen indoeuropäischen Sprachen vorkommt. Im Deutschen
dient der Bildung der Grundformen der starken Verben
Additiv – mit diesem Adjektiv wird die Verlaufsweise eines Geschehens
charakterisiert. Mit dem Wort „additiv“ bezeichnet man ein nichtgrenzbezogenes
Geschehen, das länger dauern kann
Adjektiv, das – eine Wortart mit der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung
der Eigenschaft oder des Merkmals. Besitzt grammatische Kategorie der
Komparation; wird dekliniert; tritt im Satz als Attribut oder Prädikativ auf
Adjektivphrase, die – Wortgruppe mit Adjektiv als Kernwort.
Adverbialphrase, die – Wortgruppe mit Adverb als Kernwort
Aktionsart, die – die Verlaufsweise bzw. -phase des durch ein Verb bezeichneten
Geschehens
analytische grammatische Form – die Wortform, die aus zwei oder mehr Wörtern
besteht
analytisches grammatisches Mittel – das grammatische Formans, das, getrennt vom
Wort, seine grammatische Bedeutung angibt
Anaphorik, die — der Verweis bzw. der Bezug auf den vorangehenden Satzteil
Aspekt, der — die grammatische Kategorie des Verbs, die Vollendung (der perfektive
Aspekt) oder Nicht-Vollendung (der imperfektive Aspekt) einer Handlung bezeichnet
Aspektuaität, die — eine Kategorie, die die Verlaufsphase eines Geschehens
beinhaltet
Aufforderungssatz, der – (auch Imperativsatz): kommunikativer Satztyp, der eine
Aufforderung (Bitte, Befehl) zum Ausdruck bringt; formal als Verberstsatz mit dem
finiten Verb im Imperativ gekennzeichnet
Ausklammerung, die – Positionierung eines Satzgliedes außerhalb des Satzrahmens
Aussagesatz, der – (auch Deklarativsatz, Konstativsatz): kommunikativer Satztyp,
559
innere Flexion – phonetische Veränderung in der Wurzel des Wortes, die mit
Veränderung der grammatischen Bedeutung verbunden ist
Interjektion, die – eine Wortart, die Gefühle und Emotionen ausdrückt
Kasus obliqui – indirekte Kasus; alle Kasus außer dem Nominativ
Kataphorik, die — ein System von Verweisen auf den nachfolgenden Satzteil oder
Text
Kernsatz, der (auch der Verbzweitsatz) – der Satz mit der Zweitstellung des finiten
Verbs
Kernwort, das (auch der Kopf) – das Wort, das die Eigenschaften der abhängigen
Wörter in der Wortgruppe bestimmt
Kognitivistik, die – eine interdisziplinäre Wissenschaft, die die Prozesse des
menschlichen Geistes erforscht, die vor allem durch die Sprache zum Vorschein
kommen
Komparation, die (auch die Steigerung) – grammatische Kategorie der Adjektive,
die verschiedenen Grad der Eigenschaft bezeichnet. Im Deutschen gibt es drei
Komparations- oder Steigerungsstufen: Den Positiv, den Komparativ und den
Superlativ
Komparativ, der – die Vergleichsstufe des Adjektivs, die einen höheren Grad der
Eigenschaft bezeichnet. Wird mit Suffix –er gebildet, wobei die umlautfähigen
Vokale oft den Umlaut bekommen
Komplement, das – die Ergänzung; ein Satzglied, das von der Valenz bestimmt ist
Konditionalis, der – eine Umschreibung des Konjunktivs, eine würde-Form
Konjunktiv, der – der verbale Modus, der zum Ausdruck der potential-irrealen
Modalität sowie der Modalität der fremden Aussage dient
Konstituente, die – sprachliche Einheit, die Teil einer größeren Einheit ist
Konstituententest, der – sprachliches Experiment, mit dessen Hilfe → Konstituenten
ermittelt werden
Kopffinal – Position des Kernwortes am Ende der Phrase
Kopfinitial – Position des Kernwortes am Anfang der Phrase
563
Satzklammer, die – die Einrahmung der Satzglieder durch analytische Formen des
Prädikats oder durch das Einleitungswort und das finite Verb im Nebensatz
Satzmuster, das – Satzbauplan
Satzrang, der – syntaktischer Status des Elementarsatzes: Hauptsatz, Nebensatz,
Obersatz, Untersatz
Satzrest, der – elliptischer Hauptsatz
Satztypus, der – grammatisch durch die Stellung des finiten Verbs geformter Satz;
Verberst-, Verbzweit-, Verbletztsatz
Satztypus, logisch-grammatischer – der von W.G. Admoni geprägte Begriff; ein
Satztypus, in dem die Semantik und Formen des Subjekts und Prädikats koordinieren
Satzgefüge, das – (auch die Hypotaxe): Komplexer Satz, in dem ein Teilsatz
syntaktisch dominiert
Satzreihe, die – (auch Parataxe): Komplexer Satz, in dem die Teilsätze syntaktisch
gleichwertig sind
Skopus, der – der Wirkungs- oder Geltungsbereich mancher Ausdrücke oder Wörter.
Man kann vom Skopus einer Konjunktion, einer Partikel usw. sprechen
Spannsatz, der – (auch Verbletztsatz, Verbendsatz): Der Nebensatz mit der
Endstellung des Prädikats
Spezifizierer, der (auch Specifier) – Strukturposition einer Phrase, die meistens
Subjekte oder Adverbialbestimmungen einnehmen
Standardtheorie, die – die Entwicklungsphase der GTG
Stirnsatz, der (auch Verberstsatz) – der Elementarsatz mit der Erststellung des finiten
Verbs
Subjunktor, der – die unterordnende Konjunktion
Substantiv, das – eine Wortart mit der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung
der Gegenständlichkeit
Substantivierung, die – Übergang zu der Wortklasse Substantiv. Im Deutschen kann
jede Wortart substantiviert werden
Subjekt, das – das Hauptglied des Satzes, steht immer im Nominativ, löst die
567
Kongruenz mit dem Prädikat aus, antwortet auf die Frage wer oder was
Superlativ, der – die Vergleichsstufe des Adjektivs, die den höchsten Grad der
Eigenschaft bezeichnet. Wird mit dem Suffix –(e)st gebildet, wobei die
Umlautfähigen Vokale oft den Umlaut bekommen
Supplement, das – das Nebensatzglied, das von der Valenz nicht gefordert wird
Syntax, die (Satzlehre) – ein Teil der Grammatik, in dem Wortgruppen, Sätze, ihre
Anordnung in der linearen Kette und ihre Verbindungsmittel studiert werden
synthetische grammatische Form – die Wortform, deren grammatische Bedeutung
in dem Wort selbst enthalten ist
synthetisches grammatisches Mittel – das in der Wortform enthaltene Formelement
Supplement, das – ein nicht verbaler Ausdruck. Zu Supplementen gehören
Adverbialphrasen, Präpositionalphrasen, Nominalphrasen, Nebensätze, die einen Satz
oder eine Verbgruppe spezifizieren, Z.B. in Hinblick auf Raum, Zeit oder Relationen
wie Ursache, Zweck etc. Zusammen mit den Komplementen und Verbalkomplex
bilden Supplemente die primären Komponenten des Vollsatzes. Sie sind weglassbar.
Tempus, das – grammatische Zeit
Termsatz, der – der Nebensatz, der auf eine außersprachliche Situation referiert,
welche als Subjekt, Objekt oder Prädikativ versprachlicht werden kann; Subjekt-,
Objekt- oder Prädikativsatz
Thema, das – das Bekannte; die bereits erwähnte Information (Prager Schule)
Thematische Progression, die (TP) – ein von F. Daneš eingeführter Begriff; Wechsel
der Themen im Text
Tiefenstruktur, die – abstrakte Struktur, die der Oberflächenstruktur zugrunde liegt
Tiefenkasus, der – Kasus, die in der Tiefenstruktur auf logischer Ebene aufgefasst
werden. Sie treten als semantische Rollen auf, die das Verb an seine Argumente
vergibt
Umlaut, der – Vokalwechsel in der Wurzel des Wortes, der seine grammatische Form
verändert; dem Ursprung nach eine phonetische Assimilation. Im Deutschen dient der
Umlaut zur Pluralbildung der Substantive, zur Bildung der Steigerungsstufen der
568
Adjektive und des präteritalen Konjunktivs sowie zur Markierung der starken
Konjugation im Präsens
Uneingeleitet (auch konjunktionslos) – ohne einleitendes Wort
Untersatz, der – der grammatisch untergeordnete Elementarsatz des Satzgefüges
Valenz, die – Eigenschaft eines sprachlichen Elements, Leerstellen zu öffnen und auf
solche Weise seine Umgebung zu strukturieren
Verb, das (das Zeitwort) – die Wortart, die eine Handlung, eine Tätigkeit, einen
Prozess oder einen Zustand bezeichnet. Die Verben geben immer die Zeit an
Verbalkomplex, der – bildet zusammen mit den Komplementen und Supplementen
den Satz
Verknüpfungswort, das – ein Verbindungswort, es kann Wörter, Sätze oder Satzteile
miteinander verbinden
Wortartwechsel, der – Übergang des Wortes aus einer Wortklasse zu einer anderen
Wortklasse. Im Deutschen ist die Substantivierung typisch
Wortgruppe, die (auch Phrase) – eine Gruppe zusammengehöriger Wörter, die
semantisch und syntaktisch verbunden sind
Wortgruppe, beiordnende – Wortgruppe, deren Glieder beigeordnet sind
Wortgruppe, nominale – Wortgruppe mit einem Nomen als Kernwort
Wortgruppe, unterordnende – Wortgruppe, deren Glieder untergeordnet sind
Wortgruppe, verbale – Wortgruppe mit dem Verb als Kernwort
Wunschsatz, der – (auch Optativsatz): kommunikativer Satztyp, mit dem ein
Wunsch geäußert wird
Wurzelmorphe (Wurzeln) – Träger der lexikalischen Bedeutung des Wortes
Zeitstufe, die – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Zeitverhältnis, das – Verhältnis zwischen den Zeiten, kommt als Vorzeitigkeit,
Gleichzeitigkeit, Nachzeitigkeit vor
x-bar-Theorie, die – generatives Konzept zur Beschreibung der Struktur von
Phrasen; seine Grundidee: jede Phrase ist binär organisiert
Zuordnung, die – das Kongruenzverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat
569
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